Archiv der Kategorie: Horror & Unheimliches

Huff, Tanya – Blutzoll

„Blutzoll“ beginnt mit einem grauenhaften Mord in der U-Bahn von Toronto. Vicki Nelson, ein früheres Mitglied der Mordkomission und jetzt Privatdetektivin, wird durch einen Hilfeschrei des Opfers alamiert. Sie kommt aber zu spät, denn der Mörder ist bereits fort und seinem Opfer, einem jungen Mann, ist nicht mehr zu helfen.

Der Mord in der U-Bahn ist der Auftakt zu einer schrecklichen Mordserie, die in den nächsten Tagen die Stadt erschüttert. Weitere Menschen fallen dem Mörder zum Opfer und werden alle mit herausgerissener Kehle und völlig blutleer zurückgelassen. Die Morde werden zwischen zwölf und ein Uhr nachts verübt und am Tatort gibt es keinerlei Spuren, die auf den Täter schließen lassen. Außerdem gibt es keine Augenzeugen und eine Verbindung zwischen den Opfern ist nicht erkennbar. Die Polizei steht vor einem Rätsel, doch für die Presse ist schnell klar: „Vampir sucht Stadt heim!“

Dabei ahnt niemand, dass tatsächlich ein Vampir in Toronto lebt. Henry Fitzroy, ein fast 500 Jahre alter Vampir, ist aber in keiner Weise für die Morde verantwortlich, sondern bemüht sich, ein völlig unauffälliges „Leben“ als Schriftsteller zu führen. Er glaubt, dass ein wahnsinniger Vampir in sein Revier eingedrungen ist und die Morde verübt. Besorgt, dass die Aufmerksamkeit der Menschen auf ihn gelenkt werden könnte, beschließt er den Schuldigen zu finden und zu vernichten.

Auch Vicki Nelson, die Privatdetektivin, versucht den Mörder im Auftrag der Verlobten des ersten Opfers zu finden.
Weder der Vampir noch die Privatdetektivin können ahnen, dass noch etwas viel grauenhafteres als ein wahnsinniger Vampir die Morde verübt und dass sie ihre Kräfte vereinigen müssen, um die Stadt vor dem Untergang zu bewahren.

Tanya Huff ist mit „Blutzoll“ ein Vampir-Roman der Extraklasse gelungen. Anders als in den Büchern von Anne Rice steht jedoch nicht der Vampir im Mittelpunkt. Die Hauptfigur des Romans ist ohne Zweifel Vicki Nelson, ehemals die beste Ermittlerin der Mordkomission, die jedoch durch eine Krankheit, die sie langsam erblinden lässt, gezwungen wurde, ihren Job aufzugeben und nun als Privatdetektivin arbeitet. Dabei bleibt der Vampir Henry Fitzroy aber keine schemenhafte Nebenfigur, sondern wird genauso lebendig charakterisiert wie Vicki. Die Autorin stützt sich bei seiner Darstellung teilweise auf den von Bram Stoker aufgestellten Vampirmythos, hat aber auch eigene sehr originelle Ideen.
Spannung, ein intelligenter Plot, glaubwürdige Charaktere, eine geradlinige Story und eine gehörige Portion Humor machen „Blutzoll“ zu einem schauerhaft-schönen Mix aus Krimi und Horror-Roman.

„Blutzoll“ bildet den Auftakt einer fünfteiligen Serie um die Privatdetektivin Vicki Nelson und den Vampir Henry Fitzroy. Bisher sind drei Teile davon auf deutsch erschienen: „Blutzoll“, „Blutspur“ und „Blutlinien“. Der vierte Teil „Blutpakt“ erscheint im November, ebenfalls beim Feder & Schwert Verlag. Mit 12,95 Euro sind die Bücher ziemlich teuer, bieten aber eine wirklich gute Aufmachung: große Schrift, festes weißes Papier und ein tolles Cover-Bild.

Tanya Huff wurde 1957 in Halifax geboren und ging als eine der ersten Frauen Kanadas zur Canadian Naval Reserve, der kanadischen Marine. Sie lebt heute irgendwo im Nirgendwo Kanadas in der Nähe von Toronto mit ihrer Gefährtin Fiona Patton, einer Menge Katzen und einem Chihuahua.

Homepage der Autorin: http://www.meishamerlin.com/TanyaHuff.html

King, Stephen – Im Kabinett des Todes

Der Erfolgsautor Stephen King steht vor dem Ende seiner Schriftstellerkarriere: Er hat das angekündigt. Nun wird noch kurz aufgeräumt. In diesem Band sind die kürzeren Werke aus der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gesammelt. Nun warten wir noch auf „The Wolves of Calla“, einen Roman aus dem Zyklus um den Dunklen Turm. Und dann? Stephen King – was kann man noch sagen, was nicht schon allgemein bekannt ist? Er ist einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten. Und nicht ohne Grund. Das sollte eigentlich genügen.

Zu den vierzehn Stories:

1) Autopsieraum vier

Frisch vom Golfplatz in die Autopsie – so schnell kann’s gehen, denkt sich sich Howard Cottrell, Börsenmakler, entsetzt. Warum war er hier, kurz davor, mit einer Schere wie ein Truthahn aufgeschnitten zu werden? Warum kann er seine Hände nicht bewegen, geschweige denn, einen Laut von sich geben, um zu protestieren? Ein Schlangebiss scheint ihn gelähmt zu haben. Ihm ist einzig und allein gestattet, zuzuhören, wie die Chirurgin mit dem Praktikanten anbandelt, der den ersten Schnitt führen soll. Anästhesie? Fehlanzeige! Howard Cottrell möchte schreien und kann nicht.
Stephen King erzählt das klassische Thema „lebendig begraben“, nur eben in den Autopsieraum verlegt. Und er macht einen klasse Job daraus. Der Leser leidet praktisch mit dem Scheintoten mit. Oder ist Howie vielleicht doch tot und erlebt alles nur von „höherer Warte“? Oder ist dies nur sein Traum? Bis zum Schluss lässt uns der Autor im Ungewissen zappeln.

2) Der Mann im schwarzen Anzug

Für diese Story erhielt King eine der höchsten Auszeichnungen für US-Autoren, den O. Henry Award. King selbst hält die Story nicht für genug gut, um sich für diesen hohen Preis zu qualifizieren, aber für den Kritiker ist es nicht schwierig, die Gründe für die Entscheidung der Jury herauszufinden.
Zum einen geht es um eine uramerikanische Figur: den Teufel in menschlicher Verkleidung. Und die knappe Handlung findet an uramerikanischen Orten statt: auf einer Farm und am benachbarten Forellenbach. Gary ist im Sommer 1914 erst neun Jahre alt, als er nach getanem Tagwerk die Erlaubnis erhält, angeln zu gehen. Nahe Castle Rock ist der Wald damals noch weitläufig und kühl, die Bäche sauber und voller Forellen. Doch als Gary zwei Prachtexemplare gefangen hat, kreuzt der „Mann im schwarzen Anzug“ auf. Er riecht nach Schwefel und seine Augen sind Löcher, hinter denen das Höllenfeuer brennt. Sein Gebiss ähnelt dem des Weißen Hais, doch seine Lügen treffen Gary bis ins Mark. Eine schicksalhafte Begegnung folgt, die Gary erst 81 Jahre später nieder zu schreiben wagt.
Hier merkt man wieder, wie stark sich King in das Seelenleben eines Jungen hineinzuversetzen vermag. Mit wenigen Absätzen versetzt er diesen Jungen in eine Welt, die noch gar nicht so lange vergangen ist: Der Teufel ist hier noch lebendig, und wie weiland in Irland kann man ihm und seinen Versuchungen am helllichten Tag begegnen. Eine spannende Story, die man gleich noch einmal lesen möchte.

3) Alles, was du liebst, wird dir genommen

Eine sehr traurige Story, aber mit witzigen Einsprengseln. Alfie Zimmer, seines Zeichens Vertreter für Tiefkühlgerichte im Mittleren Westen, will sich heute Abend umbringen. Er hat im Motel eingecheckt und seine Smith & Wesson bereitgelegt: Kaliber 9 Millimeter – eine beträchtliche Durchschlagskraft.
Bevor er sich umbringt, ruft er noch fürsorglich an der Ostküste im Haus seine Frau Maura und seiner Tochter Carlene an, erreicht aber nur den Anrufbeantworter. Als er sich den Revolver in den Mund steckt, fällt sein Blick noch einmal auf sein Notizbuch. Er kann es nicht so aufgeschlagen liegen lassen. All diese Klosprüche! Obszön, schweinisch, politisch ganz bestimmt nicht korrekt, und zum Schluss noch dieser: „Alles, was du liebst, wird dir genommen.“
Diese Sprüche hat Alfie in den einsamen Toiletten entlang der einsamen, endlosen Highways gesammelt, weiß der Herr, warum. Flaschenpost auf dem stillen Örtchen? Aber was würde die Polizei daraus schließen? Oder seine Frau? Alfie nimmt den Revolver aus dem Mund, stellt sich auf den Parkplatz und wartet ab, ob ihm der tobende Wind das Notizbuch aus der Hand reißen wird. (Und wenn er nicht gestorben ist, steht Alfie Zimmer dort noch heute. Wir können nur für ihn und seinesgleichen beten, meint der Autor.)
Eine sehr traurige Geschichte: der Tod eines Handelsvertreters in seiner klassischen Form. Die einzigen Lichtblicke jedoch stammen von den witzigen Klosprüchen. Und sie bringen Alfie wirklich zum Nachdenken, so dass er über das richtige Versmaß grübelt und die Tatsache, dass ‚Maine‘ der einzige Bundesstaatname ist, der wegen seiner Einsilbigkeit in Klosprüchen vorkommt… Ein verfehltes Leben, das ist Alfie Zimmer. (Diese Geschichte erschien im renommierten Literaturmagazin ‚The New Yorker‘.)

4) Der Tod des Jack Hamilton

1934, Prohibition, Chicago-Gangster. Die Story erzählt zunächst eine rechte Räuberpistole, schlägt dann allmählich in eine Groteske mit makabren Zügen um, bevor sie richtig anrührend endet. Nachdem John Dillingers Bande eine Bank auf dem Lande überfallen hat, muss sie das Weite suchen. Allerdings wurde sein Komplize Jack Hamilton angeschossen, will aber nicht zugeben, wo. Als die Gangster glücklich im Hinterzimmer einer Chicagoer Absteige landen, nimmt man Jacks Verwundung näher in Augenschein. Wie sich zeigt, hat Jack einen glatten Lungendurchschuss erlitten. Wenn er eine raucht, dringt der Rauch wieder hinten (!) aus ihm heraus.
Die Geschehnisse werden von Jacks Freund Homer erzählt. Nach Dillingers Erschießung durch das FBI wunderte man sich nämlich allenthalben über dessen demolierte Oberlippe, und Homers Memoiren sollen erklären, wie es dazu kam. Der Grund dafür war, dass Homer und Dillinger Jacks letzten Wunsch erfüllten und es dabei zu einem beinahe tödlichen Unfall kam.

5) Im Kabinett des Todes

Bei dem Titel gebenden Raum handelt es sich schlicht und ergreifend um einen Raum im Keller einer Polizeistation irgendwo in Zentralamerika. Der amerikanische Journalist wird hierher gebracht, um verhört zu werden – wenn nötig mit Folter. Seine Folterknechte – Escobar mit dem mexikanischen Akzent, eine 60jährige, die aussieht wie „Frankensteins Braut“, ein Gunman sowie ein schleimiger Kriecher, der die Folterwerkzeuge bedient – wollen erfahren, was Fletcher über die Pläne des Rebellen weiß, der die bestehende Ordnung bedroht.
Kurz und gut: Die Ereignisse in diesem „Kabinett des Todes“ verlaufen etwas anders, als es die Beteiligten erwartet haben.

6) Die Kleinen Schwestern von Eluria

Eine Episode aus Kings umfangreichem ‚magnum opus‘ „Der dunkle Turm“. Ich setze die Vorgeschichte als allgemein bekannt voraus (sorry!). Der Revolvermann, eine der Hauptfiguren des Zyklus, gelangt in eine scheinbar verlassene Stadt, wird von Mutanten überwältigt und von den Kleinen Schwestern gepflegt. Mit kleinen Häppchen der Erkenntnis steigert King das Grauen, das nun folgt: Der Gunman ist in die Hände von Vampiren gefallen und muss zusehen, wie ihnen einer der Lazarettgenossen nach dem anderen zum Opfer fällt. Er ist der nächste… Wird es ihm gelingen, sich rechtzeitig zu befreien? Lest selbst! (Diese Novelle erschien zuerst in R. Silverbergs Anthologie „Der 7. Schrein“.)

7) Alles endgültig

Ein seltsames Bild: Ein junger Mann schüttet Woche für Woche Kleingeld in den Gully (und Scheine in den Müll-Schredder). Der junge Mann, Dinky Earnshaw, wurde von einer obskuren Behörde namens Trans Corp. angeheuert, ausgebildet und postiert – so wie etliche andere mit Fähigkeiten wie Dinky (sie werden „Trannys“ genannt, was im Englischen die Abkürzung für Transvestiten ist – eine kleine Ironie am Rande). Jede Woche gibt’s 70 Dollar zum Verpulvern. Was nicht weg ist, muss vernichtet werden, etwa im Gully. Mr. Sharpton von Trans Corp. erkannte Dinkys außergewöhnliches Talent: mit Hilfe von erfundenen Zeichen den Tod eines anderen Lebewesens herbei zu beschwören.
Was ihm beim nervenden Nachbarshund noch himmlische Ruhe verschafft hat, bereitet aber nun Dinky erhebliche Gewissensbisse: Er hat entdeckt, dass er ein Massenmörder ist. Mindestens 200 Leute hat er schon mit seinen codierten Botschaften ums Leben gebracht – und warum und wozu? Weil ihn erstens Trans Corp. während einiger Hypnosesitzungen dazu konditioniert hat. Und weil die Opfer den Interessen der Regierungsstellen zuwider handelten. Aber wie kann eine AIDS-Forscherin regierungsfeindlich sein, fragt sich Dinky, da sie doch zum Wohle der Menschheit arbeitet. Er beschließt, den Spieß umzudrehen.
Diese Novelle ist zwar interessant, aber schlecht geschrieben. Sie vermischt Konzepte aus Fantasy (magische Symbole) und Thriller (Regierungskomplott), wird in einer realistischen Umgangssprache erzählt und führt relativ geradlinig von A nach B. Der Plot erinnert an Kings frühen Roman „Feuerkind“ und ist ebenso abgedroschen wie vorhersehbar. Die geistige Beschränktheit des Ich-Erzählers Dinky verhindert, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Problem der Auftragsmorde stattfindet, die den Leser anrühren könnte. Die schnoddrige Oberflächlichkeit der Erzählung und ihres Geschehens erzeugt den Eindruck einer zynischen Haltung des Autors, die mich abgestoßen hat. Diese Novelle ist der Tiefpunkt der Sammlung, und ich musste mich überwinden, sie zu Ende zu lesen.

8) L.T.s Theorie der Kuscheltiere

Diese wunderschöne Geschichte gibt es bereits als Hörbuch, gelesen von Ulrich Pleitgen. Seit fast einem Jahr erzählt L.T. deWitt seine Leidensgeschichte, wenn er im Lokal einen hebt. Er ist ein schlichtes Gemüt, leidet aber dennoch an der Tatsache, dass ihn seine Frau Lulubelle vor fast einem Jahr verlassen hat. Und schuld daran war offenbar ihre Unverträglichkeit mit einem Kuscheltierchen, das L.T. ihr geschenkt hatte: Sie nannte das Kätzchen schon bald nur noch „Spinnerlucy“, weil es Lulu offenbar nicht ausstehen konnte. Doch L.T. hatte ein Jahr zuvor von Lulu ebenfalls ein Haustier geschenkt bekommen: einen Terrier namens Frank (nicht wie der in MIB2), der leider in L.T.s Schuhe kotzte und pisste.
L.T.s Theorie über die Kuscheltiere geht also dahin, dass sie die betroffenen Ehepartner unweigerlich auseinander bringen. Was aber L.T. in seinem Kummer nicht ahnt, ist, dass es wahrscheinlich der von der Polizei gesuchte „Axtmann“ war, dem die ausgezogene Lulu zum Opfer gefallen ist, vermutet jedenfalls L.T.s Freund, der Erzähler.
Dies ist Kings Lieblingstory in diesem Band. Die ganze Story ist sprachlich so realistisch wie möglich und zugleich so wunderbar schräg erzählt, dass man sich in manche Szenen direkt hineinversetzt fühlt. Wie King in seiner obligatorischen Anmerkung berichtet, hatte er selbst zwei Haustierchen bekommen: einen Corgi-Hund namens Marlowe und eine „durchgeknallte“ Siamkatze namens Pearl. Sie kamen ebenso gut miteinander aus wie Frank und Lucy in der Geschichte. Dass das geschenkte Tier in der Story seinen neuen Besitzer nicht ausstehen kann, wohl aber dessen Partner, ist ein weiterer amüsanter Kunstgriff des Autors. Doch am Schluss erwischt er den Leser dann kalt, wenn er den Axtmann erwähnt und wie es L.T. in Wirklichkeit geht.

9) Der Straßenvirus zieht nach Norden

Diese wirklich unheimliche Erzählung erschien zuerst in Al Sarrantonios exzellenter Horror-Anthologie „999“ aus dem Jahr 1999. Der Horrorautor Richie Kinsell (ein alter ego des Autors) fährt mal wieder vom heimatlichen Derry/Maine nach Boston auf einen Schriftstellerkongress. Keine große Sache. Auf dem Rückweg kommt er im hübschen Städtchen Rosewood (ein Verweis auf den Roman „Rose Madder“?) an einem privaten Flohmarkt, einem ‚garage sale‘, vorbei. Sein Blick fällt auf ein Aquarell, das zum Kauf angeboten wird, und Kinsell muss das Bild sofort haben. Zum Glück ist die Verkäuferin auch noch ein Fan seiner Schundromane und erzählt ihm brühwarm die Story zum Bild: Der Maler brachte sich um. Es trägt den Titel „Der Straßenvirus zieht nach Norden“ und zeigt einen grinsenden blonden Mann in einem schnittigen Superschlitten, der gerade die Bostoner Tobin Bridge überquert. Besonderheit: Die Zähne des jungen Mannes sehen aus wie die eines Kannibalen – Reißzähne. Kinsell ist hingerissen.
Als Richie es auf dem Nachhauseweg seiner lieben Tante Trudy zeigt, ist diese entsetzt. Er aber auch: Das Bild hat sich verändert! Das grässliche Gebiss hat sich inzwischen vergrößert, der Blick des Fahrers ist noch irrer, und der Hintergrund besteht nicht mehr aus der Tobin Bridge. An einer Raststätte wirft Kinsell das Bild in den Müll, denn es hat sich schon wieder verändert: Nun zeigt es den Wagen auf dem Weg nach Rosewood… Was geht hier vor sich? Kaum zu Hause, schreit Kinsell beinahe auf: Das Bild hängt jetzt in seiner Diele, und es zeigt die Verkäuferin des privaten Flohmarkts in Rosewood in schrecklich zugerichtetem Zustand. Offenbar folgt der „Straßenvirus“ seinem neuen Besitzer – bis zur letzten Konsequenz…
Kontinuierlich zieht King die Daumenschraube des Entsetzens und der Bedrohung an, bis es der Leser – ebenso wie der Erzähler – kaum noch in seinem Sessel aushält und sich vorsichtig nach dem nächstgelegenen Bild umdreht. Denn der „Straßenvirus“ ist wahrscheinlich immer und überall.

10) Lunch im Gotham Café

Ebenfalls eine Rauchergeschichte. Joe Davis wurde – zack! peng! – von seiner Frau Diane verlassen und hat sofort mit dem Rauchen, dem Scheidungsgrund, aufgehört (ein wenig zu spät). Natürlich fühlt er sich während des Entzugs total mies. Aber der eigentliche Unglückstag kommt, als er sich mit Diane und deren Scheidungsanwalt William Humboldt in einem Feinschmeckerrestaurant in der New Yorker Innenstadt trifft: im Titel gebenden Gotham Café („Gotham“ ist quasi der literarische Spitzname New York Citys, siehe „Batman“ und Poe).
An der Rezeption des Cafés stößt Joe auf den Oberkellner, der ein äußerst merkwürdiger Zeitgenosse zu sein scheint. Der dunkle Fleck auf seinem Hemd könnte getrocknetes Blut sein. Und er kreischt ihn an, er solle gefälligst keinen Hund mit hereinbringen! Welchen Hund, bitteschön?
Kaum wurden die Verhandlungen eröffnet, rastet der Oberkellner aus unerfindlichen Gründen völlig aus und macht sich über mit einem enormen Schlachtmesser über den Scheidungsanwalt her. Den Rest kann man sich denken. Diese kurze Story ist ebenso actiongeladen wie absurd. Und es ist eben diese Absurdität, die sie so verdächtig macht, symbolisch zu sein. Symbol wofür? Wohl für die unterschwellig wütenden Aggressionen zwischen den meisten zu scheidenden Paaren und ihren jeweiligen Anwälten. Insofern ist diese kurze Story klassischer Horror, voll Splatter und ebenso drastisch. Nichts für zarte Gemüter!

11) Dieses Gefühl, das man nur auf Französisch ausdrücken kann

Carol Shelton hat dieses schreckliche Gefühl, sie sei in der Hölle gelandet. Nur, dass die Hölle genauso aussieht wie Florida. Seit 25 Jahren ist die streng katholisch erzogene Carol mit Billy, dem Software-Entwickler, verheiratet, ist aber kinderlos geblieben (eines hat sie, omeingott!, abgetrieben). Zur Silberhochzeit spendiert ihr der Göttergatte die zweiten Flitterwochen. Und die könnte sie auch wirklich genießen, wenn, ja wenn da nicht dieses seltsame Gefühl wäre, das man… ach ja: „Déjàvu“ nennt.
Und tatsächlich steigert sich Carols Unbehagen zu einer Angespanntheit, dann zu leisem Grauen, schließlich zu blankem Entsetzen: Denn sie hängt in einer Zeitschleife fest, die nichts anderes für sie ist als die Hölle. Und am Ende der Schleife scheint ein Atomschlag zu passieren, oder eine Rakete das Flugzeug zu treffen oder… Und es passiert immer wieder. Endlos. Es ist (sagte ich das nicht bereits? Es kommt mir jedenfalls so vor…) die Hölle.
Eine tolle Story, die für viele Leser verwirrend sein wird, die mich aber stark an die Science-Fiction-Geschichten erinnert, die von literarisch ambitionierten Briten und Amis Mitte der Sechzigerjahre für das Avantgarde-Magazin „New Wave“ geschrieben wurden, das damals unter der Leitung von Michael Moorcock Furore machte und für eine Anfrage im Parlament sorgte. Das Thema ist natürlich existenzialistisch. Und King zitiert dessen Götter: Camus und Sartre. Er weiß genau, auf welch schwankendem Terrain er sich bewegt.

12) 1408

Wie „Kuscheltiere“ wurde auch diese Geschichte bereits auf einem Audiobook verewigt, nämlich in der Sammlung „Blut und Rauch“. Der Autor empfiehlt die Quersumme aus dieser Zahl zu ziehen und sie auf die Nummern von Hotelzimmern anzuwenden.
Mike Enslin ist so eine Art Reporter des Unheimlichen. Aus seinen Ermittlungen in gespenstischen Gemäuern und seinen Besuchen auf berühmten Friedhöfen hat er bereits drei Bestseller fabriziert. Diesmal hat er sich ein etwas unbekannteres Hotelzimmer vorgenommen: Nr. 1408 im New Yorker Hotel Dolphin. Der Hoteldirektor möchte Mike warnen: Dort seien bereits 30 Leute eines so genannten ’natürlichen Todes‘ gestorben und weitere 16 eines wahrlich unnatürlichen: Einige sprangen aus dem Fenster. Mike bleibt unerschütterlich.
Er hat zwar etwas Mühe, die Tür zu diesem ominösen Zimmer zu öffnen, doch er schafft es und spricht weiterhin seine Beobachtungen in sein Diktaphon. Dann beginnt er allmählich, sinnloses Zeug von sich zu geben. Später hält die Polizei fest, dass Mike Enslin gerade mal siebzig Minuten in Zimmer Nr. 1408 verbracht habe. Seitdem hat man seine Verbrennungen wieder heilen können, doch Mike hat seither keine Zeile mehr geschrieben, hat alle Telefone aus seiner Wohnung entfernen lassen und verschließt bei Sonnenuntergang sämtliche Fenster, weil er die Farbe orangerot nicht mehr ertragen kann…
„1408“ ist eine wahrhaftig gruselige Story über das klassische Motiv des Gespensterzimmers. Nur dass Zimmer 1408 von einem Horror erfüllt ist, der – wie in einem Nebensatz angedeutet wird – von einem der namenlosen Schrecken stammen könnte, die sich H.P. Lovecraft, der große Phantast aus Neuengland, ausgedacht hat. Dies ist nicht die erste Lovecraft-Kopie, die King schrieb: Auch in „Briefe aus Jerusalem“ taucht ein namenloser Schrecken auf. Doch „1408“ ist weitaus besser und wirkungsvoller. Tauchte dort eine deutlich materialisierte Gestalt, ein Riesenwurm, auf, so ist diesmal das Unheimliche nur in seinen Auswirkungen feststellbar, und die sind für Mike Enslin absolut unerträglich.

13) Achterbahn (Riding the ‚Bullett‘)

Alans Mutter liegt 100 Meilen entfernt im zentralen Krankenhaus von Maine, und er will sie unbedingt besuchen, obwohl seine rostige Studentenkarre im Eimer ist. Beim Trampen durch die Wälder erlebt Alan so einiges, das man sich nicht als Alltagsroutine wünschen würde. Da ist der alte Witwer, der sich dauernd mit seiner „Affenklaue“ im Schritt kratzt, weil ihn sein Leistenbruch schmerzt. Und schließlich landet Al auch noch nächtens auf dem Friedhof – allerdings nicht als Leiche, sondern als Verletzter.
Was man mit einer Beule am Kopf so alles träumt… Zum Beispiel, dass man in einem 60er-Jahre-Ford-Mustang von einem Toten mitgenommen wird, der beim Rauchen Qualm aus den Stichen bläst, mit denen sein Kopf angenäht ist… Geträumt oder nicht: Fakt ist, dass Al bei seiner Ankunft im Hospital einen Button am Revers trägt: „Ich bin in Thrill Village, Laconia, mit dem BULLETT gefahren“. Zu dumm, dass Al nur einmal in Laconia, New Hampshire, gewesen ist: Als kleiner Junge, begleitet von seiner Mutter. Doch weil ihm die Achterbahn dort Angst machte, benahm er sich wie ein Feigling, und seine Mutter versetzte ihm eine schmerzhafte Kopfnuss. An so etwas erinnert man sich sein Leben lang.
Und jetzt liegt sie im Krankenbett, mit einem Schlagfall, und Al denkt, sie ist tot, und er ist schuld daran. Klar, denn der Tote im Mustang war sein Alter Ego, und es stellte ihn vor die Wahl: Wenn ich dich hinbringen soll, musst du wählen: Wer soll leben – du oder deine Mutter? Und nun, als Alan vor dem Zimmer steht, in dem seine Mutter liegt, weiß er es einfach…–
Stephen King hat eine wunderbare Geschichte über Schuld, Angst und Versöhnung geschrieben. Sie lässt einen auch nach der Lektüre nicht mehr los. Ständig hat man diese Szene im Mustang des Toten im Sinn. Sie hat ihr Gegenstück in der Szene, als Alan an das Krankenbett seiner Mutter treten muss. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, ein Alptraum, eine immense Spannung, die diesem kurzen Stück Prosa seinen besonderen Reiz verleiht.

14) Der Glüggsbringer

Eine wirgglich schöne Story, die King in einem Casinohotel in Nevada geschrieben hat – und dort spielt sie auch. Er schreibt also aus eigener Anschauung. Da ich selbst solche Casinohotels von innen kenne, kann ich die Akkuratesse seiner Beschreibung nur bestätigen.
Lernen Sie Darlene kennen, das seit fünf Jahren von seinem Ehemann verlassene Zimmermädchen, das nun Mutter zweier quengelnder Kinder ist, Paul und Patricia. Darlene ist so arm, dass sie Patsy nicht einmal eine Zahnspange kaufen kann, geschweige denn für Paul ein Asthmamedikament. Vom Leben gebeutelt, glaubt sie auch keineswegs der Notiz, die ein Hotelgast in Zimmer Nr. 322 hinterlassen hat: „Dieser Vierteldollar bringt Ihnen Glügg! Echt wahr! Sie haben Glügg.“ Warum sollte eine ausgebeutete Kreatur wie Darlene auf einmal Glück haben sollen, hm?
Kurz träumt sie sich in einen Spielertraum vom großen Glügg, wacht aber schließlich wieder auf. Als sie Feierabend macht, schenkt sie ihrem Sohn Paulie den Quarter, kaum hoffend, dass dieser damit etwas anfangen könne. Als Paul den Quarter in den erstbesten Einarmigen Banditen steckt, hört Darlene im Davongehen nur das neidischen Quengeln von Patsy, ihrer Tochter. Und dann das einsetzende Klimpern von ausgeschütteten Vierteldollars. Und es hört nicht auf zu klimpern…
Das ist natürlich eine Art Weihnachtsgeschichte, eine Wunscherfüllung. Aber sind das letzten Endes nicht alle Geschichten? Und diese bietet dem Band einen netten, geradezu versöhnlichen Abschluss.

Unterm Strich:

Dieser neue Storyband lohnt sich wirklich, zumindest für Freunde des literarischen Horrors. Die Vielfalt der Themen – klassische wie neue – und Formen sorgt für unterhaltsame Abwechslung. Dies sind zumeist keine Kurzromane wie in den „Langoliers“-Novellen. Einzige Ausnahme: „Die Kleinen Schwestern von Eluria“, das für Silverberg geschrieben wurde. In der Mehrzahl sind es Kurzgeschichten von klassischem Zuschnitt.
In seiner Einleitung mit dem Titel „Wenn man sich einer fast ausgestorbenen Kunstform widmet“ beklagt sich King mehr oder weniger deutlich, dass es für diese Form der Literatur kaum noch einen Markt gebe: Die Short Story, vor etwa 170 Jahren von E. A. Poe „erfunden“ und in berühmten Essays definiert, ist dabei auszusterben. Woran liegt’s? Das Publikum wird mit zunehmend dickeren Romanen versorgt, ja mit ganzen Trilogien und Zyklen. Sei’s drum. Die Short Story verlangt nach einem echten Könner des Metiers. King ist so ein Könner, und diese Sammlung – vielleicht seine letzte überhaupt – belegt dies in überzeugender Weise.
Ich habe fast jeden Text mit Genuss gelesen, insbesondere die kürzeren, denn die längeren waren mir meist bereits bekannt („Achterbahn“, „Eluria“). Der einzige Ausfall im gesamten Band ist ausgerechnet die Novelle, die der Originalausgabe ihren Titel gab: „Alles endgültig“ (Everything’s eventual). Und selbst darüber, ob dies ein Ausfall ist, lässt sich natürlich streiten. Jedenfalls hatte ich bei diesem Band kaum je das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Und das ist ein sehr befriedigendes Gefühl.

_Michael Matzer_ (c) 2003ff
(lektoriell editiert)

Herbert, James – Creed

Als ich „Creed“ kaufte, sagte mir der Name James Herbert genau gar nichts. Dabei soll der 1943 in London geborene Autor der meist gelesene Horror-Schreiber auf der britischen Insel sein. Herbert studierte vor seiner schriftstellerischen Karriere Grafikdesign mit Schwerpunkt Werbung am Horsey College of Art, arbeitete nach erfolgreichem Abschluss für verschiedene Werbeagenturen und wurde 1971 Direktor einer solchen. Er schrieb insgesamt acht Romane, bevor er mit „Moon“ den Durchbruch schaffte. Dieses katapultierte sich sofort in die Bestsellerlisten Großbritanniens und war auch das erste seiner Bücher, das in Deutschland erschien. Inzwischen erreichen seine Romane eine Auflage von über 30 Millionen Exemplaren weltweit und Herbert gilt als der englische Stephen King.

Herbert suchte sich für „Creed“ einen Helden, der alles andere als ein Held ist. Genauer gesagt ist Joseph Creed „ein Kotzbrocken ersten Ranges – in Anbetracht seines Gewerbes vielleicht sogar höchsten Ranges“, so sein Erfinder. Creed ist ein Paparazzo, und zwar einer der schlimmsten Sorte, aber auch einer der erfolgreichsten, mitunter ein Grund für seine Unbeliebtheit bei seinen Kollegen (bei seinen Opfern sowieso). Und diesen so ganz und gar unsympathischen Herrn lernen wir bei seinem neuesten Einsatzort kennen: auf dem Friedhof. Das Begräbnis von Lily Neverless, eine wegen ihrer schlechten Leistungen verehrte Schauspielerin, ist für Creed eher einer der langweiligeren Routineaufträge. Als er jedoch nach dem beendeten Zeremoniell einen masturbierenden Mann auf die Kamera bannt, beginnt sein Alptraum.
Zuerst lernt er Cally McNally kennen, die sich unter fadenscheinigen Begründungen an ihn dranhängt. In der Nacht bricht Dracula bei ihm ein – zumindestens ein Etwas, das wie Dracula aussieht – und stiehlt die Fotoabzüge. Creed holt sich eine Beule, weil er vor Schock die Treppe herunterfällt, und als er blutsaugende Spinnen in seinem Bett findet, die spurlos wieder verschwinden, und seine Toilettenschüssel zu einem gefrässigen Maul mit scharfen Zähnen mutiert, glaubt er zunächst an eine Gehirnerschütterung. Er macht sich neue Abzüge der Fotos, die allerdings nach einem Besuch von McNally wieder verschwunden sind, und eine Nachricht macht ihm deutlich, dass er besser auch die Negative herausrücken sollte.
Creeds Recherche ergibt, dass der besagte Mann am Grab, Nicholas Mallik mit Namen, vor über fünfzig Jahren gehängt wurde und die „Bestie von Belgravia“ genannt wurde, weil er Kinder ermordet und zerstückelt hatte. Außerdem war er mit Aleister Crowley im Bunde gewesen, dem berühmt-berüchtigten Schwarzmagier. Creed riecht eine Sensationsstory, die ihm zu Ruhm und mächtig viel Geld verhelfen wird, und genau zu diesem ungünstigen Zeitpunkt schickt seine Ex-Frau Evelyne seinen Sohn Samuel zu ihm, damit er die Vaterfreuden genießen kann. Den Sohnemann halbwegs versorgt, macht Creed einen Treffpunkt für die Übergabe der Fotos mit McNally aus. Mitten in der Nacht und in einem leeren Park, wo ihn nicht das Mädchen, sondern Mallik und sein Vampir erwarten – und Bäume, die sich bewegen. Den beiden Monstern knapp entkommen, muss er zu Hause feststellen, dass Samuel verschwunden ist.

„Dämonen sind heutzutage ein erbärmlicher Haufen“ lautet die Widmung des Buches, und da muss ich dem Autor aus vollem Herzen zustimmen – zumindestens, was seine eigenen Dämonen angeht. Das will ich gar nicht mal im negativen Sinne meinen, denn „Creed“ ist unglaublich unterhaltsam, und die Dämonen sind tatsächlich eher von der amüsanten denn der gruseligen Art (obwohl ich skeptisch bin, dass der Autor das beabsichtigt hatte). Die Schauplätze sind Friedhöfe, alte Gemäuer, verlassene Parkanlagen, ein dubioses Altersheim, und natürlich spielt alles nachts – also Standardvoraussetzungen für einen Horrorroman. Aber das ist es ja auch nicht, was „Creed“ lesenswert macht, sondern die Art und Weise, wie Herbert seinen Antihelden von einer dummen Situation in die nächste rennen lässt; wie er die Story unterbricht, um dem Leser, den er auch direkt anspricht, Nebensächlichkeiten und Zusatzerklärungen nahe zu bringen; wie er seinen Protagonisten analysiert, entschuldigt und niedermacht. Irgendwie tut einem dieser so unnette Zeitgenosse dann doch leid. Herberts Vergnügen, so gut wie alle seine Charaktere zuerst von der schlechtesten Seite zu beleuchten, springt vom ersten Satz an auf den Leser über. Zugegeben, seine Detailfreude ist zwar manchmal etwas zu überschwenglich, aber der unterschwellige Zynismus macht alles wieder wett.
Herbert erfindet im Horror-Bereich nicht unbedingt Neues und auch die Story ist meistens vorhersehbar, trotz allem bringt „Creed“ jede Menge Spaß.

Leseprobe:
„Manche Leute weigern sich zu glauben, was ihre eigenen Augen ihnen gezeigt haben. Gewöhnlich liegt es daran, dass sie nicht glauben wollen. Man mag es der Unwissenheit, dem Vorurteil, der Realitätsblindheit oder den Rätseln des Lebens selbst zuschreiben. Es kann auch viel mit der Unfähigkeit zu tun haben, die Unerfreulichkeiten der Welt, in der wir leben, zu bewältigen. Das kommt nicht nur beim Individuum vor. Noch verbreiteter ist es wahrscheinlich bei den Massen, und bei bestimmten Völkern kann es vorherrschende Züge annehmen (obwohl wir hier keiner bestimmten Nation etwas nachsagen wollen, denn niemand von uns hat das Urheberrecht auf den klaren Blick). Damit wir nicht zu tief hineingeraten und allzu deprimiert werden, bleiben wir lieber bei Joe Creed.
Nun können wir ihm wahrhaftig nicht zum Vorwurf machen, dass er nicht glauben mochte, was seine Augen ihm in jener Nacht gezeigt hatten. Im kalten Licht des Morgens neigt die Vernunft dazu, ihr zudringliches Haupt zu erheben. Und außerdem, wenn einer meint, er habe einen Vampir gesehen, besonders, wenn er nicht in der finster höflichen Maske erschien, wie wir sie von Christopher Lee oder Louis Jourdan kennen, noch in der komisch-teigigen Erscheinungsform Bela Lugosis, dann liegt es nahe, dass man vernünftig mit sich zu Rate geht und zu einer Regelung kommt, die einen Nervenzusammenbruch verhüten kann.
Sehen Sie, der ursprüngliche Nosferatu/Dracula war die wahre Schreckensgestalt. Geschaffen von Friedrich Wilhelm Murnau für seinen 1922 gedrehten Film Nosferatu, eine Symphonie des Grauens und in den Grundzügen übernommen von Bram Stokers Dracula, erschien der Vampir als ein rattenähnliches Geschöpf, mit vergrößertem Kahlkopf, langen dünnen Nagezähnen in der Mitte des Mundes (im Gegensatz zu den vergrößerten Eckzähnen späterer Filme) und gekrümmten langen Fingernägeln, die Raubvogelkrallen ähnelten. Um das grässliche Bild zu vervollständigen, war der Mann bucklig und stand auf spindeldürren, krummen Beinen. Das war der echte Artikel, der Typ, dem man nie auf der Straße zu begegnen hofft, geschweige denn allein und mitten in der Nacht. Ein Abbild völliger Widerwärtigkeit.
So war Creed nicht allzusehr zu tadeln, wenn er annahm (oder sich selbst glauben machte), dass es ein böser Traum gewesen sei. Der Einbruch selbst war freilich nicht zu leugnen, und das war ein Kapitel für sich, denn der Eindringling hatte kaum etwas mitgehen lassen. Keine Wertgegenstände, kein Bargeld, keine Foto-, Hifi- oder Videoausrüstung. Nur belichtete Filmstreifen und ein paar Abzüge. Wenn Creed im Erraten des Motivs langsamer war als Sie, dann war ihm auch das schwerlich zum Vorwurf zu machen. Als Unbeteiligter und Außenstehender ist es gewöhnlich viel einfacher, die Antworten zu sehen.“

Homepage des Autors: http://www.james-herbert.co.uk

Lovecraft, Howard Phillips – Berge des Wahnsinns

H. P. Lovecraft (1890-1937) und seine Erzählwelten sind ebenso zum Mythos avanciert wie die von ihm beschriebenen Mythen selbst. Kaum jemand, der sich mit Horrorliteratur befasst, dürfte seine Geschichten von den Alten Wesen, von Cthulhu und natürlich um das Necronomicon nicht kennen. Faszinierenderweise sind die Erzählwelten Lovecrafts mittlerweile so fest im archetypisch Unbewussten verankert, dass noch immer nicht schlussendlich geklärt ist, ob ein Buch namens „Necronomicon“ wirklich existiert. Bis hinein in die Esoterik- und Okkult-Szene werden ernsthafte Nachforschungen angestellt, die sich mit den Hintergründen zu Lovecraft und seinem Schaffen befassen und beispielsweise die Ursprünge des „Necronomicon“ bis ins 16. Jahrhundert zum britischen Hofastrologen und -magus Dr. John Dee zurückverfolgen, wobei hier die magische Kunstsprache des Henochischen erwähnenswert ist, die auch in aktuelle Fachveröffentlichungen zu diesem Themenkomplex Einzug gehalten hat. Beim „wahnsinnigen Araber“ Alhazred allerdings dürfte es sich um eine reine Fiktion handeln. Insgesamt also ein höchst bemerkenswertes und eigentümlich mythisiertes Produkt der phantastischen (oder doch nicht ganz so phantastischen) Literatur, das, mittlerweile zum Weltliteratur-Erbe gezählt, auch heute noch von Autoren wie Wolfgang Hohlbein fortgeführt wird, sich in einem Atemzug nennen darf mit romantisch-gotischen Gruselliteraten wie Shelley, Poe, Stevenson oder Stoker und auch Leser von Clive Barker erwärmen dürfte.

Exemplarisch für die Erzählwelten des Sonderlings Howard Phillips Lovecraft habe ich mir seine Novelle „Berge des Wahnsinns“ zu Gemüte geführt, die 1936 veröffentlicht wurde und in deutscher Sprache zuerst 1970 innerhalb der „Bibliothek des Hauses Usher“ im Insel-Verlag erschien.
In Gestalt eines authentisch gestalteten wissenschaftlichen Berichtes, der die Nachwelt vor einem verborgenen Schrecken in der Antarktis warnen soll, schildert der Ich-Erzähler, seines Zeichens Geologe, die Ereignisse einer 1930 gestarteten Expedition in die Regionen des Ewigen Eises. Nebst beständigen unterschwelligen Andeutungen offenbart sich nach und nach ein „uralter Schrecken“, der von der Menschheit unerkannt in den eisbedeckten Bergen der Südpolregion lauert. Zunächst stößt eine Teilexpedition auf Überreste einer unbekannten und nach menschlichen Maßstäben nicht einzuordnenden amphibischen Spezies, während sie bislang nicht kartographierte Gebirgszüge erforscht, die in ihrer kolossalen Ausdehnung alles bisher Bekannte in ihre Respekt einflößenden Schatten stellen. Während eines Eissturmes geschieht etwas Furchtbares mit dieser Vorabexpedition, das nicht allein auf das Wirken der Naturgewalten zurückzuführen ist und dessen Ergründung sich fortan die verbleibenden Mitglieder der Forschungsgruppe widmen. Der Erzähler und ein wissenschaftlicher Kollege erahnen zuerst die schreckliche Wahrheit und begeben sich mit einem speziellen Flugzeug auf Erkundungsreise in die von den drohenden Gipfeln abgegrenzten Regionen, in eine uralte und verborgene Welt voller wahnsinniger Wirklichkeiten – und entdecken eine zyklopische Stadt aus menschlicher Vorzeit, die Erschreckendes zu berichten weiß. Und sie stellen fest, dass sie wie befürchtet nicht allein in dieser kalten Einöde sind.

Gemessen an der gewählten Darstellungsform beeindruckt Lovecraft durch höchst fachkundige und detaillierte Beschreibungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die dem Forschungsstand seiner Zeit nachprüfbar entsprechen. Eingebettet in einen umfangreicheren Rahmen wäre diese Detailverliebtheit lobenswert gewesen, so allerdings hält sich die Novelle zur Hälfte mit derlei Selbstverliebtheiten auf, die, anfänglich noch faszinierend und lehrreich, auf Dauer ermüden, während der Leser die Entwicklung eines Handlungsstranges abwartet, der sich aber letztlich in wenigen Worten zusammenfassen ließe. Im Hauptteil der Erzählung entwirft Lovecraft ein überaus beeindruckendes, ausgefeiltes Szenario der Erdgeschichte, beherrscht vom Mythos der Großen Alten, von Cthulhu und den sterngeborenen Wesenheiten, die seit Äonen überdauert haben und dabei sind, ihren Schrecken erneut in die Welt hinaus zu tragen.

Ermüdung ist vielleicht der zentrale Begriff, um die Leseerfahrung dieser vielfach gelobten Erzählung zu beschreiben. Allzu umfangreiche Randdetails, ellenlange Beschreibungen und zahlreiche Wiederholungen wirken auf Dauer missmutig stimmend auf den Leser. Dieser wird gern mit seitenweise Nebensächlichkeiten gequält, bis Lovecraft zum Punkt kommt – und dieser ist leider stets vorhersehbar, besonders natürlich, wenn man mit dem Mythos vertraut ist. Als Erzähler düsterer Schreckenswelten offenbart Lovecraft ein nicht zu verachtendes Talent, schriftstellerisch jedoch ist sein Stil geradezu erschreckend banal, einfallslos und platt. Die übermäßige Häufung klischeebeladener Adjektive überstrapaziert den nur mäßig gelungenen Versuch eines Spannungsbogens. Es wimmelt nur so von „uralten, verborgenen, dunklen, schrecklichen, verbotenen“ Geheimnissen, die des Chaos‘ Wahnsinn in sich tragen. Als Verfilmung ließe sich aus dem Material sicherlich etwas Eindrucksvolles zaubern, als Lektüre gesehen muss ich bei aller Sympathie und Faszination für Lovecrafts Werk und seine Welten leider gestehen, dass „Berge des Wahnsinns“ zum Langweiligsten und Stümperhaftesten zählt, was die Belletristik hervorgebracht hat. Wer sich für Cthulhu und Necronomicon interessiert, bekommt hier bildreiche Details geboten und kann sich vor dem Hintergrund einer Fachrecherche gern an diese Novelle wagen; wer einfach gute und spannende Horrorlektüre sucht, sollte sich lieber Lohnenswerterem zuwenden.

Eine sehr ansprechende deutsche Infoseite: http://www.nyarlathotep.de

Rice, Anne – Merrick oder Die Schuld des Vampirs

Und die wohl berühmtesten Vampir-Chroniken werden fortgesetzt …

Im achten Band der Vampir-Chronik verbindet Anne Rice zum ersten Mal direkt die Geschichten um Louis und Lestat mit der Saga um die Mayfair-Hexen. Die Geschichte wird erzählt von David Talbot, dem ehemaligen Generaloberst der Talamasca. Die Talamasca sind ein wohl tausend Jahre alter Orden übersinnlicher Detektive, die Wesen wie Vampire, Hexen oder auch Geister beobachten und überwachen. David tauchte zum ersten Mal in „Königin der Verdammten“ auf, wo er als Generaloberst der Talamasca vorstand. Obwohl über siebzig und schwer krank, lehnte David Lestats Angebot, ihn unsterblich zu machen, ab. In „Nachtmahr“ half er dann Lestat dabei, seinen Körper wiederzubekommen (Lestat tauschte seinen mächtigen Vampirkörper mit einem übersinnlich veranlagten Mann. Dieser hatte jedoch nicht die Absicht, Lestats Körper zurückzugeben). Lestat dankte David für seine Hilfe, indem er ihn gegen seinen Willen in einen Vampir verwandelte. In „Merrick oder die Schuld des Vampirs“ bittet nun Louis de Pointe du Lac David um Hilfe. Er möchte mit dem Geist seiner Tochter und Geliebten Claudia in Verbindung treten, die in „Interview mit einem Vampir“ auf so grausame Weise vernichtet wurde. Louis plagen starke Schuldgefühle, weil er Lestat dabei geholfen hatte, das Vampirkind zu erschaffen und später nicht in der Lage war, sie zu retten. Er hat Angst, dass Claudia als ruheloser Geist herumirrt und wegen seiner Fehler keinen Frieden finden kann. Um Louis zu helfen, wendet David sich an Merrick Mayfair. Merrick, ein Mitglied des farbigen Teils der riesengroßen Mayfair-Familie, ist eine Hexe mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und zudem eine ausgebildete Vodooo-Priesterin. Unter anderem besitzt sie die Fähigkeit, Geister zu beschwören. Früher war David Merricks Vorgesetzter, Vaterfigur und für kurze Zeit ihr Geliebter. Auf Bitten von David und Louis führt Merrick schließlich ein Ritual durch, um den Geist von Claudia zu beschwören. Doch wie Merrick schon sagte : „Ein Geist kann denen, die ihn rufen, fürchterliche Dinge sagen, und hier geht es um den Geist eines Monsterkindes, das gewaltsam gestorben ist!“

„Merrick“ ist einer der weniger gelungenen Romane von Anne Rice. Die Lebensgeschichte von Merrick ist zwar durchaus fesselnd und die Beschreibung der Voodoo-Rituale und Geisterbeschwörungen sind ziemlich überzeugend. Auch die Idee einer Verbindung zwischen den beiden Romanreihen (Vampir-Chronik und Mayfair-Saga) wurde gut umgesetzt. Durch die Wahl eines Mitglieds des farbigen Zweigs der Mayfair-Familie, das mit den Hexen aus der Triologie zwar entfernt verwandt ist, aber mit diesen im Grunde genommen nichts zu tun hat, bieten sich vielfältige Möglichkeiten, die Anne Rice zum Teil auch aufgreift. Jedoch verliert die Geschichte schnell an Schwung. Durch die Wahl von David als Erzähler der Geschichte fehlen wichtige Einblicke in die Gefühle der anderen Figuren. Die Handlungen von Merrick und Louis sind deshalb ziemlich sprunghaft und zum Teil überhaupt nicht nachvollziehbar. Wer eine Weiterentwicklung der Vampir-Chronik erwartet, wird zwar nicht entäuscht, aber leider findet dies erst auf den letzten hundert Seiten statt. Da David die Geschichte erzählt, aber die Veränderung Merrick und Louis betrifft, erfährt man zwar was passiert, leider jedoch nicht warum. Für Fans der Serie ist Merrick sicherlich lesenswert, aber trotz allem ziemlich unbefriedigend.

Homepage der Autorin: http://www.annerice.com/

Wolfgang Hohlbein – Dunkel

Wolfgang Hohlbein ist ein geradezu schreibbesessener Geschichtenerzähler – zu einem wirklichen Literaten und Künstler des geschriebenen Wortes hat es nie gereicht, aber wenn man sich darauf einstellt und den Geschichten selbst hingibt, nimmt man ihm dieses Manko auch nicht übel. Immerhin hat er es mit den Jahren geschafft, die beständige Nutzung abgeschliffener Phrasen und dramaturgischer Wortplattitüden einzudämmen. Dass bei der enormen Masse an Veröffentlichungen nicht viel Muße für literarische Feinheiten bleibt, ist nachvollziehbar – weit über 200 Bücher in 20 Jahren Schreibtätigkeit zeugen von einem beeindruckenden Schaffensdrang. Hohlbein geht es nicht um eloquente Satzkonstruktionen oder ausgefeilte Wortgebilde, sondern um die Geschichten; und dass er diese ansprechend zu präsentieren weiß, zeigt sein für deutsche Autoren erstaunlicher Erfolg. Natürlich ist es schon etwas verwunderlich, wie es zu dieser allgemeinen Beachtung kommen konnte, da auch seine Geschichten unter dramaturgischen Schwächen leiden, sich die Ideen gern wiederholen und so manches Werk rein kommerziell motiviert ist, aber nehmen wir Hohlbein einfach hin wie er nun einmal als Autor ist, gönnen ihm den Erfolg seines Schaffens und gestehen ihm die herausragende Stellung in der Autorengemeinde zu – und gerade durch seinen schlichten Stil gelingt es ihm in besonderem Maße, Kinder und Jugendliche für die phantastische Literatur zu interessieren, was ich ihm sehr zugute halten möchte.

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Rice, Anne – Interview mit einem Vampir

Anne Rice, am 4. Oktober 1941 in New Orleans geboren, schreibt nach dem Tod ihrer Tochter Michele durch Leukämie in nur fünf Wochen den Roman „Interview with the Vampire“.
In dem 1974 in den USA veröffentlichten Roman verliert der junge Plantagenbesitzer Louis de Pointe du Lac durch ein Unglück seinen Bruder und mit ihm auch seine Freude am Leben. Voller Selbstzerstörungswut fällt er im Jahre 1791 dem Vampir Lestat de Lioncourt in den Straßen von New Orleans zum Opfer. Aus eigennützigen Gründen verwandelt Lestat Louis in einen Vampir. Anfangs von Lestat und dem Leben als Vampir beeindruckt, erkennt Louis schnell, wie schrecklich das Leben als Vampir ist, wenn man wie er Skrupel hat zu töten. Um Louis an sich zu binden, verführt Lestat ihn dazu, mit ihm zusammen die fünfjährige Claudia in einen Vampir zu verwandeln.
Zusammen ‚leben‘ die drei Vampire anfangs glücklich in New Orleans, bis Claudia bewusst wird, dass sie auf ewig in einem Kinderkörper gefangen ist, der niemals erwachsen werden kann. Dafür beginnt sie ihre beiden ‚Väter‘ zu hassen. Für ewig auf die Hilfe eines anderen Vampirs angewiesen, benutzt sie Louis, um Lestat zu beseitigen. Vergiftet und ausgeblutet werfen sie Lestat in die Sümpfe, in der trügerischen Hoffnung, ihn so für immer losgeworden zu sein. Jedoch ist es gar nicht so einfach, einen Vampir wie Lestat zu vernichten.

Anne Rice‘ Erstlingswerk wird 1978 unter dem Titel „Schule der Vampire“ vom Claasen-Verlag erstmals in Deutschland veröffentlicht. Insgesamt vier weitere Auflagen folgen: zunächst 1989 beim Ullstein-Verlag und 1992 beim Goldmann-Verlag unter dem Titel „Gespräch mit einem Vampir“, und nach der Verfilmung mit Brad Pitt und Tom Cruise 1994 wird es im selben Jahr ebenfalls beim Goldmann-Verlag unter dem selben Titel wie der Film, „Interview mit einem Vampir“, veröffentlicht. 2003 erscheint dann die neueste Auflage auch wieder im Goldmann-Verlag.

Da ursprünglich keine weiteren Vampir-Romane geplant waren, ist „Interview mit einem Vampir“ ein abgeschlossener Roman, denn erst der große Erfolg in den USA veranlasste Anne Rice, daraus eine ganze Reihe zu machen. Durch diesen Roman entstand (in den USA) ein neues Feld der Literatur: New Gothic. Erstmals in der damaligen Literatur wird die Geschichte aus der Sicht des Vampirs dargestellt. Man erfährt von der Zerissenheit zwischen der Sehnsucht nach der verlorenen Menschlichkeit und der Sucht nach dem Gefühl und der Macht, die darin liegt, einen Menschen zu töten und über sein Blut seine Lebenskraft in sich aufzusaugen. Schnell vergisst man die mörderischen Monster, die sie ja eigentlich sind, und sieht nur noch ihr allzu menschliches Streben nach Liebe, Wissen und einem Sinn im Leben.
Ein sehr gelungener und packender Roman, bei dem es wirklich schwer fällt, ihn aus der Hand zu legen, bevor man die letzte Seite gelesen und somit alles über Louis, Lestat und Claudia erfahren hat. Vor allem macht gerade dieser erste Teil der Vampir-Chronik süchtig – süchtig nach mehr.

Homepage der Autorin: http://www.annerice.com

Koontz, Dean R. – Schattenfeuer

Rachael Leben steckt mitten in den Scheidungsverhandlungen, als ihr Noch-Ehemann Eric, ein Experte auf dem Gebiet der Genetik, nach einem Streit mit ihr direkt vor ein Auto läuft und ums Leben kommt.
Den Schock noch nicht ganz überwunden, erfährt sie, dass Erics Leiche aus dem Leichenschauhaus verschwunden ist – eine Tatsache, die angesichts der ausgezeichneten Sicherheitsvorkehrungen schlichtweg unmöglich ist.
Doch Rachael ahnt, was passiert ist und fürchtet nun um ihr Leben, denn sie kennt das geheime Projekt, an dem Eric und seine Mitarbeiter bei Geneplan arbeiteten: Die Verlängerung des Lebens durch Genmanipulation. Als die getöteten Versuchstiere wieder lebendig wurden, führte Eric die Genveränderung an sich selbst durch und ist nun wieder von den Toten auferstanden – aggressiver und hassvoller als je zuvor. Mit den Nebenwirkungen hat er allerdings nicht gerechnet: Sein Körper erholt sich innerhalb weniger Stunden von den Unfallfolgen, doch das Zellenwachstum hört nicht auf; die Zornesausbrüche und die Zerstörungswut werden immer animalischer. Hin- und hergerissen zwischen Menschsein und Tierwerden konzentriert sich sein Hass nur noch auf seine Frau.

Rachael und ihr Freund Ben Shadway nehmen die Jagd nach ihm auf, um ihn zurück ins Jenseits zu befördern, und werden dabei selbst verfolgt. Die Regierung weiß ebenfalls von dem Projekt und will es unter ihre Kontrolle bringen, denn wer Unsterblichkeit vergeben kann, hat die ganze Menschheit in seiner Gewalt.
Anson Sharp, der stellvertretende Direktor der Defense Security Agency, nimmt den Fall gerne in die Hand. Da er mit Ben noch eine Rechnung zu begleichen hat, plant er statt einer Verhaftung den Tod der Beiden.
Rachael und Ben bleibt nur die Chance Eric gefangen zu nehmen und mit ihm als „lebendem“ Beweis das Projekt an die Öffentlichkeit zu bringen, um ihr eigenes Leben zu retten.

Wer Dean R. Koontz kennt, weiß genau, dass eine unheimliche Story noch längst nicht alles ist, was der Autor zu bieten hat. Seine Charaktere wirken durch die exakt ausgearbeiteten Hintergründe und eine psychologisch angehauchte Analyse ihrer Taten und Gedanken wie aus dem Leben gegriffen. Der Leser wird stückchenweise in die tiefen Abgründe der Geschichte geführt, die immer wieder mit Überraschungen aufwartet und in einem sehr flüssigen und irgendwie auch ästhetischen Stil geschrieben ist.
Koontz versteht es, seinen Lesern unvermittelt eine Gänsehaut aufzudrücken, nur um sie dann wieder schmunzeln zu lassen. Und irgendwann während der Lektüre schaut jeder wohl mal in die dunklen Ecken seines Zuhauses – nur zur Sicherheit.
Auch „Schattenfeuer“ macht da keine Ausnahme und brilliert zusätzlich noch mit beängstigenden Zukunftsvisionen, die die Frage aufwerfen: Lohnt sich Unsterblichkeit wirklich?
Für alle Grusel- und Horror-Fans sowieso ein ultimatives Muss, allein schon wegen der Beschreibung von Erics Veränderungen! Für alle anderen: Spannung ist von der ersten bis zur letzten Seite garantiert, und erst beim Gruseln spürt man doch wirklich, dass man lebt…

Dean Ray Koontz wurde 1946 in Bedfort, Pennsylvania geboren und gewann mit 20 Jahren bereits den ersten Platz bei einem Schreibwettbewerb. Er besuchte das Shippensburg State Teachers College, heiratete 1966 und lebt heute mit seiner Frau in Orange County / Kalifornien. Seine Bücher erreichten eine Weltauflage von über 100 Millionen Exemplaren in 18 Ländern. Mehrere seiner Romane schafften es in die Bestsellerlisten.
Gerade neu erschienen ist „Der Geblendete“.

[Homepage des Autors]http://www.randomhouse.com/bantamdell/koontz/index.html

King, Stephen – Duddits – Dreamcatcher

Stephen King ist ein Phänomen – zum Autor und seiner Bedeutung für die moderne Belletristik muss an dieser Stelle wohl kaum noch ein Wort verloren werden. Phänomenal allerdings finde ich – neben seinen eindrucksvollen, packenden Werken an sich – seine schriftstellerische Entwicklung und die stilistische Experimentierfreudigkeit, die er gerade im letzten Jahrzehnt an den Tag legte. So versucht er sich auch gern in Bereichen, die jenseits dessen liegen, was ihn zum „King of Horror“ machte und verliert sich dadurch nicht in allmählich langweilender inhaltlicher wie formaler Beliebigkeit, so wie dies leider beispielsweise beim deutschen „Pendant“ Wolfgang Hohlbein zu bemängeln ist.

Doch nun zu „Duddits“. Ein zunächst irritierender Titel – zumal die deutsche Übersetzung des Originaltitels „Dreamcatcher“ eigentlich auch niemandem weh getan hätte –, wenn man nicht weiß, dass dies der Spitzname des zentralen Charakters in Kings Meisterwerk aus dem Jahre 2001 ist. Duddits ist ein vom Down-Syndrom benachteiligter Sonderling, so aufgeweckt wie ein Knäckebrot, aber äußerst liebenswert und menschlich. Im Großteil des Buches scheint er eher eine Nebenrolle zu spielen, entwickelt sich aber alsbald zum Zentrum der Geschichte und eines Geflechtes, das durch den die Handlung tragenden Freundeskreis gebildet wird. Diese Freunde sind – als Erwachsene: Der ziemlich abgerissene, vor sich hinvegetierende Biber; Pete, der Autoverkäufer mit einer hellsichtigen Begabung, deren Herkunft und Bedeutung sich im späteren Verlauf noch erklären wird; Henry, seines Zeichens Psychoanalytiker mit einer ähnlichen mentalen Fähigkeit, die ihm nicht immer nur nützlich in seinem Beruf ist; und schließlich ist da noch Jonesy, ein Geschichtsprofessor, mit dem es das Schicksal gar nicht gut zu meinen scheint. Und auch er teilt die jeweils etwas verschieden ausgeprägten speziellen Geistesgaben seiner Kindheitsfreunde. Als Erwachsene bleibt ihnen von ihren gemeinsam verbrachten Jahren und Verbundenheit nur noch ein alljährlicher, geradezu ritueller Jagd-Ausflug in die Berge, der sich diesmal als höchst schicksalsträchtig erweisen soll. Der Kontakt zu Duddits ist mit dem Älterwerden abgerissen, aber auch dies hat seine Gründe, die erst im späteren Verlauf klar werden sollen. Und als Duddits wieder ins Blickfeld des Geschehens rückt, erwachen längst vergessene Erinnerungen und Fähigkeiten bei den Freunden, die Vergangenheit fließt mit der Gegenwart zusammen und Freunde, ebenso wie einzelne, scheinbar unwichtige Details im Erzählverlauf bilden wieder eine Einheit. Im Zentrum des Traumfänger-Netzes sitzt – ein passiver Spielball der Mächte und dennoch der Schlüssel zu allem – der von der Restwelt bemitleidete und belächelte Duddits.

Über den weiteren Verlauf der Geschichte will ich nicht zu viele Worte verlieren, sondern nur als Stichwortgeber anreißen, dass der Trip in die Wälder nach der Begegnung mit dem seltsamen Jäger McCarthy, einer eigentümlichen Infektion und der Quarantäne des gesamten Landstriches durch das Militär – die Charakterzeichnung des Befehlshabers allein ist eine wahre Wonne und Genuss – zu einer stürmischen, atemberaubenden Achterbahnfahrt mutiert, die nicht nur für die Freunde alles verändern wird.

Wie von King gewohnt, widmet sich der Prolog – der auf ein paar neugierig machende und Themen weisende Nachrichtenauszüge von 1947 bis 2000 folgt – der Formgebung der Hauptfiguren; für King ist dieser einführende Part allerdings ungewöhnlich kurz geraten, denn sofort mit Teil 1 des eigentlichen Buches geht es direkt in die Vollen und der Spannungs- und Handlungsbogen setzt ohne weitere Vorwarnung ein, packt den zu diesem Zeitpunkt bereits reichlich neugierig gewordenen Leser und schleift ihn förmlich durch ein Nerven zerfetzendes Abenteuer, das eine Mischung aus Akte-X-Material, Science-Fiction, Actionfilm, Psychothriller und Horror ist, wobei Elemente einfließen, die King bereits bei Werken wie „The Stand“, „Tommyknockers“ und „The Green Mile“ einsetzte, die hier aber zu ganz neuen Höhen aufgefahren, erweitert und perfektioniert werden und keineswegs zu einer unnötigen Wiederaufwärmungskur geraten.

Besonderen Applaus hat sich King für die plastische Charakterformung der tragenden Figuren verdient; die psychologische Komponente des Romans ist erstaunlich und erschreckend zugleich. Der Spannungsbogen sowohl der Handlung als auch der stückweisen Informationsfreigabe reißt keinen Augenblick ab, verliert sich nie in nutzlosen Beschreibungen und selbstverliebter Schriftstellerei – obwohl das schreiberische Niveau des Romans in King-typischem Wälzerformat hoch angelegt ist – und weiß zu überraschen, zu packen und zu begeistern. Es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen, wenn die Geschichte den Leser einmal in sich aufgesogen hat; man sollte sich also auf schlaflos durchlesene Nächte einstellen und Beruhigungsmittel für die Nerven bereit halten – denn die wird man dringend benötigen. Das ungewöhnlicherweise gänzlich von Hand vorgeschriebene und vielleicht gerade deshalb so ungekünstelt-authentisch und schriftstellerisch überzeugende „Duddits – Dreamcatcher“ kann es als potenzieller Genre-Klassiker in jedem Fall mit dem Format von „Es“ aufnehmen und ist ein Meilenstein in Kings Schaffenswerk geworden.

Homepage des Autors: http://www.stephenking.com