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Die Trolle

_Teaser_

|Nach den Orks, den Zwergen und den Elfen stehen nun „Die Trolle“ im Mittelpunkt des nächsten großen Romans um die Geschöpfe der Fantasy. In der Tradition von Markus Heitz und Bernhard Hennen bieten auch „Die Trolle“ eine action- und temporeich erzählte Geschichte um Krieg, Verrat, Verlust und Liebe.

Düsterer als seine Vorgänger, schildert der Roman jedoch eine ganz eigene, zerrissene Welt. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine spannende Reise in das vom Bürgerkrieg beherrschte Land Wlachkis, in dem Menschen und Trolle nach Jahrhunderten der Trennung wieder aufeinander treffen.

Der junge Rebell Sten ist ein Kämpfer, dem nahezu jedes Mittel recht ist, um die tyrannische Fremdherrschaft über sein Land zu beenden. Die Trolle erscheinen ihm zunächst fremdartig, grausam und gnadenlos. Dennoch findet Sten im Verlauf der Handlung heraus, dass auch sie um das Überleben ihres Volkes kämpfen. Während ihrer gemeinsamen Reise entwickelt sich ein vorsichtiges Verständnis zwischen den unfreiwilligen Verbündeten. Schon bald müssen sie gemeinsam einen Weg finden, sowohl den Tyrannen Zorpad aufzuhalten, der einen vernichtenden Feldzug plant, als auch die Sonnenmagier vom Orden des Albus Sunas, die etwas in den Tiefen der Erde geweckt haben, das weitaus mehr als nur die Trolle bedroht.|

_Der Autor_

Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid im Sauerland, studierte zunächst BWL in Marburg, wechselte dann jedoch zu Anglistik und Medienwissenschaft. In seiner Studienzeit begann der begeisterte Rollenspieler und Fantasy-Leser, selbst zu schreiben. Nach dem Studium zog er nach Heidelberg, arbeitete als Texter bei einer Werbeagentur und konzentrierte sich gleichzeitig auf seine erste Veröffentlichung.

Ab April geht der Autor auf Lesereise und wird dann auch auf verschiedenen Conventions, z. B. dem MART in Mannheim und dem Nordcon, anzutreffen sein.

http://www.hardebusch.net/

_Die Trolle – Leseprobe, Kapitel 1_

Der Wald lag in den Abendstunden ruhig da. Kaum ein Tier war zu hören, während die letzten Strahlen der Sonne durch sein Blattwerk drangen. Mächtige, moosbewachsene Bäume ragten Dutzende von Schritten in die Höhe, und zwischen ihnen bildeten Büsche und Farne ein undurchdringliches Unterholz. Als die Hufschläge des Reitertrupps schließlich verhallten, kehrten auch die alltäglichen Geräusche des Forstes zurück und erinnerten Sten an die vielfältigen Gefahren, die sein Leben bedrohten.

Vergeblich rüttelte er an den dicken Eisenstangen seines Käfigs. Natürlich gaben sie nicht nach. |Alles in allem haben meine Feinde gute Arbeit geleistet|, ging es Sten durch den Kopf.

Auch wenn er aufrecht sitzen konnte, solange er die Beine herausbaumeln ließ, war der Käfig eng und unbequem und schaukelte bei jeder Bewegung. Die kalten Stangen drückten gegen Stens nackte Haut und gruben sich schmerzhaft in sein Fleisch. Zu eng waren sie, als dass er hätte hindurchschlüpfen können, doch ohne Frage würde das Maul eines Wolfes oder die Tatze eines Bären ihn erreichen können.

Marczeg Zorpads Krieger hatten die Eisenkonstruktion sorgfältig überprüft und den schweren Bolzen mit Hammerschlägen in der Verankerung verkeilt. Ohne Werkzeug war es unmöglich, den Eisenstift zu entfernen und die kleine Tür zu öffnen. Die Kette, mit welcher der Käfig an dem dicken Ast befestigt war, war ebenso fest und zuverlässig geschmiedet. Auch der Baum war gut ausgewählt, ein altes starkes Eichengewächs, an dessen Stamm feuchtes Moos emporwuchs. Dieser Baum hatte noch viele Jahrhunderte Leben vor sich und würde noch weiter wachsen, wenn Sten schon lange in dem Käfig verrottet war. Die Freiheit war nur zwei Schritt unter ihm, und sie leuchtete im Abendlicht verlockend grün, doch Sten hätte in seinem Käfig statt der zwei Schritt auch hundert hoch hängen können, denn der Boden blieb für ihn unerreichbar.

Wenn er bedachte, dass Zorpad das Aussetzen eines Mannes in den düsteren Wäldern seiner Heimat von Stens eigenem Volk, den Wlachaken, übernommen hatte, so konnte er durchaus die Ironie seiner ausweglosen Lage erkennen. Die Idee aber, den Verurteilten in einen Metallkäfig zu stecken, stammte natürlich von den Masriden. Früher hatte man die Verbrecher einfach mit festen Stricken an die Bäume gebunden. In den alten Tagen war dies eine Art Gottesurteil gewesen, und nicht wenige Lieder seines Landes erzählten von jenen, die durch Glück oder Geschick dem sicheren Tod entkommen und zurückgekehrt waren, um Rache zu nehmen an jenen, die ihnen den Tod hatten bringen wollen.

Sten lachte bitter auf. Die neuen Herren des Landes wollten allemal sicherstellen, dass die Götter ihre Urteile im Sinne der Masriden fällten. Oder besser gesagt ihr Gott, denn sie verhöhnten die alten Geister des Landes und unterdrückten den Glauben an diese, wo immer sie auf ihn stießen.

Ohne fremde Hilfe würde Sten sich aus dieser Falle nicht befreien können, und so tief im Wald verborgen würde ihn niemand finden, bevor er starb. Das grobe Hemd, das sie ihm als einziges Kleidungsstück gelassen hatten, bot wenig Schutz vor den Elementen. Hinzu kamen die Auswirkungen der Folter, die Sten nicht gerade widerstandsfähiger gemacht hatte. Er konnte sich gut vorstellen, wie er aussah, nur mit dem schmutzigen Leinenhemd bekleidet, überall grün und blau geschlagen, das lange, dunkle Haar strähnig und verfilzt, das schmale Gesicht von Erschöpfung, Schmerz und Schlafmangel gezeichnet.

|Vermutlich sehe ich jetzt schon aus wie ein wandelnder Toter|, dachte Sten und grinste finster. Es schien tatsächlich an der Zeit zu sein, sich mit dem Gedanken an den Tod abzufinden. Schnell verdursten würde der junge Krieger nicht, dazu war es zu feucht, und vermutlich würde es in den nächsten Tagen mehr als genug regnen. Wenn er also nicht verhungerte, würde ihn eine der unzähligen Gefahren der dunklen Wälder das Leben kosten.

Auf der Flucht vor den Häschern des Marczegs der Masriden war Sten oft tief in den Wald eingedrungen, und er wusste mehr als genug über den dunklen Forst. Viele Geschichten, die man sich nachts an den Feuern erzählte, waren natürlich Ammenmärchen, aber unter all dem Aberglauben verbarg sich auch ein Körnchen Wahrheit. Es gab gute Gründe, den Wald zu meiden, und je tiefer man sich hereinwagte, desto gefährlicher wurde es. In den lichtlosen Tiefen schlichen Kreaturen durch das Unterholz, denen man besser aus dem Weg ging. Wölfe und Bären, die den Städtern und Bauern solche Angst einjagten, wirkten gegen diese geradezu harmlos. Schlimmere Dinge als Tiere, die ohnehin die Nähe der Menschen eher mieden, bedrohten den Wanderer im Herzen des Forstes. Und in der Nacht kamen diese Kreaturen aus ihren Löchern gekrochen auf der Suche nach Opfern und Beute.

Die spitzohrigen |Vînai| waren gnadenlose Jäger, die Mensch und Tier aus bloßer Freude am Töten mit ihren zielsicheren Pfeilen spickten. Sie duldeten keinerlei Eindringen in ihre Länder im Herzen des Waldes. Neben ihnen gab es die verfluchten |Zraikas|, die in eine fremde Gestalt schlüpfen konnten und mit ihren tödlichen Reißzähnen und Klauen kaum zu besiegen waren. Von anderen dämonischen Kreaturen hatte Sten nur gehört, doch auch in den geflüsterten Geschichten mochte durchaus ein Körnchen Wahrheit stecken. Vermutlich würde er es schon bald herausfinden. Er lachte freudlos, als er daran dachte, dass diese Bekanntschaft wohl eine kurze und äußerst unerfreuliche werden würde.

Inzwischen war die Sonne gänzlich hinter den Bergen verschwunden und beleuchtete nunmehr die niedrig hängenden Wolken am Himmel. Zusammen mit dem letzten Licht der Sonne schwand auch Stens letzte Hoffnung auf Rettung. Wenige würden es wagen, nachts in die Wälder einzudringen, selbst wenn sie denn überhaupt wüssten, dass Sten noch lebte.

|Immerhin ist es hier ein wenig gemütlicher als in Zorpads Kerkern|, dachte Sten grimmig und versuchte, eine bequemere Sitzposition zu finden, doch irgendwie schien er überall blaue Flecken zu haben. |Vielleicht finde ich heute Nacht ja sogar etwas Schlaf, immerhin prügeln seine Häscher nicht mehr auf mich ein.|

Aber an Schlaf war kaum zu denken, auch wenn Sten von den Entbehrungen der letzten Tage und den Verhören stark erschöpft war, denn zu unbequem war sein luftiges Gefängnis. Dazu kreisten seine Gedanken unablässig um seine Freunde und die Gefahren, die ihnen drohten.

Mit der Dunkelheit drangen mehr und mehr fremdartige Geräusche an seine Ohren, Tiere schrien, das Laub raschelte, und immer wieder erhaschte Sten aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Die einsetzende Dunkelheit verwandelte den Wald, die Bäume erhoben sich als dunkle Schatten, und zwischen ihnen herrschte schon bald Finsternis, die alle möglichen Schrecken verbergen mochte. Zunächst schien noch der Mond, doch dann türmten sich dunkle Wolken am Himmel auf. Bald schon konnte der Wlachake nur noch wenige Schritt weit sehen, was das nächtliche Spektakel der Waldtiere noch unheimlicher machte. Aber schließlich gewann die Erschöpfung Oberhand, und Sten verfiel in düstere Träume, die von einem Unwetter beendet wurden.

Eiskalter Regen weckte ihn, und der grollende Donner ließ ihn zusammenzucken. Kalte Winde zerrten an seinem Leinenhemd und trieben den Regen fast waagerecht vor sich her. Innerhalb weniger Augenblicke war Sten vollkommen durchnässt und fror erbärmlich.

Immer wieder schlugen Blitze in der Ferne ein, erhellten die Landschaft für einige Augenblicke und wurden von mächtigen Donnerschlägen gefolgt. Sten konnte sich nicht erinnern, jemals einen solch wütenden Sturm erlebt zu haben. Vielleicht lag es aber auch nur an seiner unbequemen Warte, die ihn dem Zorn der Elemente schutzlos auslieferte. Der schwere Eisenkäfig schaukelte im Wind, der Ast knarrte bedrohlich, und es kam Sten so vor, als werde er sogleich zu Boden stürzen. Doch die starke Eiche hielt und würde wohl zur letzten Ruhestätte für Sten cal Dabrân werden.

Mutlos kauerte er sich zusammen und schlang die Arme um den Oberkörper, um sich ein wenig zu wärmen. Vielleicht würde er schon in dieser Nacht erfrieren, denn zu dem Regen gesellten sich jetzt auch noch eisige Hagelkörner, die ihn schmerzhaft trafen.

Niemals seine Heimat wiedersehen, seine Familie, seine Freunde … Verzweiflung überkam ihn und raubte ihm die letzte Kraft aus den müden Gliedern. So saß er da, während das Unwetter um ihn herum tobte. Er musste an Flores’ warnende Worte bei ihrem letzten Treffen denken, die er so leichtfertig in den Wind geschlagen hatte. Seine letzten Worte seiner Schwester gegenüber waren absichtlich verletzend gewesen, und nun würde er sterben, ohne sie wieder gutmachen zu können.

Ein Knacken, das sogar das Rauschen der Bäume im Wind übertönte, ließ ihn aufschrecken. Hastig suchte er mit Blicken die kleine Lichtung ab, doch in der Dunkelheit konnte er wenig erkennen, bis ein gezackter Blitz über den Himmel zuckte und den Wald für einen Augenblick erleuchtete. Grelle Nachbilder tanzten durch Stens Blickfeld, mehrere riesige, menschenähnliche Gestalten, die auf der Lichtung standen. Es dauerte einige hämmernde Herzschläge lang, bis sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, Herzschläge, in denen er sich einredete, dass er sich getäuscht habe, dass dort in der Nacht nichts gewesen sei.

Und dann sah er sie, schwarze Schatten vor der Dunkelheit des Waldes. Vier, nein fünf, fast doppelt so groß wie ein Mann, mit mächtigen Schultern und langen, muskulösen Armen. Wie von Sinnen vor Angst warf sich Sten gegen die Stangen des Käfigs, um ihnen zu entkommen. In der Finsternis sah er eines der Ungeheuer auf sich zugehen. Verzweifelt versuchte Sten von dem Wesen wegzukommen, doch es war unmöglich. Hilflos musste er zusehen, wie der Schatten sich näherte, bis die Kreatur kaum eine Armeslänge entfernt stehen blieb. Obwohl der Käfig sicherlich zwei Schritt über dem Boden hing, war es dem Monstrum ein Leichtes, hineinzuspähen. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, wieder war die Lichtung für einen Herzschlag in Licht getaucht.

Abgrundtiefe Furcht erfüllte Sten, als er das ebenso massige wie hässliche Haupt sah. Der Kopf war grob menschlich, doch die Linien des Gesichts verliefen nahezu gerade, und die hohen Wangenknochen und das kantige Kinn wirkten wie in Stein gemeißelt. Sein Magen zog sich zusammen, als er die Augen sah, die sich unter knochigen Brauen verbargen, während die Ohren viel zu klein für den riesigen Kopf schienen. Die Stirn war flach und seltsam gefurcht, und darüber ragten fingerdicke, hornige Auswüchse auf, die Sten in Ermangelung eines besseren Wortes als |Haare| bezeichnete. Zudem wölbten sich zwei mächtige, lange Hörner von der Stirn über den Schädel, was dem Monstrum ein dämonisches Aussehen gab. Am furchteinflößendsten jedoch war das Maul der Kreatur, breit und mit vollen Lippen, hinter denen gewaltige Hauer wie die eines Ebers zum Vorschein kamen, als es sie hämisch zurückzog.

Unfähig, sich zu rühren oder gar etwas zu sagen, starrte Sten auf die albtraumhafte Erscheinung. Sein Herz schlug schmerzhaft schnell, als das Monstrum mit einer der riesigen Pranken nach dem Käfig griff und ihm einen Stoß versetzte, der Sten durch Mark und Bein fuhr. Schließlich beugte es sich nach vorn, und Sten konnte ein Schnaufen hören, als wolle es in der Dunkelheit seine Witterung aufnehmen. Nach einer schier endlosen Zeit wandte sich das Wesen ab und stapfte zurück zu seinen Gefährten.

Der Regen dämpfte die Geräusche, die es von sich gab, aber Sten vernahm raue Laute, die tief aus der Kehle kamen. Bevor er sich einen Reim auf diese Ungeheuer machen konnte, kehrte eines zu ihm zurück, ergriff ohne viel Federlesens die Eisenstangen des Käfigs und rüttelte an ihnen. Sten wurde von einer Seite auf die andere geschleudert und schlug schmerzhaft gegen die harten Gitterstäbe. Verzweifelt klammerte er sich fest, bis das Monstrum von dem Käfig abließ und ihn musterte.

»Sprichst du?«, fragte es unvermittelt. Die Worte klangen kehlig, aber verständlich. |Bei allen Geistern, das Geschöpf
spricht meine Sprache!|

Für einen Herzschlag lang war Sten zu überrascht, um zu antworten, doch als das Wesen wieder nach dem Käfig griff, beeilte er sich zu bejahen: »Ja! Ja, ich kann sprechen.«

»Gut. Was tust du hier?«, grollte die tiefe Stimme über die Lichtung.

»Äh. Sterben? Ich bin gefangen und soll hier verrecken«, antwortete Sten.

»Gefangen? Von wem?«

»Sein Name ist Zorpad.«

»Zorpad? Wer ist Zorpad?«

»Er ist ein Mensch. So wie ich auch.«

»Wir wissen, was Menschen sind«, sagte das Wesen mit donnernder Stimme.

»Zorpad ist der Herr dieses Landes. Oder zumindest wäre er das gern«, sagte Sten rasch.

Sein Gegenüber legte misstrauisch den gewaltigen Kopf schief. »Nicht so schnell«, knurrte es. »Gibt es noch mehr Menschen hier? Oder bist du allein?«

»Ich bin allein.«

Diesmal wandte das Wesen sich an seine Begleiter und brüllte quer über die Lichtung: »Er ist allein«, was diese veranlasste, sich zu nähern und sich neugierig um den Käfig herum aufzubauen. Plötzlich war Sten von einer Hand voll gewaltiger Kreaturen umgeben, die ihn neugierig musterten. Ihre hässlichen Schädel näherten sich dem Käfig, und die dunklen Augen wanderten über Sten, als sei er ein Stück Vieh auf dem Markt. Einige von ihnen schnüffelten an dem Käfig, und Sten konnte ihren beißenden Atem riechen. Andere berührten die Eisenstangen und stupsten Sten mit ihren dicken Fingern an, deren harte Nägel wie Krallen geformt waren. Der Regen prasselte auf ihre Leiber und lief in Strömen an ihnen herab, doch die Nässe und Kälte schienen ihnen nichts auszumachen.

»Wo ist der Herr des Landes?«, erkundigte sich der bisherige Sprecher.

»In seiner Burg, bei Teremi. Was, bei allen Dunkelgeistern, seid ihr?«, entfuhr es Sten.

»Wir sind Trolle!«, entgegnete das Wesen stolz und richtete sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf, während Sten der Schrecken in alle Glieder fuhr. Seit vielen Jahren hatte man keine Trolle mehr gesehen, und inzwischen hieß es, dass sie ausgestorben seien – oder vielleicht sogar, dass sie niemals mehr als Legenden gewesen seien. Jetzt aber standen sie vor ihm, Kreaturen, die albtraumgleich aus finsteren Geschichten zurückgekehrt waren.

_CHRISTOPH HARDEBUSCH_
[Die Trolle]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3453532376/powermetalde-21
[pdf-Leseprobe des Verlages]http://www.randomhouse.de/content/edition/excerpts/351__53237__4088.pdf
|Heyne|, März 2006
Paperback, 704 Seiten

Karl Heinz Ohlig / Gerd R. Puin (Hg.) – Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam

Über die Zeit Mohammeds ist historisch fast überhaupt nichts bekannt. Neuere Islamforscher stoßen derzeit allerdings auf eine recht unerwartete Sicht der frühen Entwicklungsgeschichte des Islam. So gehen sie derzeit davon aus, dass es einen historischen Mohammed in der Form, wie er später im Koran festgehalten ist, überhaupt nicht gegeben haben könnte. Sie gehen stattdessen davon aus, dass „Muhammad“ die arabische Bezeichnung für Jesus war, der später durch die Verehrung eines „Ali“ („Erhabenen“) abgelöst wurde. Da Jesus nach dem Koran nicht am Kreuz gestorben ist, hat er nach seiner Entrückung die Funktion eines „Verborgenen Imams“.

Mohammed („der Bevollmächtigte“, „der Gepriesene“, „der Erwählte“) ist der Jesus, mit dessen jederzeitigem Erscheinen die Araber zu dieser Zeit noch fest gerechnet haben. Erst im 8. und 9. Jahrhundert wurde Mohammed zu einer eigenständigen Gestalt gemacht, mit Mekka und Medina verbunden, um eine arabische Identität herzustellen. Die ältere Ali-Verehrung wurde zunächst wieder zurückgedrängt, lebt aber heute noch in den schiitischen Strömungen fort. Die Weiterentwicklung des Muhammedanismus erforderte die Bildung einer Paarung, welche die Verkündigung und ihre Umsetzung repräsentiert. Dem Erwählten (muhammad) wird ein Erhabener (Ali) beigesellt, welcher der Bevollmächtigte des Propheten und Exekutor seines Willens ist.

Mit Ali sind die altsyrischen Märtyrervorstellungen verknüpft, und jeder Ali wird ebenso zum Märtyrer wie auch seinen Nachkommen das Martyrium nicht erspart bleibt, denn das Fortwirken der Vorstellungen des Kults der syrischen Märtyrer muss auch für ihn und seine Familie das Erdenleben in einer Katastrophe enden lassen. Nach dieser Erfahrung ist auch das Ende des historischen Alis und seiner männlichen Nachkommen vorhersehbar.

Der überlieferte Koran scheint wenig mit einem wirklichen Mohammed zu tun zu haben, stattdessen gab es lange vor Mohammed eine Art von Urkoran mit Hymnen aus einem arianischen Milieu. Der Koran ist in einem arabisch-syroaramäischen Sprachumfeld entstanden und seine grammatische Struktur entspricht durchweg der syrischen. In dieser Frühgeschichte waren es sogar eigentlich Christen, die im Nahen Osten lebten. Kulturell am wichtigsten waren hierbei der Iran und Syrien, wo die Staatsform immer noch der zoroastrische Feuerkult war, aber die Bevölkerung mehrheitlich als Religion bereits das Christentum angenommen hatte. In diese Zeit werden später rückführend Mohammed und Medina integriert, der 622 nach Christus einen die muslimischen und jüdischen Stämme der Oase zusammenfassenden Staatenbund errichtete, für den er die erste schriftliche Staatsverfassung der Welt erließ. Damit beginnt die islamische Zeitrechnung. Dieser Staat war revolutionär, weil er erstmals in der Weltgeschichte die Staatsangehörigkeit nicht an Kriterien wie Sippe, Rasse, Hautfarbe oder Sprache knüpfte, sondern allein an ein religiöses Bekenntnis. Medina war insofern ein ideologischer Staat.

Die Menschen sprachen allerdings noch aramäisch; wichtig war zu dieser Zeit eigentlich Syrien, wo sich in Damaskus die Heilige Stätte des Johannesgrabes befand. Das Heiligtum Johannes‘ des Täufers befand sich in einer Krypta im ehemaligen Tempelbezirk. Dort wurde in einem Korb die Reliquie des Täuferhauptes verwahrt. Johannes der Täufer stand als Prophet in hohem Ansehen bei den Arabern und seine Krypta stand als Konkurrenz zur Grabeskirche in Jerusalem. An religiösen Gegenkräften standen sich in dieser Zeit hauptsächlich auf der einen Seite die nestorianischen und arabischen Christen Irans und auf der anderen Seite die griechisch-römische Christenheit gegenüber – nicht, wie in den Geschichtsbüchern behauptet, arabisch-islamische Eroberer gegen byzantinisch-christliche Kaiser. Es handelte sich gänzlich um einen Religionskrieg zwischen den orientalischen Anhängern eines semitischen Verständnisses vom Christentum und den Vertretern der hellenistischen und römischen Sonderentwicklung.

Wie eingangs schon dargestellt, war die neue religiöse Bewegung unter der Fahne mit dem „muhammad“-Motto lediglich das Fortwirken der syrischen Theologie eines spezifischen Christentums. Der Islam, wie er als solcher dann verstanden wurde, ist das Werk von Al-Ma`mun (749). Dieser Imam traf mit Gnostikern zusammen. Selbst zu seiner Zeit bezog man den Terminus „muhammad“ noch auf Jesus: „Unser Prophet Jesus-Mohammed ist auserwählt/gepriesen“. Erst 839/840 nach dem Zerfall der Bewegung, welche für die Durchsetzung eines Verständnisses von Jesus als dem „erwählten / gepriesenen Gottesknecht“ stand, wird die Vorstellung von einem „Muhammad bn `Abd Allah / der Gepriesene, Sohn des Gottesknechtes“ als eines Gesandten Allahs im Rahmen einer neuen, staatsreligiösen Ausrichtung des Verständnisses von Islam verkankert.

Der Felsendom von Jerusalem wird als das früheste islamische Bauwerk betrachtet (694 n.Chr.), aber die Übersetzung der Inschriften richtet sich ausschließlich an Christen, die seit dem Konzil von Nizea (325) eine andere Auffassung von Christus vertreten. Es entspricht dem vornizenischen syrischen Christentum, das nicht, wie es heute meist heißt, judenchristlich war, sondern zutreffender syrisch-arabisches Christentum darstellte. Auch hier war das Gerundiv „muhammad“ kein Eigenname, sondern als Eulogie in Gebrauch: („gelobt sei“) Jesus, Sohn der Maria. Geht man aber davon aus, dass es bereits 570 bis 632 den historischen Mohammed gegeben haben sollte, so bestätigen das die Inschriften im viel späteren Felsendom nicht. Also wäre der historische Mohammed nur als Symbolfigur anzusehen.

Die Textanalyse der Inschriften zeigt außerdem sehr deutlich, dass mit dem Begriff „islam“ kein Eigenname, sondern die „Übereinstimmung“ mit der Schrift gemeint ist. Da nach dem christologischen Inhalt das Evangelium gemeint ist, und nicht der Koran, bestätigt sich erneut die Vermutung, dass der historische Islam frühestens ab Mitte des 8. Jahrhunderts entstanden ist. Der vorher schon vorhandene Koran war ein Buch des syrisch-arabischen Christentums. Und gesprochen wurde dort seit rund 1000 v. Chr. Aramäisch, das auch noch Jesus‘ Muttersprache war. 600 Jahre vor Christus entstand der Zoroastrismus (Zarathustra).

Syrien ist kein homogener ethnischer und kultureller Raum. Vor allem der Hellenismus hat seit den Eroberungen Alexanders des Großen tiefe Spuren hinterlassen, auch kommen starke Einflüsse der persischen Kultur hinzu. Westsyrien dagegen gehörte schon in vorchristlicher Zeit, dann in der römischen Kaiserzeit und bis zur Zeit des Kaisers Heraklios zum Römischen Reich. Ungeachtet all dieser Einflüsse prägten die syro-aramäische Tradition, Denkweise und Sprache die Grundströmung dieses Raumes. In Syrien konnte das Christentum schon früh Fuß fassen. Ein beträchtlicher Teil der neutestamentlichen Schriften ist in Syrien entstanden. In Antiochien, dem späteren kulturellen Zentrum Westsyriens, wurden die Anhänger Jesu erstmals als Christen bezeichnet.

In dieser frühen Zeit waren vor allem noch gnostische Richtungen beheimatet: Der Markionitismus ist ab dem Ende des 2. Jahrhunderts in Syrien sehr verbreitet. Auch die „Oden Salomos“ und das gnostische Thomasevangelium sind im 2. Jahrhundert in Syrien entstanden, ebenso das Perlenlied in den apopkryphen Thomasakten, wahrscheinlich auch das Phillipusevangelium. Auch die beiden „Bücher des Jeu“, in denen Seth eine herausragende Rolle spielt, wie überhaupt die sethianische Gnosis und die mit ihr verwandte Barbelo-Gnostik (im „Apokryphon des Johannes“ überliefert), sind diesem Raum zuzuordnen. Ganz sicher gilt das auch für die im Irak und Iran entstandenen Mandäer (von manda, Gnosis). Diese benutzten zunächst die Selbstbezeichnung Nazoräer und werden im Koran Sabier genannt. Der Manichäismus ist im 3.J ahrhundert in Persien entstanden.

In Syrien konnte also das Konzil von Nizäa nie richtig Fuß fassen. Noch im 5. Jahrhundert gab es unter den syrischen Christen weder Mönchstum noch Zölibat und sogar die Oberhäupter der syrischen Kirche waren verheiratet. Erst im 6. Jahrhundert änderte sich dies. Die Verurteilung des Nestorius auf dem Konzil von Ephesus 431 hat die syrische Kirche nicht mitgetragen.

Der wichtige Unterschied aber zum Konzil von Nizäa ist, dass in der aramäisch-syrischen Kirche Jesus zwar „Gottessohn“, aber dennoch nur Mensch ist. Der Gottessohntitel ist lediglich ein Würdename – einer unter vielen –, kein Seinsbegriff wie in Nizäa, sondern heilsgeschichtlich verstanden. Es hat sich eingebürgert die Kirche im Sassanidenreich nach dem Konzil von Ephesus als „nestorianisch“ zu bezeichnen. Jesus ist hier kein Gott, sondern Mensch, die Trinitätslehre Gott, Jesus und Maria (bzw. Heiliger Geist) wird abgelehnt. Jesus ist entrückt und seine Stellvertreter (Mohamed/Ali) übernehmen seine Rolle.

All das besagt auch der Koran. Lediglich der Kreuzestod wird im Koran bestritten; reicht das aus, um daraus ein islamisches anstatt nichtchristliches Buch zu machen? Aber selbst in der syrischen Kirche bewährte sich der Geist Gottes in Jesus |bis| hin zum Tod am Kreuz (nicht: |durch| den Tod). Von allen Christen ist gefordert, es ebenso zu tun. Die meisten theologischen Aussagen aus dem Koran – zur Gottesvorstellung, zur Christologie und Eschatologie – stammen aus syrisch-christlichen Traditionen. Aber man kann nicht sagen, der Koran sei antiochenisch oder nestorianisch, aber er ist von der syrischen Theologie geprägt. All das sind spannende Thesen und werfen ein völlig neues Licht auf den Islam.

Literaturgrundlage

Ohlig, Karl Heinz / Puin, Gerd R. (Hg.)
„Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam“
406 Seiten, Hardcover,
Verlag Hans Schiler
10/2005
ISBN 3899301285
ISBN-13: 9783899301281

Mehr Info:

http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
http://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed__%28Prophet%29
http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte__Syriens
http://de.wikipedia.org/wiki/Koran

Buchwurminfos I/2006

Zehn Jahre dauert bereits der „Streit“ und selbst die Reform der _Reform der Rechtschreibung_ nimmt kein Ende. Nach Meinungsforschungsumfragen befürworteten 8 % der Bevölkerung die Reform, 61 % waren dagegen und 31 % unschlüssig. Niemand hält sich daran. Der Vorsitzende des Rechtschreibrates, Hans Zehetmair, nennt das treffend „kollektive Unfolgsamkeit“. Denn Lehrer schreiben weiterhin die bewährte Rechtschreibung an die Tafel, Schüler machen sich über die unsinnigen Regeln lustig und auch sonst kaum ein Bürger richtet sich nach den veränderten Regeln. Auch die Autoren und große Teile der Presse haben die Reform nicht akzeptiert und in zwei Bundesländern, Bayern und Nordrhein-Westfalen, war die am 1. August 2005 endende Übergangsfrist für das Inkrafttreten der Rechtschreibreform um ein Jahr verlängert worden. Die brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka, die bis zum 1. Januar Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) war und ihr Amt turnusgemäß abgab, äußerte sich nun: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden“. Auf der Frühjahrstagung im März wird sich die Kultusministerkonferenz (KMK) mit den Vorschlägen befassen, die der Rat für deutsche Rechtschreibung Ende November gebündelt präsentiert hatte. Die meisten im Gremium vertretenen Verbände – darunter auch der VdS Bildungsmedien und der Börsenverein – haben signalisiert, dass sie die vom Rat erarbeitete Kompromisslösung unterstützen werden. Nennenswerte Änderungen sind vor allem bei der Getrennt- und Zusammenschreibung (etwa „kennenlernen“ neben „kennen lernen“, „aufeinanderbeißen“ neben „aufeinander beißen“), der idiomatischen Adjektiv-Verb-Verbindungen („krankschreiben“ oder „freisprechen“), Zusammenschreibungen, die einen Bedeutungsunterschied markieren („kaltstellen“ statt „kalt stellen“) sowie der Zeichensetzung (zum Beispiel obligatorisches Komma vor „um zu“ oder „ohne“) zu erwarten. Die Abtrennung einzelner Vokalbuchstaben bei der Worttrennung (wie bei „a-ber“, „E-sel“) wird es künftig nicht mehr geben. Schluss ist dann endlich auch wieder mit sinnentstellenden Trennungen wie „Urin-stinkt“. Obwohl das Kapitel Groß- und Kleinschreibung von der KMK als „unstrittig“ eingestuft wird, soll eine Arbeitsgruppe des Rechtschreiberats noch einmal Detailfragen klären. Auf jeden Fall werden die Beschlüsse des Rechtschreiberates und der KMK den Schulbuchverlagen wieder Änderungen bescheren.

Seit mindestens zwanzig Jahren – mehr als diese Zeit bin ich mittlerweile in die Branche involviert – klagen bereits die Buchhandlungen über zu wenige Umsätze bzw. kontinuierlichen Umsatzrückgang und hoffen so sehr auf wirtschaftliche Änderungen. Ganz viele der kleinen Buchhandlungen sind in dieser Zeit von der Bildfläche verschwunden. Aber die _Umsatzzahlen_ des Weihnachtsgeschäftes 2005 sind die bislang drastischsten in all „meiner“ Zeit. Das Weihnachtsgeschäft ist nicht mehr das, was es einmal für den Handel war. Mit Beginn der Weihnachtszeit lag der Umsatzrückgang in den Buchhandlungen zwischen 15 % bis hin zu 40 % ! Je näher Weihnachten rückte, desto besser sahen die Zahlen aber dann aus. Ab dem dritten Advent belief sich das Minus im Schnitt noch auf 3 % zum Vorjahr. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den kleinen unabhängigen Buchläden und den großen Ketten. In den Ketten lief das Geschäft einigermaßen positiv, in den kleinen Läden dagegen schickten die Inhaber teilweise ihre Mitarbeiter aufgrund mangelnder Kundenfrequenz schon am Nachmittag nach Hause. Dauerhaft im positiven Bereich sind die Hörbücher, auch wenn der Zuwachs im Weihnachtsgeschäft 2005 erstmals deutlich unter 10 Prozent lag. Noch im Jahr davor hatten die Hörbücher ein Umsatzplus von fast 20 Prozent erreicht. Auch Kinder- und Jugendbücher verkauften sich besser – sicherlich noch eine Auswirkung von »Harry Potter und der Halbblutprinz«. Ihr Umsatz liegt bei plus 9,5 Prozent. Ein Plus gibt es auch im Bereich Schule und Lernen mit einem Wert von 4,0 Prozent. Alle anderen Büchersparten hingegen sind aber im Minus, wenn auch kurz vor Weihnachten dann Unterhaltungsliteratur, Krimis und die Toptitel der Bestseller (allesamt in höherpreisigen Hardcover-Ausgaben) nochmals zulegten. Der Sparkurs der neuen Bundesregierung trug alles andere als zur Konsumlust bei und die hohen Öl- und Gaspreise haben die meisten Menschen sicher mehr als nur erschreckt. Immerhin verschenken 60 % der Bevölkerung zu Weihnachten ein Buch und die Kunden nahmen auch in den Buchhandlungen zu, aber steigende Kundenfrequenz ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einem Umsatzplus.

Für Aufatmen im Handel sorgte die Entscheidung des Bundeskabinetts, den reduzierten _Mehrwertsteuersatz_ von 7 % für Bücher und andere Kulturgüter beizubehalten. Besonders der Börsenverein hatte sich in Berlin immer wieder für die Erhaltung des reduzierten Steuersatzes eingesetzt.

Dagegen ist die Branche in Alarmbereitschaft wegen der hohen Zuwachsraten beim _Gebrauchsbuch-Kauf_. Der Handel nimmt vor allem im Internet problematisch zu. Amazon generiert weltweit und über alle Produktgruppen hinweg bereits 30 % aller Bestellungen über das Marketplace-Programm, das bei jeder Suchanfrage entsprechende gebrauchte Waren anzeigt. Durch die Buchpreisbindung hat das Angebot in Deutschland überdurchschnittliche Bedeutung. Gebrauchte Bücher kosten im Schnitt ein Drittel des Originalpreises, sind häufig neuwertig und werden zum Teil unmittelbar nach der Erstauslieferung angeboten. Damit höhlen sie das Preisbewusstsein beim Endkunden aus – zumal es oft die aktivsten Buchkäufer sind, die sich für ein gebrauchtes Buch entscheiden. Mittelfristig gerät dadurch die Preisbindung in Gefahr. Autoren und Verlage gehen bei schnell wachsenden Umsätzen mit Gebrauchtbüchern leer aus. Der Online-Handel mit Second-Hand-Ware kann zunehmend an die Stelle ihrer Stammumsätze treten. Der Verleger-Ausschuss des Börsenvereins hat deswegen Amazon zu Gesprächen eingeladen, um einen Meinungsaustausch zu ermöglichen. Der Handel mit Gebrauchtbüchern kann natürlich nicht verhindert werden, aber Modelle könnten entwickelt werden, die den Verlagen einen angemessenen Anteil an der Vermittlungsgebühr sichert und vielleicht auch Einfluss auf die Preisgestaltung ermöglichen.

Zum Ende des letzten Jahres gab es im Buchhandel eine Sensation. Alle 26 _Gondrom_-Filialen wurden an den nationalen Marktführer _Thalia_ verkauft. Das Kartellamt muss dem Deal aber noch zustimmen. Reinhold Gondrom bleibt für zwei Jahre Geschäftsführer, mit einer möglichen Verlängerung für weitere drei Jahre. Der Name Gondrom wird beibehalten und weitere Filialen sind geplant. Mit dem Kauf übersprang Thalia gleich zum Auftakt des Jahres die 500-Millionen-Euro-Umsatzmarke im deutschsprachigen Raum. Gondrom hatte zuletzt 60 Millionen Jahresumsatz, Thalia 461 Millionen. Ein weiterer Vergleich: Die _Weltbild Plus Medienvertriebs GmbH_ hatte 2005 in ihren Läden Weltbild plus, Weltbild! und Jokers 266 Millionen Euro umgesetzt. Das Gemeinschaftsunternehmen von Hugendubel und Weltbild betreibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit den drei genannten Ketten rund 310 Buchhandlungen, und Weltbild plus ist zudem zu 51 % an der Wohltat`schen Buchhandlung beteiligt (30 Millionen Euro Umsatz). Weltbild expandiert auch in diesem Jahr mit weiteren zusätzlichen Läden.

Es bleibt also bei den Konzentrationen auf große Konzerne, wie es _Random House_ vormachte. Dessen Expansion nimmt auch kein Ende. 2005 wurden DVA, Kösel, Manesse und die Gerth Medien übernommen.

_Bucheditionen_: Bereits sechs Wochen vor dem Start der _“SZ“-Krimi-Bibliothek_ brachte das Magazin „Stern“ seine Krimi-Edition in den Handel. Vertriebspartner ist das Schwester-Unternehmen Random House, und die überwiegende Zahl der Lizenzen stammt auch aus den Imprints von Random House. Die _“Stern“-Edition_ setzt auf aktuelle Krimis (und konnte in den ersten beiden Monaten – Start war 1. Dezember – 300.000 Bände verkaufen), die „SZ“-Edition dagegen auf Klassiker der letzten 60 Jahre in fünfzig Bänden. Die Süddeutsche Zeitung erwartet allerdings nicht, dass die Krimi-Edition an den Erfolg der „SZ-Bibliothek“ heranreichen kann. Interessant zu sehen ist, dass bislang jedes Buch aus der _“Brigitte“-Edition_ sofort den Sprung in die Bestseller-Verkaufslisten schaffte. Dadurch konnten von den ersten zehn erschienenen Bänden 1,5 Millionen Exemplare verkauft werden. Das Konzept – Empfehlungen von Elke Heidenreich – ist aufgegangen. Die Edition wird im August abgeschlossen und dann 26 Bände umfassen. Ob sie später fortgesetzt wird, ist noch nicht entschieden.

In den _Bestseller-Listen_ vor Weihnachten dominierte ansonsten Joanne K. Rowling mit sieben Harry-Potter-Titeln (da auch der sechste in Englisch dazugehörte). Auf Platz 2 stand Cornelia Funke mit ihrem „Tintenblut“. Natürlich ist auch der Vorgänger „Tintenherz“ hoch im Ranking. Im Januar kam sie auch mit ihrem Buch von 2000 „Herr der Diebe“ in die Charts, da das populäre Kinderbuch als Film in den Kinos angelaufen ist. Durch diese drei Titel schlägt sie die englische Bestsellerautorin, die zwar auch noch mit drei Pottern-Titeln in den Besteller-Listen ist, aber weiter hinten. Marc Levys Liebesroman „Zurück zu dir“ – die Fortsetzung des derzeitigen Kinofilms „Solange du da bist“ – ist einer der gut platzierten derzeitigen Newcomer. Durch den Weihnachtskinofilm gelangte auch C. S. Lewis‘ „Der König von Narnia“ wieder auf vordere Plätze. Auch die Buchversionen der „Perry Rhodan“-Serie gelangen bislang sofort in die Charts. Selbst Kochbücher hatten sich aufgrund ihres „Verschenkwertes“ während des Weihnachtsgeschäftes ganz gut lanciert. Aber Kochen und vor allem Diätratgeber sind seit langer Zeit die liebste Sachbuch-Lektüre der Deutschen. Langsam starten nun aufgrund der kommenden Fußball-WM die Fußball-Bücher in die Sachbuchbestseller-Listen.
In Amerika war „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ mit 7,02 Millionen Exemplaren das meistverkaufte Buch 2005. Die Longseller von Dan Brown („Sakrileg“ und „Illuminati“) schafften es dort auf die Plätze 5 und 8.

Auf dem _Hörbuch-Markt_ beginnt neuerdings ein richtiges Preisdumping. Vor Weihnachten bot _Aldi Süd_ in seinen 1600 Fillialen zwei Hörbuchpakete mit jeweils (!) 12 CDs für gerade mal 12,95 Euro an. Diese wurden vom _Tandem Verlag_ exklusiv für den Discounter produziert – Krimis und Weltliteratur, gelesen von namhaften Sprechern wie Matthias Ponnier oder Hannelore Elsner.

Nach „Brigitte“ und „Eltern“ legt sich nun auch der „_Playboy_“ eine Audiobook-Edition zu. Vorerst sind zehn Titel für je 9,99 Euro geplant, darunter „Fanny Hill“ und „Lady Chatterly“. Die _Brigitte-Hörbuch-Edition „Starke Stimmen“_ wird fortgesetzt. Im April kommt die Nachfolgebox – wieder mit zwölf Titeln, wieder mit weiblichen Sprecherinnen, wieder mit Vertriebspartner Random House, aber auch nach Buchvorlagen von männlichen Autoren.

Im Januar wurden im Hessischen Staatstheater Wiesbaden die _Hörbücher des Jahres 2005_ gekürt. Seit 1997 geben das Börsenblatt und der Hessische Rundfunk in Zusammenarbeit mit dem „Buchjournal“ die hr2-Hörbuch-Bestenliste heraus und einmal im Jahr ermittelt die Jury das Hörbuch des Jahres. 2005 fiel die Wahl in der Kategorie Kinder- und Jugendhörbuch auf „Winn-Dixie“ von Kate DiCamillo, erschienen bei der Hörcompany. Zur besten Produktion in der Kategorie Hörbücher für Erwachsene wählte die Jury „Wörter Sex Schnitt“ mit Tondokumenten des 1975 verstorbenen Rolf Dieter Brinkmann, die im Archiv vergraben waren.

Die Finalisten für den _HörCules_ stehen nunmehr auch fest: Aus den 30 im Herbst im „HörBuch“-Magazin vorgestellten Titeln sind drei Spitzenreiter von den Lesern ausgesucht worden, aus denen bei der „ARD-Radionacht der Hörbücher“ per TED der Publikumssieger gewählt wird: „Illuminati“ von Dan Brown (Lübbe Audio), „Mein Venedig“ von Donna Leon (Diogenes) sowie „Nurejews Hund“ von Elke Heidenreich und Michael Sowa (Random House Audio).

Um den _Deutschen Hörbuchpreis_ konkurrieren 33 Hörbücher in fünf Kategorien. Die Auszeichnung des WDR wird am 12. März bei der LitCologne in Köln verliehen.
Durch den _Hörverlag_ wurde ein neuer _Hörbuch-Preis_ für das beste Original-Hörspiel initiiert, welcher alle zwei Jahre, erstmals am 18. Mai 2006 vergeben wird.

_Senioren-Zeitschrift_ jetzt auch als Hörbuch. 1200 blinde oder stark sehbehinderte Menschen in Frankfurt werden sich über ein Projekt des Diakonischen Werks freuen: Die Seniorenzeitschrift, die seit 30 Jahren vom Sozialdezernat herausgeben wird und kostenlos in Apotheken oder Seniorenanlagen ausliegt, erscheint nun auch als Hörbuchausgabe – viermal im Jahr und jeweils fünfeinhalb Stunden lang. Voraussetzung ist ein MP3-CD-Player.

Mit „_Summa Cultura_“ erweitert das Hörbuch-Downloadportal Claudio.de sein Angebot um das bislang einzige Kulturmagazin im Audio-Format. Jede Woche präsentiert die Redaktion von www.summacultura.de einen Überblick über das Wichtigste im aktuellen Kulturgeschehen.

Wie jedes Jahr stehen 2006 auch eine ganze Reihe von Verlags-Jubiläen an, auf die wir zu entsprechender Zeit näher eingehen werden. Das _Patmos-Verlagshaus_ wird 60 Jahre alt und seit der Gründung 1946 kamen eine ganze Reihe weiterer renommierter Verlage hinzu (Sauerländer, Artemis & Winkler, Walter und Dachs). Der seit seiner Gründung in Wien residierende Kinderbuchverlag Dachs mit 23 Novitäten 2005 hat Ende Januar seinen Sitz ins Mutterhaus Patmos nach Düsseldorf verlegt. Seit 2001 gehört Dachs bereits zu Patmos. Eine ausführliche Verlagsgeschichte befindet sich auf der Website www.patmos.de.

Der _Antje Kunstmann Verlag_ begeht auch bereits das 30. Jahr des Bestehens und feiert das mit einer Jubiläumsaktion neun preisgünstiger Erfolgstitel für je 10 Euro, schön gebunden und mit Leseband. Z.B. Fay Weldon „Die Teufelin“, Alice Walker „Roselily“, Veronique Olmi „Meeresrand“ u. a.
Aus der Esoterik-Bewegung des „New Age” ist nach 25 Jahren leider eine Wellness-, Selfness- und Spiritness-Geschichte geworden, die mit dem ursprünglichen Ansatz nichts oder nur wenig zu tun hat. Aber der unabhängig gebliebene _Aquamarin_- Verlag hat es dennoch geschafft bestehen zu bleiben und feiert dieses Jahr 25. Jubiläum. Verlagsleiter Dr. Peter Michel gehört selbst zu den zeitgenössischen Esoterikern und ist mit seinem Programm an der Theosophie orientiert. Gleich mit dem ersten Buch gab es seinerzeit Ärger, denn „Das Geistchristentum“ – eine kritische Analyse christlich-mystischer und christlich medialer Schriften – brachte eine hohe Schadensersatzklage seitens der „Geistigen Loge Zürich“ ein. Jahrelang wurde prozessiert und letztlich vorm Bundesgerichtshof gewonnen, der höchstrichterlich feststellte: „Geister haben kein Copyright“. Die Züricher Loge war längst geschlossen, als das Verfahren vom Verlag gewonnen wurde, und die Gerichtskosten von Seiten der verlierenden Seite sind bis heute offen geblieben. Bestseller gab es im Verlagsprogramm keine, auch wenn sich Titel von „White Eagle“ etwa 100.000-fach verkauften. Vorzeigetitel sind aber „Weltreligion“, von Peter Michel selbst verfasst, oder „Einbruch in die Freiheit“ von Krishnamurti, das, obwohl es lange Zeit als Taschenbuch bei Ullstein vorlag, bei Aquamarin wieder in schöner Hardcover-Ausgabe erhältlich ist. Bedauerlich ist, dass im Gesamtprogramm dennoch auch viel Mainstream-Titel enthalten sind, was ein wirtschaftliches Zugeständnis an den Eso-Markt und das Wegsterben der anspruchsvollen Esoterik-Buchhandlungen darstellt, denn ansonsten würde sich der Verlag nicht halten können. Aber anspruchsvolle Titel gehen nicht unter, was die jüngste „Edition Adyar“ mit wichtigen theosophischen Titeln beweist.

Und die Wochenzeitung „_Junge Freiheit_“ wird in diesem Sommer 20 Jahre alt. Anfänglich ein zweimonatiges Studentenblatt, dann eine Monatszeitung und seit 1994 wöchentlich. Dieses Jubiläum ist deswegen bemerkenswert, weil es sich um einen mediengeschichtlichen Sonder- und Ausnahmefall in Deutschland handelt. Überregionale Zeitungsneugründungen, die ihr Gründungsjahr überlebten, sind mit der Lupe zu suchen. Neugründungen zudem, die nicht von einem der fünf marktbeherrschenden Verlagsgiganten ausgingen, sind kaum festzustellen. Die „Junge Freiheit“ allerdings ist an Krisen gewachsen und ihre Verbreitung nahm stetig dabei zu. Jahrelang wurden sie vom Verfassungsschutz als „rechtsradikal“ diffamiert, bis dem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr ein Ende bereitete. Seitdem ist die „Junge Freiheit“ ein lebendiges Denkmal geworden für die Presse- und Meinungsfreiheit. Dennoch gab es Ende Januar erneut eine Überraschung, da vom Direktor der Leipziger Buchmesse, Oliver Zillo, ein Stand auf der diesjährigen Leipziger Messe versagt wurde, mit der Begründung, ein solcher Messestand „gefährde die ordnungsgemäße Durchführung der Buchmesse“. Auf Nachfragen, welcher Art diese Gefährdung denn sein solle, wurde nicht geantwortet.

10 Jahre Jubiläum feiert der _Karl Blessing Verlag_ und begeht dieses mit einer zehnbändigen Jubiläumsedition für zehn Euro pro Band, u. a. Mit Autoren wie Michael Crichton, Dieter Hildebrandt oder Kathy Reichs.

Die _Verlagsgruppe Lübbe_ und der _Gong-Verlag_ haben mit Beginn des Jahres die _Deutsche Rätsel Verlag GmbH & Co. KG_ als Joint-Venture gegründet. Beide bringen ihre jeweiligen Rätselpublikationen in das neue Unternehmen ein. Lübbe hält 49 % und Gong 51 % an dem Verbund, dem das Kartellamt noch zustimmen muss. Beim Lübbe-Verlag selbst werden nun vom ehemals starken Segment (Rätsel, Comics, Romanhefte) künftig nur noch die Romanhefte betreut und dabei dem Buchbereich von Lübbe zugeordnet.

Der _Schwabenverlag_ hat den _Matthias Grünewald Verlag_ übernommen. Der Mainzer Verlag fügt sich mit Titeln zu Religion, Psychologie und Pädagogik gut in das Portfolio des Schwabenverlags ein. Zur Schwabenverlags-AG gehören unter anderem der Verlag „Jan Thorbecke“ und der „Verlag am Eschbach“.

Der Hamburger _Marebuchverlag_ publiziert die Taschenbuchausgaben seiner Titel ab Mai 2007 exklusiv bei Fischer in Frankfurt. Bisher sind die Taschenbücher seit 2004 bei Piper erschienen. Fischer will um die Mare-Titel herum ein umfangreiches Angebot zum Thema Meer aufbauen, in das auch andere Lizenzen, Titel aus den Fischer-Verlagen und Originalausgaben einfließen sollen. Unter dem Labe „Mare“ könnten dann so 15 Taschenbücher pro Jahr erscheinen, davon vier bis sechs Titel aus dem Mare-Verlag, der 2001 gegründet wurde und jährlich etwa 20 Titel veröffentlicht.

_Piper_ startet im Frühjahr ein neues Programm mit nordischer Literatur. Unter dem Label „Piper Nordiska“ erscheinen zum Auftakt fünf Romane von skandinavischen Autoren – darunter der schwedische Krimiautor Arne Dahl und der Däne Christian Jungersen. Der Verlag will sowohl seine eingeführten nordischen Autoren aus dem herkömmlichen Programm hervorheben als auch Neuentdeckungen präsentieren. Die Titel „Das Leben ein Fest“ von Elsie Johansson und „Rosenrot“ von Arne Dahl sind im Original bei Verlagen der schwedischen Mediengruppe Bonnier erschienen, zu der auch Piper seit 1994 gehört. Künftig sollen pro Halbjahr fünf bis sechs Titel erscheinen. Die Reihe „Piper Boulevard“, in der bisher Aktionstitel erschienen waren, wird zu einem eigenständigen Programm ausgebaut. Die ersten vier Titel für „freche Frauen“ zwischen 18 und 35 erscheinen Ende März, drei weitere folgen im Mai.

Der italienische _White Star Verlag_, gegründet 1984, ist einer der größten Bildband-Verlage der Welt mit einem Fundus von mehr als 5000 Titeln und arbeitet bereits seit 15 Jahren mit deutschen Koproduzenten wie Frederking & Thaler zusammen. Im Februar startete er nun auch mit einem eigenen deutschen Programm. Zwar ist der Preisverfall im Bildbandbereich durchaus groß, aber nach wie vor gibt es einen Markt für hochwertige Bildbände jeder Art. In dieser Preisgruppe findet noch keine Preisschlacht statt. Der Verfall findet nur im unteren Segment statt. White Star sieht sich programmgemäß in einer Linie mit Verlagen wie Frederking & Thaler, Knesebeck oder Rosenheimer. Bereiche sind Archäologie, Kunst, Geschichte, Kulturgeschichte, Ethnologie, Natur und Architektur. Seit 2001 arbeitet der Verlag mit National Geographic zusammen und ist in Italien der exklusive Verleger der National Geographic Society. In Deutschland werden diese Titel allerdings bereits durch Random House vertrieben und kommen nicht ins Programm von White Star. Gestartet wird im Frühjahr mit 22 Bildbänden und vier Kalendern, im Herbst folgen weitere 30 Bücher.

Hans Robert Cram, bisher Hauptgesellschafter und Beiratsmitglied des Berliner Wissenschaftsverlags Walter de Gruyter, ist selber wieder verlegerisch tätig geworden und hat von der Beteiligungsgesellschaft Valiva die Berliner Kunstbuchverlage _Dietrich Reimer_, _Gebr. Mann_ sowie den _Deutschen Verlag für Kunstwissenschaft_ übernommen. Im selben Zug hat Cram seinen Anteil an de Gruyter (33 %) an den geschäftsführenden Gesellschafter Klaus G. Saur und die übrigen Gesellschafter verkauft. Einen Teil davon reichen die neuen Eigentümer an die geplante Walter de Gruyter-Stiftung für Wissenschaft und Forschung weiter, die damit selbst an dem Unternehmen beteiligt wird. Die von Cram erworbenen Kunstbuchverlage gehörten ursprünglich zur Weltkunst-Gruppe, die Axel Springer 2003 an die Starnberger Arques-Gruppe verkauft hatte. An dem Verlagsverbund, zu dem auch der Deutsche Kunstverlag, Hirmer und Philip von Zabern gehören, beteiligte sich später auch die Valiva AG in Zürich, die nun als Wiederverkäufer auftritt und sich Zug um Zug von dem Unternehmen trennt. Anfang 2005 übernahm der Zeitverlag Zeitschriften und Buchtitel des Weltkunstverlags; Mitte 2005 ging der Philip von Zabern-Verlag an die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Die verbliebenen Verlage wurden anschließend in der _Verlagsgruppe Kunstbücher_ mit Sitz in Berlin und München gebündelt. Die drei traditionellen Labels, die Cram nun aus dem Verbund herausgekauft hat, erzielen einen Jahresumsatz von rund einer Million Euro und verfügen über eine Backlist von 2000 Titeln. Auch unter der Führung von Cram verbleiben sie zunächst in der Berliner Bürogemeinschaft mit dem Deutschen Kunstverlag und Hirmer, die nach wie vor zu Valiva gehören. Die bisherigen Geschäftsführer der übernommenen Verlage scheiden aus.

Seit Januar besitzt der Oldernburger _Lappan Verlag_ sämtliche Anteile an der Achterbahn Verlags-GmbH in Kiel. Lappan, schon seit 2003 mit 51 % an Achterbahn beteiligt, hat nun die restlichen 49 % gekauft. Das Achterbahn-Programm soll sich künftig an die „freche Comic- und Humorbuch-Linie“ für die Zielgruppe ab 16 Jahren aufwärts positionieren. Lappan widmet sich dagegen weiterhin dem Bilderbuchsegment und den Cartoons, etwa von Uli Stein. Unter dem Label Looping sind sämtliche Kalender-Aktivitäten gebündelt.

Johannes Thiele hat den stillgelegten _Europa Verlag Wien_ gekauft, den er mit einem kleinen, feinen Programm wiederbeleben will. Er begann seine Verlagsarbeit beim Benzinger Verlag in Zürich, war dann in Stuttgart bei Kreuz tätig, danach in Hamburg bei Hoffmann und Campe, dann ging er nach München zu List und Marion von Schröder, von dort nach Bergisch Gladbach zu Lübbe und 2005 wieder an die Elbe, wo er unter dem Verleger Arne Teutsch Programmleiter des Europa Verlages wurde. Nun arbeitet er erstmals auf eigenes Risiko als Verleger.

Der Schriftsteller Habib Bektas und der Übersetzer Yüksel Pazarkaya haben den [Sardes Verlag]http://www.sardes.de gegründet. Damit hat türkische Literatur eine neue Adresse in Deutschland. Im auf sechs Titel pro Jahr angelegten Programm werden Werke deutsch-türkischer Autoren sowie zeitgenössische türkische Literatur erscheinen.

Der _Suhrkamp Verlag_ ist erneut in der Krise, nachdem das Unternehmen am 12. Januar die Trennung von Geschäftsführer Georg Rippel bekannt gab, der seit 2004 für Marketing, Vertrieb und Werbung zuständig war. Über die Gründe wird in den Feuilletons heftig debattiert, manche denken, seine Marketing-Konzepte wie beispielsweise die Fernsehspots zu Isabelle Allendes „Zorro“ seien zu teuer gewesen, andere glauben, dass die Differenzen mit Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwitcz zu groß geworden waren. „Man weiß nicht mehr, wohin der Verlag steuert“, sagt aber auch Joachim Unseld, Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt und Miteigentümer der Suhrkamp GmbH & Co. KG. „Eine erfolglose Programmpolitik, der Weggang erfolgreicher Autoren, eine erfolglose Personalpolitik, schließlich Erfolglosigkeit in ökonomischer Hinsicht – all das bestätigt meine große Sorge um die Marke Suhrkamp“. Manche sehen das aber auch ganz anders. Die Süddeutsche Zeitung schrieb, dass sie das Erbe Siegfried Unselds zu bewahren versuche, auch wenn sie dessen Erbe vielleicht völlig missverstehe. Alle deutschen Verlage hatten in den letzten Jahren eine Transformation durchlaufen: War früher das Lektorat die taktgebende Einheit, so haben diese Funktion mehr und mehr die Marketing- und Vertriebsabteilungen übernommen. Ulla Berkewicz stemmt sich gegen diesen Wandel. Sie will ihr Ausnahmehaus als Programm-, nicht als Publikumsverlag führen. Ökonomisch gibt das Programm, die berühmte Backlist eben, einen solchen Sonderweg aber nicht mehr her. Es ist schon ein Verdienst von Berkewicz wenn vielleicht auch ökonomisch ein Privatvergnügen -– dass sie jüngst anstelle von Bestsellern einen „Verlag der Weltreligionen“ aus dem Boden stampfte. Auf literarische Qualität zu setzen, ist unternehmerisches Risiko, aber das ist doch eigentlich die Tradition von Suhrkamp. Natürlich wäre es tragisch, wenn Suhrkamp durch seine Beharrungskräfte finanziell in eine Krise geräte, aber bislang gab es weder Sparkurse noch Entlassungen. Intern wurden nun die Bereiche von Georg Rippel auf zwei Mitarbeiterinnen verteilt, von denen aber keine in den Rang der Geschäftsführung kam. Auf Geschäftsführungsebene ist nun der kaufmännische Geschäftsführer Philip Roeder für Marketing und Vertrieb zuständig. Den Vorsitz hat Ulla Unseld-Berkewicz, für das Programm ist unverändert Rainer Weiss verantwortlich.

Ein Rechtsstreit aus dem letzten Jahr – das Verbot des Romans _“Esra“ von Maxim Biller_ – nimmt kein Ende. Verboten wurde er wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten, da in den Romanfiguren reale Personen erkennbar seien. Der Verlag hatte Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot eingelegt. Das Bundesverfassungsgericht hat nun den Börsenverein, das deutsche PEN-Zentrum und den Verband Deutscher Schriftsteller um Stellungnahme gebeten. Der Börsenverein bemängelt am Urteil, dass der Eigenschaft des Romans als Kunstwerk nicht genug Rechnung getragen wurde. Ein Roman ist auch über das Recht der Kunstfreiheit geschützt, was nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Bei der Prüfung der Persönlichkeitsrechtsverletzung haben die Gerichte so argumentiert, als gehörten die Romanfiguren der Wirklichkeit an. Äußerungen über Romanfiguren dürfen aber nicht mit Äußerungen über reale Personen gleichgesetzt werden. Das PEN-Zentrum hat um eine Fristverlängerung seiner Stellungnahme gebeten, und der Verband Deutscher Schriftsteller argumentiert ähnlich wie der Börsenverein. Würde das Verbot vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, wird die bereits jetzt spürbare Verunsicherung bei Autoren und Verlagen noch weiter zunehmen und manch gutes Buch vielleicht nicht mehr verlegt.

Das Gerichtsverfahren gegen den diesjährigen Friedenspreis-Träger _Orhan Pamuk_ in Istanbul wurde eröffnet und kurz danach aufgrund scharfer Kritik der Europäischen Union eingestellt. Der Autor war wegen „Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt, weil er die Verfolgung von Armeniern und Kurden in einem Zeitungsinterview offen angesprochen hatte. Die Literaturnobelpreisträger Josè Armago, Gabriel Garcia Márquez und Günter Grass hatten gemeinsam mit anderen prominenten Autoren wie Umberto Eco und Mario Vargas Llosa eine Solidaritätserklärung unterzeichnet, die vom Prisa-Konzern, dem spanischen Verlagshaus der Autoren, publiziert wurde. Pamuk selbst, dem eine Haftstrafe bis zu drei Jahren droht, zeigte sich vor Prozessbeginn zuversichtlich: „Ich glaube nicht, dass sie mich ins Gefängnis werfen werden“. 169 türkische Intellektuelle hatten mittlerweile auch die Regierung in Ankara aufgefordert, die „Kopenhagen-Kriterien“ der EU (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Achtung von Menschenrechten) einzuhalten und zwei bedenkliche Vorschriften aus dem türkischen Strafgesetzbuch zu streichen. Paragraf 301, auf den sich die Anklage gegen den Friedenspreisträger Orhan Pamuk stützte, stellt die „Herabwürdigung des Türkentums“ unter Strafe; Paragraf 305, der „Propaganda gegen nationale Interessen“ sanktioniert, behindert vor allem die Arbeit von Journalisten. Der Prozess gegen Pamuk war Teil einer Klagewelle, mit der Ultranationalisten, Militär und Staatsanwaltschaft derzeit Autoren, Journalisten, Hochschullehrer und Unternehmer in der Türkei überziehen. EU-Kommissar Olli Rehn begrüßte die Entscheidung, den Prozess gegen Pamuk einzustellen, als wichtigen Schritt für die Meinungsfreiheit in der Türkei. Er betonte aber, dass dort noch ein Dutzend ähnlicher Prozesse gegen Journalisten und Autoren in Vorbereitung sei. Pamuk ist nicht freigesprochen worden, zum Jubilieren besteht kein Grund.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ging in diesem Jahr an _Juri Andruchowytsch _ aus der Ukraine für sein Werk „Zwölf Ringe“ (Suhrkamp). 1985 gehörte er zu den Gründern der legendären Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu und im Herbst 2004 engagierte er sich für die Orange Revolution in seiner Heimat.

Die Günter-Grass-Stiftung hat einen neuen Literaturpreis ins Leben gerufen, den „_Albatros_“ für das Werk eines Autors, das offenes Denken und die freie Auseinandersetzung mit allen Lebensbereichen befördert. Mit dem Original zusammen wird eine Übersetzung gewürdigt, die der literarischen Eigenart des Werks besonders gerecht wird, also eine Doppel-Ehrung für Autor wie Übersetzer. Es geht um die Würdigung großer literarischer Leistungen, die aus anderen Ländern zu uns kommen – zusammen mit der Würdigung der besonderen Leistung des Übersetzers. Erste Preisträgerin ist die Portugiesin _Lidia Jorge_. In ihren Romanen spürt sie den Nachwirkungen historischer Ereignisse wie den Kolonialkriegen oder der Diktatur nach – im intimen Rahmen des Familien- oder Gruppenbilds. Ihre Übersetzerin _Karin von Schweder-Schreiner_ ist es zu verdanken, dass dem Werk von Lidia Jorge auch in Deutschland – im Suhrkamp Verlag – die gebührende sprachliche Sorgfalt zukommt. Trotz des Namens der Stiftung hat Günter Grass selbst mit dem Preis nichts zu tun.

Am 24. November 2005 war nach langer Krankheit der Bestseller-Autor _Harry Thürk_ im Alter von 78 Jahren verstorben. Der in Weimar lebende Schriftsteller galt als „Konsalik des Ostens“. Zu seinen Erfolgen gehören der Antikriegsroman „Die Stunden der toten Augen“ und die in Fernost spielenden Romane „Der Tiger von Shangri-La“ und „Des Drachens grauer Atem“.

Anfang November ist _Detlef Pillat_ im Alter von 47 Jahren an einer schweren Muskelschwäche-Krankheit verstorben. Er war einer der engagierten Esoterik-Verlagsvertreter und lebte im Kulturzentrum ZEGG bei Belzig. Daneben unterstützte er viele sinnvolle politische Initiativen in seiner Heimatregion Hoher Fläming, u. a. das „Infocafe gegen Rechtsextremismus und Gewalt“, die Wiederaufforstungsaktion „Grüner Gürtel“ und eine von der Sängerin Ida Kelerova gegründete Roma-Initiative in Tschechien.

Am 15. Januar 2006 verstarb der 82-jährige anthroposophische Autor _Georg Kühlewind_, geboren am 6. März 1924. Bereits als Jugendlicher hatte er sich ausgiebig mit der Psychoanalyse beschäftigt, wobei er für sich entdeckte, dass die Probleme des Einzelnen sowie auch diejenigen der Gesellschaft primär ein Bewusstseinsproblem darstellen. Wichtig dabei war die Begegnung mit dem Kulturwissenschaftler Karl Kerenyi, der ihm die Mythologien begreiflich machte. 1944 wurde er unter den Nazis zum Arbeitsdienst verpflichtet und anschließend in mehrere Lager deportiert, darunter das KZ Buchenwald. 1945 wurde er von den Amerikanern befreit. Zur Anthroposophie stieß er erst im Jahre 1942. In seinen letzten Jahren beschäftigte er sich vor allem mit dem Phänomen sogenannter ADS-Kinder und nahm kritische Positionen zu dieser Diagnose ein.

Kurz nach seinem 75. Geburtstag verstarb am 27. Januar Altbundespräsident _Johannes Rau_ (SPD), der auch tief mit der Buchbranche verbunden war. Der gelernte Verlagsbuchhändler leitete in den 1960er Jahren den Peter Hammer Verlag in Wuppertal, der damals noch Jugenddienst-Verlag hieß, und arbeitete zwei Jahrzehnte als Verleger. Auch danach zeigte er seine Verbundenheit noch durch Taten. Er sprach zum Festakt des 175-jährigen Bestehens des Börsenvereins 2000, war Gast bei zahlreichen Börsenvereinsveranstaltungen, besichtigte die Schulen des Deutschen Buchhandels, war Schirmherr des Vorlesewettbewerbs, nahm den damaligen Vorsteher des Börsenvereins, Dieter Schormann, mit zum Staatsbesuch nach Spanien und sprach bei einer Veranstaltung in Berlin, mit der Börsenverein und PEN 2003 an den 70. Jahrestag der Bücherverbrennung erinnerten.

Im Juni eröffnet in Marbach das _Literaturmuseum der Moderne_ vom deutschen Literaturarchiv der Schillergesellschaft. Am 6. Juni wird die erste Ausstellung mit Bundespräsident Horst Köhler eröffnet. Gezeigt werden künftig Manuskripte und Dokumente aus dem literarischen Leben – Romanmanuskripte, handgeschriebene Briefe, Kladden und Notizbücher, Erstausgaben und Dokumente aus dem Leben der Schriftsteller und Dichter. Es ist der kostbare Rohstoff, den Wissenschaftler immer wieder aus den Magazinen fördern, um bisher Unveröffentlichtes zu publizieren, Werkausgaben zu revidieren oder neue Editionen zu planen. Rund 1200 Nachlässe und Vorlässe lagern im Deutschen Literaturarchiv – neben einer Reihe von Sammlungen und Verlagsarchiven: etwa von S. Fischer, Piper, Insel und Luchterhand. Das Gebäude ist treppenartig in den Hang neben dem Schiller-Nationalmuseum hineingebaut. Für Museumsleiterin Heike Gfrereis soll das „LiMo“ in erster Linie eine Brücke bauen: zwischen dem sammelnden Archiv, das seine Bestände „langsam, asketisch, esoterisch“ erweitert, und der Ausstellung, die die Betrachter unmittelbar ansprechen soll. Gfrereis will dem „flachen Papier zur Dreidimensionalität verhelfen“. In schrankhohen Vitrinen sind ab Juni in den vier unterschiedlich großen Ausstellungsräumen auf 1000 Quadratmetern Kostbarkeiten zu sehen: die Originalmanuskripte von Franz Kafkas „Prozess“, Martin Heideggers „Sein und Zeit“ und Alfred Döblins „“Berlin, Alexanderplatz“ sowie zahlreiche andere Texte und Dokumente von Jean Amery über Paul Celan bis Ernst Jünger, von Günter Grass über Sarah Kirsch bis Oskar Pastior. Neben der Dauerausstellung, die rund 600 Quadratmeter beansprucht, werden auf den übrigen 400 Quadratmetern im Wechsel Ausstellungen aus den Archivbeständen zu sehen sein. Gfrereis verfolgt beim Entwurf der Ausstellung ein ungewöhnliches didaktisches Konzept: „Dem Besucher wird keine Orientierung anhand von Schautafeln und tradierten Einteilungen der Literaturgeschichte geboten. Wir geben keine Handreichungen zu Leben und Werk von Autoren. Stattdessen gehen wir gleichsam archäologisch vor: Wir legen die Bestände des Archivs offen und stellen ihre phänomenale Seite, ihre Materialität, in den Vordergrund.“ So kann der Besucher künftig etwa Gedichte von Gottfried Benn in Augenschein nehmen, die der Dichter auf die Rückseite von Speisekarten schrieb, oder die Zettelkästen des Philosophen Hans Blumenberg. Gfrereis geht es darum zu „zeigen, wie Literatur aussieht, wenn sie ins Leben kommt, wenn sie geschrieben und gelesen wird“. Eine Navigationshilfe wird in Gestalt des Multimedia-Readers
„M 3“ gegeben, der Kurzführungen abspielt, Manuskripte transkribiert und Stimmen der Dichter zu Gehör bringt. Das Motto des ersten Jahresprogramms lautet „Zeigen“, unter der das Deutsche Literaturarchiv und das „LiMo“ zahlreiche Lesungen, Ausstellungen und Podien stellen – unter anderem zu Carl Schmitt, Arno Schmidt und Gottfried Benn. Im Literaturmuseum der Moderne werden also nicht nur Dichter Thema sein, sondern auch Wissenschaftler und Gelehrte. Zum Thema Carl Schmitt wird eine Editorentagung stattfinden, in die die beteiligten Wissenschaftsverlage einbezogen werden. Für Verlage wird das „LiMo“ künftig ein wichtiger Referenzpunkt sein; zeigt es doch die Literatur in ihrem Materialstadium und macht den Zusammenhang plastisch sichtbar, in dem die moderne deutschsprachige Literatur steht. Bereits vor der Eröffnung findet in Worms am Donnerstag, den 27. April, um 20 Uhr im Heylsschlösschen (Eingang Schlossplatz) bei freiem Eintritt, veranstaltet vom Nibelungenmuseum, ein Vortrag der Leiterin des „LiMo“ Dr. Heike Gfrereis „Museale Präsentation von Literatur“ statt, wo sie ihr Museumskonzept zwischen Tradition und Innovation vorstellt.
http://www.dla-marbach.de und http://www.nibelungen-museum.de

Wie im letzten Jahr berichtet, wollte der Bundestag die _Deutsche Bibliothek_ in _Deutsche Nationalbibliothek_ umbenennen. Dies ist nunmehr vom Bundesrat abgelehnt worden. Bayern und Berlin hatten eingewandt, dass die Bayrische Nationalbibliothek und die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz gleichrangige Funktionen hätten. Kulturstaatsminister Bernd Neumann verteidigt aber weiterhin die Umbenennung gegen die Kritik aus den Ländern: „Die Deutsche Bibliothek erfülle aufgrund ihres Sammel- und Archivauftrags seit über 90 Jahren die Kernaufgaben einer Nationalbibliothek“.

Wie schon in der vorherigen Buchwurminfo berichtet, ist _Gottfried Honnefelder_ vom Kölner Verlag Dumont Literatur und Kunst ab Januar 2006 neuer Vorsteher des Börsenvereins, zunächst bis zur Hauptversammlung im Mai. Sein Stellvertreter ist _Olte Schultheis_ (Bücherjolle Starnberg). Honnefelder war bislang Stellvertreter und rückte nach Ausscheiden von _Dieter Schormann_ nach. Mit dem neuen Vorstand beginnt eine Debatte um die Konzern-Marktkonzentrationen. Aggressives Marktverhalten soll im Licht der eigenen Regeln der Buchbranche bewertet und geprüft werden, wie weit Marktteilnehmer in ihrer Politik gegenüber Branchenkollegen gehen dürfen. Der Börsenverein sucht nicht die Konfrontation mit einzelnen Mitgliedern, sondern will gemeinsam mit ihnen die Marktentwicklung auf breitem Konsens bewerten und gegebenenfalls Branchenregeln überdenken. Zu prüfen, ob die Spielregeln, die sich die Branche selbst gegeben hat, von allen eingehalten werden und ob sie tauglich sind, bleibt Aufgabe des Verbandes. Da sich der Markt rasant verändert, will man auch künftig rascher zu Ergebnissen kommen. Das zeigt sich auch beim Thema Volltextsuche. Amazon und Google treiben ihre Projekte mit Hochdruck voran. Damit die Verlage die Hoheit über ihre Daten nicht aus der Hand geben müssen, feilt der Börsenverein an einer Branchenlösung zur „Volltextsuche online“.

Frankfurt ist um ein Schmuckstück reicher geworden. Korea hat sich als Dank für seinen Gastlandauftritt auf der _Frankfurter Buchmesse_ mit einem ganz besonderen Geschenk bedankt. Im Frankfurter Grünewaldpark befindet sich nun eine fernöstliche Anlage, die Korea gestiftet hat.
Bundeskanzlerin Angela Merkel warb beim amerikanischen Präsidenten dafür, dass die USA 2008 Gastland der Frankfurter Buchmesse werden. Als Buchliebhaberin hat sie sich zuvor nicht unbedingt präsentiert. 2003 besuchte sie zum ersten Mal die Frankfurter Buchmesse. Zumindest Laura Bush, die Gattin des amerikanischen Präsidenten, steht der Präsentation ihres Landes bei der Frankfurter Buchmesse wohlwollend gegenüber. Sie ist in den USA auch sehr engagiert, was das Thema Leseförderung anbelangt, und verfügt über gute Kontakte in der US-Verlagsszene.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/. |

Interview mit Thomas Finn

_Martin Schneider:_
Servus Tom, herzlichen Glückwunsch zu deinem gelungenen Roman [„Der Funke des Chronos“! 2239

_Thomas Finn:_
Dank dir. In dieses Buch ist auch sehr viel Herzblut hineingeflossen.

_Martin:_
Vielleicht stellst du dich jenen Lesern kurz vor, die dich bislang noch nicht kennen.

_Thomas Finn:_
Nun, ich bin 38 Jahre alt, Hamburger und mit Leib und Seele Schriftsteller und Autor. Angefangen mit dem Schreiben habe ich noch während meiner Schulzeit mit Fantasyrollenspiel-Publikationen, was sich dann während Ausbildung und Studium mehr und mehr hin zu Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken entwickelt hat. Nach dem Studium habe ich einige Jahre lang als kommissarischer Chefredakteur bei dem Phantastik-Magazin |Nautilus| gearbeitet sowie als Lektor und Dramaturg in einem Drehbuch- und Theaterverlag. Seit 2001 lebe ich hauptberuflich vom der Schriftstellerei. Wer noch mehr über mich wissen möchte, dem empfehle ich einen Blick auf meine Webseite unter www.thomas-finn.de, »denn da wird Ihnen geholfen«.

_Martin:_
Wie kamst du auf die Idee, a) über eine Zeitreise, und b) im alten Hamburg zur Zeit des Großen Brandes zu schreiben?

_Thomas Finn:_
Die Grundidee zu dem „Funken“ kam mir bereits vor über zehn Jahren. Ich erfuhr damals, dass bis heute nicht geklärt ist, warum in einem Speicher an der Deichstraße ein Feuer ausbrach, das dann den Großen Brand von 1842 entfachte, der ein Drittel der damaligen Stadtfläche verwüstete. Rätsel dieser Art liebe ich, denn hier beginnt die Vorstellungskraft. Dies alles mit einer phantastischen Zeitreise zu verknüpfen, lag insofern nahe, als dass ich mich schon damals fragte, wie wohl das Leben um 1840 ausgesehen hat und ob ein heutiger Hamburger die Stadt überhaupt wiedererkennen würde. Ich habe diese Frage einfach sehr wörtlich genommen. Nebenbei sprechen wir hier von jener Epoche, die praktisch alle heute bekannten Hamburger Stadtoriginale hervorgebracht hat. Zum Beispiel den Wasserträger Hummel, der noch heute Pate steht für den vertrauten Hamburger Schlachtruf: „Hummel Hummel, Mors Mors!“ Hinzu kam, dass sich während und nach dem Brand auch entwicklungstechnisch ein Quantensprung in Hamburg vollzog: Die Eisenbahn hielt Einzug in die Hansestadt, außerdem ebnete der Große Brand im wahrsten Sinne des Wortes den Weg für zahlreiche Neubauten, die noch heute das vertraute Stadtbild Hamburgs prägen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass mit 1842 die Moderne in Hamburg Einzug hielt.

_Martin:_
Wie würdest du diesen Roman beschreiben?

_Thomas:_
Als phantastischen Historien-Thriller – also fast so, wie auch der |Piper|-Verlag den Roman bewirbt. Denn trotz des Phantastik-Anteils dieses Romans war es ein großes Anliegen, das alte Hamburg so korrekt wie nur irgend möglich zu beschreiben. Das fängt bei Kleinigkeiten wie dem Aussehen einer Straßenlaterne an, reicht über Darstellungen des damaligen Polizeiwesens, der detailgetreuen Beschreibung einzelner Straßenzüge bis hin zur verwendeten Sprache der Protagonisten und Antagonisten. Trotz alledem standen beim Schreiben natürlich vor allem Story und spannender Handlungsaufbau im Vordergrund.

_Martin:_
Das Recherchieren der Fakten muss eine ganze Menge Zeit in Anspruch genommen haben, wie lange hast du dafür gebraucht?

_Thomas Finn:_
In dem Roman stecken gut und gerne zehn Jahre Recherchearbeit. Während des Schreibens griff ich auf etwa 60 zum Teil geerbte und heute schon lange nicht mehr erhältliche Bücher sowie noch einmal 80 weitere Artikel zurück, die ich in der Hamburgensien-Sammlung der Hamburger Staatsbibliothek gefunden oder schlicht in Zeitschriften oder im Internet erjagt habe. Manches zufällig, vieles aber auch sehr gezielt.

_Martin:_
Sind die durchaus skurrilen Szenen, die sich während des Brandes ereignen, wirklich so passiert?

_Thomas:_
Ja, fast alle. Ich konnte es anfänglich selbst nicht glauben, als ich zum ersten Mal davon las. Sei es die Sache mit der Familie, die den Sarg eines gerade verstorbenen Verwandten zu retten versuchte, sei es die Episode mit dem brennenden Zucker, der sich lawinenartig aus den Speichern in die Fleete ergoss, oder sei es die Begebenheit mit dem Kostümverleiher, der sich im Napoleonskostüm in Sicherheit brachte. Überhaupt habe ich in dem Roman derart viele Originalschilderungen der damaligen Zeit eingearbeitet, dass sie alle aufzuzählen den Rahmen dieses Interviews sprengen würde. So haben sich auch die beschriebenen Ereignisse im Elysium-Theater fast detailgetreu so zugetragen, wie ich es im Roman geschildert habe – sieht man mal davon ab, dass vielleicht nicht alles an genau einem Tag passiert ist. Die historischen Rechercheergebnisse mit der eigentlichen Handlung zu verbinden, hat aber gerade den Spaß beim Schreiben ausgemacht.

_Martin:_
Du bezeichnest deinen Roman als Hommage an H.G. Wells‘ [„Die Zeitmaschine“; 1414 warum war es dir ein Anliegen, dies zu tun?

_Thomas Finn:_
Weil mich die 50er-Jahre-Romanverfilmung der »Zeitmaschine« schon als Kind nachhaltig beeindruckt hat. Wann immer die Morlocks auftauchten, tauchte ich hinter den Fernsehsessel ab. Nach zehn- bis zwölfjähriger Pause habe ich den Film dann erstmals mit 21 Jahren zur Gänze gesehen. Kein Wunder also, dass mein Protagonist mit keiner geringeren Maschine in die Vergangenheit reist als mit DER Zeitmaschine. Auch das sicher überraschende Ende des Romans stand bereits seit zehn Jahren fest.

_Martin:_
Warum hast du ausgerechnet Heinrich Heine für dein Buch ausgewählt?

_Thomas:_
Auf Heinrich Heine bin ich vor vier Jahren eher durch einen Zufall gestoßen. Während meiner Brandrecherchen stieß ich auf einen Eintrag, in dem fälschlicherweise behauptet wurde, dass sich Heine während der Katastrophe in Hamburg aufhielt. So bin ich aber immerhin auf seine familiären Verflechtungen zur Hansestadt und auch auf sein besonderes Verhältnis zu seinem Hamburger Onkel Salomon Heine aufmerksam geworden. Und je mehr ich über Heine las, desto mehr zeichnete sich ab, dass er als eine meiner Hauptfiguren Einzug in die Handlung halten würde.

_Martin:_
Wie sieht es mit deinem Verständnis der deutschen Dialekte aus, als gebürtiger Amerikaner? Schließlich verwendest du neben dem nicht ganz einfachen Hamburger Plattdeutsch auch noch Jiddisch und Hessisch in deinem Roman.

_Thomas:_
Ach Gott, du spielst auf meinen Geburtsort Chicago an? Ich gestehe, im Klappentext eines Buches macht sich der recht gut. Gut, dass kaum einer weiß, dass meine Eltern – übrigens beide Hamburger – nach einem zweijährigen USA-Aufenthalt und nur ein halbes Jahr nach meiner Geburt wieder zurück nach Deutschland gezogen sind …

Was die verwendeten Dialekte im „Funken“ betrifft, die habe ich speziell von versierten Fachleuten aus dem Hochdeutschen übersetzen lassen. Aber damit kommen wir zum Bereich der Tricks, über die weder Zauberkünstler noch Autoren gerne sprechen. Offiziell beherrsche ich neben dem Hochdeutschen natürlich auch Plattdeutsch, Hessisch, Jiddisch und mindestens acht weitere deutsche Mundarten fließend. Was denkst du denn …?

_Martin:_
Du verwendest noch die alte Rechtschreibung. Bequemlichkeit, Überzeugung oder Verlagsdogma?

_Thomas:_
Eine Vorgabe des |Piper|-Verlags. Die Verlage haben da ganz unterschiedliche Richtlinien. Als ich einem Monat nach dem „Funken“ an meinem nächsten Buch saß, musste ich wieder auf die neue Rechtschreibung umschwenken. Da freut man sich, dass es Lektoren gibt.

_Martin:_
Die Figuren, die du verwendest, wie Caroline Lewald oder Polizeiaktuar Kettenburg, sind alles andere als Stereotypen. Hast du darauf besonderen Wert gelegt?

_Thomas:_
Na klar. Eigentlich sollte man sich immer darum bemühen, Stereotypen zu vermeiden. Schön, dass es mir hier gelungen zu sein scheint. Wichtig scheint mir, dass man jede Figur seiner Geschichte liebt. Und das muss der Leser am Ende auch merken.

_Martin:_
Besonders hat mir die Figur des Uhlen (althamburgisch für Nachtwächter) Borchert gefallen. Wie kamst du auf die Idee, diesen Typ so zu gestalten? Vor allem ist die Wandlung des Charakters interessant, von Kettenburgs Sidekick zum Alleskönner.

_Thomas:_
Es ist witzig, manche sehen in Borchert sogar die heimliche Hauptfigur des Romans. Ursprünglich war der dicke Uhle nicht einmal eingeplant, doch als die Rolle von Polizeiaktuar Kettenburg feststand, entwickelte sich mit ihm auch der Nachtwächter. Und damit auch der Gag mit Borcherts weit verzweigter Verwandtschaft. Bei alledem schwingt natürlich ein Hauch von Sherlock Holmes und Watson mit, nur eben unter völlig anderen Vorzeichen. Ich denke, es ist die grundehrliche Haltung dieses Mannes, gepaart mit seiner anrührenden Art, mit der er erst mein Herz und damit einhergehend dann auch die der Leser erobert hat. Es hat beim Schreiben ein oder zwei Stellen gegeben, wo Borchert mich ernsthaft zu Tränen gerührt hat. Erstaunlich, dass ich das als Autor so sagen kann. Vielleicht ist es ja doch so, dass gute Geschichten nicht erschaffen werden, sondern sich nur des Autors als Medium bedienen.

_Martin:_
Dann lege doch bitte hier, exklusiv für unsere Leser, die Familienverhältnisse von Borchert offen!

_Thomas:_
Pah, so weit kommt es noch. Selbst ist der Mann oder die Frau!

_Martin:_
Du hast ja auch noch einige Gezeitenwelt-Romane geschrieben. Da ich gestehen muss, dass ich noch nichts von der Gezeitenwelt gelesen habe, bitte ich dich, mir eine kurze Einführung in diese Romanreihe zu gewähren.

_Thomas:_
Bei der Gezeitenwelt handelt es sich um eine epische Romansaga, die ich gemeinsam mit meinen Kollegen Bernhard Hennen, Hadmar von Wieser und Karl-Heinz Witzko unter dem Gruppen-Pseudonym „Magus Magellan“ erschaffen habe. Bei dieser Saga geht es um eine Welt, die nach dem Einschlag eines großen Meteoriten von einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes heimgesucht wird. Und als wäre das noch nicht genug, hält nach dem Einschlag eine wundersame Magie Einzug in die Gezeitenwelt, die Träume aber auch Albträume wahr werden lässt. Wer mehr zu alledem wissen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, einen Blick auf unsere Webseite unter http://www.gezeitenwelt.de zu werfen.

_Martin:_
Einige unserer Leser werden dich hauptsächlich als Autor im Rollenspiel-Genre kennen. Wann gibt’s neuen Lesestoff von dir für die „Das Schwarze Auge“-Fans oder das Rollenspiel allgemein?

_Thomas:_
Eigentlich immer wieder, sobald ich Zeit dazu finde. Im März 2006 erscheint die Hörbuchversion meines DSA-Romans [»Das Greifenopfer«, 1849 der vom |Horchposten|-Verlag wirklich großartig vertont wurde. Und erst Ende letzten Jahres habe ich dem Hexer-Regelband von |Pegasus| ein ausführliches Cthulhu-Abenteuer beigesteuert. Auch dieses Jahr wird sicher noch das eine oder andere von mir zu erwarten sein.

_Martin:_
Bleibt dir überhaupt noch Zeit, selber Rollenspiele zu spielen?

_Thomas:_
Ja. Die nehme ich mir einfach. Für mich sind Fantasy-Rollenspiele selbst nach 20 Jahren nicht nur ein fantastisch-schöner Zeitvertreib, sie sind nebenbei auch ein hervorragendes Testgelände für neue Ideen. Solange ich mich für spannende Geschichten begeistern kann, werden die fantastischen Rollenspiele ganz sicher einen festen Platz in meiner Freizeitgestaltung einnehmen.

_Martin:_
Sowohl in [„Das Greifenopfer“ 1849 (Orklandschildkröte) als auch in „Der Funke des Chronos“ (tote Katze) wird sofort zu Beginn etwas überfahren. Irgendwelche schlechten Erfahrungen im Hamburger Feierabendverkehr gemacht?

_Thomas:_
Diese Frage ringt mir ein Schmunzeln ab. Die beschriebenen Ähnlichkeiten sind mir nämlich erst durch deine Anmerkung bewusst geworden. Nein, mit dem Hamburger Feierabendverkehr hat das ganz sicher nichts zu tun. Den erlebe ich bei meinem Job nur sehr selten als unmittelbar Beteiligter. Mein Feierabend, wenn du so willst, endet nämlich regelmäßig erst so gegen 3 Uhr morgens.

_Martin:_
Was ist in nächster Zeit von dir zu erwarten? Wie sieht es mit weiteren Projekten aus?

_Thomas:_
Bereits im Juli erscheint bei Ravensburger mein neuer Roman „Das unendliche Licht“. Darin verschlägt es einen jugendlichen Irrlichtsammler in eine Stadt namens Hammaburg, wo er als Zauberlehrling ausgebildet wird. Dieses Hammaburg ist aber eingebettet in eine sehr fantastische Welt, die von der besetzten Insel Albion im Norden bis hinunter zum Alptraumgebirge im Süden reicht. Und natürlich wird diese Welt von einer großen Bedrohung heimgesucht. Ich verspreche schon jetzt spannende Unterhaltung.

Der Roman bildet übrigens den Auftakt zu einer Trilogie, was die Frage nach den nächsten Romanen beantwortet, an denen ich schon in Kürze sitzen werde. Weitere Romanideen liegen bereits in der Schublade.

Desweiteren bin ich seit 2005 Mitgesellschafter der Historia Hanseatica GmbH, eine Theaterproduktionsgesellschaft, deren Ziel es ist, 2007 die Geschichte des bekannten Piraten »Störtebeker« als großes Theaterspektakel in Hamburg aufführen – und gleich auch noch ein großes Theater dazu zu bauen. Aktuell arbeiten mein Partner Volker Ullmann und ich am Ende der ersten Stückfassung. Wer noch dieses Jahr ein Theaterstück aus unserer Feder miterleben will, dem empfehle ich ab dem 10. Juni einen Besuch der Freilichtspiele in Breisach bei Freiburg. Denn dort wird nach dem großen Erfolg der Uraufführung 2005 im Alten Schauspielhaus in Stuttgart unser Theaterstück „D’Artagnans Tochter & die drei Musketiere“ ein weiteres Mal aufgeführt werden. Außerdem liegt hier auf meinem Schreibtisch die ziemlich konkrete Anfrage nach einem Hörspiel. Du merkst, das Jahr wird sehr arbeitsreich.

_Martin:_
Dann bedanke ich mich für dieses Interview und werde dich nicht länger von der Arbeit abhalten. Letzte Worte?

_Thomas:_
Nun denn: Lest mehr Bücher!

http://www.thomas-finn.de

Rezensionen zu:
[„Das Greifenopfer“ 1849
[„Der Funke des Chronos“ 2239

Krieg der Religionen

Ein beachtliches Werk, das die beiden Autoren dem interessierten Leser hier vorlegen. Führten die beiden Vorgänger-Bücher „Der Schatten des Dalai Lama“ (1999) zu einem Aufschrei in der Esoterik-Szene und „Hitler – Buddha – Krishna“ (2002) etwas abgemildert zu ähnlichen Turbulenzen, weil entgegen gängiger Forschung die Nazi-Diktatur auf Religionsebene betrachtet wurde, ergibt sich mit dem neuesten Werk ein differenzierteres Bild. Keinesfalls ist der Kurs ein anderer geworden und die vorgelegten Recherchen – nunmehr zu Judentum, Christentum und Islam – werden nicht weniger Wellen schlagen. Aber alle drei Bände im Zusammenhang eines Gesamtwerkes betrachten zu können, ermöglicht einen völlig anderen Blickwinkel auf die Intention der Autoren und führt in der Beurteilung der einzelnen Titel dadurch ebenso zu vollkommen anderen Ergebnissen. Als Gesamtbild ergibt sich keine Diffamierung mehr gegenüber einer speziellen Religion, sondern der Blick auf ein zeitgenössisches umfangreiches Forschungsgebiet zur notwendigen Kritik an den gefährlichen Schatten der gegenwärtigen Religionen wird eröffnet, und dies ist ein durchaus wichtiger Beitrag aktueller Kultur- und Politikreflektion.

Der Titel „Krieg der Religionen“ meint nicht explizit, dass Religionen in Krieg miteinander getreten wären, sondern bezieht sich auf die fundamentalistischen Kräfte innerhalb der Religionen, die sehr wohl mehr denn je im Krieg miteinander stehen; dass dies möglich werden konnte, ist allerdings in den Grundformen der religiösen Texte bereits implantiert. Allenorts setzen sich heutzutage wieder die Glaubensvorstellungen durch, wir befänden uns in der Zeit der nahenden Apokalypse. Dieses Wort ist ursprünglich ein Begriff der monotheistischen abrahamitischen Religionen und tauchte erstmals im Christentum als „Apokalypse des Johannes“ auf. Eigentlich hanelt es sich um ein griechisches Wort für „Offenbarung“ oder „Enthüllung“, weswegen zu Recht der entsprechende Text des Johannes auch „Johannes-Offenbarung“ genannt wird. Aber durch das, was in diesem Text enthalten ist, hat sich der heute allgemein benutzte Apokalypse-Begriff als Verständnis für den absoluten chaotischen Umbruch durchgesetzt und wird nunmehr auch in anderen als christlichen Religionen im selben Sinne verwandt. Im Vordergrund des apokalyptischen Krieges der Religionen stehen derzeit auf politischer Weltebene lediglich die drei genannten „Weltreligionen“ im Mittelpunkt der Ereignisse. Alle sind sie vom Kampf „Gut“ gegen „Böse“ besessen, und die Aussagen eines Osama Bin Laden unterscheiden sich in ihrer frommen Maske nicht von denen eines George Bush oder anderer christlichen Fundamentalisten. Die beiden Autoren zeigen auf, wie austauschbar das scheinbar „Gute“ ist und wie es von jedem beliebig benutzt werden kann – selbst von den extremsten Gewalttätern.

In Deutschland werden die Bezüge auf Religion in der Politik glücklicherweise noch nicht geteilt, aber dadurch auch viel zu wenig beachtet. Dabei kann sich all dies schneller ändern, als viele in Unkenntnis der gegenwärtigen Realität vermuten würden. Nach neuesten Statistiken vom April 2005 glauben 63 % der Amerikaner, dass die Bibel das „Wort Gottes“ ist und wörtlich zu verstehen sei und nur 24 % glauben dies nicht. Ihnen geht es darum, ob Satan oder Gott die Oberhand behält, und das „Böse“ sind nicht nur die berüchtigten Diktatoren, sondern vor allem Liberale, Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle und Feministinnen. „Die feministische Agenda kümmert sich nicht um Frauenrechte. Es handelt sich hierbei um eine sozialistische, antifamiliäre Bewegung, die Frauen dazu auffordert, ihre Ehegatten zu verlassen, ihre Kinder zu töten, Hexerei zu betreiben, den Kapitalismus zu zerstören und Lesben zu werden“. Sie sind fest davon überzeugt, dass der Anti-Christ eine neue Religion gründet, und machen dies an der aus der Hippie- und Protestbewegung der in den 60er Jahren entstandenen New-Age-Szene fest. Dieser werden Häresie, Paganismus, Okkultismus, Dämonenglaube und Teufelsdienst vorgeworfen. Tatsächlich ist es ja auch so, dass aus dem New Age mittels Anleihen bei den etablierten Glaubensrichtungen Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus gepaart mit Astrologie, Spiritismus, Magie, Tiefenpsychologie, Naturheilkunde und Drogenexperimenten eine neuer „synkretistischer Religionsmix“ entstanden ist. Aus dem religiösen Feminismus vor allem, der sich offen zur Hexentradition bekennt und seine eigenen Riten praktiziert, ist spätestens zur Jahrtausendwende die aufblühendste „neue“ Religionsform erstanden, die fast als einzige der derzeitigen Religionen täglich Zuwächse statt der Austrittswellen verbuchen kann.

Fast ganz Amerika schaut zudem argwöhnisch bis verachtend auf Europa, denn die hiesigen Werte, wo kaum noch jemand in die Kirchen geht, sind vollkommen andere. Eine Mehrheit der Amerikaner glaubt, dass hier der Anti-Christ geboren wird, und leitet diese Ansicht aus der „Offenbarung“ ab. Dieser hat als „Tier“ zehn Hörner und zehn Könige, die noch nicht zur Herrschaft gelangt sind, und jene stehen für das „Alte Europa“, das vor der Erweiterung zehn Mitgliedsstaaten hatte. Die zwölf Sterne in der europäischen Flagge sind die |corona stellarum duodecim| (die Zwölf-Sternen-Krone) des apokalyptischen Weibes. Wo in der herkömmlichen Kirche diese Kirche die Braut Gottes ist, ist das satanische Gegenstück die Hure Satans. Diese ist von der Sonne bekleidet und schwanger, sie steht mit den Füßen auf dem Mond und trägt den Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Europa hat seinen Namen von der kretanischen Zeusgeliebten Europa, und da in der EU-Ästhetik diese auch auf dem Stier abgebildet wird, sei das der Beweis aus der Offenbarung: „Dort sah ich eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das über und über mit gotteslästerlichen Namen beschrieben war“. Das alles habe Tradition: Schon in der Hymne Europas, Friedrich Schillers „Ode an die Freude“, vertont von Beethoven in seiner 9. Symphonie, wird die heidnische Göttin besungen, die durch magische Mittel alle Menschen zu einer anti-christlichen Bruderschaft vereinigen wolle. Da diese als Hure Babylons bezeichnet wird, sieht man die Sprachenvielfalt Europas auch als Zeichen der in der Bibel verwendeten Sprachverwirrung zu Babel.

Linke Christen machen – müsste ich in diesem austauschbaren Chaos eine Realität wählen, wäre mir diese Sichtweise viel sympathischer – dagegen all das in den USA selber aus. Sie sehen im globalen amerikanischen Kapitalismus die große Hure und setzen in der Offenbarung für die Bezeichnung „Babylon“ das Wort „Amerika“ ein: Die Nation Babylon (Amerika) ist von Wassern umgeben. Die Völker der Welt müssen das Meer überqueren, um mit ihr Handel zu treiben. Sie wird von Menschen verschiedener Rassen bewohnt, einem Völkergemisch, das dem amerikanischen |melting pot| entspricht. Sie ist militärisch äußerst mächtig, sie ist arrogant, stolz und überheblich. Die anderen Nationen der Erde werden von ihr beherrscht. Sie ist die größte ökonomische Macht, so dass die Kaufleute der Erde um sie weinen, als ihr Untergang bevorsteht, weil niemand mehr ihre Waren kauft. Durch ihre ökonomische Macht kontrolliert sie die Welt. Ihre Einwohner leben in Überfluss und Luxus, und so fort – alles Bibelverweise.

Einig ist man sich aber darüber, dass die Schlacht der Apokalypse im Nahen Osten stattfinden wird, und diese Ansicht wird von den Juden, den Christen wie den Mohammedanern geteilt. Begonnen – in der Wahrnehmung dieser Art – habe alles mit dem Attentat auf das World Trade Center am 11.9.2001, obwohl das in diesem Zusammenhang recht eigentümlich anmutet: Angegriffen wurden ja keine Symbole des Christentums, sondern solche des Kapitalismus und der profanen westlichen Gesellschaft. Wenn es um einen religiösen Angriff ging, dann höchstens gegen das System der Gottlosigkeit, wie es alle fundamentalistischen Vertreter des Islam bis dahin auch vertreten hatten. Interessant war die Reaktion US-Amerikas, das sich sofort auf den Iran und Saddam Hussein einschoss, obwohl der mit den Attentaten nachweislich wohl am wenigsten in Zusammenhang zu bringen war. Dass dies dennoch in solcher Weise geschah, hat aus religiöser Betrachtung mit der ältesten überlieferten „apokalyptischen“ Geschichte des Kampfes Gut gegen Böse zu tun – dem babylonischen „Enuma Elish“, wo Marduk (das Gute geordnete Männliche) gegen seine Großmutter Tiamat (das Böse chaotische Weibliche) antrat. Die späte „Hure Babylon“ aus der Johannes-Offenbarung ist noch diese Tiamat. Der babylonische König Nebukadnezar II. (604 – 561 v. Chr.) erbaute einen Marduk-Tempel und eroberte Jerusalem. Als dessen Wiedergeburt und Nachfahre sah sich Saddam Hussein, der, wie auch schon Alexander der Große, Babylon (Bagdad) wieder zum Großreich aufbauen wollte und auch als Eroberer von Jerusalem in die Geschichte einzugehen gedachte. Er setzte alles ein, um die enorme kulturelle Erbschaft der ältesten Zivilisation wiederaufleben zu lassen, und veranstaltete ritualisierte Feste, auf denen man die archaischen Zivilisationen des Zweistromlandes feierte. Stein für Stein ließ er das berühmte Tor der Ischtar wieder aufbauen, versehen mit der Inschrift „Ischtar – die Überwinderin der Feinde“. Ischtar war die babylonische Kriegsgöttin, stand aber im kultischen Dienst des Marduk. Hussein war als Inkarnation Nebukadnezars gleichzeitig auch Gott Marduk selbst. Sein Slogan „Mutter aller Schlachten“ aus dem ersten Golfkrieg war eine Metapher aus den „Hymnen an die Ischtar“. Die Amerikaner sprachen danach von der „Mutter aller Bomben“, die sie einzusetzen drohten, was glücklicherweise nicht geschah. Mit dem Bezug auf die alten Traditionen suchte Hussein nach einem Mythos, der die Spaltung des Landes zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden überwinden konnte. Mit seiner „Babylonisierung“ des Landes wollte er eine irakische Identität jenseits aller ethnischen Unterschiede, jenseits des Islams und jenseits der sozialistischen Baath-Partei erreichen, die sich von der übrigen arabischen Welt unterschied.

Für die christlichen amerikanischen Fundamentalisten war aber genau das das Schreckensbild. Babylon und Nebukadnezar verkörpert für sie den Anti-Christen. Nebukadnezar war der Weltherrscher und Satan bezeichnet man ja auch als „Fürsten der Welt“. Schon für Bush sen. war Saddam Hussein deswegen die Inkarnation des leibhaftigen Teufels. Und dessen Festnahme 2003, als man ihn aus seinem Bunkerversteck holte, war für Bush jun. eine höchst religiöse Angelegenheit. Durch ihre Bibelinterpretationen ist das Wichtigste im gegenwärtigen „heiligen Krieg“ die Auseinandersetzung mit Jerusalem als gutem und Babylon (Irak) als bösem Sinnbild – alles andere Islamische steht weit hinten an.

Sie erwarten die Wiederkehr des Messias, und nur durch solche Mythen konnte auch ein Arnold Schwarzenegger überhaupt seine Wahlen zum Gouverneur von Kalifornien gewinnen, denn er spielte in mehreren Filmen einen apokalyptisch-messianischen Helden, der mit übermenschlicher Kraft und brutalster Gerechtigkeit das Böse vernichtet und dem Guten zum Sieg verhilft. Die Mehrheit der Amerikaner wartet auf den „Christus mit der Knarre“. Für das hiesige christliche Denken ist das sehr entfernt vom Pazifismus des Neuen Testaments, aber in den Evangelien gibt es genügend Stellen, die Derartiges anklingen lassen; spätestens in der Johannes-Offenbarung hat der dort prophezeite blutrünstige Messias nichts mehr zu tun mit dem leidenden, sich selbst aufopfernden und auferstandenen Christus der Evangelien. Die ganze Propaganda für die im Krieg befindlichen Soldaten ist auf den wirklichen Kampf gegen den Teufel ausgerichtet. Selbst die bekannt gewordenen Folterungen stehen in diesem Zusammenhang, die von fundamentalistischen christlichen Generälen angeordnet waren. Was die islamische Welt so sehr in Aufregung versetzte, war genau das, was auch bezweckt war. Es waren religiöse Demütigungspraktiken an den Gefangenen, die gezwungen wurden, dem Islam und Allah abzuschwören, Schweinefleisch zu essen, Alkohol zu trinken (was nach dem Koran verboten ist) und Jesus Christus dafür zu danken, dass sie nicht noch mehr gefoltert werden. Im Grunde geht es dem amerikanischen Militär im ganzen Krieg und der Praxis an den Gefangenen um einen Exorzismus. Die christlichen Gebete der Amerikaner sind auch nicht mit unseren stillen privaten Gebeten vergleichbar. Dort sind es inszenierte Massengebete mit zunehmend aggressiven Inhalten. Die Soldaten der Marines im Irak-Krieg haben ein Mini-Gebetbuch in der Tasche („Die Pflicht des Christen“), worin es Seiten zum Herausreißen gibt, die an das Weiße Haus geschickt werden und in denen vorgedruckt vermerkt ist, dass der Soldat für George W. Bush bete. „Ich habe mich verpflichtet für Sie zu beten, für Ihre Familie etc.“. Christliche Fundamentalisten sind auch der Ansicht, dass Bush nicht durch Wahlen an die Macht kam, sondern direkt durch das Eingreifen Gottes.

Der Islam kämpfte stets gegen „Satan Amerika“ als Symbol der Gottlosigkeit. Erst nach 2001 erkannten die Impulsgeber, dass sie es mit einem religiös geleiteten christlichen Gegner zu tun haben, der offensiv einen Krieg gegen den Islam begonnen hat. Da es offensichtlich im Zentrum im Grunde noch immer um den Kampf um die heilige Stadt Jerusalem geht, wurde ein realer Krieg der Religionen offenbar perfekt. Nunmehr wird in den islamischen Ländern lauthals und ohne Hemmung zum Krieg der Religionen aufgerufen, und Amerika ist noch vor Israel der gemeinsame Feind Nr. 1. Und dem fundamentalchristlichen Amerika ist das nur recht so. Allah ist für sie sowieso nur ein Mondgott von Mekka, was das Emblem der islamischen Mondsichel zeigt. Er ist ein anderer Gott als Jehova, und Mohammed war aus ihrer Sicht ohnehin nur ein von Dämonen besessener Pädophiler, der zwölf Frauen hatte, und was er lehrte, sei keine friedliche Religion. Mohammed gilt als erster Terrorist. Entsprechende christlich-fundamentalistische Internetseiten rufen genau wie Araber inzwischen zur Tötung jedes Mohammedaners auf, mit den schändlichsten, abscheulichsten Beschreibungen, wie dabei vorzugehen sei. Araber seien Abschaum und die Moscheen sollten niedergebrannt werden. Auf Mekka und Medina sollen Atombomben fallen, und sogar der US-Senator Guy W. Glodis verteilte 2003 Flugblätter, in denen stand, muslimische Extremisten sollten mit den Innereien getöteter Schweine begraben werden.

Amerika führt keine Befreiungskriege im arabischen Raum, sondern missionarische Kreuzzüge, um die Mohammedaner zum Christentum zu bekehren. Leidtragende im Irak sind dann allerdings auch die dortigen einheimischen christlichen Kirchen, die unter Sadam Hussein Religionsfreiheit genossen und keine Konflikte mit der muslimischen Mehrheit hatten. Seit dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten werden aber auch diese nunmehr von den Untergrundorganisationen attackiert – ihre Kirchen werden in die Luft gesprengt und einheimische Christen werden wegen ihres Glaubens ermordet. Die armenischen, assyrischen und chaldäischen Religionsgemeinschaften stehen im Visier der islamischen Fundamentalisten und sind auf der Flucht ins Ausland. Dabei waren alle einheimischen Christengemeinschaften aus dem Nahen und Mittleren Osten gegen den Präventivschlag der Amerikaner. Die orthodoxe Kirche im Heiligen Land gab feierlich bekannt, George Bush, Donald Rumsfeld, Tony Blair und dem britischen Außenminister Jack Straw sei es verboten, die Geburtskirche in Bethlehem zu betreten. Die irakischen Christen verglichen nach dem Fall von Sadam Hussein die US-Besetzung ihres Landes mit der Kreuzigung Christi. Vor allem die katholische Kirche aber machte unter Papst Johannes Paul II. Front gegen den Irak-Krieg. Bei Demonstrationen vor dem Weißen Haus wurden hochrangige Religionsvertreter wie der römisch-katholische Bischof Thomas Gumbleton festgenommen. Ausschlag für die Wut in der islamischen Welt ist das offensichtliche Verhalten der Amerikaner, die im berüchtigten Folterknast Guantamano Koranausgaben vor den Augen der Inhaftierten die Toiletten herunterspülen. Nach der Scharia werden solche Religionsverbrechen mit der Todesstrafe geahndet, da Gott selbst wegen solcher Verunglimpfung höchstpersönlich attackiert werde. Diese Respektlosigkeiten führen zu mehr Unmut in der arabischen Welt als die Demütigungen der Folterskandale von Abu Ghraib. Entschuldigungen der US-Regierung werden für Lügen gehalten, was auch wahrscheinlich so ist, denn die Verantwortlichen an der Spitze der Befehlskette – wie Drei-Sterne-General William Boykin (Gotteskrieger, Islamhasser und Teufelsaustreiber) und Donald Rumsfeld – bleiben in ihren Machtpositionen. Aber auch der Präsident George Bush selbst teilt deren Ansichten, dass es ein Kampf gegen das Böse – den Islam – sei. Der US-Psychiater und Gewaltforscher Robert Jay Lifton hält dessen Strategie, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, in Kombination mit der fundamentalistischen Religiösität als wiedererweckter Christ und dem Supermacht-Syndrom für eine der gefährlichsten Kombinationen, denen die Welt gegenübersteht. Seit 2001 benutzt Bush den Begriff Kreuzzug, was für die islamische Welt Osama Bin Laden bestätigt, der bereits in seinem Statement zum 9/11 vom „neuen jüdischen Kreuzzug, der von dem großen Kreuzzügler Bush unter der Flagge des Kreuzes geführt wird“ sprach.

Die Gründung Groß-Israels mit Jerusalem als Hauptstadt geht nach Ansicht der fundamentalistischen Christen wie auch der Juden dem zweiten Kommen Christi bzw. dem Messias voraus. Das schweißt die Christen mit der radikalen zionistischen Siedlerbewegung für ein Zweckbündnis zusammen. Sie wollen dafür ein Israel, das sich von der Sinai-Wüste bis zum Euphrat-Fluss erstreckt und das heutige Israel, den Libanon, die Westbank von Jordanien, wesentliche Teile von Syrien, Irak und Saudi-Arabien umfasst. Die Nazis unter Hitler, welche das auserwählte Volk in das auserwählte Land zurücktrieben und somit halfen, die bedeutendste Prophezeiung zu erfüllen, werden deswegen auch als ein Instrument in der Hand Gottes gewertet. Auch im Islam sei man der Ansicht, dass der Holocaust – das Abschlachten der Juden durch Nazis – eine der bösen Taten der Juden selbst war, denn es sei von jüdischen Führern geplant und Teil der eigenen Politik gewesen. Unter den Christen wird nun ein zweiter Holocaust unter den Juden erwartet, dem zwei Drittel zum Opfer fallen sollen; das restliche Drittel würde dann zum Christentum bekehrt. Das gegenwärtige freundschaftliche Bündnis zwischen Christen und Juden sei nur ein Zwischenschritt, bevor die Christen in gewohnt antisemitischer Weise brutal gegen die Juden vorgehen wollen.

Es geht nicht darum, dass alle Juden Zionisten wären – was ja die israelische Friedensbewegung unter Beweis stellt, ebenso wie manche orthodoxe Rabbis, die eine Auflösung Israels wollen und einen gesamtpalästinensischen Staat unterstützen, weil sie den atheistischen Zionismus ablehnen. Sie erwarten nicht die Ankunft Israels, sondern die Ankunft des Messias. Den Unabhängigkeitstag Israels begehen sie als Trauertag und arbeiten eng mit der palästinensischen PLO zusammen. Die erneut die Macht übernehmenden radikalen Siedler in Israel aber berufen sich auf die Geschichte, wie man sie auch in der Bibel nachlesen kann, und dort kann jeder die Abscheulichkeiten der Juden unter Gottes Befehl an nichtjüdischen Stämmen und Volksgruppen nachlesen. Es ist widerwärtig und ohne jegliche Moral, in welcher Weise da „geschlachtet“ wurde. Josua, der damals Jericho stürmte, 31 Stammesführer verstümmelte und bei der Eroberung der Stadt Ai zwölftausend Frauen und Männer abschlachtete, ist heute das Vorbild der israelischen Armee. Ihr Gott Jahwe geht aber auch genauso gegen das eigene Volk vor, wie das Massakrieren der dreitausend Anbeter des Goldenen Kalbes, welche die Führerschaft Moses in Frage stellten, aufzeigt.

Die Propaganda westlicher „Krieg gegen den Terror“-Akteure wie Bush und Blair ist ähnlich wie früher jene gegen den Kommunismus. Es gibt auch tatsächlich viele Ähnlichkeiten zwischen Kommunismus und dem neuzeitlichen Islamismus. Beide haben den westlichen Kapitalismus und internationalen Wirtschaftsimperialismus als Gegner, beide zielen auf eine Weltrevolution, beide sind international und nicht nationalistisch ausgerichtet, beide berufen sich auf die Massen (die einen auf das Proletariat, die anderen auf die „Umma“, die Gemeinschaft der Muslime). Der Unterschied ist, dass sich der Kommunismus an einer politischen Theorie orientiert, der Islamismus aber an einer politischen Theologie. Der Islamismus hat aber bei seiner Herausbildung Anleihen bei der kommunistischen Ideologie gemacht, hat sich einen dialektischen Denkstil zugelegt und eine internationale Revolutionstheorie entwickelt. Gegenwärtig verfügt er über eine effektive Agitprop-Erfahrung und hat viel von den kommunistisch gefärbten Guerillabewegungen der Dritten Welt gelernt. Trotz dieser Modernisierung leitet sich die Theorie aber dogmatisch aus der Tradition des Islam ab. Ihre Theoretiker konnten religiöse, archaische und mythisch-mystische Gesellschaftsentwürfe in einer modernen, rationalistischen Sprache darstellen. Waren es im letzten Jahrhundert noch Vertreter von Bruderschaften, die nach der Scharia lebten, geht es seit den Achtzigerjahren um den Heiligen Krieg für eine islamische Weltherrschaft. Vom Kommunismus unterscheidet sich dies darin, dass der Islamismus nicht in einer internationalen Partei organisiert ist; die vielen Gruppen werden nicht in einer „Islamistischen Internationale“ präsentiert. Dennoch ist daraus mittlerweile eine weltweite Kulturströmung innerhalb des Islam geworden.

Al Qaida ist die einzige Organisation, die an eine Islamistische Internationale erinnern könnte, ist aber mit der Rolle der Kommunistischen Internationale dennoch nicht vergleichbar. Die gefährlichen Selbstmordattentate waren früher im Islam verboten, jedenfalls bei den Sunniten, der Mehrheit der Mohammedaner. Heutzutage werden solche Attentate viel häufiger durch Sunniten begangen als durch traditionelle Märtyrer-Operationen der Schiiten. Zu dieser Entwicklung haben die Israelis beigetragen, als sie in den 80er Jahren palästinensische Aufständige und Fatah-Kämpfer, die alle Sunniten waren, in den Libanon deportierten, wo diese in Kontakt zu der schiitischen Hisbollah traten. Aus dieser Begegnung entstand eine explosive Waffenbrüderschaft und Gesinnungsgemeinschaft, so dass der israelische Premier Yithak Rabin bekannte: „Wir haben den Schia-Geist aus der Flasche entlassen“. Die Hamas und der Islamische Djihad exportierten in kürzester Zeit die Märtyrerideologie der Hisbollah. Seitdem gilt der Selbstmord auch bei Sunniten als ein religiöses Urereignis und Erfüllung der heiligen Schriften. Das Shabad (Martyrium) ist in allen islamischen Ländern zu einem umfassenden und aufregenden Kulturphänomen geworden. Psychologen bestätigen ein umfassendes Glücksgefühl, das entsteht, wenn es die Attentäter zerfetzt. Der Gesichtsausdruck kurz vor der Explosion zeigt das bassamat al-farah, das Lächeln der Freude. Wie Jesus „erscheinen“ die Attentäter danach aus dem Jenseits ihren Verwandten und versichern, dass sie noch am Leben sind, weswegen das Ereignis auch nicht betrauert sondern gefeiert wird. Mütter brechen in Freudengeschrei aus. Die Attentäter seien ja jetzt für ewig im Himmel und könnten siebzig Familienmitglieder auswählen, die das Paradies ebenso betreten dürfen.

Das erste große Ereignis, das den Islam nach zweihundertjähriger Ohnmacht aufwachen ließ, war die iranische Revolution durch Sayyed Ruhollah Khomeni, der sich auch Ayatollah („Zeichen Gottes“) nennen durfte. Dieser bekämpfte im Iran-Irak-Krieg Saddam Hussein, der für ihn ein Handlanger der Amerikaner und Israelis war. Die Geschichte wird erst noch zeigen, wie verheerend und falsch für die Weltpolitik der Sturz Saddams durch die USA gewesen war. Khomeni war für Millionen von Muslimen die Erlöserfigur und der islamische Staat die Prophezeiung für das Erscheinen des Mahdi, des verborgenen Imam. Er war der Erste, der von den USA als „Satan USA“ sprach. Es war das erste islamische Land, das den Islamismus internationalisieren wollte, mit dem Ziel einer einzigen Welt-Ordnung (Ommat) innerhalb eines andauernden Kampfes, um die entrechteten und unterdrückten Nationen der Welt zu befreien. Diese iranische Revolution hatte für den gesamten Islam den Charakter eines mythischen Primärereignisses. Sie war eines der bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts und gab dem Islam sein Selbstbewusstsein zurück. Das Erscheinen des Mahdi ist in den Prophezeiungen allerdings auch mit der vollständigen Vernichtung der Juden verknüpft, die diesem Ereignis vorausgeht. Der Nahost-Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis wird deswegen zur Schicksalsfrage des gesamten Islams und der ganzen Welt hochstilisiert. In diesem Punkt treffen sich die islamischen Fundamentalisten mit den jüdischen und christlichen.

Damalige Staatstheorien im Iran wurden selbst von Philosophen wie Jean Paul Sartre als beste zeitgenössische Religionsmodelle verteidigt. Und der geistige Mentor von Osama Bin Laden, der saudische Scheich Safar al-Hawali, hat auch eine fundierte Kulturkritik des Westens vorgelegt, in der er ein kriegerisches und dekadentes Bild der westlichen Kultur und Historie zeichnet. Als barbarisch deklariert er unter anderem: den Kolonialismus und den Imperialismus, den Sklavenhandel, die Vernichtung der Indianer in Amerika, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die Tötung von Frauen und Kindern in Afghanistan und im Irak. Angesichts dieser grausamen Geschichte und Gegenwart habe der Westen nicht das Recht, der übrigen Welt sein angebliches Wertesystem aufzupropfen, an das er sich selber nicht halte. Dagegen sei das muslimische Wertesystem das wahre Band, das die gesamte Menschheit umschließen könne und der allgemeine Nenner der positiven Facetten aller Kulturen. Die Menschenrechte, die Freiheit der Religionsausübung, Friedfertigkeit und Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Würde der Persönlichkeit, Recht auf Meinungsäußerung sei im Islam besser garantiert als in der westlichen Kultur. Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei wären in einer muslimischen Gesellschaft niemals mundtot gemacht worden. Selbst die Juden hätten immer mehr Rechte in der islamischen Gesellschaft genossen als in der abendländischen. al-Hawali nimmt die Position eines an humanpolitischen Werten orientierten Kulturkritikers in Anspruch. Er sieht den Westen als religiöses System und kämpft gegen „Christen und Kreuzzügler“, die das zweite Kommen Christi mit Atomwaffen herbeibomben wollen.

Der Irak-Krieg ist daher zweifelsfrei ein Religionskrieg. Sein Schüler Bin Laden und dessen al Qaida kämpfen daher auch zuerst gegen „Christen und Juden“ und dann erst gegen westlichen Kapitalismus und die liberale Mediengesellschaft. Das Banner, unter dem Bush und Blair kämpfen, ist das Kreuz. Osama Bin Laden fordert aber auch die Aufrüstung der arabischen Welt mit Atombomben. Der zweite Mann in der al Qaida, der Ägypter Ayman al-Zawahri, sagt offen, dass seine Organisation bereits über Atomwaffen verfüge. Wenn man über dreißig Millionen Dollar verfügt, geht man einfach auf den schwarzen Markt in Zentralasien, kontaktiert dort irgendeinen der enttäuschten sowjetischen Wissenschaftler und erhält eine ganze Menge von Angeboten an smarten Aktentaschenbomben. Solche atomare Kofferbomben seien längst erworben.

Osama Bin Laden gilt im Westen als losgelassener Teufel, als Instrument des Bösen. Das begrüßen die Mohammedaner, denn dadurch wird er in den Augen der Unterdrückten und Verdammten in der Welt umso mehr zum Helden. Im gegenwärtigen Spektrum der islamischen Führer gibt es niemand Vergleichbaren. Er ist der Einzige, der eine wirklich internationale Organisation aufgebaut hat, die überall in der Welt zuschlagen kann, und verfügt über große Gefolgschaft in der islamischen Welt bis hin zu den Immigranten-Generationen in Nordamerika, Europa und Australien. Obwohl er der Mastermind der schlimmsten Terrorattacke in der Geschichte war, ist seine Popularität in keiner Weise zurückgegangen. Für die Muslime hat er die Rolle eines Erlösers, eines mystischen Heiligen. Sein bisher nicht entdeckter Aufenthaltsort ist der mystische Ort der Verborgenheit, von wo aus er demnächst entweder selbst als Mahdi aufbricht oder von wo er zumindest das Kommen des muslimischen Mahdis vorbereitet. In ausgestrahlten Videoclips sieht man ihn vor einer Schrift in arabischer Sprache, die übersetzt besagt: „Der erwartete Erleuchtete“. Seit 2001 lässt er sich zusätzlich Mohammed nennen, denn eines der Kennzeichen des Mahdi ist, dass dieser den Namen des Propheten trägt. Als Anti-Amerikaner ist er selbst für Nicht-Muslime der Dritten Welt zu einem charismatischen Sozialrebellen in der Nachfolge Che Guevaras geworden. Er ist eine internationale Kultfigur. Alle „Terror-Experten“ sind sich einig, dass al-Qaida als zentrale und logistisch handelnde Organisation kaum noch existiert. Aber um so mehr wirkt sie als Ideologie, als Bewegung, als Mythos, als Symbol. Al Qaida ist zum islamischen Urbild geworden, mit bin Laden als optischem Mittelpunkt. Diesem neuen Archetyp gelingt es, immer neue Terrorgruppen aus sich heraus zu gebären, ohne diese selber organisieren und finanzieren zu müssen. Al Qaida selbst ist durch Waffen gar nicht angreifbar. Sie ist eine realitätsträchtige Imagination. Würde bin Laden getötet, täte dies dem Mythos keinen Abbruch, sondern würde diesen nur noch mehr steigern.

Was sich in der politischen Welt in den letzten Jahren vollzieht, entspricht schon zum Großteil den islamischen Endzeit-Prophezeiungen. Der Afghanistan-Krieg und der darauf folgende Irak-Krieg wurden in den traditionellen Khurasan-Prophezeiungen vorhergesagt. Dort wird das Erscheinen des Mahdi aus den Grenzgebieten zwischen Iran und Afghanistan vorhergesagt, die früher den Namen Khurasan trugen. „Schwarze Banner werden aus Khurasan kommen. Keine Macht wird sie stoppen können, bis sie schließlich Jerusalem erreichen, wo sie ihre Flaggen hissen. Wenn du die schwarzen Banner siehst, die aus Richtung Khurasan kommen, dann schließ dich ihnen an, selbst wenn du kriechen musst, denn unter ihnen wird Allahs Kalif, der Mahdi, sein“. Da Khurasan der Name für das heutige Afghanistan war, wurden die Taliban, die schwarze Turbane, weiße Gewänder und schwarze Fahnen trugen, von den Muslimen der Welt als Mahdi-Armee klassifiziert. Nach der Khurasan-Prophezeiung wird es dem muslimischen Messias gelingen, den Streit zwischen Sunniten und Schiiten zu beenden und „Millionen Mujaheddin, die schwarze Banner tragen, werden vom Iran und den unabhängigen islamischen Staaten der kollabierten Sowjetunion in die arabische Insel in Kolonnen von Fahrzeugen hinabfahren, mit keinerlei anderer Absicht, als dem Mahdi persönlich Gefolgschaft zu schwören, Hand in Hand und ohne Vermittler.“

Tatsächlich hat die Festnahme Saddam Husseins durch die Amerikaner, die von allen islamischen Fundamentalisten begrüßt wird, es ermöglicht, dass sich jetzt al-Qaida und ehemalige Taliban-Anhänger in Bagdad treffen und dort neu gruppieren, um die Endzeit-Armee aufzubauen. Der Irak ist ein integraler Bestandteil der Mahdi-Prophezeiung. Hätte Saddam Hussein seine Herrschaft fortgesetzt, wäre er zu einem Widersacher des Mahdi geworden. Im Irak sind gegenwärtig zwei bedeutende Fundamentalisten-Führer am Wirken. Dies ist einen der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi, der mit den Palästinensern gegen das jordanische Königshaus agierte und am Krieg gegen die Sowjetbesatzer in Afghanistan teilnahm. In Pakistan baute er seine eigene Djihad-Organisation auf, die auch in Europa über ein großes Netzwerk verfügt. Kurz hielt er sich dann im Iran auf, organisierte die Ermordung des amerikanischen Botschafters Laurence Foley in Jordanien und ging dann in den Irak, wo er vor allem durch die schockierenden Videos seiner Organisation Aufmerksamkeit erlangt, in denen Geiseln um ihr Leben bitten, bevor sie enthauptet werden. Zuerst agierte er unter eigenem Namen, aber 2004 schloss er sich der al-Qaida an und wurde von bin Laden als militärischer Führer für das Land der beiden Flüsse, Irak, bestätigt. Er gehört zu den Sunniten und sieht in den Schiiten seine traditionellen Erbfeinde, die er ebenso bekämpft wie die Kreuzzügler. Der zweite gefährliche Mann im Irak ist Muqtada al-Sadr, allerdings ist dieser radikaler Schiitenführer. Seine Miliz trägt den Namen Mahdi-Armee und diese tragen wie die afghanische Taliban entsprechend der Khurasan-Prophezeiung schwarze Turbane und schwenken schwarze Fahnen. Er will Befreiung, Friede und Gerechtigkeit für sein Volk und gilt auch bei engagierten Muslimen im Westen als eine Figur wie Jeanne d`Arc, ebenso wie sie ist er Soldat und Heiliger. Nach den Kämpfen mit den Amerikanern, wo er als Terrorist galt, versucht er derzeit auf legale Weise in der irakischen Politik mitzumischen. Durch die politischen Änderungen im Iran kann sich das alles aber auch ganz schnell wieder ändern. Entgegen den Prophezeiungen ist es bislang aber nicht gelungen, dass der kommende Mahdi Sunniten und Schiiten vereinigen würde. Zumindest im Irak und in Pakistan sind die alten Konflikte zwischen beiden Gruppierungen wieder voll ausgebrochen.

Die von Scheich Achmed Yassin gegründete palästinensische Hammas, ein Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft, gilt ebenso als Endzeit-Armee des Mahdi. Sie war schon immer die militant-islamische Alternative zur PLO und hat diese in den jüngsten Wahlen (Januar 2006) der Macht beraubt. Im Gegensatz zur PLO sieht sie den Israel-Konflikt nicht als politisches, sondern als religiöses Phänomen. Sie treten für die theokratische Staatsform (Scharia) mit dem Koran als eigentlicher Verfassung ein und für den Djihad als religiöse Pflicht für jeden Muslim. Das edelste Mittel dabei sind die Märtyrer-Operationen. Die Hamas-Charta fordert die Absage an alle internationalen Konferenzen und Verhandlungen, die sich kompromissbereit mit der Landfrage in Palästina auseinander setzen. Sie wollen die vollkommene Vernichtung Israels. Ihre Statements sind der Spiegel zur radikalen israelischen Siedler-Position – keine Kompromisse im Kampf der Endzeit-Apokalypse. Mit ihrem Machtantritt sehen sie das Auferstehen des Mahdi näher gerückt.

Als im Sommer 2005 Mohammed Ahmadinejad überraschenderweise zum neuen Staatschef des Irans gewählt wurde, jubelte ebenso der fundamentalistische Islam. Sein Wille, sein Land Atommacht werden zu lassen, und die Zeichen dafür, dass er eventuell schon über Atombomben verfügt – jedenfalls verfügt er bereits über Langstreckenraketen, die Städte Mitteleuropas erreichen können –, liegen ganz im Sinne der islamischen Weltrevolution. Auch dass die Schiiten im benachbarten Irak die Mehrheit der Bevölkerung stellen, macht das Ende des Iran-Irak-Konfliktes möglich; die Verteidigungsminister der beiden Länder (Iran und Irak) haben sich auch schon unter misstrauischen Blicken des Westens getroffen, um über eine robuste militärische Kooperation zu verhandeln. Ahmadinejad will die Ungerechtigkeiten in der Welt ausrotten und eine Welle islamischer Revolutionen in der ganzen Welt entfachen.

Sofort nach seiner Wahl als Präsident empfing er den Generalssekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah. Die Hisbollah ist die bekannteste schiitische Widerstandsorganisation, deren Hauptziel die Bekämpfung Israels ist. Die Hisbollah, wurde obwohl aus Libanesen bestehend, 1982 durch den Iran gegründet und proklamiert eine islamische Republik nach dem Vorbild Irans. Trainiert wurde sie von den Revolutionären Garden Khomenis. Als Partei Allahs (Hisbollah) kämpfen sie gegen die Partei Satans. Sie haben in ihrer ganzen Geschichte keinen eigenständigen Kurs verfolgt, sondern befolgen vollkommen die Anweisungen aus dem Iran. Sie waren die ersten, die das Konzept der Märtyrer-Operationen in den radikalen Islam verankerten. Sie sind derzeit zwar friedlicher aufgetreten, aber sie warten auf die Direktiven aus Teheran.

In Europa bleibt die von Bassam Tibi konzipierte Vision des „Euro-Islams“ zwischen Tradition und europäischer Aufklärung leider aus, sie stößt bei den Immigranten auf wenig Zustimmung. Stattdessen entwickelt sich eine Symbiose des radikalen Islam mit den totalitären und nihilistischen Kulturströmungen des alten Europa. Der radikale Islam hatte sich ursprünglich ja auch sehr von den erstmals in Europa formulierten Revolutionstheorien stark beeinflussen lassen. Die Euro-Djhads machen Anleihen bei der revolutionären Linken. Das radikalisierte Jugendmilieu ist vergleichbar mit der 68er Revolte. Diese Jugendlichen sind keine vom Nahen Osten gesteuerte Gruppe mehr, sondern junge Muslime, die im Westen geboren, aufgewachsen und mit der westlichen Denkart vertraut sind. Sie nehmen denselben Platz ein, den die Proletarische Linke vor 30 Jahren inne hatte und die Direkte Aktion vor 20 Jahren. Sie leben in einer militanten Realität, die von der extremen Linken verlassen wurde, und wollen das System zerstören. Dass theoretische Kombinationen zwischen europäischem Existenzialismus und Islamismus möglich sind, zeigte sich schon, als Jean Paul Sartre bestimmte iranische Theoretiker wie Ali Schariati als den Höhepunkt einer modernen, revolutionären Religionsphilosophie lobte. Aufgrund der „Judenfrage“ ist eine Symbiose aber genauso auch mit der radikalen Rechten möglich. Bei beiden steht die Vernichtung der Juden ganz oben auf dem Programm. Weitere Berührungspunkte sind apokalyptisch orientiertes Krieger-Ethos, dessen Grundlage von Julius Evola geschaffen wurde, der sich dabei an den indogermanischen Kriegertraditionen der Kshatriya-Kaste und den japanischen Samurai orientierte. Der Heilige Krieg und der Heilige Krieger stehen im Zentrum dieser wie auch der islamischen Philosophie.

Ob die Apokalypse abläuft wie von allen drei abrahamitischen Religionen vorhergesagt, wird nun das Verhalten der in Palästina an die Macht gekommenen Hamas ausmachen, mit denen unbedingt Verhandlungen geführt werden müssten. Dass sie sich ansonsten mit der libanesischen Hisbollah vereinigen wird, liegt auf der Hand; ebenso, dass dann der Iran zuschlagen will, um Israel zu vernichten, dass dann in Ägypten die Muslimbruderschaften die Regierung stürzen werden, dass dies Nachahmer in anderen arabischen Ländern nach sich zieht. Die politische Lage ist wie über Nacht derzeit tatsächlich zu einem religiösen Krieg mutiert, wie die nicht mehr zu kontrollierenden Massenunruhen in der gesamten arabischen Welt (aufgrund den Islam verunglimpfender Karikaturen in europäischen Zeitungen, Februar 2006) deutlich zeigen. Dabei sind die Guten und die Bösen in der aktuellen Weltpolitik lediglich einander bekämpfende Brüder einer kranken monotheistischen abrahamitischen Religion, denen es ums Gleiche geht, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Alarmierend ist, dass sich dabei eine zunehmende Eigendynamik entwickelt, in der sich die verschiedenen islamischen, christlichen und jüdischen Fraktionen gegenseitig hochschaukeln. Die biblischen Prophezeiungen könnten sich aus sich selbst heraus erfüllen. Eiferer jeder der drei monotheistischen Religionen sind dabei, eine Reaktion von Schlag, Gegenschlag und Massenvernichtung auszulösen. Der apokalyptische Wahn kann unseren Planeten in Schutt und Asche bomben.

Aus dieser gefährlichen Perspektive heraus gesehen, stellen die Bücher von Victor und Victoria Trimondi – um an den Anfang der Inhaltsbeschreibung zurückzukehren – eine unverzichtbare Analyse und Bewertung von Endzeit-Apokalypsen in bestehenden Religionsformen dar. Das neueste Werk ist dabei der aktuellen Realität am entsprechendsten. Aber im Zusammenhang erscheint es dann durchaus notwendig, alle Religionen dahingehend zu untersuchen, denn es ist eine vordringliche Aufgabe der Aufklärung und des Humanismus, die Menschen vor der Destruktion des religiösen Wahns zu schützen. Aus dieser Perspektive heraus ergeben nunmehr alle drei Bände Sinn, wenn man sie im Zusammenhang dieser Forschung betrachtet.

_Victor und Victoria Trimondi
Krieg der Religionen
Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse
597 Seiten, Hardcover, Wilhelm Fink Verlag, Dezember 2005_
[ISBN 3-7705-4188-X]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/377054188X/powermetalde-21

http://www.trimondi.de

Links zu meinen themenverwandten Rezensionen und Artikeln:

Yassir Arafat
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2215

Geschichte Palästinas
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=15

Mit dem Konflikt leben – Palästina / Israel
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=419

Der Konflikt zwischen Israel und Palästina
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=18

Von Mesopotamien zum Irak
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=36

Kriegsverbrechen der Amerikaner gegen den Irak
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=101

Die Kriege der Familie Bush – Die wahren Hintergründe des Irak-Krieges
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=37

Krieg gegen den Terror? Al-Qaida, Afghanistan und der Kreuzzug der USA
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=100

Gottesstaat Iran
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=40

Die satanische Ferse – Zur Psychopathologie des Islamfaschismus
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=732

Feindbild Christentum im Islam
http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=609

Neue Welt-Krieg-Ordnung
http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=21

StirnhirnhinterZimmer

All jenen geneigten Lesern, die sich nun verwundert fragen, was dieses StirnhirnhinterZimmer sein mag, möchte ich anfangs ein paar einleitende Zeilen aus der gleichnamigen Präsentation in den Weiten des Netzes an die Hand geben:

|“Das StirnhirnhinterZimmer ist eine regelmäßige Lesereihe, die sich der phantastischen Literatur in ihren verschiedenen Ausprägungen widmet. Im Zentrum der Veranstaltung stehen Fantasy, Science Fiction, Märchen, Unheimliches und Groteske gleichberechtigt nebeneinander, um an jedem zweiten Donnerstag des Monats unter einem bestimmten Thema zum Vortrag gebracht zu werden.(…)“

„Ein Raum jenseits der tristen Korridore des Alltags. Ein Raum voller Fabelwesen, furchtsamer Weltraumpioniere, machttrunkener Dämonenfürsten (…) Ein Raum der Phantastik in all ihren Spielarten, präsentiert und imaginiert von drei jungen Berliner Autoren.“|

http://www.stirnhirnhinterzimmer.de

Bei meinem letzten Berlinbesuch kam ich nun endlich in den Genuss einer Visite im StirnhirnhinterZimmer, in dem sich die drei Berliner Autoren _Markolf Hoffmann_, _Christian von Aster_ und _Boris Koch_ das erste Stelldichein des Jahres 2006 gaben. In überschwänglicher Vorfreude kamen wir viel zu früh an der Z-Bar (Bergstraße 2, Berlin-Mitte) an. Nach kurzer Wartezeit, die wir uns mit einem kleinen Gaumenschmeichler vertrieben, öffneten dann auch gegen 20:30 die Tore des StirnhirnhinterZimmers, welches an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Getreu dem Abendmotto „Hinab ins Dunkle“ kamen die drei Protagonisten und Gastgeber polternd und fluchend aus den dunklen Kellergewölben der Z-Bar, in denen sie nach eigenen Angaben die letzten Tage des Schaffens verbrachten. Markolf Hoffmannn eröffnete den Abend mit seiner Geschichte „Ego Shooter“, in der er sich in die trostlose und verwinkelte Welt eines solchen Computerspiels versetzte und dem Auditorium einige interessante Gedanken des bedauernswerten Protagonisten offenbarte, der bar jeder Erinnerung an sein früheres Leben erwacht und sich in einer todbringenden Umgebung wiederfindet. Schon bald wurde klar, dass er dieses Labyrinth am liebsten wieder verließe, in das ihn der menschliche Spieler, einer Marionette gleich, eingesperrt hatte. Christian von Aster konterte mit dem „Schattenbastard“ und Boris Koch eröffnete den Gästen tiefe Einblicke in den „Keller“, der einem trauernden Witwer zur Zuflucht und seinem Sohn zu einem Ort unbeschreiblichen Grauens wurde. Von Aster ließ den ersten Teil dieses schaurigen Abends mit seinen „Schrankaffen“ ausklingen, einer Kriminalgeschichte, in der sich ein englischer Kleinkrimineller mit den Machenschaften eines irren Wissenschaftlers konfrontiert sieht, die ihn in ein moralisches Dilemma stürzen.

In der nun folgenden kurzen Pause ergab sich die Möglichkeit, mit den Autoren ein kleines Schwätzchen zu halten, sich mit neuen Getränken zu versorgen oder einfach nur das soeben Gehörte sacken zu lassen.

Den zweiten Teil des Abends eröffnete Koch mit zwei neuen |urban legends|, „Jäger mit Promille“ und „Die Waffen einer Frau“. In „Jäger mit Promille“ berichtete er von den grotesken Versuchen eines alkoholisierten Waidmanns, sich eines unliebsamen Nagers zu entledigen. Die Stimmung im Saal war ausgesprochen heiter und ausgelassen, so dass auch die folgenden Geschichten, die sich eher der Groteske zuwandten, als dass sie wirklich schauriger Natur waren, beim Auditorium auf freudige Zustimmung trafen. Als nächstes geleitete Boris Koch uns in das literarische B-Movie „Giftangriff aus dem All“, in dem bösartige Aliens die Menschheit mittels vergammelter Imbissspeisen zu vernichten drohen. Markolf Hoffmann gab seinen „Brandbrief“ zum Besten und eröffnete den Zuhörern Einblicke in die obskuren Folgen eines Partyflirts. Christian von Aster erläuterte den Anwesenden die Vorteile einer Zwangssiamesierung mit seinem „Informationsblatt der Überlingen-Stiftung“ und schloss den Abend mit einer gelungenen Darbietung von „Sexuelle Identität: Krise, Konsequenz und Kompromiss“ in deren Verlauf er der Zuhörerschaft anhand einiger archetypischer Beispiele die sexuelle Psyche des Menschen erklärte. Zu guter Letzt wurde noch das Thema des nächsten StirnhirnhinterZimmers bestimmt, wobei sich Boris Koch eigenmächtig der Meinung des Auditoriums bediente. Am 09.02.2006 heißt es dann „Schweinekalt“.

Und so entließen die drei Gastgeber ihre Gäste dann aus den Fängen des StirnhirnhinterZimmers und wünschten uns noch einen angenehmen Abend. Natürlich standen sie auch noch für Gespräche, Anregungen und Feedback zur Verfügung und erfreuten sich ebenso des gelungenen Abends wie ihr Publikum.

Wer Spaß an experimentierfreudiger, junger Literatur hat und einen Besuch in Berlin einrichten kann, dem sei das StirnhirnhinterZimmer wärmstens ans Herz gelegt. Der frische Vortragsstil der drei Autoren wie auch ihr Ideenreichtum lassen einen Abend in ihrer Obhut zu einem ganz besonderen Ereignis werden. Und auch, wenn die Bestuhlung eigentlich nur ca. 30 Leute vorsieht, so lassen sich sicherlich noch einige Stühle organisieren, wenn der eine oder andere Gast mehr an die Tore des StirnhirnhinterZimmers klopft. Wenn ich euer Interesse geweckt habe und ihr mehr über das StirnhirnhinterZimmer und seine Gastgeber erfahren wollt, dann schaut doch einfach mal auf der [Website]http://www.stirnhirnhinterzimmer.de vorbei.

|© Foto: Nadja Ritter|

Interview mit Markus Heitz

Am 16. Dezember 2005 fanden sich um 20 Uhr knapp dreißig Gäste in der Julius-Springer-Schule in Heidelberg ein, um einer Lesung von Markus Heitz, dem Autor von „Die Zwerge“, beizuwohnen. Die Lesung, organisiert und präsentiert vom Buchladen [Fun-Fiction,]http://www.fun-fiction.de stand unter dem Titel „Die Rache der Zwerge“ des gleichnamigen dritten Teils der Zwergen-Saga um den Zwerg Tungdil. Ein sichtlich gut gelaunter Markus Heitz führte die Hörer durch fünf sehr passend ausgesuchte Textstellen, die er aber zum Schluss, natürlich an der spannendsten Stelle, mit den Worten beendete: „Hier kann ich aus dramaturgischen Gründen leider nicht weiterlesen!“ Das war allerdings nicht weiter schlimm, denn durch die vertretenen Textauschnitte kam jeder auf seine Kosten, denn sowohl lustige Szenen als auch Schlachtensequenzen kamen nicht zu kurz, so dass eigentlich nur entsprechend gut gelaunte Besucher zu sehen waren.

Die Möglichkeit zum anschließenden Plausch mit dem Erfolgsautor und die Chance, ihre Bücher signieren zu lassen, nahmen dann so viele Besucher ausführlich war, dass wir uns entschlossen, das geplante Interview zunächst zu verschieben und es zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Da es bereits zahlreiche Interviews gab, in denen es um die „Ulldart-Saga“ ging, beschäftigten wir uns ausführlicher mit den Zwergen und den daraus entsprungenen Publikationen. Doch lest selbst:

_Martin Schneider_:
Servus Markus, wie fühlt man sich so, wenn man momentan als der „Shootingstar“ des Fantasy-Genres bezeichnet wird?

_Markus Heitz_:
Viele Leute schreiben, ich wäre der „Shootingstar“. Ich bin aber immer noch der gleiche Autor wie zu meinen Anfängen bei „Ulldart“ und fühle mich auch nicht als ein Star. Ich tue das Gleiche wie vor einigen Jahren, nur dass jetzt glücklicherweise mehr Menschen meine Romane lesen. Das freut mich dann schon.

_Martin_:
Wie kam es dazu, dass „Die Zwerge“ entstanden sind?

_Markus_:
Es gab einen anderen Band, der hieß [„Die Orks“, 624 von einem Engländer namens Stan Nicholls. Der hat in Deutschland ordentlich eingeschlagen.

Und als ich dann gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, über ein klassisches Fantasyvolk zu schreiben, habe ich mir die Zwerge ausgesucht, weil ich mich mit den Zwergen besser identifizieren kann; weil sie Ecken und Kanten haben – im Gegensatz zu den Elfen.

_Martin_:
Wie findest du die Darstellung von Gimli in den „Herr der Ringe“-Filmen?

_Markus_:
Vorweg: Jackson hat gute Arbeit geleistet. Aber Gimli bekam die Rolle des Clowns, der zu viele Lacher auf seine eigenen Kosten fabrizieren musste.

Es gibt einige Stellen davon im Film (der Sturz vom Pferd, Unterliegen beim Wetttrinken mit dem Elben uvm.), aber den Hammer fand ich die Schlacht bei Helms Klamm. Man erinnere sich an die Kamerafahrt: Millionen von Orks auf der einen Seite, Schwenk rüber, vorbei an unrasierten Menschen, gestylten Elben und dann … eine Helmspitze hinter einer Zinne. Klar, wieder der lustig-naive Zwerg!

Jetzt mal ehrlich: Würde sich ein Zwerg vor einer Schlacht an eine Stelle der Mauer begeben, wo er nichts, aber auch gar nichts von dem sieht, was auf ihn zukommt?

Nein, würde er nicht!!!

Spätestens da war mir klar: Die Zwerge haben dringend ein eigenes Buch verdient, in dem sie so dargestellt werden, dass sie immer noch Humor, aber mehr Grips und Würde besitzen.

_Martin_:
War die Reihe von Anfang an auf mehrere Bände ausgelegt?

_Markus_:
Im ersten Band habe ich mir ein kleines Hintertürchen offen gelassen, aber nicht damit gerechnet, dass der Zuspruch so hoch ausfallen würde. Als ich den zweiten Band anging, habe ich ihn so angelegt, dass es einen dritten geben könnte.

Tja, und irgendwann wird es auch einen vierten geben. Aber das wird noch ein bisschen dauern, da ich den Zwergen und mir ein bisschen Zeit geben will.

_Martin_:
Beschreibe den Lesern, die noch nicht mit diesem Zyklus vertraut sind, doch bitte einmal kurz die drei Teile („Die Zwerge“, „Der Krieg der Zwerge“ und „Die Rache der Zwerge“).

_Markus_:
Grob zusammengefasst, ist der erste Teil Zwerge für Einsteiger. Für Leute, die die Zwerge aus dem „Herr der Ringe“ kennen – und hiermit meine ich in erster Linie die Filme. Sie wissen nicht sehr viel über dieses Volk, und daher nehme ich sie bei der Hand und führe sie mit der Hilfe von Tungdil in mein Zwergenreich. Tungdil ist ein Zwerg, der bei Menschen aufwuchs und nach und nach in die fünf Zwergenreiche des Geborgenen Landes hineinschnuppert. Man kriegt mit seinen Augen mit, wie die verschiedenen Zwerge sind und was er alles erlebt. Vom Anfängerzwerg wird er dabei zum Heldenzwerg.

Und mit diesem Heldenzwerg Tungdil gehen wir dann in den zweiten Band „Der Krieg der Zwerge“. Der erste Band war Zwerge für Einsteiger, der zweite Band ist Zwerge für Fortgeschrittene. Da wird beleuchtet, wie vielschichtig die Zwergenkultur ist, und wo auch die Reibungspunkte zwischen den verschiedenen Zwergenvölkern und Stämmen liegen.

Im dritten Band öffnen wir dann die Tür für ganz neue Zwerge und ganz neue Herausforderungen, indem wir einen Schritt über die Landesgrenzen hinaus gehen, und einen Blick in das „Jenseitige Land“ werfen, das eben außerhalb des „Geborgenen Landes“ liegt. Dort treffen wir völlig andere Zwerge, die wenig mit denen gemeinsam haben, die im Geborgenen Land leben. Das reicht vom Aussehen bis zur Kultur.

_Martin_:
Im dritten Teil bist du auch ein Risiko eingegangen, indem du Magie und Technik verbunden hast. Was hast du dir von diesem Schritt erwartet?

_Markus_:
Mir war von Anfang an klar, dass der klassische Fantasyleser das kritisch sehen wird. Viele dieser Leute möchten ausschließlich das ihnen Bekannte. Das ist nicht schlimm, vergleichbar mit einem eingefahrenen Musikgeschmack. Jeder hat seine Vorlieben, und das akzeptiere ich.

Fantasy lebt aber auch davon, dass man immer wieder neue Sachen erfindet und kombiniert, sonst wäre es für mich auch als Autor sehr langweilig, immer das Gleiche zu schreiben.

Deswegen kombiniere ich Dinge, die es bisher so – auf jeden Fall in meinen Romanen – nicht gab und biete dem Leser völlig neue Betrachtungsweisen.

Das fasziniert die einen, und ein anderer Teil sagt: „Nee, das ist wohl Fantasy, aber für mich zu viel davon.“ Mir war das Risiko aber von Anfang an klar, und ich habe es in Kauf genommen. Ich bleibe dabei: Das Fantasy-Genre braucht neue Impulse.

_Martin:_
Wie kamst du auf die Idee, Hybridwesen aus Albae, Orks und Maschinen zu erschaffen?

_Markus_:
Die kam einfach so. Ich überlegte mir, was wohl das Schlimmste wäre, was den Helden passieren kann. Das musste ein Gegner sein, der verschiedene Eigenschaften beinhaltet. Er sollte einigermaßen gewitzt sein, Magie beherrschen oder mit ihr aufgeladen worden sein und auch noch die Technik zur Verfügung haben. Und das macht die Hybriden zu Gegnern, die das „Geborgene Land“ so noch nicht gesehen hat.

_Martin_:
Denkst du, es kann im „Geborgenen Land“ überhaupt noch weitergehen? Oder wirst du eher ins „Jenseitige Land“ expandieren?

_Markus_:
Es kann sehr wohl noch im „Geborgenen Land“ weitergehen. Und ich weiß auch schon, wie … (lacht)

_Martin_:
Gehe ich richtig in der Annahme, dass du uns nicht erzählen willst, was am Ende von „Die Rache der Zwerge“ mit Tungdil passiert ist?

_Markus_:
Nein, das ist zu gefährlich. Aus dramaturgischen Gründen kann ich an dieser Stelle, wie es so schön heißt, nichts sagen.

_Martin_:
Wie kam dir die Idee, Tassia als Gegenstück zum Unglaublichen Rodario einzubauen?

_Markus_:
Rodario war ja als Schauspieler immer der Weiberheld, und jede Frau war für ihn eine Trophäe, eine Beute sozusagen. Wie wäre es denn, wenn er ein Gegenstück kriegt? Und zwar eine Frau, die genauso ausgebufft ist wie er!

Das hat schon sehr, sehr viel Spaß gemacht, ihm eine Frauenfigur gegenüberzustellen, die genauso denkt wie er und ihm sogar ein Stück weit überlegen ist.

_Martin_:
Leider ist sie dann auf einmal verschwunden und taucht auch nicht mehr auf.

_Markus_:
Das war gewollt, sonst wären es am Ende des Buches zu viele Personen gewesen, und sie spielt ja nicht die tragende Rolle. Sie sollte auftauchen und zeigen: Jawohl, es gibt Frauen, die es mit Rodario aufnehmen können. Sie wird im vierten Band wieder dabei sein.

_Martin_:
Wie war das mit der Reaktivierung des Magus Lot-Ionnan, war sie von Anfang an geplant?

_Markus_:
Ja. Ich war mir nur nicht ganz im Klaren darüber, wann ich sie einsetzen kann. Im zweiten Band war mir noch nicht so ganz wohl dabei, aber im dritten wusste ich dann: Es wird Zeit!

_Martin_:
Dein „Heldenausschuss“ ist relativ hoch, welche Überlegungen führen dich zu dieser hohen Sterberate?

_Markus_:
Auch Helden sterben. Es gibt Bücher, in denen Helden alles überleben, das finde ich ein bisschen schade. Gut, der Leser will natürlich, dass seine Sympathieträger überleben, aber ich finde, es macht nichts, wenn auch mal ein paar Helden fallen. Das zeigt auch, dass sie schlichtweg erstens sterblich sind und zweitens auch nicht jeden Kampf überleben.

_Martin_:
Was hältst du von dem Vermarktungsprinzip von |Heyne| & |Piper|, dass die Verlage viele neue Fantasybücher pauschal „Die Zwerge“, „Die Elfen“ oder „Die Drachen“ etc. nennen?

_Markus_:
Es zeigt dem Leser plakativ, was er von dem Buch zu erwarten hat. Wenn vorne „Die Orks“ draufsteht, sind auch Orks drin, wenn „Die Zwerge“ draufsteht, sind Zwerge drin. Das ist eine klare Ansage. Aus Marketingsicht ist das sicher nicht schlecht.

_Martin_:
Besteht aber nicht auch die Gefahr, dass der Leser denkt a) die Bücher gehören zusammen und b) sie haben auch alle den gleichen Stil?

_Markus_:
Das kann passieren, aber als Autor hat man wenig Einfluss. Die Mitarbeiter des Verlages werden dafür bezahlt, dass sie sich diese Gedanken im Vorfeld machen. Und wenn sie der Meinung sind, das das alles so funktioniert, kann ich nichts dagegen sagen.

Ab und zu sagen mir dann auch Leute, was sie von „Die Orks“ oder „Die Elfen“ halten. Stan Nicholls kenne ich nicht persönlich, aber Bernhard Hennen kenne ich und daher richte ich ihm das Lob aus. Das macht man unter Kollegen.

_Martin_:
Kommen wir zu „Die dritte Expedition“. Wie kam die Idee zu diesem Solospielbuch?

_Markus_:
Diese Solospielbücher gab es in der Mitte der 80er. Die kamen damals aus England, waren in Deutschland sehr erfolgreich, und sehr viele ältere Rollenspieler werden sich noch ziemlich genau daran erinnern. Mir haben die damals sehr gut gefallen

_Martin_:
Wie sieht es mit Fortsetzungen aus?

_Markus_:
Es werden nach und nach neue Solospielbücher kommen, immer abwechselnd eines von den Zwergen und eines aus „Ulldart“.

_Martin_:
Planst du auch, das in ein richtiges Rollenspiel einzubetten?

_Markus_:
Ich bin damals zur Spielemesse in Essen an den |Pegasus|-Stand gegangen und habe gefragt: „Wie sieht’s mit einem Ulldart-Rollenspiel oder einem Zwerge-Rollenspiel aus?“

Und die Profis von |Pegasus| meinten, dass es momentan auf dem Pen&Paper-Rollenspielmarkt nicht ganz so gut aussieht, aber man könnte es mit Solospielbüchern versuchen, um das Interesse zu testen. Die Idee: die jüngere Generation, die momentan nichts mit Rollenspielen am Hut hat, über die Solospielbücher langsam wieder an die klassischen Rollenspiele heranführen.

Das wird nicht leicht. Im Gegensatz zu früher ist das sonstige elektronische Unterhaltungsangebot wesentlich höher als Mitte der 80er. Das Rollenspiel hatte damals einen viel stärkeren Reiz auf die Jugendlichen und Kinder.

Wir versuchen es, die Leute über diese Plattform wieder zum Rollenspiel hinzuführen, um ihnen zu zeigen, dass die Solospielbücher für die Anfänger gedacht sind und es auch noch eine Steigerung dazu gibt. Na ja, wir werden sehen, was daraus wird.

_Martin_:
Bei deiner Lesung waren auch einige jüngere Leute, freust du dich besonders, wenn du die Kids erreichst?

_Markus_:
Ich finde das sehr gut! „Die Zwerge“ ist zwar nicht als Kinder- und Jugendbuch konzipiert gewesen, aber ich bekomme häufig E-Mails von jungen Lesern, der Spitzenreiter hatte gerade elf Jahre auf dem Buckel. Ist doch klasse, wenn Kinder sagen: Okay, wir nehmen uns diese 800 Seiten vor, und danach lesen wir das nächste und noch eines.

Es geht mir nicht darum, dass sie unbedingt meine Bücher lesen, sondern dass sie überhaupt lesen. Dass sie dann gleich richtig dicke Bücher anpacken, freut mich umso mehr.

_Martin_:
Kommen wir zum neuen Jahr. Im April 2006 erscheint dein neuer Roman „Ritus“. Die Verlagsinfo zu diesem Roman erinnert sehr an den Film „Packt der Wölfe“. Zufall oder gewollt?

_Markus_:
Das liegt daran, dass die Geschichte aus „Ritus“ auf einer in Frankreich sehr bekannten Geschichte basiert. Was in England Jack the Ripper ist, ist in Frankreich die Bestie von Gévaudan. Diese Geschichte kommt, glaube ich, in jedem Schulbuch vor, wenn es um Heimatkunde geht.
Das Ganze basiert eben auf historisch belegbaren Fakten. Fakt ist, dass 1764-1767 in Südfrankreich in besagtem Gebiet Gévaudan irgendetwas unterwegs war, das Leute angefallen und grausig zerfetzt und verstümmelt hat.

Bis heute weiß man eben nicht genau, was es war. Der „Pakt der Wölfe“ nimmt diese populäre Geschichte zum Anlass und baut seine Theorie auf.

Da das Geheimnis bis heute nicht geklärt ist, ist es der perfekte Anlass für einen Schriftsteller, eine eigene Erklärung zu liefern. Ich habe mich mit der Materie auseinandergesetzt und einige Bücher darüber gelesen: Welche Meinungen es gibt, welche Personen beteiligt waren und so weiter. Das war furchtbar spannend, und heraus kam „Ritus“.

_Martin_:
Nächstes Jahr erscheint auch noch ein Buch namens „Sanctum“ von dir …

_Markus_:
Das ist die Fortsetzung. „Ritus“ macht den Anfang und „Sanctum“ führt das fort, was in „Ritus“ offen geblieben ist.

_Martin_:
Was ist noch für 2006 zu erwarten?

_Markus_:
Abgesehen von verschiedenen kleinen Solospielbüchern, wird es im Sommer „Ulldart – Zeit des Neuen: Brennende Kontinente“ geben.

Und zur Buchmesse wird wieder ein neues Fantasyprojekt erscheinen. Aber das ist alles noch geheim, darüber kann ich noch nichts sagen.

_Martin_:
Bei Amazon stand ein „Shadowrun“-Roman namens „Schattenjäger“ im Sortiment, von dem du, laut einer Anmerkung auf deiner Homepage, nichts wusstest.

_Markus_:
Das hat sich mittlerweile geklärt. Der |Heyne|-Verlag bringt meine insgesamt sechs „Shadowrun“-Romane in zwei Sammelbänden neu heraus. Also dieser „Schattenjäger“ ist kein neuer Roman, sondern enthalten sind die ersten drei Romane von mir.

_Martin_:
Dann bedanke ich mich ganz herzlich für das nette Interview, wünsche dir schöne Weihnachten und einen gute Rutsch. Möchtest du noch ein Abschlusswort an unsere Leser richten?

_Markus_: Seid kreativ!

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http://www.ulldart.de/

_Rezensionen zu Titeln von Markus Heitz bei |Buchwurm.info|:_
[„Schatten über Ulldart“ 381 (Die Dunkle Zeit 1)
[„Trügerischer Friede“ 1732 (Ulldart – Zeit des Neuen 1)
[„05:58“ 1056 (Shadowrun)
[„Die Zwerge“ 2941 (Lesung)
[„Die Zwerge“ 2823
[„Der Krieg der Zwerge“ 3074
[„Die Rache der Zwerge“ 1958
[„Die dritte Expedition“ 2098
[„Ritus“ 2351
[„Ritus“ 3245 (Lesung)
[„Sanctum“ 2875

Buchwurminfos VI/2005

In der Herbstausgabe der vierteljährlichen Zeitung „Deutsche Sprachwelt“ kritisiert der Sprachwissenschaftler Horst Haider Munske den Stand der deutschen _Rechtschreibung_ seit Inkrafttreten vom 1. August als „verordnetes Durcheinander“. Denn die wenigsten kennen sich noch aus und wissen, welche Regel gerade gilt. Der seit 2004 emeritierte Professor für Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg trat 1997 unter Protest gegen die Reformbestrebungen aus der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung aus und hat seither in einer Vielzahl von Publikationen gegen die unsinnige Schreibreform der Kultusminister Stellung bezogen.
Der Rat zur deutschen Rechtschreibung hat Ende Oktober nun weitere Empfehlungen zu Silbentrennung und Zeichensetzung beschlossen. Die Abtrennung von Einzelbuchstaben („E-sel“) sowie sinnentstellende Trennungen („Urin-stinkt“) sollten rückgängig gemacht werden. Beibehalten wird die reformierte Trennung bei „ck“.

Mit der neuen Regierung kommen die Steuererhöhungen und der Börsenverein muss um die Beibehaltung des _reduzierten Mehrwertsteuersatzes auf Bücher_ kämpfen. Seit der Frankfurter Buchmesse wird das bei jedem Treffen mit Politikern zur Sprache gebracht. Aber schon vor der Bundestagswahl hatten sich alle politischen Parteien für eine Beibehaltung des reduzierten Steuersatzes ausgesprochen. Dennoch hatten für die Sanierung der Staatsfinanzen der hessische Ministerpräsident Roland Koch und der designierte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) eine generelle Anhebung des reduzierten Steuersatzes um einen Prozentpunkt auf acht Prozent gefordert. Bei den Koalitionsverhandlungen war durchaus im Gespräch gewesen, nur noch Lebensmittel zu privilegieren und alle anderen Güter – also auch Bücher – der vollen Mehrwertsteuer zu unterziehen. Zwar blieb nun alles bei den 7 %, was laut Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, als „Signal für die herausgehobene kulturpolitische Wertschätzung“ gewertet werden darf, aber in vielen anderen Ländern liegt der Steuersatz auf Bücher noch niedriger. Im Verhältnis von reduziertem Mehrwertsteuersatz zu dem generell geltenden Mehrwertsteuersatz in den einzelnen Ländern belegt Deutschland nach Dänemark und Österreich den drittletzten Platz im EU-Vergleich. Ziel müsse deswegen – so Skipis – letztlich eine gänzliche Steuerbefreiung sein.

Mittlerweile etwas verspätet, aber der Verkaufstag des _[Harry Potter VI 1932 _in deutscher Sprache zum 1. Oktober darf in der regelmäßigen Branchenkolumne nicht fehlen. Wieder war dieser ein bundesweites Ereignis und die Geschäfte liefen für den Handel bestens. In der Nacht noch lieferte Weltbild in Kooperation mit der Deutschen Post 100.000 Bände direkt in die Wohnungen aus. Mit 200.000 Exemplaren war er auch bei Amazon das bisher erfolgreichste Buch in den Vorbestellungen der Firmengeschichte. Carlsen Verlag hat zum Start insgesamt zwei Millionen Exemplare ausliefern lassen und davon allein am 1. Verkaufstag eine Million auch verkauft, eine Herausforderung für die KNO Verlagsauslieferung. Frankreich hatte auch zwei Millionen Startauflage drucken lassen, lag aber mit 800.000 verkauften Exemplaren am Starttag hinter Deutschland zurück. Der 6. Potter-Band brach noch einmal alle bisherigen Rekorde und wurde übersetzt in 62 Sprachen mit einer derzeitigen Gesamtauflage von rund 258 Millionen Exemplaren. Carlsen durfte auch schon wieder nachdrucken. Beim Erstverkaufstag fanden bundesweit überall erneut große Events statt. Mittlerweile lesen aber fast alle potenziellen Fans das Buch natürlich sofort bei Erscheinen, nach diesem Tag gehen wie bereits im Vorjahr die Verkaufszahlen drastisch zurück. Das Interesse wird allerdings durch den neuen Film „Harry Potter und der Feuerkelch“ noch mal geweckt, auch laufen die älteren Filme nunmehr im Fernsehen.

Vom Potter-Fieber profitieren natürlich auch ähnliche Fantasy-Autoren. Cornelia Funke läuft mit ihrer „Tinten“-Trilogie, deren zweiter Teil „Tintenblut“ erschienen ist, bereits in Deutschland Kopf an Kopf mit Joanne K. Rowling, dicht gefolgt von „Eragon“ (Christopher Paolini) und „Bartimäus“ (Jonathan Stroud). Das Kinder- und Jugendbuch nimmt in den Bestseller-Listen mehr und mehr an Bedeutung zu.

Dachte man noch, das Interesse an _Papst-Büchern_ – ausgelöst durch den Tod von Johannes Paul II. und die Wahl von Benedikt XVI. – sei eine kurzlebige Sache, so erstaunt eine gegenteilige Entwicklung. Der Run auf die Bücher nimmt nicht ab, allein bei Herder Verlag sind inzwischen 14 Titel über den neuen Papst im Programm, ständig vergriffen und werden nachgedruckt. Eine parallele Eintrittswelle in die katholische Kirche bleibt allerdings aus. Unverändert kündigt die Bevölkerung stetig ihre Mitgliedschaft in beiden christlichen Lagern. Die Anzahl der Nichtchristen ist inzwischen genauso hoch wie die der beiden großen Kirchen. Allerdings hat die Evangelische Kirche in Deutschland mittlerweile ihre Mehrheit verloren, da sie von einer größerer Austrittswelle betroffen war, und die Katholiken stellen momentan die Mehrheit der deutschen Christen.

Die _Editionen der Zeitungen_ boomen unverändert. Die Jugendbibliotheken der „Süddeutschen Zeitung“ und von „Geolino“ (Gruner + Jahr) finden reißenden Absatz. Von den ersten fünf Bänden der „SZ“-Edition wurden mehr als 400.000 Exemplare verkauft und sie wurde von 13.000 Kunden abonniert, knapp dahinter liegt „Geolino“ mit 380.000 Exemplaren. Allein über den Bertelsmann-Club sind davon 160.000 Exemplare weggegangen, weswegen im Frühjahr die nächste Reihe „Zeit-Kinder“-Edition – die schönsten Bücher zum Vorlesen – startet. Auch die Comic-Editionen liefen bestens. Die zwölfbändige Reihe von „Bild“ und „Weltbild“ übertrafen die Erwartungen und ging pro Titel im sechsstelligen Bereich über den Ladentisch, allein die erste Ausgabe „Asterix“ verkaufte sich mehr als 200.000-mal. Auch die „FAZ“ zeigte sich mit ihrer Comicreihe zufrieden: 800.000 Vorbestellungen. Comics gelten mittlerweile nicht mehr als Schund, sondern als Mittel zur Leseförderung. Die eigentlichen Comic-Verlage versprachen sich von beiden Editionen eigentlich auch Zulauf, aber dies führte nicht zu erkennbaren Verkaufsausschlägen nach oben. Als mit der „SZ“-Bibliothek die erste deutsche Zeitungs-Buchedition auf den Markt kam, hielt man das für ein einmaliges Ereignis. Doch mittlerweile sind 15 Editionen im Markt und weitere 10 für 2006 geplant. Vorreiter war Italien, dort erschienen allein 2004 mehr als 100 Zeitungs-Editionen und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Im ersten Quartal 2006 startet die „Süddeutsche Zeitung“ eine 50-bändige Krimibibliothek. Schon im Dezember startete der „Stern“ eine 24-bändige Krimibibliothek mit Random House als Vertriebspartner. Nach dem „Handelsblatt“ ist auch „Financial Times Deutschland“ in das Editionsgeschäft eingestiegen: zwölf Bücher zur Globalisierung im Wochentakt. Und die „SZ“ startet zum WM-Fieber mit Bänden zu Turnieren früherer Weltmeisterschaften. Die „Zeit“ startete in Zusammenarbeit mit „Brockhaus“ eine 20-bändige Welt- und Kulturgeschichte und hatte bereits nach einer Woche 20.000 Komplettpakete der Reihe verkauft. Vom ersten Band wurden 660.000 Exemplare über die „Zeit“-Ausgabe kostenlos verschenkt. Auch die DVD-Reihen werden fortgesetzt: Die „FAZ“ macht weiter mit ihrer „Faszinierende Natur“-Edition; „Welt“ und „Welt am Sonntag“ machen weiter mit der „Biografie der Weltgeschichte“ und die zweite Staffel der „SZ“-Cinemathek mit weiteren 50 Filmen kommt auch im nächsten Jahr. Auch der „Spiegel“ wird nun mit einer eigenen Buchreihe starten.

Das _politische Sachbuch_ dagegen hält nicht die Verkaufserwartungen, vor allem die Bücher zur Bundestagswahl waren nicht wirklich gefragt. Schröder und Merkel in Buchform haben offenbar nicht interessiert. Nur Oscar Lafontaines „Politik für alle“ kletterte auf den Bestseller-Listen nach oben. Nach dem unübersichtlichen Wahlergebnis waren die Leser das Thema leid, sie sind einfach übersättigt. Schon während der Wahlen war die Resonanz schlecht. Auch berichtenswert: Das Landgericht Hamburg hat gegen den Eichborn-Verlag eine einstweilige Verfügung ausgesprochen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte sich dagegen gewehrt, dass Textstellen in Hans-Joachim Selenz` „Schwarzbuch VW“ suggerieren könnten, er habe im Jahr 1992 Sexdienste in Anspruch genommen. Der Verlag ändert nun diese Passagen in den nächsten Auflagen.

Auch die Erfolgsstory des _Hörbuchs_ geht weiter; in den ersten neun Monaten 2005 stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 20 %. Als „Hörbücher des Jahres“ gewählt wurden „Wörter Sex Schnitt“ von Intermedium Records – Tonaufzeichnungen von Rolf Dieter Brinkmann in einer fünf CDs umfassenden Box – und als Kinder- und Jugendhörbuch „Winn-Dixie“ von Kate DiCamillo, erschienen bei der Hörcompany. Die Preisverleihung findet am Sonntag, den 22. Januar 2006 um 11 Uhr im Staatstheater Wiesbaden statt. Auch auf der Leipziger Buchmesse wird die Erfolgsgeschichte des Hörbuchs seine Fortsetzung finden. Mit über 100 Hörbuch-Ausstellern, rund 100 Veranstaltungen, zahlreichen Prominenten und einer Präsentation aller ARD-Hörfunkanstalten ist die Leipziger Buchmesse noch vor der Frankfurter Messe die wichtigste und größte Hörbuch-Veranstaltung in Deutschland. Im letzten Jahr noch umstritten, scheint nun aber die Zeit für eine Hörbuch-Zeitschrift langsam reif zu sein. Gleich zwei herausgebende Verlage platzieren je ein eigenes Magazin auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt. Das _“HörBuch Magazin“_ erscheint alle acht Wochen zum Preis von stolzen 9,90 Euro (10,90 Euro in Österreich, 19,80 Franken in der Schweiz), beinhaltet eine Audio-CD mit kurzen Hörbüchern (bisher die kostenlosen Märchen von Vorleser.net) und wird gestaltet vom Pressebüro Typemania, das seinen eigentlichen Schwerpunkt im Computerbereich hat. Allerdings erscheint dieses Magazin zu dünn für seinen durchaus respektablen Preis.
Das zweite Magazin hat noch keinen Namen: Die „_Goodlife Media Group_“ plant ein Print-Magazin über Hörbücher (zunächst 3000, später 12.000 Exemplare) und sucht dafür zurzeit ehrenamtliche (!) Mitarbeiter, die Lust haben, Rezensionen zu schreiben und Interviews zu führen.
Der Deutsche Literaturfonds und die Bundesakademie Wolfenbüttel laden junge Autoren, die für das Hörspiel professionell schreiben möchten, zu einem _Workshop für Hörspielautoren_ nach Wolfenbüttel und Hamburg ein. Der Kurs vom 7. bis 16. Juni 2006 richtet sich an deutschsprachige Autoren, die bereits mindestens einen literarischen Text veröffentlicht haben (keine Publikationen im Selbstverlag oder als Book-on-Demand). Bewerbungsschluss ist der 31. März 2006, weitere Infos gibt es auf http://www.deutscher-literaturfonds.de.
Claudio.de und Abebooks.de starten den Wettbewerb „_Rote Feder 2006_“ für Liebhaber von Klassiker-Geschichten. Wer diese in moderner Form umsetzt und als MP3-Datei aufnimmt, hat die Chance, sein Werk auf zwei großen Internetplattformen zu präsentieren. Unter allen Einsendungen, die bis zum 31. Januar eingegangen sind, wird von den Redaktionen eine Vorauswahl getroffen – diese Beiträge werden bei Claudio.de und Abebooks.de veröffentlicht. Dann haben die User das Wort: Ihr trefft per Voting eine Vorauswahl und bestimmt eure Favoriten für die Endausscheidung. Eine Jury aus Autoren, Sprechern, Hörbuchproduzenten und Feuilleton-Redakteuren wird schließlich aus den beliebtesten Beiträgen die Gewinner des 1. bis 3. Preises auswählen. Der Gewinner der „Roten Feder 2006“ wird zur offiziellen Preisvergabe am 16. März auf der Leipziger Buchmesse 2006 eingeladen und darf dort seinen Beitrag persönlich vorstellen. Außerdem wird sein Wettbewerbsbeitrag in einem Tonstudio professionell produziert. Alle weiteren Informationen: http://www.claudio.de/cms.do?cms=/opencms/sites/Claudio/rfeder.html.

_Die Andere Bibliothek_, von Hans Magnus Enzensberger im Eichborn-Verlag herausgegeben, wird bis Ende 2007 fortgesetzt. Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte Hans Magnus Enzensberger verpflichtet, seinen Vertrag mit Eichborn zu erfüllen (über die Hintergründe berichteten wir schon, siehe Archiv früherer Buchbranchen-Kolumnen).

_Suhrkamp_ expandiert kräftig. Nachdem das Projekt _Deutscher Klassiker Verlag_ im Taschenbuch gut startete, folgt im Herbst 2007 der _Verlag der Weltreligionen_. Zum wissenschaftlichen Beirat gehören u. a. der Ägyptologe Jan Assmann und der Soziologe Ulrich Beck. Zudem ist eine neue Taschenbuchedition innerhalb des Suhrkamp-Programms vorgesehen, die _Edition Unseld_. Diese neue Reihe ist interdisziplinär angelegt und soll Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit denen der Geistes- und Kulturwissenschaften verbinden.

_Neclak Kelek_, Türkin mit deutschem Pass und Autorin „Die fremde Braut“ (Kiepenheuer & Witsch), schildert in ihrem Buch die Folgen der türkischen Zwangsheirat in Deutschland. Zuweilen, meint sie, verstellt das besondere Schuldgefühl der Deutschen „den klaren Blick auf die heutigen Realitäten von Unterdrückung und Ausgrenzung“. Für ihr Engagement erhielt sie am 14. November vom Landesverband Bayern des Börsenvereins und der Stadt München den Geschwister-Scholl-Preis, der mit 10.000 Euro dotiert ist. Heribert Prantl, der Preisträger von 1994, verglich ihr Buch in seiner Rede mit einem „Faustschlag auf den Schädel“, der dem Leser die Augen öffnen solle für die jungen türkischen Frauen, „die das Wort Gleichberechtigung nicht sprechen, nicht schreiben, nicht leben können“.

_Marcel Reich-Ranicki_ sagte in der „Bunten“ über _Martin Walser_: „Er verübelt Juden, dass sie überlebt haben. Das ist durchaus kein Antisemitismus. Das ist Bestialität“. Martin Walser reichte daraufhin Unterlassungsklage gegen Reich-Ranicki ein. Um den gerichtlichen Streit abzuwenden, unterzeichnete Reich-Ranicki eine Unterlassungserklärung.

_Indizierung_: Das im Bohmeier Verlag erschienene Buch „Das Buch Noctemeron – Vom Wesen des Vampirismus“ von Frater Mordor ist von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Index gesetzt worden. Die Indizierung wurde im „Bundesanzeiger“ Nr. 206 veröffentlicht.

Ganz interessant bei der _Frankfurter Buchmesse_ ist seit letztem Jahr zu beobachten, wie sich Film und Literatur aufeinander zu bewegen. Bereits seit 2003 ist neben dem „Deutschen Buchpreis“ und dem „Friedenspreis“ das „Forum Film & TV“ ein weiterer Höhepunkt. Seit dem Frühjahr 2005 besteht nun auch eine Kooperation mit der „Berlinale“. Die drei Branchen Buch, Musik und Film beginnen im deutschen Sprachraum eng zusammenzuarbeiten. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse fanden nun erstmals so genannte „Speed Dating Sessions“ statt, bei denen sich Produzenten und Redakteure, Agenten und Autoren näher kamen, für die auch ein Verfilmungsrechtekatalog vorbereitet wurde. In noch größerem Rahmen wird diese Kontaktpflege zwischen Autoren, Verlagen und Produzenten auf der Berlinale 2006 fortgesetzt.

Auch in diesem Jahr war die Messe sehr erfolgreich und hatte mit 284 838 Besuchern ein Plus von 6,3 % im Vergleich zum Vorjahr auf mehr Ausstellungsfläche und auch mit mehr Ausstellern.

Dieses Jahr war Korea Gastland, 2006 folgt Indien und 2007 die „Katalanische Kultur“. Für 2009 wird China anvisiert, da Deutschland 2007 auch Gastland auf der chinesischen Buchmesse in Peking sein wird. Allerdings sollten dann auch kritische Diskussionen möglich sein und auch Hongkong und Taiwan einbezogen werden.

Auf Hinweis der Frankfurter Buchmesse klärt nun die Frankfurter Staatsanwaltschaft Vorwürfe gegen iranische Aussteller, an deren Gemeinschaftsstand Bücher und Broschüren mit antisemitischem und gewaltverherrlichendem Inhalt ausgestellt waren.

Wie wir schon berichteten, ging der diesjährige _Friedenspreis_ an den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk, der in der Türkei angeklagt wird wegen Äußerungen über getötete Kurden und Armenier. Im türkischen Fernsehen sagte er jetzt: „Ich will der erste Schriftsteller der Türkei sein, der nicht ins Gefängnis geht“. Wie Nazim Hikmet und Yasar Kemal saßen bisher praktisch alle bedeutenden Schriftsteller des Landes wegen unbequemer Äußerungen hinter Gittern. Pamuk sieht seinen Prozess als Testfall dafür, inwieweit die in den vergangenen Jahren wegen der türkischen EU-Bewerbung beschlossenen Reformen in der Türkei umgesetzt werden. In einem Land, das in die Europäische Union will, sollten die Bürger das Recht haben, auch unbequeme Meinungen zu äußern. Seine Auszeichnung in Deutschland durch den Börsenverein hat allerdings die türkische Öffentlichkeit gespalten. Liberale Zeitungen wie „Radikal“ druckten den gesamten Text seiner Dankesrede ab, andere Blätter beschränkten sich auf kleine, unkommentierte Meldungen. Die auflagenstärkste Zeitung „Hürriyet“ kritisierte, dass in der Pauluskirche seine Äußerungen zur dunklen Geschichte der Türkei Beifall hervorrief. Aufgrund seines Interviews, das Pamuk anlässlich der Preisverleihung der „Welt“ gab, ermittelt erneut die Istanbuler Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Verunglimpfung des türkischen Militärs. Im Interview hatte er gesagt, die türkische Armee behindere manchmal die demokratische Entwicklung. In Deutschland hat Pamhuks jüngster Roman „Schnee“ inzwischen die Bestseller-Listen erreicht.

Wenige Tage vor der Frankfurter Buchmesse hatte _Dieter Schormann_ bekannt gegeben, dass er sein Amt als Vorsteher des Börsenvereins zum Jahresende niederlegt. Aufgrund seines Wechsels von einer traditionsreichen inhabergeführten Buchhandlung zur expandierenden Buchhandelskette Thalia sah er das Vertrauen in ihn durch die Mitglieder auch kleiner Unternehmen nicht mehr gegeben. Aber zuvor war auch entsprechende Kritik der Mitglieder erfolgt. Schormann war vier Jahre lang als Vorsitzender fast ununterbrochen täglich für den Börsenverein unterwegs: Umbau zum Gesamtverein, Preisbindungsgesetz, Urheberrechtsnovelle, Lobbyarbeit im In- und Ausland. Am 1. Januar übernimmt der stellvertretende Vorsitzende _Gottfried Honnefelder_ (DuMont Literatur- und Kunstverlag) diese Aufgaben. Bei der Hauptversammlung im Mai wird aber ein neuer Vorsteher gewählt.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Interview mit Andreas Brandhorst

Tobias Schäfer:
Hallo Andreas, ich bin hocherfreut, dich in unserem Magazin begrüßen zu dürfen! Für alle, die Andreas Brandhorst etwas näher kennen lernen wollen: Wer bist du und was treibst du so?

Andreas Brandhorst:
Ich bin 1956 in Norddeutschland geboren und schreibe, seit ich schreiben gelernt habe. Inzwischen lebe ich seit über zwanzig Jahren in meiner Wahlheimat Italien, wo ich nach dem Ende meiner zweiten Ehe (mit einer Italienerin) geblieben bin, weil ich dieses Land, seine Leute und Kultur sehr liebe. Lange Zeit habe ich vor allem übersetzt, aber seit einigen Jahren schreibe ich auch wieder selbst.

Tobias Schäfer:
Was sagst du zu dem »Vorwurf«, neuer Shooting-Star der deutschen Science-Fiction zu sein?

Andreas Brandhorst:
Zum Glück bezeichnet man mich nicht als Nachwuchsautor, denn immerhin werde ich nächstes Jahr 50! 🙂 Shooting-Star … Na ja, ich mag diesen Ausdruck nicht sehr, denn immerhin bin ich seit fast dreißig Jahren als Profi in der deutschen SF tätig und habe schon damals Romane geschrieben und an den legendären Terranauten mitgewirkt. Aber: In gewisser Weise hat er durchaus seine Berechtigung, denn ich sehe einen klaren Unterschied zwischen meinem heutigen Werk und der damaligen Arbeit. Heute bin ich einfach reifer, viel reicher an Lebenserfahrung, und ich gehe mit einem ganz anderen Anspruch an die Schriftstellerei heran. Der Andreas Brandhorst von heute ist ein anderer als der von damals. Als »Star« sehe ich mich allerdings nicht. 🙂

Tobias Schäfer:
Durch das Kantaki-Universum hast du die deutschen Science-Fiction-Leser auf dich aufmerksam gemacht. Seit »Diamant« im Mai ’04 auf den Markt kam, kann man dich zu den produktivsten Schriftstellern des Genres rechnen. In den Jahren reiner Übersetzertätigkeit hat sich deine Kreativität anscheinend stark gestaut?

Andreas Brandhorst:
»Diamant« im Mai ’04, es folgte »Der Metamorph« im Januar ’05 und »Der Zeitkrieg« im Oktober ’05. Wenn man berücksichtigt, dass ich vor dem Erscheinen von »Diamant« ca. ein Jahr an dem Roman gearbeitet habe, so sind das drei Romane in 29 Monaten (ohne »Exodus der Generationen«). Das ist eigentlich nicht übermäßig produktiv, oder? An Kreativität hat es mir nie gemangelt (die braucht man auch fürs Übersetzen), aber ich schreibe heute sehr langsam und sehr, sehr sorgfältig, etwa drei Seiten pro Tag, aber jeden Tag – das sind etwa tausend Seiten im Jahr, also anderthalb dicke Romane. Es geht mir heute vor allem um die Qualität und nicht um die Quantität. Ich hoffe, das merkt man den Romanen an.

Tobias Schäfer:
Da kann ich dich beruhigen 😉 Der umfassend ausgearbeitete Hintergrund zu den Romanen um Valdorian und Lidia bietet Raum für unzählige noch unerzählte Geschichten. Die fremden Völker des Universums üben einen besonders großen Reiz aus. Jedes von ihnen hat eine spannende Geschichte, die anfangs ziemlich schwarz-weiße Weltsicht hat sich schließlich im »Zeitkrieg« verwischt. Was passiert nun mit den Temporalen, Kantaki, Feyn? Und vor allem: Was ist mit den Xurr? In dieser Hinsicht lässt du den Leser sehr erwartungsvoll zurück.

Andreas Brandhorst:
Ich habe sehr viel Zeit und Mühe in die Ausarbeitung des Hintergrunds für das Kantaki-Universum investiert, denn so etwas lohnt sich: Als Autor bekommt man dadurch eine große Bühne mit vielen Kulissen, um Geschichten zu erzählen. Natürlich kann ich hier nicht verraten, was aus den bisher geschilderten Völkern wird, obwohl mein Computer viele entsprechende historische und chronologische Daten enthält. (Hoffentlich fordere ich mit diesem Hinweis keine Hacker-Angriffe heraus …) Es ist wie mit einem Eisberg: Nur ein kleiner Teil zeigt sich über Wasser, der Rest bleibt darunter verborgen. Bisher kennen die Leser nur einen winzig kleinen Teil des Kantaki-Universums. In den nächsten Büchern wird es bestimmt die eine oder andere Überraschung geben …

Tobias Schäfer:
Vor allem im letzten Band »Der Zeitkrieg« drängen sich die hintergründigen Informationen. Hättest du die Geschichte lieber noch ein wenig ausgedehnt?

Andreas Brandhorst:
Nein, eigentlich nicht. »Der Zeitkrieg« beantwortet viele Fragen, die in »Diamant« und »Der Metamorph« offen blieben. Der große Kreis schließt sich zu Recht in diesem Band; ein vierter Roman hätte alles nur gedehnt und langatmig gemacht. Aber es bleibt auch das eine oder andere offen, was mir Gelegenheit gibt, vielleicht noch einmal darauf zurückzukommen: auf Olkin und das Flix, oder auf die Xurr … 🙂

Tobias Schäfer:
Rückblickend kann man sagen, dass dir der Charakter »Valdorian« am stärksten am Herzen lag. Über ihn hast du die Suche nach dem ewigen Leben neu erzählt. Was macht für dich die Faszination dieser Figur und/oder dieses Themas aus?

Andreas Brandhorst:
Ich glaube, dass in jedem Bösen etwas Gutes steckt, und dass jeder Gute auch einmal böse werden kann. Die Komplexität des menschlichen Wesens fasziniert mich, und ich glaube, die kommt im Valdorian gut zum Ausdruck, wenn man seine Entwicklung vom Saulus zum Paulus über die drei Romane hinweg verfolgt. Außerdem beschäftige ich mich immer mehr mit dem Leben an sich und dem Tod, einem Thema, dem sich keiner von uns entziehen kann. Der Tod, welch eine Verschwendung: Man verbringt das ganze Leben damit, Wissen zu sammeln und Erfahrungen zu machen, klüger zu werden, und dann, in einem Augenblick, geht das alles verloren. Und die verschiedenen Straßen des Lebens, die Diamant und Valdorian beschreiten: Oftmals gibt es nach einer getroffenen Entscheidung kein Zurück mehr. Wir alle müssen versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen, und genau dieser Gedanke hat ja zunächst die verschiedenen Lebensentscheidungen von Diamant und Valdorian bestimmt.

Tobias Schäfer:
Für manche Leser mag die Wandlung Valdorians zu plötzlich erfolgen. Wie antwortest du auf Vorwürfe der Unglaubwürdigkeit? Kommt so was überhaupt vor?

Andreas Brandhorst:
Nein, bisher sind solche Vorwürfe noch nicht aufgetaucht, oder mir zumindest nicht bekannt. Valdorian ist, wenn man genau hinsieht und aufmerksam liest, eine sehr komplexe Person, zuerst mit einem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der dann aber sogar zu seinem Idol wird. Es gibt in allen drei Romanen Stellen, die seinen inneren Zwist zeigen, seine Zerrissenheit – er ist nie schwarz oder weiß, sondern grau. Die Konfrontation mit Diamants Einstellungen zum Leben verändert ihn nach und nach, und ein wichtiges Schlüsselerlebnis in diesem Zusammenhang ist die Begegnung mit seiner Mutter in »Der Zeitkrieg«. Er beginnt zu verstehen, dass Dinge, die er für unwichtig gehalten hat, tiefe Bedeutung haben, und er denkt darüber nach. Er fängt an, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und auch die Welt (das Universum), in der er lebt. All diese subtilen Veränderungen schlagen schließlich als Quantität in Qualität um. Ein neuer Valdorian wird geboren, und damit schließt sich für ihn ein eigener Kreis: Er, der am Ende seines Lebens nach neuer Jugend strebte, erneuert sich im Tod.

Tobias Schäfer:
Wo wir gerade bei den Lesern waren: Wir leben ja im Zeitalter der ungehemmten Kommunikation. Stehst du in engem Kontakt mit Menschen, die erst durch deine Geschichten an dich herangetreten sind? Kannst du dich vor Leserpost kaum retten oder traut sich niemand an dich heran?

Andreas Brandhorst:
Es ist nicht so, dass ich jeden Tag zwei Säcke Post bekäme … 🙂 Für die Leser gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Da wäre zum Beispiel das Forum der Kantaki-Site [down, Anm. d. R.] wo ich mich bemühe, jeden Beitrag zu beantworten. Abgesehen davon bekomme ich erstaunlich viele E-Mails und frage mich manchmal, woher die Schreiber meine E-Mail-Adresse kennen. Auch in diesem Fall versuche ich, jede Mail zu beantworten.

Tobias Schäfer:
In dem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Anekdote aus dem Perry-Rhodan-Werkstattband, wo William Voltz ständig unangemeldeten Besuch seiner Leser bekommt. Wirst du manchmal persönlich behelligt oder beschränkt sich diese Art Kontakt auf Cons?

Andreas Brandhorst:
Da ich in Italien wohne, kommt es (fast) gar nicht zu solchen Überraschungsbesuchen. Es gab nur eine Ausnahme, vor zwei Jahren … 🙂 Vor etwa 25 Jahren, als ich noch in Deutschland wohnte und Romane für die Terranauten schrieb, kam es öfter vor, dass plötzlich Leute vor meiner Wohnungstür standen, in einem Fall eine Gruppe von sieben oder acht Jugendlichen. Wir haben uns dann zusammengesetzt und gemütlich miteinander geplaudert …

Tobias Schäfer:
Dein erster Beitrag zum sogenannten »Perryversum« war erstens eine Überraschung und stellt zweitens einen unbestrittenen Höhepunkt der Serie dar. Wie bist du dazu gekommen? Ist nach deinem Roman »Die Trümmersphäre« weiteres Engagement in der Serie geplant?

Andreas Brandhorst:
Dazu gekommen ist es durch ein Gespräch im Heyne Verlag, im Oktober 2003, glaube ich, wo Sascha Mamczak, der mit Klaus Frick in Verbindung stand, das Lemuria-Projekt ansprach. Ich hatte gerade »Diamant« fertig gestellt, und mich reizte die Vorstellung, einen Beitrag für das Perryversum zu schreiben, das für mich als 12/13-Jähriger praktisch der Einstieg in die SF war – ich habe die Romane damals regelrecht verschlungen. »Die Trümmersphäre« habe ich nach dem »Zeitkrieg« geschrieben, und dieser zweite Beitrag für das Perryversum war aus mehreren Gründen extrem harte Arbeit. Nach der Fertigstellung dieses Romans dachte ich mir: Jetzt nimmst du dir erst einmal eine Auszeit und widmest dich ganz deinen eigenen Projekten. Damit ist die Frage praktisch schon beantwortet: Eine weitere Mitarbeit meinerseits bei PR ist derzeit nicht konkret geplant, was sie aber mittel- oder gar langfristig nicht ausschließt.

Tobias Schäfer:
Was erwartet die Leser in deinen nächsten eigenständigen Romanen? Kannst du dazu zu diesem Zeitpunkt schon etwas verraten?

Andreas Brandhorst:
Ja, ich denke, ich kann hier ein kleines Geheimnis lüften. Derzeit arbeite ich an »Feuervögel«, einem Roman, der im Oktober 2006 bei Heyne erscheinen wird, aller Voraussicht nach als erster Band einer neuen Trilogie; die Arbeitstitel für den zweiten und dritten Band lauten »Feuerstürme« und »Feuerträume«. Und: Diese neuen Romane sind im Kantaki-Universum angesiedelt, allerdings in einer aus Valdorians und Diamants Sicht fernen Zukunft. Vom Umfang her werden die neuen Romane den ersten drei Kantaki-Romanen ähneln. Was den Inhalt betrifft … (Schnitt)

Tobias Schäfer:
Als Schriftsteller scheinst du ziemlich ausgebucht zu sein. Da wirkt es erstaunlich, deinen Namen noch regelmäßig bei Übersetzungen vorzufinden, derzeit vor allem bei Terry-Pratchet-Romanen – und ganz aktuell bei David Brins »Copy«. Wie bringst du das alles unter einen Hut?

Andreas Brandhorst:
Indem ich knallhart arbeite. Der Brin zum Beispiel hat wirklich meine ganze Kreativität gefordert; ich glaube, es war eine der schwierigsten Übersetzungen, die ich jemals gemacht habe. Mit Pratchett bin ich nach circa 30 Romanen gut »synchronisiert« … Eigentlich gefällt mir die Mischung aus eigenem Schreiben und Übersetzen. Ich möchte sie nur noch etwas mehr zugunsten der eigenen Werke verändern.

Tobias Schäfer:
Was ist das für ein Stoff, den Pratchet schreibt? Seine Romane sind ja regalfüllend in diversen Buchhandlungen zu finden. Was macht den Reiz dieser Geschichten aus?

Der besondere Reiz von Pratchetts Geschichten besteht aus der genialen Mischung von Intelligenz und Humor. Ich halte Terry Pratchett für einen der besten Schriftsteller überhaupt. Ihm gelingt es, Personen mit ein oder zwei Sätzen zu charakterisieren, und seine Schilderungen zeichnen sich immer durch große Tiefe aus. Man kann seine Romane auf zwei Arten lesen: als lustige, leicht verdauliche Unterhaltung, und als tiefsinnige Romane, bei denen einem manchmal das Lachen im Halse stecken bleibt.

Tobias Schäfer:
Wir haben jetzt viel über den offiziellen Brandhorst gesprochen. Danke sehr für die interessanten Antworten! Aber was macht der Mensch Andreas, wenn er ein bisschen Zeit für sich findet?

Andreas Brandhorst:
Nach all der Zeit am Computer lege ich großen Wert darauf, mich körperlich fit zu halten. Ich laufe fast jeden Tag mindestens eine Stunde, egal ob es stürmt, regnet oder schneit. Wenn ich nicht laufe, stemme ich Gewichte. Manchmal schnappe ich mir Notebook und Auto, reise durch Italien – ich liebe dieses Land! –, und bleibe eine Zeit lang, wo es mir gefällt. Ich bin nach zwei Ehen wieder Single, Sohn und Tochter sind erwachsen … Ich genieße meine Freiheit, laufe im Winter an menschenleeren Stränden, schreibe an einem warmen Kaminfeuer, denke über das Leben nach … 🙂

Tobias Schäfer:
Dann wünsche ich dir, dass diese Zeit nicht zu kurz kommt – obwohl ich natürlich vor allem auf viele spannende Romane von dir hoffe. 🙂 Alles Gute weiterhin!

 

Buchwurminfos V/2005

Nach wie vor beschäftigt uns die _Rechtschreibreform_. Auch die als unumstritten geltenden Teile der Reform (wie Groß- und Kleinschreibung) könnten nach Auskunft des Vorsitzenden des „Rats für deutsche Rechtschreibung“, Hans Zehetmair, noch nachgebessert werden. Interessant sind auch die beginnenden juristischen Auseinandersetzungen. In Oldenburg hatte eine Schülerin dafür geklagt, dass sie in ihren Klassenarbeiten die alte Rechtschreibung nicht als Fehler gewertet bekommt. Im September entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg, dass sie weiterhin die alte Rechtschreibung verwenden darf. Das Gericht bekräftige seine Rechtsauffassung, wonach Schüler Anspruch darauf haben, in der Rechtschreibung unterrichtet zu werden, die in der Gesellschaft allgemein praktiziert wird. Den Schülern dürfen nur Regeln beigebracht werden, die „der Schreibpraxis entsprächen“. Die „allgemeine Akzeptanz“ der neuen, 2004 modifizierten Regeln sei aber zweifelhaft.

Jeder kennt das Phänomen: Preisgünstige neue Bücher erhalten einfach einen Stempel „_Mängelexemplar_“ und werden dann viel günstiger verkauft. Dieser Praxis wurde nun Ende Juli durch ein Grundsatzurteil vom Oberlandesgericht Frankfurt ein Ende gesetzt. Das bloße Kennzeichnen eines neuen Buches als Mängelexemplar rechtfertigt ab sofort nicht mehr die Aufhebung der Preisbindung. Die Verantwortung für die Einhaltung der Preisbindung liegt dabei beim Letztverkäufer. Ein Sortimenter muss nun also genau prüfen, ob Titel, die er als Mängelexemplare eingekauft hat und weiter anbietet, auch tatsächlich Mängel aufweisen. Er kann sich nicht mehr auf den Standpunkt stellen, gutgläubig gehandelt zu haben. Wahrscheinlich wird nun die Zahl der Mängelexemplare deutlich sinken und verschiedene Preiskämpfe werden unterbleiben. Echte Mängelexemplare unterliegen natürlich weiterhin nicht der Preisbindung.

_Harry Potter_ ging mit dem neuesten Band zwar wie gewohnt sofort auf den ersten Platz der Bestseller-Listen, aber das Interesse flaute diesmal schon zwei Wochen nach dem Erstverkaufstag ab, der große Boom scheint vorbei zu sein. Die Preisnachlässe bei Harry Potter beschäftigen nunmehr auch das britische Parlament, da es zu bis zu 70 % Rabatt auf den empfohlenen Verkaufspreis kam. Zum Schutz des Buchhandels müssten Autoren und Verlage ihren Vertriebspartnern solch „exzessive Nachlässe“ untersagen. Das wäre aber ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Helfen würde ein fester Buchpreis wie in Deutschland, der war aber in England 1995 zu Fall gebracht worden.

Religiöse Bücher boomen ebenfalls, seit Harry Potter auftauchte, aber seit dem Tod von Papst Johannes Paul II. und der Wahl des _Papstes Benedikt XVI._ verkauft sich vor allem und überraschend das katholische Thema wieder wie nur selten in den letzten Jahrzehnten. Die Nachfrage nach den Papstbüchern ebbt einfach nicht ab, wohl auch wegen des in Köln stattgefundenen Weltjugendtages. Dort kaufte die Jugend selbst aber wenig Bücher, deren Interesse lag eindeutig bei Musik-CDs.

Wie bereits berichtet, steigt demnächst „Focus“ ins _Hörbuch-Download-Geschäft_ ein. Bevor allerdings „Claudio“ (das Projekt von Focus mit dem Hörverlag) ins Netz ging, kam Ende August nach den bisherigen zwei Anbietern Soforthoeren.de und Audible.de ein anderer neuer Anbieter. Diadopo.de geht mit 300 Titeln ins Netz, und den Vorsprung zu den Vorgängern wollen diese Anbieter mit vielfältigen redaktionellen Inhalten und günstigen Konditionen wettmachen.

_Hörbuch-Automaten_: In Deutschland stehen bereits etwa 700 DVD-Automaten, und wer in nächster Zeit die Augen aufmacht, wird in den Städten auch Hörbuchautomaten mit je nach Größe Platz für 400 bis 800 Hörbücher finden. An einer Buchautomatenentwicklung wird auch bereits gearbeitet. In Frankreich werden Taschenbuchautomaten derzeit schon in Metro-Stationen getestet. Verläuft dort der Test gut, folgen Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten.

Die Agentur |MEMA Messe & Marketing| veranstaltet vom 10. bis 12. November 2006 in der Oberschwabenhalle Ravensburg erstmals die _Hörbuchmesse Hearing 2006_. Die Veranstalter rechnen mit ca. 60 Ausstellern und 5.000 Besuchern. Auf der Messe (Ausstellungsfläche: 3.000 Quadratmeter) sollen alle Themengebiete rund um das Medium Hörbuch angeboten werden. Zudem soll ein Rahmenprogramm mit Lesungen, Voice-Castings, Vorträgen etc. Besucher anlocken. Das Angebot der Messe richtet sich am ersten Tag an den Fachhandel; an den beiden darauf folgenden Tagen direkt an den Endverbraucher. Die Mehrheit der Hörbuchverlage steht dennoch dieser Messe sehr kritisch gegenüber. Fortwährende neue Messen sind für sie nicht leistbar und man konzentriert sich weiterhin auf Leipzig und Frankfurt. Der Markt für Hörbücher geht zwar stetig nach oben, scheint nun aber im Ganzen doch überschätzt zu werden. Es braucht nicht noch weitere Regionalmessen, sondern wichtig sind die bisherigen drei überregionalen – wobei schon da die Hörbuchmesse auf der LitCologne unverändert umstritten bleibt.

Reinhilde Ruprecht, bis Ende 2004 noch Verlegerin von Vandenhoeck & Ruprecht, hat ihren eigenen Verlag gegründet: _Edition Ruprecht_ startet 2006 mit Titeln eines überwiegend geisteswissenschaftlichen Programms.

15 Jahre alt ist nunmehr schon _Faber & Faber Leipzig_, den nach der Wende der frühere „Aufbau“-Verleger Elmar Faber mit seinem Sohn Michael Faber leitet. Bis 1992 stand Elmar Faber an der Spitze von „Aufbau“, dem auch so genannten „Suhrkamp des Ostens“.

Der Verlag _Vittorio Klostermann_ durfte 75-jähriges Jubiläum begehen. Am 1.10.1930 gründete der 28-jährige Vittorio Klostermann seinen Verlag in Frankfurt am Main, für die damaligen Wirtschaftsverhältnisse eine sehr ungünstige Zeit. Zudem war drei Jahre später die Machtergreifung Adolf Hitlers, und einige Autoren der ersten Stunde wie Herbert Marcuse, Karl Löwith, Kurt Rietzler und andere mussten fliehen. Zwölf Jahre bestand das Dritte Reich und das Verlagsprogramm blieb eine Gratwanderung. Bücher von Otto J. Hartmann und Rudolf Hauschka wurden von der Gestapo beschlagnahmt. Hanns Wilhelm Eppelsheimer verlor seine Anstellung, weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Werner Krauss wurde zum Tode verurteilt und konnte nur dank des energischen Eintretens von Hans-Georg Gadamer und seinen Freunden überleben. Der Verlag wich auf ideologiefernere Gebiete aus, verlegte zoologische und finanzgeschichtliche Literatur. Juristische Quellentexte und die „Philosophischen Texte“, die Gadamer betreute, wurden für das Studium an der Front und später in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern benötigt. Der Verlag wurde daher dann bis zu seiner Schließung 1944 sogar als „kriegswichtiger“ Betrieb eingestuft. Da Vittorio Klostermann aber keine Nazi-Umtriebe nachsagbar waren, konnte dieser mit Lizenz der amerikanischen Militärregierung in Frankfurt 1946 neu beginnen. Das war die Zeit der goldenen Jahre, die Bevölkerung hungerte nach guter Literatur und die Höhe der Druckauflagen wurde allein durch die Papierbewilligungen begrenzt. 1978 verstarb Vittorio Klostermann, aber die beiden Söhne waren bereits in die Verlagsarbeit integriert. Der ältere Bruder starb 1992, und seitdem leitet Vittorio E. Klostermann allein den Verlag, dessen Schwerpunkte Philosophie, Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft und Fachliteratur für Bibliothekare sind. Alles nicht ohne Schwierigkeiten, denn Deutsch geht als Wissenschaftssprache im Ausland seit Jahrzehnten drastisch zurück und die notwendigen Auflagenhöhen sind nur durch den starken Exportanteil (Japan, USA, Italien u. a.) zu erreichen. Dennoch steht für den Verlag die Qualität der Bücher weiterhin vor den Interventionen des Marketings. Im Internet findet man ihn unter http://www.klostermann.de.

|Droemer/Knaur| hat sich vom _Battenberg Verlag_ getrennt und ihn an den H. Gietl Verlag verkauft. Battenberg bringt jährlich zehn Novitäten für Münzliebhaber heraus. Mit dem Verkauf will Droemer seine Strategie einer populären Gesamtausrichtung der Programme fortsetzen.

Wie wir berichteten, hatte sich |Rowohlt| vom „Kursbuch“ getrennt. Das erste neue „_Kursbuch_“ erschien nun zum 25. August unter dem Dach des _Zeitverlags_. Herausgeber sind Michael Naumann von der „Zeit“ und, wie schon zuvor, Tilman Sprengler. Das 140- bis 150-seitige und zehn Euro teure Magazin ist jetzt vierfarbig, hat ein kleineres Format und erscheint wie bisher vierteljährlich. Die Auflage, die bei Rowohlt zuletzt auf weniger als 10.000 Exemplare abgesackt war, liegt zum Neustart bei 25.000 Exemplaren. Sie soll verstärkt über den Kiosk vertrieben werden. Das kulturpolitische Blatt ist seit der 68er-Gründerzeit berühmt, und niemand konnte wirklich verstehen, wie Rowohlt dieses Projekt einfach einstellen konnte.

Eigentlich sollte auch „_Die andere Bibliothek_“ bei Eichborn wechseln, worüber wir ebenfalls schon ausführlich berichteten. Es kam deswegen ja zu juristischen Auseinandersetzungen, und das Oberlandesgericht Frankfurt hat nun entschieden, dass die fristlose Kündigung der Vereinbarung durch Hans Magnus Enzensberger nicht gültig ist und er nicht als Herausgeber der von „FAZ“ und |dtv| geplanten _Frankfurter Allgemeinen Bücherei_, die im November starten soll, fungieren darf. Die FAZ hat aufgrund dieses Urteils beschlossen, das Buchprojekt zunächst zurückzustellen.

Die _Brigitte-Edition_, eine 26-bändige, von Elke Heidenreich zusammengestellte Buchreihe, lief wie erwartet gut an. Der erste Band (Enquists „Der Besuch des Leibarztes“) kam sofort in die „Focus“-Bestsellerliste. Den Startauflagen der ersten Titel von 50.000 Exemplaren folgten sofort Nachdrucke.

Nun startet auch der _Stern_ Ende des Jahres eine preiswerte Krimi-Bibliothek mit 24 Romanen. Vertriebspartner ist |Random House|, also ein Schwesternunternehmen aus dem Hause Bertelsmann.

Derzeit laufen die Comic-Editionen von _Bild_ mit |Weltbild| und der _FAZ_.

_Heyne_ startet im November eine neue Taschenbuchreihe: _Heyne Hardcore_. Vorzeitig kam bereits – aufgrund des Dokumentarfilms „Inside Deep Throat“ – wieder „Die Wahrheit über Deep Throat“ von Linda Lovelace heraus. Die neue Reihe richtet sich an Leser, die sich für anspruchsvolle, aufsehenerregende Titel interessieren – Titel, die das Potenzial zum Kultbuch haben. Die Startauflagen bewegen sich zwischen 15.000 und 25.000 Exemplaren pro Titel. In den ersten sieben Titeln geht es um Pornografie, SM-Alpträume, Horror und Drogeneskapaden. Heyne Hardcore spiegelt genau das wider, was in Hollywood oder in der Musikindustrie seit Jahren als extreme Kunst im Mainstream fest verankert ist. Die Bücher sollen provozieren und anecken, aber literarischen Ansprüchen ebenso genügen.

_Egmont Ehapa_ legt das Werk des Disney-Zeichners _Carl Barks_ in einer exklusiven Ausgabe vor. Die „Carl Barks Collection“ ist eine von Geoffrey Blum kommentierte 30-bändige Werkausgabe rund um den Schöpfer von Mickey Mouse und Donald Duck, limitiert auf 3.333 Exemplare in zehn Kassetten, die jeweils drei Bände mit einem Umfang von bis zu 288 Seiten enthalten (Preis pro Kassette: 149 Euro). Die exklusiv gestalteten, neu kolorierten Bände breiten auf mehr als 8.000 Seiten den gesamten Entenhausen-Kosmos aus – darunter auch die verschollen geglaubte Dagobert-Story „King Scrooge I“, die Charles Dickens´ geizigen Mr. Scrooge aus „Ein Weihnachtsmärchen“ zum Vorbild hat. Der deutsche Text der Disney-Storys basiert auf der Übersetzung von Erika Fuchs, die kürzlich mit 98 Jahren verstarb.

Am 22. August ist im Alter von 76 Jahren _Roland Klett_, Mitinhaber des Ernst-Klett-Verlages, gestorben. Im Börsenverein hatte er sich in den 70er Jahren sehr engagiert für Tarifpolitik eingesetzt.

Im September ist auch der Zeichner und Autor _F. K. Waechter_ im Alter von 68 Jahren an einem Krebsleiden verstorben. Er war Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule und des Satire-Magazins „Titanic“, schrieb rund 40 Bücher für Kinder und Erwachsene und ebenso viele Theaterstücke, an deren Inszenierungen und Bühnenbildern er mitwirkte. Richtungsweisend waren seine Bücher „Anti-Struwwelpeter“, „Opa Huckes Mitmach-Kabinett“ und „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“.

Die Zahl der Aussteller der kommenden _Frankfurter Buchmesse_ vom 19. – 23.Oktober ist weiter gewachsen, und in diesem Jahr wurde erstmals die Marke von 7.000 Ausstellern überschritten. Premiere haben in diesem Jahr eine Pressemesse, die Frankfurter Antiquariatsmesse und die Ausstellung „Spiele & Spielen“ in Kooperation mit der Spielwarenmesse Nürnberg.

Vor Beginn der Frankfurter Buchmesse, am 17. Oktober, wird der neue _Deutsche Buchpreis_ für den besten Roman des Jahres verliehen, ausgewählt aus 138 Romanen. (www.deutscher-buchpreis.de) Von diesen wurden am 19. September bereits sechs Titel vorgestellt, die es geschafft haben, in die Endrunde zu gelangen. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert – 2.500 Euro fließen an jeden weiteren Titel von den sechsen der Shortlist. Mit dem Deutschen Buchpreis will der Börsenverein eine Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman etablieren, die sich an Vorbildern wie dem Prix Concourt in Frankreich oder dem britischen Man Booker-Prize messen lassen soll. Zur Preisverleihung stellt die Stadt Frankfurt den Kaisersaal im Frankfurter Römer zur Verfügung. Gert Scobbel, Grimme-Preisträger und Moderator der 3sat-Sendung „Kulturzeit“, führte durch die einstündige Veranstaltung, die den kulturellen Auftakt der Buchmesse darstellte. Der Börsenverein hofft, dass sein jüngstes Projekt, ähnlich wie der renommierte Friedenspreis, nach und nach internationale Strahlkraft entwickelt – und auf diese Weise der deutschsprachigen Literatur im Ausland den Rücken stärken kann.

Nominiert wurden:
Thomas Lehr, „42“, Aufbau-Verlag 2005, 368 S., 22,90 Euro
Arno Geiger, „Es geht uns gut“, Hanser Verlag 2005, 392 S., 21,50 Euro
Gila Lustiger, „So sind wir“, Berlin Verlag 2005, 260 S., 18 Euro
Daniel Kehlmann, „Die Vermessung der Welt“, Rowohlt 2005, 304 S., 19,90 Euro
Friedrich Mayröcker, „Und ich schüttelte einen Liebling“, Suhrkamp Verlag 2005, 19,80 Euro
Gert Loschütz, „Dunkle Gesellschaft“, Frankfurter Verlagsanstalt 2005, 220 S., 19,90 Euro

Die _Friedenspreisverleihung_ dagegen stellt das eventuell künftige EU-Mitgliedsland Türkei einmal mehr ins völlige Abseits. Mit Bestürzung haben der Stiftungsrat Friedenspreis und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zur Kenntnis genommen, dass die türkische Staatsanwaltschaft _Orhan Pamuk_, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2005 , wegen „öffentlicher Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt hat. Dabei droht eine Haftstrafe von mehreren Jahren. „Wir protestieren und fordern den türkischen Staat auf, das Verfahren gegen Orhan Pamuk einzustellen, denn die Freiheit des Wortes gehört zu den Grundwerten einer demokratischen Gesellschaft“, so Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins. Auch das PEN-Zentrum Deutschland kritisiert: „Die Anklage ist ein brutaler Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Türkei kann ihre inneren Konflikte nur lösen, wenn sie sich endlich auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte stellt“. Die türkische Staatsanwaltschaft legt dem Friedenspreisträger in ihrer Anklage Interview-Äußerungen in einer Schweizer Zeitung zum Völkermord an den Armeniern zur Last, der in der Türkei bis heute offiziell nicht anerkannt wird. Pamuk hatte davon gesprochen, dass in der Türkei eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden seien. Orhan Pamuk wird am 23. Oktober 2005 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In der Begründung des Stiftungsrats heißt es: „Mit Orhan Pamuk wird ein Schriftsteller geehrt, der wie kein anderer Dichter unserer Zeit den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht, einem Begriff von Kultur verpflichtet, der ganz auf Wissen und Respekt vor dem anderen gründet. So eigenwillig das einzigartige Gedächtnis des Autors in die große osmanische Vergangenheit zurückreicht, so unerschrocken greift er die brennende Gegenwart auf, tritt für Menschen- und Minderheitenrechte ein und bezieht immer wieder Stellung zu den politischen Problemen seines Landes.“ Die Freiheit des Wortes ist Grundlage demokratischer Gesellschaften und damit auch der freien verlegerischen und buchhändlerischen Tätigkeit. Auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entstand vor dem Hintergrund dieses Wertes. Er würdigt seit 1950 Persönlichkeiten, die mit ihrer literarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Arbeit als Friedensstifter wirken. Anderen türkischen Trägern des deutschen Friedenspreises ging es schon ähnlich: _Yasar Kemal_, der Friedenspreisträger von 1997, wurde 1995 zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Dass nun zehn Jahre später die Staatsanwaltschaft in Istanbul erneut ein Exempel statuieren will, wirft kein gutes Licht auf einen EU-Beitritt der Türkei.

Es gibt nach Frankfurt und Leipzig und der anders gelagerten LitCologne in Köln eine weitere deutsche Buchmesse: _Buch! Berlin_ bietet fünf Wochen nach der Frankfurter Messe vom 25. – 27.November deutschen und internationalen Verlagen die Möglichkeit, sich zu präsentieren, inklusive Direktverkaufserlaubnis am Stand. Die Buchhandlungen in Berlin sind verärgert deswegen. Neben den Verlagsständen gibt es umfangreiches Programm auf mehreren Lesebühnen, darunter Buchvorstellungen für Kinder und Jugendliche und eine Ausstellung für Comic-Art.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Narrenturm

_Verlagsinformationen zu Buch und Autor:_

|Die Welt, ein Narrenturm – Teil eins der polnischen Bestseller-Trilogie um den schlesischen Medikus Reinmar von Bielau, in dem wir erfahren, dass er sich auf der Flucht befindet, einerseits der Liebeskunst wegen, aber auch vor der Inquisition.

Schlesien, im Jahr des Herrn 1422: Reinmar von Bielau »hieb seinem Grauschimmel die Fersen in die Weichen, ritt im Galopp über die blühende Heide auf die waldbestandene Anhöhe zu, hinter der er segenbringende, ausgedehnte Wälder vermutetete«.

Der junge Medikus, von seinen Freunden auch Reynevan genannt, ist auf der Flucht vor seinen Häschern. Der Liebe wegen, genauer gesagt, weil er in flagranti erwischt wurde, mit der schönen Adele von Sterz, Eheweib des sich gerade auf einem Kreuzzug gegen die feindlichen Hussiten befindenden Gelfrad von Sterz. Doch auch die Inquisition könnte sich für ihn interessieren, denn was man im heimatlichen Öls nach seinem stürmischen Abgang bei ihm findet, ist neben medizinischen Schriften so manches, das zumindest den Verdacht auf Hexerei aufkommen lassen könnte.

Der sündige Möchtegern-Lancelot hat also ernsthafte Probleme, vor allem, weil ihm Adele nicht aus dem Kopf gehen will.

So durchquert er auf dem Weg nach Breslau das damalige Mittel-Europa, begegnet dabei allerlei Volk, und auch der Narrenturm der Inquisition bleibt ihm nicht erspart, von dessen Warte aus die Welt bis heute einem einzigen Hauen und Stechen gleicht. Doch halt: Hatten die Chiliasten nicht vorausgesagt, die Welt würde im Februar des Jahres 1420 untergehen?

Andrzej Sapkowski, geboren 1948, ist Literaturkritiker und Schriftsteller. Sein Fantasy-Zyklus über den Hexer Gerald erreicht in Polen inzwischen Millionen-Auflagen und wurde 1998 mit dem Literaturpreis der wichtigsten polnischen Wochenzeitung ›Polityka‹ ausgezeichnet. Die Fortsetzung von ›Narrenturm‹, ›Bozy bojownicy‹ (dt.: ›Gottesstreiter‹), erschien 2004, beide Bände landeten auf Anhieb auf der Bestsellerliste und wurden mehr als hunderttausend Mal verkauft. Andrzej Sapkowski lebt in Lodz und arbeitet derzeit am dritten Band, ›Lux perpetua‹.|

_Leseprobe aus »Narrenturm« von Andrzej Sapkowski:_
PROLOG

Das Ende der Welt brach Anno Domini 1420 doch nicht herein. Obwohl vieles darauf hindeutete, dass es käme.

Die düsteren Prophezeiungen der Chiliasten, die den Weltuntergang ziemlich präzise – nämlich für das Jahr 1420, den Monat Februar und den Montag, der auf den Festtag der heiligen Scholastica folgte – angekündigt hatten, erfüllten sich nicht. Die Tage der Strafe und der Rache, die dem Herannahen des Königreiches Gottes vorangehen sollten, kamen nicht. Obwohl sich die tausend Jahre erfüllt hatten, wurde Satan nicht aus seinem Kerker befreit, und er trat auch nicht hervor, um die Völker an allen vier Enden der Welt zu betören. Weder gingen sämtliche Sünder dieser Welt und alle Feinde Gottes durch Feuer und Schwert, Hunger und Hagel, die Hauer der Bestie, den Stachel des Skorpions zugrunde, noch durch das Gift der Schlange. Vergeblich harrten die Gläubigen der Ankunft des Messias auf dem Tábor, dem Schafberg, auf dem Oreb, Sion und dem Ölberg, vergeblich harrten die |quinque civitates|, die fünf auserwählten Städte, als die Pilsen, Klattau, Laun, Schlan und Saaz galten, auf die Wiederkunft Christi, wie sie die Prophezeiung Jesajas verkündet hatte. Das Ende der Welt brach nicht herein. Die Welt ging nicht unter und brannte nicht. Zumindest nicht die ganze.

Trotzdem ging es recht kurzweilig zu.

Köstlich, diese Biersuppe, in der Tat. Dick, würzig und reichlich geschmalzt. So eine habe ich lange nicht mehr gegessen. Ich danke Euch, werte Herren, für die Bewirtung, ich danke auch dir, Schankwirtin. Ihr fragt, ob ich ein Bier verachten würde? Nein, gewiss nicht. Wenn Ihr erlaubt, dann mit Vergnügen. |Comedamus tandem, et bibamus, cras enim moriemur|.

Der Weltuntergang kam also 1420 nicht, auch nicht ein Jahr später, nicht zwei, nicht drei, und auch nicht vier Jahre später. Die Dinge nahmen, wenn ich so sagen darf, ihren gewohnten Verlauf. Die Kriege dauerten an. Die Seuchen mehrten sich, die |mors nigra| wütete, Hunger breitete sich aus. Der Nächste erschlug und beraubte seinen Nächsten, begehrte dessen Weib und war überhaupt des Menschen Wolf. Den Juden bescherte man von Zeit zu Zeit ein kleines Pogrom und den Ketzern ein Scheiterhäufchen. An Neuheiten hingegen war dieses zu vermelden: Skelette hüpften mit lustigen Sprüngen über die Friedhöfe, der Tod schritt mit seiner Sense über die Erde, der Inkubus stahl sich des Nachts zwischen die zitternden Schenkel der Jungfrauen, und dem einsamen Reiter sprang in der Einöde eine Striege in den Nacken. Der Teufel mischte sich sichtbar in die Alltagsangelegenheiten ein und strich unter den Leuten umher, |tamquam leo rugiens|, brüllend wie ein Löwe, und Ausschau haltend, wen er verschlingen könnte.

Viele berühmte Leute starben in jener Zeit. Ja gewiss, es wurden auch viele geboren, aber es ist wohl so, dass man die Geburtsdaten in den Chroniken nicht verzeichnet und sich dann auch ums Verrecken keiner daran erinnert, außer den Müttern vielleicht, und Ausnahmen machten wohl nur Neugeborene mit zwei Köpfen oder wenigstens mit zwei Pimmeln. Aber was den Tod anlangt, ja, das ist ein sicheres Datum, wie in Stein gehauen.

Im Jahre 1421, am Montag nach dem Mittfastensonntag Oculi, verstarb in Oppeln nach sechsundsechzig verdienstvollen Jahren Johann, appellatus der Weihwedel, ein Herzog aus dem Geschlecht der Piasten und episcopus Wloclaviensis. Vor seinem Tode hatte er der Stadt Oppeln eine Schenkung von sechshundert Mark gemacht. Es heißt, ein Teil dieser Summe sei, dem letzten Willen des Sterbenden gemäß, an das berühmte Oppelner Hurenhaus »Zur Roten Gundel« gegangen. Die Dienste dieses Liebestempels, der sich hinter dem Kloster der Minderbrüder befand, hatte der Bischof, der ein Lebemann war, bis zu seinem Tode in Anspruch genommen – wenn auch gegen Ende seines Lebens nur mehr als Beobachter.

Im Sommer des Jahres 1422 hingegen – das genaue Datum ist mir entfallen – starb in Vincennes der englische König Heinrich V., der Sieger von Azincourt. Ihn nur knapp zwei Monate überlebend, starb der König von Frankreich, Karl VI., der schon seit fünf Jahren vollkommen verrückt war. Die Krone forderte der Dauphin, Karl, ein, der Sohn jenes Irren. Aber die Engländer erkannten seine Rechte nicht an. Denn seine eigene Mutter, die Königin Isabella, hatte schon längst erklärt, er sei ein Bankert, der außerhalb des Ehebettes mit einem Manne von gesundem Menschenverstand gezeugt worden sei. Da ein Bankert den Thron nicht erben kann, wurde ein Engländer zum rechtmäßigen Herrscher und Monarchen Frankreichs, der Sohn Heinrichs V., der kleine Heinrich, der gerade mal neun Monate alt war. Regent in Frankreich wurde der Oheim des kleinen Heinrich, John Lancaster, der Herzog von Bedford. Dieser hielt gemeinsam mit den Burgundern Nordfrankreich – mit Paris –, den Süden beherrschte der Dauphin zusammen mit den Armagnacs. Zwischen den beiden Reichen heulten die Hunde neben den Leichen auf den Schlachtfeldern.

Im Jahre 1423 aber verstarb am Pfingsttage im Schlosse Peñíscola unweit von Valencia Pedro de Luna, der avignonesische Papst, ein verdammter Schismatiker, der sich bis zu seinem Tode und entgegen den Beschlüssen zweier Konzilien Benedikt XIII. nannte.

Von den anderen, die in jener Zeit starben und an die ich mich noch erinnere, verschied Ernst der Eiserne von Habsburg, Fürst der Steiermark, Kärntens, der Krain, Istriens und Triests. Es starb Johann von Ratibor, Herzog aus Piasten- und P¡rzemysliden-Geschlecht gleichermaßen. Jung verstarb Wenzeslaus, der dux Lubiniensis, es starb Herzog Heinrich, der gemeinsam mit seinem Bruder Johann Herr von Münsterberg war. In der Fremde verschied Heinrich, dictus Rumpoldus, Herzog von Glogau und Landvogt der Oberlausitz. Nikolai Tr±ba verstarb, Erzbischof von Gnesen, ein ehrenwerter und fähiger Mann. In der Marienburg starb Michael Küchmeister, der Hochmeister des Ordens der Allerheiligsten Jungfrau Maria. Auch Jakob PÍczak, genannt Fisch, der Müller von Beuthen, starb. Ha, ich muss zugeben, der ist etwas weniger bekannt und berühmt als die oben Genannten, aber er hat ihnen gegenüber den Vorteil, dass ich ihn persönlich kannte und manchmal mit ihm gebechert habe. Mit den früher Erwähnten ist das irgendwie nie zustande gekommen.

Auch in der Kultur nahmen wichtige Ereignisse ihren Lauf. Es predigte der beseelte Bernhardin von Siena, es predigten Jan Kanty und Johannes von Capestrano, es lehrten Johannes Carlerius de Gerson und Pawel Wlodkowic, Christine de Pisan und Thomas Hemerken a Kempis schrieben gelehrte Werke. Vav¡rinec von B¡rzezová verfasste seine wunderschöne Chronik. Andrej Rubljow malte seine Ikonen, es malte Masaccio, es malte Robert Campin. Jan van Eyck, der Hofmaler Johanns von Bayern, schuf für die St.-Bavo-Kathedrale von Gent seinen »Altar des Mystischen Lammes«, ein überaus schönes Polyptychon, das die Kapelle des Jodocus Vyd ziert. In Florenz beendete Meister Pippo Brunelleschi die Errichtung der Kuppel über den vier Schiffen der Kirche Santa Maria dei Fiori. Wir in Schlesien waren auch nicht schlechter – bei uns hat Herr Peter von Frankenstein in der Stadt Neisse den Bau der sehr stattlichen St.-Jakobs-Kirche vollendet. Gar nicht weit von hier, von Militsch, entfernt, wer noch nicht da war und sie noch nicht gesehen hat, dem böte sich jetzt Gelegenheit dazu.

In jenem Jahr 1422 beging der alte Litauer, der polnische König Jagiello, mitten im Karneval in der Burg Lida mit großem Pomp seine Hochzeit – er heiratete Sonka HolszaÒska, ein blühendes, blutjunges Mädchen von siebzehn Jahren, das demnach mehr als ein halbes Jahrhundert jünger war als er. Wie es hieß, war jenes Mädchen wohl eher ihrer Schönheit, denn ihrer Sitten wegen berühmt. Ja, und es sollte auch später noch viel Ärgernis daraus erwachsen. Jogaila aber, als hätte er völlig vergessen, wie man sich eines jungen Weibes erfreut, zog schon im Frühsommer gegen die preußischen Herren, will heißen, gegen die Ritter mit dem Kreuz. So kam es auch, dass der neue Hochmeister des Deutschen Ordens, Herr Paul von Rusdorf, Küchmeisters Nachfolger, gleich nach der Amtseinführung Bekanntschaft mit den polnischen Waffen schließen musste – und zwar eine recht stürmische Bekanntschaft. Wie es da auf dem Ehelager mit Sonka bestellt war, wird man vergeblich zu erfahren suchen, um den Deutschordensrittern den Hintern zu versohlen, war Jogaila aber immer noch Manns genug.

Eine Menge wichtiger Dinge ereigneten sich in jener Zeit auch im Königreich Böhmen. Eine große Erschütterung gab es da, viel Blutvergießen und unaufhörlich Krieg. Wovon rede ich da … Wollet einem alten Mann vergeben, Ihr edlen Herren, aber Furcht ist ein menschlich Ding, und ist schon so mancher für ein unbedachtes Wort am Hals gepackt worden. Auf Euren Wämsern, Ihr Herren, sehe ich wohl die polnischen Wappen der Na?Ícz und der Habdank, und auf den Euren, edle Böhmen, die Hähne der Herren von Dobrá Voda, und die Ritterpfeile von Strakonitz … Und Ihr, Marsjünger, seid ein Zettritz, ich erkenn’s am Bisonkopf im Wappen. Das Eurige, Herr Ritter, das schräge Schachbrett und die Greifen, kann ich nirgendwo zuordnen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass du, Frater aus dem Orden des heiligen Franziskus, nicht alles dem Heiligen Officium zuträgst, dass Ihr es tut, Brüder von St. Dominik, ist wohl gewiss. So seht Ihr selbst, dass es mir nicht leicht wird, in einer so internationalen und auch so unterschiedlichen Gesellschaft von den böhmischen Dingen zu berichten, weil ich nicht weiß, wer hier für Albrecht und wer für den polnischen König und den Prinzen ist. Wer hier für Menhart von Hradec und Old¡rich von Roæmberk ist, und wer für Hynek Pt?Ëek von Pirkstajn und Jan Kolda von Æampach. Wer auf des Comes Spytko von MelsztyÒskis Seite steht und wer ein Anhänger des Bischofs von Oels ist. Ich habe gewiss keine Sehnsucht nach Schlägen, aber ich weiß wohl, dass ich welche einstecken werde, weil ich schon mehrmals welche einstecken musste. Wie das, fragt Ihr? Das ist so: Wenn ich sage, dass in den Zeiten, von denen ich erzähle, die tapferen Hussiten den Deutschen heftig das Wams durchgewalkt und sie in drei Kreuzzügen hintereinander zu Pulver und Staub zermahlen haben, dann währt es nicht lang, bis mich die einen aufs Haupt schlagen. Sage ich aber, dass in den Schlachten bei Vítkov, Vynehrad, Saaz und Deutsch-Brod die Häretiker die Kreuzfahrer nur mit teuflischer Hilfe besiegt haben, ergreifen mich die anderen und prügeln mich durch. Daher wär’s mir lieber zu schweigen, aber wenn ich schon reden muss, dann mit der Neutralität eines Berichterstatters – berichten, wie man sagt, |sine ira et studio|, knapp, kühl, sachlich, und ohne einen Kommentar von meiner Seite hinzuzufügen.

So sage ich denn auch nur kurz: Im Herbst des Jahres 1420 lehnte der polnische König Jogaila die böhmische Krone ab, die die Hussiten ihm angetragen hatten. In Krakau wähnte man, dass der litauische dux Witold, der schon immer gekrönt werden wollte, die Krone nehmen würde. Um aber weder den römischen König Sigismund noch den Papst über Gebühr zu ärgern, wurde Zygmunt, der Neffe Witolds und Sohn Korybuts, nach Böhmen gesandt. Er stand am Tage des heiligen Stanislaus im Jahre 1422 im goldenen Prag an der Spitze von fünftausend polnischen Rittern. Aber schon am Dreikönigstag des darauf folgenden Jahres musste das Prinzchen nach Litauen zurückkehren, so wütend waren der Luxemburger und Oddo Colonna, seinerzeit der Heilige Vater Martin V., über die böhmische Thronfolge. Aber schon 1424, am Vorabend von Mariä Heimsuchung, war der Sohn des Korybut zurück in Prag. Diesmal gegen den Willen Jogailas und Witolds, gegen den Willen des Papstes, gegen den Willen des römischen Königs. Das heißt als Aufrührer und Geächteter. An der Spitze ebensolcher Aufrührer und Geächteter. Und nicht nur Tausender, wie vorher, sondern Hunderttausender.

In Prag hingegen fraß der Umsturz, wie Saturn, seine eigenen Kinder, und eine Seite maß sich mit der anderen. Jan von Æeliva, den man am Montag nach dem Sonntag Reminiscere des Jahres 1422 geköpft hatte, wurde schon im Mai desselben Jahres in allen Kirchen als Märtyrer beweint. Kühn stellte sich das goldene Prag auch Tabor entgegen, aber hier hatte die Sense auf den Stein getroffen. Nämlich auf Jan Æiæka, den großen Kämpen. Anno Domini 1424, am zweiten Tage nach den Nonen des Juni, erteilte Æiæka den Pragern bei Malschau am Flüsschen Bohynka eine schreckliche Lehre. Viele, o gar viele Witwen und Waisen gab es nach dieser Schlacht in Prag.

Wer weiß, vielleicht bewirkten die Tränen jener Waisen, dass kurz darauf, am Mittwoch vor dem Festtage des St. Gallus in P?ybyslav nahe der mährischen Grenze Jan Æiæka von Trocnov, oder wie es später hieß, vom Kelch, verstarb. Begraben hat man ihn in Hradec Králové, und dort liegt er. Und so wie vorher die einen seinetwegen geweint hatten, weinten jetzt die anderen um ihn. Dass er sie als Waisen zurückgelassen hatte. Deswegen nannten sie sich »die Waisen« …

Aber daran erinnert Ihr Euch wohl alle noch. Weil das vor noch gar nicht so langer Zeit gewesen ist. Und jetzt sind das schon … historisch gewordene Zeiten.

Ihr wisst doch, werte Herren, woran man erkennt, ob eine Zeit historisch ist? Daran, dass vieles schnell geschieht.

Damals ereignete sich sehr vieles sehr schnell. Der Weltuntergang war, wie gesagt, nicht gekommen. Obwohl vieles darauf hindeutete, dass er kommen würde. Denn es gab – genauso, wie die Prophezeiungen es wollten – große Kriege und große Plagen für das Christenvolk, und viele Männer starben. Es schien, als wolle Gott selbst, dass der Entstehung einer neuen Ordnung der Niedergang der alten vorausginge. Es schien, als nahte die Apokalypse. Als käme die Bestie mit zehn Hörnern aus der Hölle. Als sähe man die vier Reiter im Rauch der Brände und der blutgetränkten Felder. Als ertönten jeden Augenblick die Trompeten und die Siegel würden zerbrochen. Als würde Feuer vom Himmel fallen. Als würde der Stern Wermut auf den dritten Teil der Ströme und auf die Quellen der Wasser fallen. Als würde der irre gewordene Mensch, der die Fußspuren eines anderen auf der Brandstätte erblickte, unter Tränen jene Spuren küssen.

Manchmal war es so schlimm, dass einem, ich bitte um Vergebung, edle Herren, der Arsch auf Grundeis ging.

Das war eine bedrohliche Zeit. Eine böse. Und wenn es Euer Wille ist, so werde ich davon erzählen. Um die Langeweile zu vertreiben, solange der Regen, der uns hier in der Schenke festhält, nicht aufhört.

Ich erzähle, wenn Ihr wollt, von jenen Zeiten. Von den Menschen, die damals lebten, wie auch von jenen, die damals lebten, aber keine Menschen waren. Ich erzähle davon, wie die einen, wie die anderen sich mit dem maßen, was die Zeit ihnen brachte. Mit ihrem Schicksal. Und mit sich selbst.

Diese Geschichte beginnt freundlich und ergötzlich, undurchsichtig und zärtlich – mit einer angenehmen, innigen Liebe. Aber das soll Euch, liebwerte Herren, nicht täuschen.

Lasst Euch dadurch nicht täuschen.

|Prolog aus:
Andrzej Sapkowski: [„Narrenturm“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3423244895/powermetalde-21
dtv premium im Großformat
740 Seiten
ISBN 3-423-24489-5
Aus dem Polnischen von Barbara Samborska.
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG|
(In dieser Webfassung tauchen verschiedentlich Kompatibilitätsprobleme mit der Darstellung polnischer Sonderzeichen auf, die in der Buchfassung natürlich nicht auftreten.)

Nibelungen-Festspiele Worms

Uns ist in alten maeren
Wunders viel geseit
Von helden lobebaeren
Von grozer arebeit
Von freuden, hochgeziten
Von weinen und von klagen
Von küener recken striten
Muget ihr nun wunder hoeren sagen.

Aus dem Nibelungenlied

Vor vier Jahren begann Worms damit, Nibelungenfestspiele (http://www.nibelungenfestspiele.de) durchzuführen und wurde im ersten Jahr bundesweit als Provinz noch sehr belächelt. Ab dem zweiten Festspieljahr sah das schon anders aus und in diesem Jahr lief es bislang am besten: Alle 13 Vorstellungen der Hebbel-Inszenierung vor dem Nordportal des Wormser Doms waren ausverkauft. Mehr als ausverkauft geht nun einmal nicht, aber über eine künftige Verlängerung von zwei auf drei Wochen wird nun nachgedacht.

Die rund 19.000 Zuschauer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz bejubelten das Stück von Karin Beier sowie das Starensemble um Maria Schrader, Joachim Król, Manfred Zapatka, André Eisermann, Götz Schubert und Wiebke Puls. „Eine solche Resonanz wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nicht erlebt. Die Festspiele 2005 verliefen sehr positiv, ich bin rundum zufrieden“, sagt Festspielintendant Dieter Wedel.

Worms kann stolz auf seinen Glanz und Glimmer sein, denn vor fünf Jahren war es ein großes Wagnis, ohne Staatstheater und entsprechende Infrastruktur Festspiele in dieser Größe zu starten. Die Organisation, die im Vergleich zu anderen Festspielstädten nur von wenigen Machern betrieben wird, läuft reibungslos. Die Wormser sind stolz auf ihre Festspiele und das ist wichtig, denn wenn Steuergelder ausgegeben werden, ist es notwendig, dass solch große Events von der Bevölkerung breit unterstützt werden.

Das Rahmenprogramm wurde in diesem Jahr stark aufgewertet und mit hochkarätigen Namen besetzt. Zu den Höhepunkten zählten Veranstaltungen mit Manfred Krug, Christian Quadflieg, Otto Sander und dem Kabarettisten Werner Schneyder. Die Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen: Knapp 6.000 Gäste kamen zu den Lesungen, Konzerten und den Theaterbegegnungen. Das Herrnsheimer Schloss wurde als zweite Festspielstätte hervorragend angenommen.

Die Vorhaben, Worms durch die Nibelungen touristisch aufzuwerten, sind vollkommen aufgegangen. Durch die Festspiele und auch die Nibelungen-Thematik, die sich durch das ganze Jahr hindurchzieht, kommen mehr und mehr Touristen in die Stadt.

In eine riesige VIP-Lounge verwandelte sich der romantische Heylshofpark rund um den Dom: Bunte Lichter, Wasserfontänen, der dunkelrote Drachenblutbrunnen und klassische Klänge sorgten für eine stimmungsvolle Atmosphäre vor und nach den Aufführungen. Das elegante Ambiente zog
jeden Abend hunderte Besucher an. „Einfach sagenhaft“, lautete das Urteil der Gäste. Und mittlerweile zieht auch es auch viele Prominente von Salzburg über Bayreuth nunmehr regelmäßig nach Worms. Das Ambiente vorm Dom ist auch einzigartig. Die erscheinende Prominenz, die zu den Festspielen über sämtliche Aufführungen hinweg anreist, befindet sich natürlich auch immer im Blickpunkt der lokalen Presse, aber diese hier ausführlich zu benennen, erscheint mir nicht relevant. Jedenfalls gibt es bereits bei der Premiere, wie auch sonst allenorts üblich, einen breiten roten Teppich und jede Menge VIPs, umlagert von Fotografen. Der Medienrummel von rund 200 Medienvertretern bei der Premiere war schon sehr ungewöhnlich, zumal es sich ja „nur“ um eine Wiederaufführung der Hebbel-Inszenierung gehandelt hatte. Die Party nach der Premiere im festlich geschmückten, an den Dom grenzenden Heylspark ist mit all seinen Lichtern und Fackeln ein unvergleichliches Erlebnis, das man so nicht anderweitig zu sehen bekommt – weder in Salzburg noch in Bayreuth. Diese Party ging bis morgens um acht Uhr.

Trotz des verregneten Sommers blieb es in Worms während der Aufführungen die meiste Zeit trocken. Nicht eine einzige Vorführung mussten die Veranstalter – im Gegensatz zum Vorjahr – wegen schlechten Wetters absagen. Der Kampf mit dem Wetter – das zudem abends sowohl für die Schauspieler auf der Bühne als auch auf der hohen, windigen Tribüne für Sommerverhältnisse mitunter sehr kalt war – ist bei Freilichtspielen eine große Herausforderung. Einmal musste nach einem Regenbruch kurz vor der Pause fast abgebrochen werden – das Mikrofon von Kriemhild drohte den Dienst zu versagen –, aber auch hier gab es trotz diesen Widrigkeiten am Ende den gewohnten stürmischen Applaus. Doch diesmal applaudierten auch die Schauspieler umgekehrt dem Publikum und demonstrierten damit ihrerseits, dass auch diesem für das tapfere Ausharren Dank gebührte. Die Wormser Bevölkerung und die Sponsoren stehen zu ihren Nibelungen-Festspielen. Nach nur vier Jahren hat es Worms geschafft, sich bundesweit als Festspielstadt einen renommierten Namen zu erobern und als kultureller Leuchtturm zu etablieren.

Die Zuschauer saßen dieses Jahr noch einmal zwei Meter höher als letztes Jahr: auf einer 18 Meter hohen Tribüne, 26 Meter in der Breite. Für Rollstuhlfahrer wurden Rampen eingerichtet. Die normalen Preise rangierten von 25 Euro für die oberen Ränge bis zu 85 Euro für die untersten Plätze. Aber es gab auch Logen zu Preisen von 260 Euro für Einzelplatzkarten und 498 Euro für zwei Personen.

Im kommenden Jahr wird Dieter Wedel auf der Südseite des Doms „Die Nibelungen“ mit einem neuen Ensemble inszenieren. Angedacht ist eine überarbeitete Fassung von Moritz Rinke mit neu geschriebenen Szenen und Schwerpunkten. Die Geschichte endet in der Saison 2006 mit Siegfrieds Tod. Die grausame Rache der Kriemhild wird dann in der Fortsetzung des Stoffes im Sommer 2007 zu sehen sein.

So weit der Einstieg, aber schauen wir uns das Geschehen auch noch im Einzelnen an.

_Hebbel-Inzenierung der Nibelungen von Karin Beier_

In den bisherigen vier Jahren der Wormser Nibelungen-Festspiele mit unterschiedlichen Inszenierungen sahen insgesamt etwa 90.000 Zuschauer das Nibelungen-Drama. Seit zwei Jahren ist Dieter Wedel Intendant des Epos um Liebe und Hass, Politik und Rache am Originalschauplatz vor der atemberaubenden Kulisse des Wormser Doms. Dieses Ambiente ist theatertechnisch sensationell.

Karin Beiers Stück ist eine ernst zu nehmenden Inszenierung. Ihre Fassung ist intimer und konzentrierter als das Rinke-Stück der ersten beiden Festspieljahre. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den Frauengestalten und ist damit eine sehr andere Nibelungengeschichte als die von Moritz Rinke. Die Geschichte der Frauen im Stück ist viel intensiver und auch die dunkle Seite Siegfrieds wird mehr beleuchtet. Im Grunde haben alle männlichen Schauspieler bei Beier neben den mitreißend intensiven Damen Maria Schrader und Wibke Puls einen schweren Stand. Sonstige Identifikationsmöglichkeiten gibt es da fast keine. Erstmals war dieses Jahr die Inszenierung tontechnisch zudem in Dolby Surround zu hören. Durch Highend-Digitaltechnik mit einem 5.1-Surround-System wurde die eindrucksvolle Inszenierung akustisch rundum erlebbar.

Dabei sind die Protagonisten in Worms auch für die Bevölkerung ansprechbar. Soweit es die aufwendigen Proben und fast täglichen Auftritte erlauben, integrieren sie sich in das städtische Leben, und vor den Vorführungen finden täglich abwechselnd mit allen lockere Talkgespräche bei freiem Eintritt für das interessierte Publikum statt.
Man sieht sie also zwar ständig in der Stadt, aber bei diesen Gesprächen hat man die Gelegenheit, ganz nah an die Darsteller heranzukommen und „live“ etwas über ihre Arbeit auf der Dombühne, aber auch viel „Privates“ zu erfahren. Die Schauspieler zeigen sich dem Publikum und allen Beteiligten dankbar: So fand ein Besuch der Mitarbeiter in der Wäscherei der Lebenshilfe statt, wo man sich bei den Behinderten bedankte, welche die anfallende Wäsche während der Festspielen waschen, trocknen und pflegen. Bei 13 Aufführungen werden alleine schon circa 1.100 Kostümteile gebügelt. Für die Behinderten selbst war das ein großes Ereignis, stolz zeigten sie, wie sie arbeiten, und manch einer brachte auch seine persönlichen Nibelungen-Sammelstücke mit zum Vorzeigen. Auch für den Weltladen waren sie aktiv und kamen zu dessen mit dem entwicklungspolitischen Netzwerk Rheinland-Pfalz organisierten „Nibelungen-Brunch“, wo ein Frühstück mit fair gehandelten Produkten, Musik und Stars zum Anfassen aufgeboten wurden.

Da die Festspiele immer nahtlos in das danach beginnende Bachfischfest – eines der größten Volksfeste am Rhein – übergehen, unternahmen die Schauspieler auch einen gemeinsamen Rundgang über den Festplatz. Diese Führung übernahm André Eisermann, der aus einer Wormser Schaustellerfamilie stammt und das Backfischfest von klein auf sehr intim kennt. Nicht dabei sein konnte Hagen-Darsteller Manfred Zapatka, der als Einziger länger als geplant in Worms verweilen musste. Während der Festspiele hatte er bereits große Schmerzen im Knie, lehnte schmerzstillende Mittel bei den Vorführungen allerdings ab, damit er „unvernebelt“ auftreten konnte. Sofort nach Ende der Festspiele musste er im Wormser Krankenhaus am Meniskus operiert werden und benötigte noch Schonung; die erste Zeit konnte er natürlich nur an Krücken gehen. Das zeigt aber auch ein eigentliches Problem, denn wenn ein Schauspieler generell mal bei den Festspielen ausfällt, steht keine Zweitbesetzung zur Verfügung. Im Vorjahr zum Beispiel war auch schon Wiebke Puls bei den Proben in eine Bühnenöffnung gestürzt und hatte sich „glücklicherweise“ dabei nur das Nasenbein gebrochen. Der damals nachfallende Joachim Kròl blieb unverletzt. Das Ensemble stand trotzdem einige Tage unter Schock.

_Dieter Wedel_
Seit mehr als einem Jahr ist Dieter Wedel Intendant der Festspiele. Er promovierte an der Freien Universität Berlin in den Fächern Theaterwissenschaften, Philosophie und Literatur. Unzähligen Theatererfahrungen folgten eine kurze Zeit als Hörspielautor und dann Engagements fürs Fernsehen sowie erste Filme: „Einmal im Leben“ war der erste TV-Mehrteiler, womit die Erfolgsstory der Familie Semmeling begann. Es folgte die Fortsetzung „Alle Jahre wieder“ und dann gründete er seine eigene Produktionsfirma. Seitdem ist er Autor, Regisseur und Produzent in einer Person. Neben den großen Fernsehproduktionen wie „Kampf der Tiger“ oder „Wilder Westen inclusive“ bleibt er weiterhin Theaterbühnen treu. Für seine TV-Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Die Affaire Semmeling“ erhielt er auch international zahlreiche Auszeichnungen. 2002 inszenierte er die Nibelungenuraufführung von Moritz Rinke. Danach wurde er Intendant der Wormser Festspiele.

_Karin Beier_
Sie ist renommierte Theater- und Opernregisseurin. Begonnen hatte sie mit einer eigenen Theatergruppe und führte Shakespears Dramen im Original und unter freiem Himmel auf. Dann folgten eine Regieassistenz am Düsseldorfer Schauspielhaus und seither eigene Arbeiten. Sie inszenierte die deutsche Erstaufführung von „Die 25. Stunde“ von George Tabori sowie Shakespeares „Romeo und Julia“, für das sie 1994 zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt wurde. 1995 erarbeitete sie mit vierzehn Schauspielern aus neun Ländern eine mehrsprachige, multikulturelle Inszenierung des „Sommernachttraums“. 1997 schloss sich mit Bizets „Carmen“ ihre erste Oper an. Es folgten unter anderem „99 Grad“, „Das Maß der Dinge“ und „Der Entertainer“. Dieses Jahr inszenierte sie mit kleinen Veränderungen zum zweiten Mal in Worms ein neues Stück nach der klassischen Textvorlage von Friedrich Hebbel. Karin Beier, die, wenn sie nicht arbeitet, ganz alternativ im Norden Schottlands lebt und kleine Lämmer auf die Welt holt, schaut auf ihre zwei Jahre Festspielzeit in Worms gerne zurück. Nachdem sie vor zwei Jahren noch Bedenken hatte, mit Schauspielern aus unterschiedlichsten Sphären des Films und Theaters zu arbeiten, hat sich alles für sie „extrem gelohnt“ und die Ängste waren unbegründet. Keiner des Ensembles hat Starallüren, und nach einem Jahr nach Worms zurückzukommen, war dieses Mal wie eine Heimkehr.

_Maria Schrader_
Sie ist wohl eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen heutzutage. Sie begann ihre Ausbildung am Max-Reinhard-Seminar in Wien. Dann spielte sie an Schauspielhäusern unter anderem in Hannover und Bonn. Ihr Kinodebüt gab sie mit „Robby, Kalle, Paul“. Bekannt wurde sie dann mit Doris Dörries Komödie „Bin ich schön?“. 1999 erhielt sie den Silbernen Bären und den Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in „Aimée und der Jaguar“. Von Anfang an spielt sie in Worms die Kriemhild.

_Wibke Puls_
Ausbildung an der Berliner Hochschule der Künste. Danach Schauspielhaus Hamburg. Sie spielt auf mitreißende Art seit Beginn der Festspiele die Brunhild. Vor ihrer Schauspielkarriere machte sie Musik, was sie in den letzten beiden Festspieljahren für die Wormser durch ihren einzigartig intensiven Konzertauftritt mit dem Festspielensemble auch unter Beweis stellt. Sie tritt in Beiers Stück mit nacktem Oberkörper auf, was dieses Jahr in der „Regenbogen-Presse“ für Aufsehen sorgte. „Bild“-Zeitungsüberschrift mit entsprechendem Foto: „Brusthild und die Nippelungen“. Selbst die „Münchner Abendzeitung“ meldete „Die nackten Nibelungen in Worms“. Trotz der kargen Bekleidung hat sie die aufwendigste Maske bei den Aufführungen, denn in der ersten Hälfte vor ihrer Verheiratung mit Gunther trägt sie am ganzen Körper amazonenwilde Tattoos. In der aktuellen Inszenierung der Nibelungen von den Münchner Kammerspielen spielt sie interessanterweise anstelle der Brunhild die Kriemhild und erhielt dafür den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

_Manfred Zapatka_
Ausgebildet an der westfälischen Schauspielschule Bochum, danach an Theatern wie Stuttgart und München engagiert. Er ist einer der großen Charakterdarsteller im deutschen Film und Fernsehen, bekannt z. B. aus der TV-Serie „Rivalen der Rennbahn“ (1989) und in Dieter Wedels Mehrteiler „Der große Bellheim“ (1992). Für die Rolle des Heinrich Himmler in „Das Himmler-Projekt“ (2002) wurde er mit dem Adolf-Grimm-Preis ausgezeichnet. Bei den Nibelungen-Festspielen trat er als Hagen auf. Auffallend war beim Publikumsgesprächsabend mit ihm sein politisches Engagement. Zwar rief er nicht direkt zur Wahl der Linkspartei auf, übte aber starke Kritik an der SPD, für die er früher immer eintrat.

_André Eisermann_
Mit der Rolle des „Kaspar Hauser“ wurde Eisermann 1993 aus dem „Nichts“ heraus international bekannt. Er wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so z. B. mit dem Darstellerpreis des Internationalen Filmfestes von Locarno, dem Bayrischen Staatspreis und dem Deutschen Filmpreis. Danach folgte der ebenso grandiose Film „Schlafes Bruder“. Für diese Rolle war er für den Golden Globe nominiert. Seitdem er den Bundesfilmpreis bekam, ist er Akademie-Mitglied der Bundesfilmpreisverleihung. Allerdings ist er auch durch verschiedene Lesungen sehr bekannt geworden. Seit Beginn der Wormser Nibelungenfestspiele hatte er die Rolle des Giselher inne. Derzeit spielt er in Füssen im Musical „Ludwig II.“ dessen Bruder Otto. Als Wormser ist er seit seiner Kindheit mit dem Nibelungenthema vertraut, und selbst wenn er im nächsten Jahr nicht mehr zur Besetzung gehören wird, gibt es wie bisher etwas Neues von ihm im Rahmenprogramm der Festspiele. Im nächsten Jahr wird es endlich auch wieder einen großen Film mit ihm geben, ein Projekt, über das bislang aber nirgendwo etwas verraten wird.

_Joachim Król_
Als einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands wird er nach wie vor hauptsächlich mit seiner Rolle im Film „Der bewegte Mann“ von 1994 identifiziert, den er nach seinen Engagements an deutschen Theatern spielte. Für die dortige Rolle des leidenden Norbert Brommer an der Seite von Til Schweiger erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, so etwa den Bambi und den Deutschen Filmpreis. Danach folgten „Rossini“ und, ebenfalls zusammen mit Maria Schrader, der Film „Bin ich schön?“ von Doris Dörries. Auch internationale Filmprojekte folgten („Zugvögel … einmal nach Inari“ und „Gloomy Sunday – Ein Lied von Liebe und Tod“). Als Commissario Brunetti spielte er in Donna Leons Fernsehkrimis und war zuletzt im Kino als Killer in „Lautlos“ zu sehen. In Worms spielte er den König Gunther.

_Götz Schubert_
Er studierte an der staatlichen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Zunächst Theater auf den Bühnen in Berlin, dann zahlreiche Fernsehproduktionen wie „Der Zimmerspringbrunnen“, „Die Affaire Semmeling“ von Dieter Wedel und der Kinofilm „NAPOLA“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für die Wormser ist er mittlerweile der „klassische“ Siegfried-Darsteller geworden und spielte diese Rolle schon bei der modernen Interpretation von Moritz Rinke in den ersten beiden Festspieljahren. Im letzten Jahr fiel er aus, wurde aber für die Wiederauflage des Beierschen Hebbel-Stückes erneut als Siegfried verpflichtet und ersetze Martin Lindow, der zuletzt den Siegfried spielte. Die Siegfried-Rolle bei Beier ist weniger männlich angelegt als die des kahlköpfigen Haudegen bei Rinke. Zuletzt drehte Schubert mit Veronika Ferres den ZDF-Zweiteiler „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, davor stand er für Dieter Wedels Zweiteiler „Papa und Mama“ vor der Kamera, der im Januar 2006 im Fernsehen zu sehen sein wird. Im Maxim-Gorki-Theater in Berlin spielt er aktuell neben Jörg Schüttauf in der „Dreigroschenoper“ und als nächstes ebenfalls dort im „Zerbrochenen Krug“ den Dorfrichter.

_Tilo Keiner_
Er war auf der London Academy of Music and Dramatic Art. Neben verschiedenen Theaterengagements (u. a. Trier, Nürnberg und Köln, Hamburg, Bochum, Nürnberg) ging er auch zum Film und Fernsehen, z. B. für TV-Serien wie „SOKO 5113“ oder „Girlfriends“. Dann spielte er im Film „Saving Private Ryan“ unter der Regie von Steven Spielberg. Auch im deutschen Film „Der Ärgermacher“ war er zu sehen. Derzeit gastiert er auch als Musicaldarsteller Harry im ABBA-Stück „Mamma Mia!“ in Stuttgart. Bei den Nibelungen spielte er den Werbel an Etzels Hof und war damit dieses Jahr neu im Ensemble. Er ersetzte die Rolle von Andreas Bikowski (den Werbel vom letzten Jahr).

_Isabella Eva Bartdorff_
Sie spielte die skurrile Tochter Rüdigers und glänzte an der Seite von André Eisermann, der sie als Giselher in diesem Stück heiraten sollte, ganz besonders. Sie studierte Schauspiel an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und war bereits an Theaterhäusern in Hamburg, Frankfurt, Essen, Bonn und Darmstadt.

_Itzhak Fintzi_
Er gilt in Bulgarien als Superstar und spielte vorm Wormser Dom auf seine charismatische Art den König Etzel. Dass er viele Passagen auf Bulgarisch spricht, macht seine Rolle besonders atmosphärisch.

_Sebastian Hufschmidt_
Er gibt den Gerenot, den Bruder des Königs Gunther. Er spielte an Theatern u. a. in Düsseldorf, Braunschweig und Hannover.

_Josef Ostendorf_
An Schauspielhäusern spielte er in Hamburg, Basel und Zürich. Bekannt ist er auch aus Fernsehfilmen wie „Wolffs Revier“, „Die Männer vom K3“, „Tatort“, „Bella Block“ und „Adelheid und ihr Mörder“. Mehrere Kinofilme sind auch darunter, z. B. „Der Campus“. Bei den Nibelungenfestspielen ist er von Anfang an dabei und spielte in den ersten beiden Jahren den Königsbruder Gernot. Bei Katrin Beier hatte er dagegen die Rolle des Volker von Alzey.

_Michael Wittenborn_
Er spielte an Theatern Hamburg und München. Für Dieter Wedel spielte er im Fernsehen u.a. „Der Schattenmann“, „Der große Bellheim“ und „Die Affaire Semmeling“. Bei den Festspielen spielte er den Markgraf Rüdiger von Bechelarn und ist der Ehemann der Regisseurin Karin Beier.

_Wolfgang Pregler_
Lernte an der Hochschule für Künste in Berlin. Schauspielerfahrung an den Theatern München, Berlin und Hamburg. Ebenso Film- und Fernsehproduktionen wie „Die Affaire Semmeling“ in der Regie von Dieter Wedel (2001) und der internationale Kinofilm „Rosenstraße“ mit Maria Schrader (2003). Auch er gehört zur Urbesetzung und spielte in den ersten beiden Jahren den König Gunther, bei Karin Beier allerdings Dietrich von Bern. Er stammt von den Münchner Kammerspielen.

Nach der letzten Vorstellung, die wie gewohnt mit langem Schlussapplaus endete, drückte Karin Beier jedem Schauspieler ein Glas Sekt in die Hand und es gab zahlreiche Küsschen zu sehen. Auch als die Zuschauertribünen dann leer waren, ging es nochmals gemeinsam auf die Bühne, um Abschied von der großartigen Kulisse vor dem Kaiserdom zu nehmen. Darauf folgte die Abschiedsparty mit Livemusik und einer Stimmung aus Heiterkeit und Melancholie. Lange Umarmungen und auch Tränen, denn dieses Ensemble, das sich menschlich so gut verstand, wird in dieser Zusammensetzung nie wieder zusammenkommen. Dieter Wedel hat angekündigt, für die nächsten Inszenierungen neue Schauspieler nach Worms zu schicken.

_Ein Blick auf die Statisten_

Ohne die Wormser Statisten, die jedes Jahr den Sommer für Proben und Aufführungen opfern, wären die Festspiele nicht vollständig. Es sind viele Wormser involviert, und das bereitet ihnen großen Spaß. Auch eine Hundemeute ist dieses Jahr mit auf der Bühne gewesen, und manche davon haben nach den Festspielen ein neues Herrchen bei den Statisten gefunden.

Manche entpuppen sich dabei als Neueinsteiger mit Karriere-Erwartungen im Schauspielbusiness. Seit dem ersten Festspieljahr besteht einmal im Monat ein regelmäßiger Statistenstammtisch. Trotz der intensiven, fast unbezahlten Arbeitszeit, ist es für alle ein Genuss, mit Größen wie Dieter Wedel oder früher Mario Adorf als Hagen gearbeitet zu haben. Mitunter erscheinen dort auch die Regieassistenz und der künstlerische Leiter der Festspiele, James McDowell.

_Ilka Kohlmann_
Hatte in den ersten beiden Jahren als Statistin angefangen und spielt nun bereits zum zweiten Mal die Mutter von Gudrun. Zwar hat sie nur einen Kurzauftritt, aber natürlich ist jeder Abend auch für sie ein großes Erlebnis, steht sie doch auch beim Schlussapplaus vor stehenden Ovationen mit auf der Bühne. Auch ihr Ehemann Jürgen ist immer dabei, in diesem Jahr als „Hunnen-Trommler“. Auch im nächsten Jahr werden beide wieder gefragt sein.

Ein kleiner Wormser Junge freut sich auch jedes Jahr ganz besonders auf seine Rolle. Er spielt das Kind von Kriemhild und Etzel, auch wenn er anschließend stets geköpft und verstorben die Bühne verlässt.

Dreißig Hunnen sind im Einsatz als Statisten, und deren Maske ist von den Professionellen zeitlich nicht zu bewältigen. Dafür wurde eigens ein Schminkwettbewerb ausgeschrieben und acht Wormser Frauen wurden ausgewählt. Auch für Kostüme und Waffen sind Wormser zuständig. Waffenmeister ist dabei Thomas Haaß, der im Zuge der Nibelungenthematik und der daraus entstanden Gewandeten-Szene ständig in Worms mittelalterlich mitmischt.

_Das Rahmenprogramm:_

_Filme_

Jedes Jahr gibt es ein begleitendes Filmprogramm, aber man kann nicht jedes Jahr die Nibelungen von Fritz Lang oder die Filme aus den 60er Jahren aufführen, und so zeigt man bereits im zweiten Jahr aktuelle Filme aus dem Wirken der Festspielschauspieler. Das waren diesmal Maria Schrader, die zusammen mit Dani Levy in „Meschugge“ die Jüdin Lena Katz spielte, einem Thriller, für den sie für ihre Rolle 1999 den Bundesfilmpreis als beste Hauptdarstellerin erhielt. Joachim Król spielt in „Gloomy Sunday“ eine Dreiecksgeschichte im Budapest der 30er Jahre während der Besetzung durch die Nazis. Und Manfred Zapatka spielte in der Komödie „Erkan und Stefan“ den Verleger Eckenförde, dessen Tochter von den beiden Komikern beschützt werden soll. Die Filme laufen auf großer Leinwand im Open-Air-Kino im Herrnsheimer Schloss. Mit gewöhnlichem Popcorn-Kino hat das also nichts zu tun. Man wird von Festpiel-Hostessen empfangen und steht vor und nach der Aufführung an Stehtischen bei einem Glas Wein zusammen.

_Otto Sander, die Nibelungen-Musiker und die Trommler von Worms_

Otto Sander und Gerd Bessler, der musikalische Leiter der Wormser Hebbel-Inszenierung, gestalteten einen „Heldenabend“ mit Texten und Musik, gespielt vom gesamten musikalischen Ensemble der Festspiele und unterstützt von fünfundzwanzig Trommlern. In den Texten hörte man die Gegensätzlichkeit der Helden durch die Epochen und Länder, und vor allem die Musik war natürlich ein Hörgenuss, in welchem mittelalterliche Motive mit modernen Jazzelementen verschmolzen. Eine Hör- und Augenweide waren vor allem auch die Wormser Trommler, die auf Stahlfässern und Landknechtstrommeln archaische bombastische Rhythmen schlugen. Über neunhundert Besucher sahen sich das an.

_Werner Schneyder und das Ensemble der Nibelungen-Festspiele lesen Richard Wagner_

Der bekannte Kabarettist und Sportmoderator führte durch die Handlung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“, und die Schauspieler der Festspiele lasen die Texte. Wahrscheinlich wurde noch nie der ganze „Wagner-Ring“ in so kurzer Zeit in straffer Form dargeboten. Faszinierend waren tatsächlich auch die von Schneyder dargebotenen originalen und ausführlichen Regieanweisungen Wagners, die schmunzeln ließen, da diese selbst mit modernster Technik bis heute unrealisierbar geblieben sind. Auch diese Veranstaltung war ausverkauft, allerdings sicher weniger wegen des Wagner-Themas, sondern als Sympathie-Kundgebung der Wormser für „ihre“ Stars. Es kamen fast neunhundert Besucher.

_Theaterbegegnungen im Herrnsheimer Schloss_

Diese Veranstaltung hat bereits gute Tradition bei den Festspielen und stellt in der Vielseitigkeit des Programmablaufs einen der interessantesten Aspekte im Rahmenprogramm, den man nicht versäumen sollte. Das sehen sehr viele Besucher mittlerweile auch so. Zu den Morgenvorträgen kamen weit mehr als erwartet – man rechnet für solche wissenschaftlich-literarischen Vorträge normalerweise mit einem Interesse von 30 bis 40 Personen, aber die 150 Sitzplätze waren schnell besetzt und weitere etwa 50 standen noch draußen vor der Tür. Teils im schönen Saal des Schlosses, teils unter freiem Himmel, teils in der Remise, treffen sich Zuschauer und Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Vertreter aus Kirche und Wirtschaft, um miteinander zu diskutieren, zu lachen und zu streiten. Eine einzigartige intime Gelegenheit, richtig nahe an die VIPs herantreten zu können. In diesem Jahr war das Thema „Was ist deutsch?“.

In den Morgenvorträgen beleuchtete Kulturkoordinator Volker Gallé Literatur und Politik als deutsches Dilemma, Monika Carbe referierte über den Missbrauch von Schiller als Nationaldichter und Gunther Nickel sprach anhand einer Zuckmayer-Rezipation über das Deutschlandbild vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Bundesrepublik und wies dabei fast nebenbei die Zuordnung von Ernst Jünger als rechtsgerichteten Autor vom Tisch. Dabei stellte er auch fest, dass dies der Stand der aktuellen Jünger-Forschung sei.

Für die Programmpunkte danach reichte natürlich der Platz mit dem wunderschönen englischen Park dahinter für alle aus – aber auch hier war die Remise dennoch gefüllt bis auf den letzten Platz. Mittags folgten Texte über die Deutschen, gelesen von den Festspiel-Darstellern, von Tacitus bis Willy Brandt – ein sehr aufschlussreiches intensives Erlebnis zum Deutschsein. Höhepunkt war wie schon im letzten Jahr der Auftritt von Wiebke Puls (Brunhilde) mit umgeschnalltem Akkordeon (und meist Zigarette im Mundwinkel) und Itzhak Fintzi (König Etzel), die mit dem Festspiel-Ensemble für ihre eigenen musikalischen Interpretationen der Hebbel`schen Nibelungentexte faszinierten und begeistern konnten. Sehr intim und locker startete bereits der Auftritt: „Hallo, wir sind hier, um ein bisschen Musik zu machen“. Cello, Geige, Trompete und viele subtile Schlaginstrumente präsentierten eine experimentelle musikalische Avantgarde. Die Zuschauer lieben es, wenn Wiebke Puls ins Mikrophon erbärmlich schreit, faucht und haucht. In der Zugabe kam auch Maria Schrader (Kriemhild) auf die Bühne und beide sangen anstatt des bekannten Königinnenstreits die mitreißend zärtliche Version einer Liebeshommage der Königinnen („You are so beautiful“) zueinander und lagen sich danach unter stürmischen Applaus in den Armen. Abgeschlossen wurde mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was ist deutsch?“ mit Hark Bohm (Filmemacher), Dieter Wedel (TV- und Filmregisseur, Intendant der Festspiele) und Prof. Paul Nolte von der Universität Bremen.

_Jugendblasorchester Rheinland-Pfalz spielte zeitgenössische Kompositionen aus aller Welt und Joern Hinkel las dazu deutsche Reden und Aufsätze aus sechs Jahrhunderten_

Joern Hinkel ist Regieassistent von Dieter Wedel und las Texte von Deutschen über Deutsche, Thesen und Antithesen, Beschwerden, Aufrufe, Zornausbrüche, Gedichte und Gesetzestexte, lächelnd, tobend und analytisch. Dazu gab es zeitgenössische Musik, die von der Heimat erzählte.

_Peer Gynt_

Einer der weiteren Höhepunkte war die Darbietung des Festspielschauspielers André Eisermann, der mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz Edward Griegs Schauspielmusik zu „Peer Gynt“ darbot. Das war eine seltene Gelegenheit, die originale Bühnenmusik gelöst vom literarischen Ursprung zu erleben. Neben der Philharmonie waren auch der Wormser Bachchor und „Cantus Novus“ sowie die Sopranistin Caroline Melzer integriert, die zusätzlich das Lied der Solveig sang. Der rote Faden der Schauspielhandlung wurde durch Zwischentexte nachvollziehbar. Den Part der Titelfigur übernahm André Eisermann und machte wie gewohnt seine Lesung zum Erlebnis. Ob nun Goethes Werther oder das Hohelied der Liebe – mit denen er früher Lesungen gab –, schafft er es immer, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er rezitiert nämlich nicht, sondern verkörpert das, von dem er spricht. Seine jährlichen Vorstellungen im Begleitprogramm der Festspiele sind in Worms seit jeher stets ausverkauft. Aber auch Eva Bartdorff, die ebenfalls Texte las, war ihm ebenbürtig.

_Musikwettbewerb_

Für dieses Jahr hatten die Festspiel-Veranstalter eine ganz besondere Idee und riefen zu Beginn des Jahres zu einem Musikwettbewerb auf, wo jeder Nibelungensongs einreichen konnte. Aus über 50 Liedern wählte eine Jury, bestehend aus SWR, der Popakademie Mannheim und den Festspielen, zehn Bands aus. Diese spielten an zwei Abenden je 30 Minuten Programm und das Spektrum reichte dabei von Reggae, Rap, Pop und Rock über Volksmusik, Country und Dark Wave bis zur Klassik. So verschieden die Stilrichtungen waren, umso unterhaltsamer waren entsprechend auch die Beiträge zum Nibelungen-Thema.

Eine CD dazu ist auch erhältlich, auf der alle ausgewählten Bands „ihren“ Nibelungen-Song präsentieren. Ein Beiheft enthält alle Texte und die Anschaffung macht Freude und ist auch sehr günstig. Die „Musikwettbewerb – Nibelungen-Festspiele Worms“-CD kostet nur 5 Euro und ist erhältlich über info@nibelungen-museum.de.

Enthalten darauf ist auch der Song ‚Siegfried‘ von _Corpsepain_, welche auf der Schwesternseite von |Buchwurm.info|, |POWERMETAL.de|, mit ihrer dunklen Saga-Interpretation des Nibelungen-Themas rezensiert wurden: [„The Dark Saga of the Nibelungs“.]http://www.powermetal.de/cdreview/review-6242.html Sie schlugen sich auch recht gut im Vergleich zu anderen Bands, und wenn ich mich nicht ganz täusche, stieß ich mit meinen Freunden während ihres Auftritts auf „Friedrich“ an (Nietzsche versteht sich). Auch diese CD ist für 9,99 Euro zu beziehen unter info@nibelungen-museum.de.

Das Abschlusslied der CD, ‚Brunhilds Klage‘, stammt von _Weena_, die die besten Interpreten auf dem Festival waren und auch in der Publikumsgunst ganz oben stehen. Sie beschlossen, nachdem sie beim Wettbewerb ausgewählt wurden, eine ganze Rockoper zu den Nibelungen zu verfassen und spielten daher auch ein reines Nibelungen-Set. Thomas Lang ist Rockmusiker und Sylva Bouchard-Beier ausgebildete Opernsängerin. Wie sie zueinander fanden, ist auch eine besondere Geschichte. Thomas kam, um seine Stimme bei ihr ausbilden zu lassen und beide merkten schnell, dass der Crossover aus Rock und Klassik begeistert. Ihre Musik, die in melodischen Passagen in ihrer Heiterkeit an Elemente von |Goethes Erben| erinnert, im Zusammenklang des Beats mit opernartiger Klangfülle aber eher Bands wie |Therion| zuzurechnen ist – und damit natürlich auch an Wagner erinnert –, hat auch wegen der stimmlichen Leistung von Sylva etwas von |Rosenstolz|. Bislang wird die pompöse Zusatzmusik noch durch Synthesizer eingespielt, aber der Auftritt mit einem großen Orchester ist geplant und durch die Zusammenarbeit mit der Festspiel GmbH auch nicht mehr utopisch. Den ersten Teil der Rockoper, „Das Nibelungenlied – Von Betrug, Verrat und Mord“, gibt es bereits auf CD, nächstes Jahr wird der zweite Teil folgen. Auch diese CD ist relativ günstig über das Nibelungen-Museum für 13 Euro zu erwerben: info@nibelungen-museum.de.

Das Festival nannte sich „Coole Sounds für Kriemhild, Hagen & Co.“ und war den Besuch wert. Leider aber waren im Gegensatz zum anderen Rahmenprogramm der Festspiele die beiden Musikfestival-Tage sehr mager besucht, was darauf schließen lässt, dass im nächsten Jahr dieses neue Experiment gestrichen wird. Das wäre sehr schade, denn die Idee war gut und ein Musikfestival ist sicher ein wichtiger Baustein, der einfach noch eine Chance bräuchte, sich zu etablieren. Dass dagegen _Weena_ in einem eigenen Konzert ihre Oper aufführen dürfen, ist mehr als sicher, so umfeiert, wie sie in der lokalen Presse wurden.

_Kikeriki-Theater_

Im dritten Jahr ist dieser Programmpunkt bereits ein durchgehend ausverkaufter Renner während der Festspiele. Das Darmstädter Kikeriki-Theater bot mit „Siegfrieds Nibelungenentzündung“ ein sagenhaftes Blechspektakel um Siggi, Albi und den smarten Lindwurm im Hessen-Dialekt: deftig, heiter und krachig.

_Weiteres Programm_

Nicht nur Nibelungen waren Thema des Rahmenprogramms. Die neue städtische [Literaturinitiative,]http://www.worms.de/deutsch/leben__in__worms/kultur/literaturinitiative-worms__teilnehmer.php der auch |Buchwurm.info|-Schreiber Berthold Röth angehört, trug mit Lesungen bei: _Manfred Krug_ las Bertolt Brecht, _Christian Quadflieg_ las Friedrich Hebbel (immerhin hatte dieser auch das Nibelungen-Festspiel ursprünglich verfasst) und gerne möchte er in einer künftigen Inszenierung einmal den Hagen spielen; _Eva Menasse_ las aus ihrem Debüt-Roman „Vienna“.

Diese Lesungen kosten natürlich Eintritt, aber die_ [Nibelungenlied-Gesellschaft]http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/ _veranstaltete während der gesamten Festspiele morgens um elf Uhr im Historischen Museum kostenlose Vorträge zum Nibelungenthema, die in diesem Jahr den Stoff im Rahmen der europäischen Literaturgeschichte betrachteten. Das Heldenepos ist zweifelsfrei eingebettet in eine europäische Kulturtradition. Das Publikum dafür ist gemischt, es kommen sowohl Wormser als auch Festspielbesucher der Stadt, die sich mit dem Thema näher beschäftigen wollen. Die Vorträge haben wissenschaftlichen Anspruch, sind aber auch für den Laien verständlich gehalten. Im Einzelnen:

„Untergangsszenarien an der Wende zur neuen Zeit – das Nibelungenlied und Hamlet“
„Die Nibelungen in Hebbels Briefen“
„Höfische Heldendichtung im Umfeld des Nibelungenliedes“
„Fantasien von Germanen und Kelten – Fouqués „Held des Nordens“ und Macphersons „Ossian“
„Rüdiger und Dietrich im Nibelungenlied und bei Hebbel“
„Das Nibelungenlied und die Märchen“
„Die Nibelungen als Fantasy-Stoff“ und
„Die Geburt des Rechts aus der Rache – Orestie und Nibelungenlied im Vergleich“.

Normalerweise werden diese Vorträge auch auf die angegebene Website gestellt, jedenfalls findet man dort auch die Vorträge früherer Jahre.

Alles Weitere auch noch en detail aufzuzählen, sprengt den Rahmen dieses Überblicks. Es gab noch mehrere verschiedene Märchenabende mit Harfenbegleitung, Theater-Aktionstage für Kinder und Jugendliche, neben dem Kikeriki-Theater noch weitere neue Kindertheaterstücke um Drachen und Ritter. Da die Festspiele in die Ferienzeit-Programme fallen, gab es darüber hinaus von vielen kleineren Anbietern Thematisches zu Siegfried und den Nibelungen. An weiteren Musikveranstaltungen spielten „Il Cinquecento“ im Dominikanerkloster Musik der Renaissance und „Capella Antiqua Bambergensis“ mittelalterliche Musik. An Ausstellungen zum Nibelungen-Thema gab es gleich vier an verschiedenen Orten: „Siegfriede – Auf der Suche nach Helden unserer Zeit“ (sehr freie, moderne Interpretationen im Kunsthaus und im Historischen Museum), „Bilder zum Nibelungen-Buch im ARUN-Verlag von Linde Gerwin und Nibelungenskulpturen von Jens Nettlich“ (Nibelungen-Museum) – http://www.nibelungenkunst.de/ – und in der Sparkasse eine Bilderreise zu den Schauplätzen des Nibelungenliedes aus dem |dtv|-Buch „Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte“.

Für die Wormser Bevölkerung gibt es eineinhalbstündige Backstage-Vorführungen hinter den Kulissen, die einen Blick auf die Masken, das Anprobieren etc. erlauben und durch das tolle Ambiente mit dem Wormser Dom sowieso sehr außergewöhnlich sind. Die Sakristei des Gotteshauses ist abends sogar plötzlich zur Garderobe umfunktioniert, in welcher hektisch die Bekleidung gewechselt wird. Die kirchlichen Vertreter sind da auch ganz ambivalent, sie erlauben wohlwollend das ganze Spektakel, sind aber auch kritisch, dass ihre christliche Kulisse jährlich zur Todesbühne wird, wo ein Schrecken und Schauer auf den anderen folgt.

Neben den Schauspieler-Talkrunden gab es auch ähnliche kleine Gespräche vor Publikum mit sonstig im Rahmenprogramm Tätigen, wie Christian Quadflieg, der ja seinen persönlichen Hebbel in einer Veranstaltung präsentierte. Ebenso mit Otto Sander, auch einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler („Die Blechtrommel“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“), der über sich und sein Leben sprach, was der SWR live im Radio übertrug.

_Ausblick_

2006 noch nicht, aber 2007 werden die Festspiele eine Woche länger gehen. Das Rahmenprogramm wird noch weiter ausgebaut und qualitativ gesteigert werden. Dieter Wedel will auch während der Festspiele eine Art „Meisterschule“ mit Workshops für Theaternachwuchs aus der Region aufmachen. Dazu wird mit den umgebenden Theatern Kontakt aufgenommen und auch das jeweilige Festspiel-Ensemble eingebunden. 2006 hat auch ein Jugendtheaterprojekt seine Premiere.

An Inszenierungen gibt es in den nächsten beiden Jahren wieder das Stück von Moritz Rinke, das in den ersten beiden Festspieljahren aufgeführt wurde. Mit diesem hatten die Wormser Festspiele 2002 begonnen und es war erstmals wieder eine ganz neue Fassung der Nibelungen. Dies wird nun aber in der Länge stark erweitert, so dass 2006 der erste Teil zur Aufführung kommt und erst 2007 der zweite Teil folgt. Regie wird dann auch wieder Dieter Wedel selbst führen. Die Besetzung des Ensembles soll zur Auflockerung allerdings eine völlig andere sein. Otto Sander ist als Hagen im Gespräch, aber Manfred Zapatka ist gigantisch und schwer ersetzbar. Bleiben werden wohl Maria Schrader als Kriemhild und Götz Schubert als Siegfried. Ein Schauspieler-Team von der Güte des jetzigen Ensembles zusammenzustellen, ist ein großes Problem. Auch soll die Besetzung viel größer sein als dieses Jahr.

Für die Zeit danach denkt man an ein Nibelungen-Musical, die „Nibelungen“ zumindest mit großer Musikbegleitung, wenn nicht sogar an eine Rock-Oper. Selbstverständlich würde für die Rolle des Siegfried dann ein bekannter Rocksänger verpflichtet. Im Ideenspektrum Wedels für das Rahmenprogramm ist auch „Das Leben des Siegfried“ – eine Collage aus Pantomime, Liedern und Szenen, ausschließlich auf Siegfried bezogen, comicstripartig. Nicht umsonst erinnert der Arbeitstitel an Monty Python`s satirischen Filmklassiker „Das Leben des Brian“. Götz Schubert schlägt im Beiprogramm ein Kammerstück vor, in dem geschildert wird, was in den sieben Ehejahren zwischen Kriemhild und Siegfried passiert – „Szenen einer Nibelungenehe“. Oder auch, welche Verbindungen zwischen Siegfried und Brunhild bestehen, schon vor ihrem Zusammentreffen, bei dem sie von den Burgundern getäuscht wird. Die Möglichkeiten für zusätzliche Geschichten in der eigentlichen Sage sind endlos. Das Hebbel-Stück als Inszenierung ist für die nächsten Jahre jedenfalls zu den Akten gelegt.

Leben lieben

Ein Kapitel aus Max Köhlers neuem unveröffentlichtem Roman „Leben lieben“.

Max Köhler wurde 1942 in Pilsen als Sohn eines deutsch-böhmischen Kaufmanns und einer südfranzösischen Kaufmannstochter geboren. Er studierte Malerei und arbeitete als Fotoreporter und Textredakteur bei Tageszeitungen. Seit 1988 lebt er als freier Maler in Schutterwald bei Straßburg.

http://www.koehler-max.de/

_Gott steh uns bei: ein Heimatmaler_

Professor Subers jüngster Bruder Fritz (auch schon vierundfünfzig Jahre alt) war Maler, genauer gesagt „Heimatmaler“. So wurde er jedenfalls in der Schlossenhausener Lokalzeitung genannt. Überflüssig zu sagen, dass der Professor ihn aus ganzem Herzen verachtete, weil er nicht die Kraft hatte, in einem bürgerlichen Beruf zu arbeiten.

Fritz war anfangs nicht sehr glücklich über den Begriff Heimatmaler, den ihm die Lokalzeitung übergestülpt hatte, fand sich aber später damit ab. Gegen Ende seines Lebens trug er ihn gar als Ehrentitel. Da der Zeitgeist alles verächtlich machte, was mit dem Begriff „Heimat“ zusammenhing, fühlte er sich verpflichtet, für die Heimat einzutreten. Er tat das nicht etwa, weil er seine Heimat liebte, ganz im Gegenteil, sie war ihm oft genug zuwider, aber er musste sich aus irgendeinem verqueren Oppositionszwang für alles einsetzen, wogegen die anderen waren, ohne zu begreifen, weshalb sie dagegen waren und er dafür. Fritz war etwas wirr im Kopf und, gelinde gesagt, sehr verträumt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, am allerwenigsten auf seine Bilder. Merkwürdigerweise schadete das seinen Werken nicht. Sie wirkten pointilistisch. Vermutlich war jeder Point einer seiner Konzentrationshöhepunkte.

Er war groß und hatte eine merkwürdige Art zu gehen: Sein Oberkörper blieb dabei relativ ruhig, aber krumm wie ein Fragezeichen, während er die Beine nach vorne warf, fast von sich schleuderte und sein müder verbogener Oberkörper sie ganz behutsam wieder einholte, als ob er mit seinen Beinen eine Pflicht vorgab und sein Körper keine Lust hätte, sie zu erfüllen, es dann aber doch tat, provozierend langsam wie ein renitenter Internatsschüler. Wiegend und schaukelnd eierte unser Mann vorwärts: ein arrogantes Dromedar, das seine Beine losschickte und den höckrigen Oberkörper in die kulturelle Wüste einer mittelbadischen Kleinstadt nachschleifte.

Seine ganze Körpersprache sagte: Lasst mich bloß in Ruhe, ihr seht doch, dass ich schon genug Mühe habe, mich zu bewegen, warum sollte ich also noch etwas tun, wozu ich ganz gewiss nicht in der Lage bin, denn so ungeschickt, wie ich mich bewege, erledige ich auch alles andere, verschont mich mit euren Bitten um dieses und jenes, ich schaffe es nicht.

Und tatsächlich war ihm fast alles im Leben öde Pflicht. Er konnte nicht unterscheiden zwischen Freizeit, Sport, Arbeit oder Vergnügen, ihm war alles gleich zuwider, aber er sah ein, dass er nicht den ganzen Tag im Bett liegen und lesen konnte, obwohl er dies am liebsten tat, und er sich nur von Rückenschmerzen hinlänglich aufgefordert sah, seine Liegestatt zu verlassen. Lesen im Bett war seine einzige Leidenschaft. Anfangs waren es gute Bücher gewesen, denn er hatte keinen schlechten Geschmack, was man bei diesem trägen Mann eigentlich nicht vermutetet hätte, denn auch eine so scheinbare Kleinigkeit wie ein guter Geschmack verlangt eine gewisse Anstrengung, nämlich ihn zu erwerben, aber Fritz war hier ein Naturtalent, er las von Anfang an und ohne dass ihm das einer empfohlen hätte, nur gut geschriebene Bücher. War er einmal durch Unaufmerksamkeit, Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit an ein schlechtes geraten, war er in der Regel nicht über die erste Seite hinausgekommen.

Jawohl, Weltliteratur las er, wie er sich stolz immer wieder selbst vorsagte, denn es war ja niemand da, den er darüber hätte aufklären können, weil auch das weibliche Geschlecht ihn mied wie selbstverständlich die Männer, die mit einem Geschlechtsgenossen nichts anfangen konnten, der sein halbes Leben verschlief, verlag oder verlas.

Nur gute Bücher zu lesen, hat jedoch den Nachteil, dass einem irgendwann der Stoff ausgeht, weil es nicht unendlich viel davon gibt, und so sank Fritz nach einigen Jahren Weltliteratur eine Stufe tiefer und fing an, Tageszeitungen zu lesen, weil es davon jeden Tag Nachschub gab. Er las selbstverständlich nur die besten Zeitungen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Süddeutsche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Gerade die Zürcher Zeitung machte ihm viel Freude, weil die Schweizer Wörter verwendeten, die es im Deutschen nicht gab.

Fritz amüsierte sich eine Weile mit dem Spiel, die Tendenz eines objektiven Artikels zu erraten, aber eines Tages wurde ihm dies zu langweilig und er fing an, die Lokalzeitung von Schlossenhausen zu lesen. Spätestens hier hätte er sich eingestehen müssen, dass er süchtig nach Lesestoff war, denn las einer die Heimatzeitung, der bei klarem Verstand war? Einmal wurde die Lokalzeitung aus irgendeinem Grunde nicht geliefert und er machte sich mit schweren Entzugserscheinungen über die Gebrauchsanweisung seiner neuen Kaffeemaschine her. Er las sie von sieben Uhr morgens bis etwa zwei Uhr nachmittags und danach hätte er schwören können, dass er immer noch nichts verstanden hatte.

Von einer gewissen Unruhe getrieben, wachte er jede Nacht gegen zwei Uhr auf und wartete von da an auf das Lokalblatt, das gegen vier Uhr vierundzwanzig eintraf. Er las es dann langsam, damit er möglichst viel davon hatte, angefangen von der Nachricht, dass sich die dritte Riege des Turnvereins im „Grünen Baum“ traf, bis hin zu den Sprechstunden des Oberbürgermeisters am Donnerstagabend um acht. Er verglich das Gelesene von Zeit zu Zeit mit seiner Weltsicht, die er sich als Kind durch die Lektüre der „Micky-Maus“-Hefte erworben hatte, und fasste die Diskrepanz in unnachahmlichen Aphorismen zusammen, die ihm bei schlichteren Gemütern den Ruf einbrachten, „durchzublicken“, bei den Kassiererinnen in seinem Supermarkt dagegen Unwillen hervorriefen, weil er sie zu oft wiederholte, ohne sie zu aktualisieren.

Nachdem er alles gelesen hatte, was man in Entenhausen lesen konnte, und ihm der geringe Nutzen einer aus dem Chinesischen übersetzten Gebrauchsanweisung für Kaffeemaschinen klar geworden war, sah er sich nach neuen Gewohnheiten um und stieß dabei auf den Historischen Verein. Er besuchte eine Zusammenkunft des Ausschusses für Vorgeschichte. Hier dominierte ein älterer Herr, der keinen Satz grammatikalisch richtig zu Ende bringen konnte, was auf die Dauer doch ein wenig störte, weil man gezwungen war, zu erraten, was er meinte. Das brachte zwar eine gewisse Würze hinein, weil alle versuchten, zu erraten, was der Vorsitzende gesagt hatte, aber auf die Dauer war es doch ein wenig ermüdend.

So erriet der Ausschuss für Vorgeschichte eines Tages, dass der Vorsitzende meinte, steinzeitliche Opferstätten entdeckt zu haben, weil er Vertiefungen auf großen Felsblöcken im Schwarzwald gefunden hatte, die er für Blutrinnen hielt. Andere Historiker außerhalb des Ausschusses erklärten zwar, das seien Regenrinnen, aber der Ausschuss fand Blutrinnen einfach spannender und einigte sich mit seinem Vorsitzenden auf Blutschalen. Wer geopfert hatte, wurde nicht ganz klar, vielleicht die Kelten, aber wahrscheinlich waren es doch Steinzeitleute. Was sie geopfert hatten, wurde in langen Sitzungen beschlossen, man tendierte zu Tieropfern, ohne Menschenopfer ganz auszuschließen, aber Tieropfer waren deshalb besser, weil es sich möglicherweise bei den Opferpriestern um Vorfahren des Ausschusses für Vorgeschichte gehandelt hatte und keiner rituelle Mörder zu Verwandten haben wollte.

Manche Leute in Schlossenhausen fragten sich natürlich, womit Fritz seinen Lebensunterhalt verdiente. Solche Fragen waren ihm peinlich. Er wollte nicht zugeben, dass er die meiste Zeit des Tages nur im Bett lag und las und so erfand er die Mär vom Kunstmaler, der wenig malte, weil er viel nachdachte. Er wollte niemanden erzählen, dass er von einer sektenbesessenen Tante mit einem undurchsichtigen Vorleben einige hunderttausend Euro geerbt hatte und nicht die geringste Lust verspürte, etwas Vernünftiges zu arbeiten. Das hätte im sozialistischen Schlossenhausen böses Blut gemacht. Weil ihn aber die Leute immer unverschämter nach seiner Malerei fragten, krakelte er ein paar Bilder auf Leinwand und bastelte sich eine Theorie dazu, denn man musste als Maler eine Theorie haben, so etwas wie eine Sendung oder zumindest eine Botschaft, sonst wurde man bei den Verantwortlichen der städtischen Galerie nicht ernst genommen und hatte auch im Künstlerverein einen schweren Stand; ja, man bekam nicht einmal einen Ausweis als Künstler, mit dem man Pinsel zum halben Preis kaufen konnte.

Schlau wie Fritz nun einmal war – denn die Bequemen sind auch schlau, vermutlich, weil sie ständig darüber nachdenken müssen, wie man Beschäftigung vermeidet – erfand er die Theorie, dass man als Maler keine Theorie brauchte, sondern einfach nur das malen sollte, was einem auffiel und das dann möglichst so, dass man es wiedererkennen konnte.

Natürlich ging ein Aufschrei durch die lokale Malszene. Fritz wurde auf der Stelle geächtet und war fortan kein denkender Maler mehr, sondern ein geistig beschränkter Kunsthandwerker. Die Schwierigkeiten mit der städtischen Galerie nahmen zu, was ihn aber nicht weiter störte, denn so konnte er endgültig im Bett bleiben, weil sich keiner um ihn kümmerte, mögliche Kunden mit eingeschlossen.

Aus Langeweile brach er aber eines Tages dann doch eine heftige Auseinandersetzung mit der Leiterin der Galerie vom Zaun, einer promovierten Kunsthistorikerin, die auf der Höhe der Zeit war und Fritz deshalb als parasitäres Subjekt betrachtete. Nicht etwa, weil er im Bett lag und dort nichts tat, sondern weil er ein Mann war und malte. Es gab doch so viele unterdrückte Frauen, die auch malten. Und viel besser malten als Fritz, zeitgemäßer, minimalistischer oder gestischer. Fritz war nicht nur ein parasitärer Maler, sondern malte auch noch nach Ansicht seiner Kolleginnen (die meisten waren Hausfrauen oder Lehrerinnen) viel zu hausbacken und kundenfreundlich. Sein schlimmster Fehler aber war, dass er gut malte. Das war auf keinen Fall zu tolerieren. Musste man nicht als moderner Maler auf Konventionen pfeifen? Wer ließ sich heute noch in das Gefängnis einer guten Malerei einsperren? Mit dem Gegenteil mochte Fritz aber nicht dienen, und so versank er erleichtert, weil keine Nachfrage nach seinen Bildern herrschte, wieder in die Bettkissen, rechts die „Frankfurter Allgemeine“, links Musils „Drei Frauen“ und auf dem Nachttisch Sartres „Wörter“, wovon ihm besonders die ersten drei Seiten gefielen, auf denen der Philosoph seinen Verwandtschaftsgrad zu Albert Schweitzer beschrieb. Fritz Suber hatte das allerdings schon mindestens ein Dutzend mal gelesen, was die Brillanz dieser zweiundsiebzig Zeilen doch ein wenig milderte.

Die Kunsthistorikerin war vom Oberbürgermeister eingestellt worden, weil dieser von der Vision geplagt wurde, eine Stadt von der Bedeutung Schlossenhausens müsse ein Kunstleben haben, um leitende Angestellte und Fabrikanten herzulocken. Sein Plan sah so aus: Ist Kunst da, kommen auch leitende Angestellte. Fehlt Kunst, bleibt diese wichtige Oberschicht weg und die Stadt versinkt in Dumpfheit, ganz abgesehen davon, dass er dann zu wenig Gewerbesteuer einnahm und das Rathaus nicht umbauen konnte.

Nun mochten zwar die Dumpfen in der Stadt die leitenden Angestellten nicht, weil diese in der Regel aus Norddeutschland kamen, und Norddeutsche spätestens seit Luthers Sprachgewohnheiten und dem daraus resultierenden Dreißigjährigen Krieg in Süddeutschland etwa so gern gesehen waren wie Vegetarier in einer Metzgerei.

Aber der Oberbürgermeister verstand nichts von Kunst, weil sein Vater Bote bei der Ortskrankenkasse gewesen war und einen harten Kampf um seine Existenz hatte führen müssen. Deshalb hatte er seinen Sohn auch nicht an die Kunst heranführen können. Nur der Kalender der Krankenkasse hatte im Elternhaus des Oberbürgermeisters an Malerei erinnert. Deshalb wusste der Oberbürgermeister nicht, dass ein kunsthistorisches Studium zur Beurteilung von neuen Kunstentwicklungen wenig taugt, weil ein Kunsthistoriker nur rückwärts blicken kann, wie schon der Name sagt. Das löste natürlich das Dilemma nicht: denn wen sollte er sonst die lokale und internationale Kunstszene beobachten lassen? Er kam einfach nicht auf die Idee, jemanden zu beauftragen, der etwas Geschmack hatte, denn das Beamtengesetz verlangte für eine höhere Stelle ein abgeschlossenes Studium. Es war klar, dass man guten Geschmack nicht einfach studieren konnte, noch dazu, wenn die Professoren auch keinen guten Geschmack gehabt hatten. Außerdem: Wie hätte wohl der Oberbürgermeister jemanden mit gutem Geschmack erkennen können? Da er selbst keinen hatte, konnte er auch nicht sehen, wenn jemand ihn hatte. Und wieso einer Oberbürgermeister werden konnte, der keinen Geschmack und kein Urteil besaß, führte Suber zu tiefgreifenden Überlegungen, an deren Ende die entautorisierten Eliten nach dem verlorenen Kriege standen.

Fritz schien es, als ob eine sich fortpflanzende Fernwirkung des verlorenen Krieges unsere Nation zur Mittelmäßigkeit zwingen würde. Unsere neuen Eliten wollten, so sah es Fritz, nach dem Kriege um keinen Preis der Welt mehr auffallen; nach all den „Auffälligkeiten“ des von uns angezettelten und verlorenen Weltkrieges sicher kein ganz unverständlicher Wunsch. Da unsere neuen Eliten keine Philosophen gewesen seien und auch keine Zeit zum Nachdenken gehabt hätten, seien sie auf den Gedanken gekommen, einfach das Gegenteil von dem zu tun, was die Nationalsozialisten getan hätten. Das aber hätte in eine Sackgasse geführt, weil nicht alles falsch gewesen sei, was die Braunen gesagt oder getan hatten. Wenn beispielsweise ein Nationalsozialist gemeint habe, ein Reh sei braun, könne es nach dem Krieg nicht automatisch grün werden, weil wir den Krieg verloren haben.

Hans Thoma konnte nicht deswegen zum schlechten Maler werden, weil nach dem Krieg alles anders war. Wenn man Thoma verachtete, weil die Nazis ihn verehrt hatten, beging man doch, so schien es Fritz, genau denselben Fehler wie die Nazis, die seine Malerei zur Staatskunst erhoben hatten: Nach dem Krieg gehörte es zur politischen Korrektheit in Westdeutschland, über den Heimatmaler Thoma milde zu lächeln, als habe er es nicht besser gekonnt, weil er eben ein schlichter Junge aus dem Hotzenwald gewesen sei. Keinesfalls war es erlaubt, so zu malen wie er, sonst wurde man vom Kunstbetrieb geschnitten. Das sah dem Mal- und Ausstellungsverbot der Nazis ziemlich ähnlich. Eigentlich war es nur die andere Seite derselben Medaille: „Kunst wird von Staats wegen verordnet – wer anders denkt, wird ausgegrenzt“. Man musste dankbar sein, dass man nicht in ein Arbeitslager kam, wenn man wie Thoma malte. Doch eigentlich landete man ja im Arbeitslager. Da niemand die Bilder kaufte, die im Stil von Thoma gefertigt waren, weil sie politisch unkorrekt waren, musste man letztendlich arbeiten gehen und sich um eine Stelle als ungelernter Arbeiter bemühen, da man ja nichts anderes gelernt hatte als zu malen wie Thoma. Da auf den Akademien nicht gelehrt wurde, zu malen wie Thoma, hatte man es sich wie ein dissidierender Ostblockmaler selbst beibringen müssen. Wagte man sich mit diesen Bildern an die Öffentlichkeit, wurde man zwar nicht verhaftet, aber gnadenlos ausgepfiffen. Man geriet sozusagen in die Sippenhaft des Ausgepfiffen- und Verachtetwerdens. In einem Konzentrationslager hätte man wenigstens Gleichgesinnte neben sich gehabt. Als Thoma-Nachfolger hingegen blieb einem in Westdeutschland nach dem Krieg nur die Einzelhaft der Einsamkeit.

Angefangen hatte dieses geistige Zwangskorsett mit der Gesinnungs-Schnüffelei der Entnazifizierungsbehörden, die einfach die Gesinnungs-Schnüffelei der Nazis kopierten, nur anders herum. Wer blond und blauäugig war, tat fortan gut daran, sich umzufärben, wer den Heimatmaler Hans Thoma liebte, hielt am besten den Mund.

Fritz hätte es übrigens gerne gesehen, wenn sich Ministerialbeamte oder Feuilletonisten wie Enzensberger um diese Fragen gekümmert hätten. Dass sie dazu beharrlich schwiegen, das Problem nicht aufgriffen, ja es anscheinend gar nicht erkannten (sonst hätten sie sich ja dazu geäußert, und man hätte davon gehört), ärgerte ihn maßlos.

Man ist erstaunt, dass sich ein so träger Mann wie Fritz überhaupt ärgern konnte. Ärgern verlangt doch auch einen gewissen Einsatz. Aber er konnte sich über vieles ärgern. Das steigerte sich, weil er ja mit niemanden reden konnte, zu regelrechten Wutanfällen. Sprach er dennoch einmal mit einer Zufallsbekanntschaft, hörte er nicht zu, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. So konnte es passieren, dass er mitten in einem harmlosen Gespräch plötzlich einen Wutanfall bekam, der seine Gesprächspartner erschreckte, weil sie nicht begriffen, wie er zustande gekommen war, jedenfalls nur schwer auf die gegenwärtige Situation bezogen werden konnte.

Man könnte nun auch vollkommen berechtigterweise fragen, was Fritz die Eliten nach dem Kriege angingen, er war ja weder Ministerialbeamter noch Dichter. Aber wir müssen einfach feststellen, dass er sich diese Gedanken machte. Er hatte die Angewohnheit, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen und andererseits Themen zu vernachlässigen, die eindeutig seine Sache waren, wie etwa die, höflich zu sein und sich um seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das war ja gerade der Ärger, den er in Schlossenhausen verursachte. Er fühlte sich für Dinge zuständig, für die er nicht zuständig war.

Den Oberbürgermeister und den Kulturamtsleiter von Schlossenhausen fesselte zu der Zeit, als die Frage auftauchte, was eigentlich Kunst in Schlossenhausen sei, noch ein anderes Problem, nämlich die Frage, woher sie selbst kamen. Der Oberbürgermeister wollte seinen Vater vergessen machen, weswegen er immer viel zu elegante Kleidung trug, die er für vornehm hielt, aber natürlich gerade damit auf seine bescheidene Herkunft aufmerksam machte, und der andere prahlte ständig mit seinen Ahnen, weil er wusste, dass ihm etwas fehlte, er wusste nur nicht, was es war, aber er ahnte, dass es mit seiner Herkunft zusammenhing. Jedem zufälligen Gesprächspartner erläuterte er, dass er von Luthers Schwiegervater abstamme, was ihm zwar niemand so recht glauben wollte, aber bei Aufsteigern einen großen Eindruck hinterließ, weil es sich so schwer nachprüfen ließ. Wie um alles in der Welt prüfte man nach, ob man von Luthers Schwiegervater abstammte? Kein Wunder, dass Genealogen und Wappenmacher in Schlossenhausen unerwartet Aufträge bekamen, die sie selbstverständlich zur Zufriedenheit der Auftraggeber ausführten.

Irgendwie muss der Kulturamtsleiter aber doch Angst vor ernsthaften Recherchen bekommen haben, denn nach einigen Jahren wandelte er die Geschichte von seiner Herkunft etwas ab. Sie hörte sich dann so an: Meine Vorfahren waren ausnahmslos Pfarrer. Pause. Selbstverständlich nur bis zur Reformation. Hahahaha. Diesen Sketch führte er ungefähr dreimal am Tag auf und hielt sich dabei für zurückhaltend, weil er auf die ständige Erwähnung seines Onkels verzichtete, der Bischof gewesen war und angeblich Hitler dreimal energisch widersprochen hatte.

Die Leiterin der Städtischen Galerie lobte auf Wunsch des Oberbürgermeisters einen Kunstwettbewerb aus, bei dem sie von vorneherein wusste, wer ihn gewinnen würde, nämlich Gerda Breuer, die Freundin der Frau des Oberbürgermeisters, jene schüchtern-zurückhaltende Malerin, die so breiig ausufernd malte und dabei alle Konventionen, die vor 1945 gegolten hatten, missachtete. Um auch sicherzustellen, dass Gerda den Wettbewerb gewann, stellte Kocher-Meier eine Jury zusammen, die aus dem ehemaligen Professor und einer Studienkollegin von Gerda bestand, ganz abgesehen davon, dass der Oberbürgermeister selbstverständlich auch für Breuer war, weil er ein paar Bilder von ihr erworben hatte. Er hatte sie nicht etwa gekauft, weil seine Frau die Freundin von Gerda war, nein, so weit ging sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Frau nicht, begabte Persönlichkeiten an sich zu binden, sondern weil sein Freund, der Textilunternehmer Reser, es ihm geraten hatte.

Reser verstand zwar auch nichts von Bildern, aber er hatte als Unternehmer Glück gehabt und wollte dieses Glück nun irgendwie „weitergeben“, wie er sich ständig im „Schlossenhausener Tageblatt“ ausdrückte, und dabei von wechselnden, aber immer wohlmeinenden Reportern mit den entsprechenden Fragen versorgt wurde („Sie tun ja unheimlich viel für die Kunst. Weshalb tun Sie das? Das müssten Sie doch eigentlich als erfolgreicher Unternehmer gar nicht“). Gleichzeitig wollte Reser natürlich beweisen, dass er ein vornehmer Mensch war, was sich aus seiner Tätigkeit nicht ohne Weiteres ergab, denn er sammelte in großem Stil alte Lumpen ein und ließ sie in riesigen Werken zu neuen Textilien verarbeiten. Eigentlich hätte das den Grünen in der Stadt gefallen müssen, aber ein Grüner ist auch ein Querdenker, deshalb monierten sie, dass Reser bei diesem Recycling Chemikalien verwandte. Vermutlich hätte er sich abends in eine Spinnstube setzen müssen, um aus seinen alten Lumpen neue Fäden zu ziehen. Es war schwer in Schlossenhausen, den Grünen zu gefallen. Manche versuchten es deshalb erst gar nicht. Irgendwie hatte man bei den Grünen immer das Gefühl, dass sie etwas anderes meinten, als sie beklagten. Etwa so, wie man zum Friseur geht, wenn man Krach mit seinem Vorgesetzten hat.

Reser war entzückt von Gerda. War sie nicht im besten Alter und wunderhübsch? Und so scheu! Und sie malte! Gegen die Konventionen, wie es nach dem Krieg der Brauch war! Hatte er nicht zufällig eine Menge Bilder von ihr? War sie nicht die Kunstlehrerin seiner Kinder? Gab sie ihnen nicht wunderbare Noten? Konnte sie nicht einen Kunstpreis vertragen? Würde das nicht ihren Marktwert steigern? Hatte man als erfolgreicher Unternehmer nicht die Macht und die Freude, einen Preis zu vergeben? Wozu war man schließlich mit dem Oberbürgermeister befreundet und Präsident der Industriekammer? Was ergab das alles für einen Sinn, wenn man nicht Freude daraus zog, oder, wie es Reser ausdrückte, seine geschenkte Freude an andere weitergab?

Außerdem war Gerda in derselben Partei wie der Oberbürgermeister. Da es sich um eine sozialistische Partei handelte, war ein Kampfbund gegen die konservative Reaktion unvermeidlich. Man würde es den bürgerlichen Privilegierten schon zeigen, darin waren sich alle einig, die schlecht erzogene Eltern gehabt hatten. Hatte der Vater des Oberbürgermeisters nicht auch unter den Großkapitalisten oder zumindest unter deren bösen Strukturen gelitten? Hatten diese Kapitalisten ihn nicht unterdrückt und auf Botengänge geschickt, so dass er nie die Möglichkeit hatte, Leiter der AOK-Nebenstelle Rammersweier zu werden? Obwohl er weiß Gott das Zeug dazu hatte?

Aber er, der Oberbürgermeister, hatte sich mit eisernem Fleiß aus seiner Misere des Kunstunverständnisses und schlechten Benehmens herausgearbeitet. Eiserner Fleiß, das war das Zauberwort, mit dem er es diesen Typen wie Fritz Suber, dem Maler, schon zeigen würde. Was tat Suber eigentlich den lieben langen Tag außer spinnen? Wovon lebte er? Er hatte ihm noch keine Bilder abgekauft. Tat das überhaupt jemand? Verdammter Schnösel! Tat nichts, hatte nichts, aber riss das Maul auf! Er selbst hatte sich alles erarbeitet, zwar nicht mit seinen eigenen beiden Händen, aber mit seinen eigenen beiden Gehirnhälften! Und der? Tat nichts und legte sich mit einer promovierten, fleißigen und anstelligen Kunsthistorikerin an, die er, der Oberbürgermeister, eingestellt hatte! War das nicht so etwas ähnliches wie Beleidigung? Beleidigung eines Oberbürgermeisters? Er vertrat schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch die Bevölkerung, den Souverän.

Irgendwie musste man diesem Kerl beikommen. Man könnte einfach die Zeit für sich arbeiten lassen. Irgendwann würde ihm schon die Puste ausgehen. Und wenn er Geld hatte, konnte das ja auch nicht ewig reichen. Irgendwann ging auch das größte Vermögen zu Ende. Oh, genähtes Elend! Warum hatte sein Vater kein Vermögen zusammengerafft, dann hätte er es nicht jetzt tun müssen. Obwohl ihm als Oberbürgermeister die Hände gebunden waren. Vielleicht könnte Reser? Vielleicht könnte man …

Mit der gespielten Munterkeit, wie sie Leute zuweilen an sich haben, die ihren Beruf hassen, rief Oberbürgermeister Vetter in die Telefonmuschel: „Doris, Schätzchen, könntest du mir Hans geben?“ Er legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Reser war der Richtige: Mit ihm könnte er so eine Sache durchziehen.

„Hans, du alter Drecksack, was machst du heute Abend?“
„Keine Ahnung“, sagte Reser, „vermutlich muss ich zuhause bleiben, weil ich die letzten drei Tage Termine hatte.“
„Komm doch mit deiner Frau zu uns.“
„Kann ich machen, warte mal, ich schau nur eben in den Terminkalender.“
„Brauchst gar nicht zu schauen“, frotzelte der Bürgermeister, „du hast schon einen Termin bei mir.“
„Stehen nur die Lions drin.“
„Die kannst du schwänzen. Da müsste ich auch hin.“
„Okay.“
„So um acht.“
„Gut.“
„Bis dann.“

Vetter legte auf. Seine Sekretärin stürzte herein. „Sie müssen heute Abend zur Bürgervereinigung Nord-West!“
„Nee“, sagte der Oberbürgermeister.
„Sie haben es fest versprochen“, jammerte Doris, „und ich auch, mindestens dreimal hat Kindler angerufen, ob es auch klappt“.
„Kann nix dafür.“

Vetter hob in gespieltem Bedauern die sorgfältig manikürten Finger, spreizte sie geziert und fuhr sich mit ihnen betont theatralisch durchs gefärbte Haar, wobei er den Kopf affektiert zurückwarf. Er fand es ab und zu lustig, den Neurotiker zu geben, aber Doris war heute nicht nach Lachen zumute; sie hatte diese Szene auch schon zu oft gesehen, um beeindruckt zu sein. Sie gehörte zu seinem Standartrepertoire. Außerdem fand sie, dass sich Neurotiker anders benehmen, nämlich so, wie sich der Oberbürgermeister benahm, wenn er normal war.

„Reser kommt. Er hat nur heute Zeit.“ Vetter fragte sich, wie viel sie mitgehört hatte. Nur den Anfang oder alles? Eigentlich war es ihm egal. Politik ist Politik. Das musste sie langsam wissen, dass hier Notlügen benötigt wurden.
Doris hatte das ganze Gespräch mitgehört. Sie wusste schon seit langem, dass der Oberbürgermeister log. Es machte ihr nichts mehr aus. Am Anfang hatte es sie gestört, wenn er sie mit seinem jungenhaften Lächeln anschwindelte. Heute nahm sie das mit dem selben Gleichmut hin, wie sie das Wetter hinnahm. Sie wollte auch nicht ewig seine Sekretärin bleiben. Sie hatte eine schöne Stimme, die vielleicht eine Kleinigkeit zu dünn geraten war, und sie wollte mehr Zeit mit Singen verbringen, vielleicht sogar Berufssängerin werden. Sie hatte schon eine CD aufgenommen und tingelte an Wochenenden mit lokalen Kapellen über die Dörfer. Das machte ihr viel Freude. Eigentlich lebte sie nur dafür. Der Oberbürgermeister mit seinen Terminen konnte ihr gestohlen bleiben. Irgendwie spürte er das auch. Er hatte deshalb schon seine Fühler nach Ersatz ausgestreckt, damit Doris ihn nicht mit ihrer Kündigung überraschen konnte. Denn „The Games must go on“, wie er ständig witzelte.

Doris sammelte ein paar Notizen auf dem Schreibtisch ein, überhörte die beleidigende Bemerkung Vetters („Was macht das Gezirpe, Inge?“) und ging in das Vorzimmer. Aus diesen dürren Notizen musste sie formvollendete und höfliche Briefe machen. Vetter überließ ihr viel, sogar die Formulierungen. Doris rief den Vorsitzenden der Bürgergemeinschaft Nord-West an.

„Es tut mir leid, Herr Kindler, aber der OB kann heute leider nicht kommen. Das Ministerium hat angerufen. Er muss nach Stuttgart.“
„Er hat es doch so fest versprochen“, jammerte Kindler. „Viele werden nur wegen ihm kommen. Was soll ich denen sagen?“
„Sagen Sie die Wahrheit“, grinste Doris.

Kindler schwor sich, am Abend beim OB vorbeizufahren und in seine Garage zu schauen, ob der grüne Mercedes drinnen geparkt war. Aber gleich darauf wusste er, dass er es nicht tun würde. Aber einmal würde er den Bürgermeister beim Lügen erwischen und es weitererzählen, darauf konnte sich dieser Gockel verlassen. Kindler ahnte nicht, dass die meisten in Schlossenhausen schon wussten, dass der Oberbürgermeister log. Meistens waren es nur höfliche Notlügen gewesen, aber in letzter Zeit dehnte der OB diese Notlügen ein bisschen arg weit aus. Kindler dachte an seinen Onkel, den Friseur, der dem Bürgermeister die Haare färbte. Ein Mann, der sich die Haare färbt, ist irgendwo auch ein Gauner, brummelte Kindler in sein fliehendes Kinn und machte sich auf den Weg in den Festsaal, wo er seinen Mitgliedern erklären würde, dass der Oberbürgermeister ein Arschloch sei und deshalb nicht kommen könne. An ihm blieb immer alles hängen.

|Das verwendete Bild stammt von Max Köhler.|©

Interview mit Per Helge Sørensen

|Per Helge Sorensen ist Spezialist für Internetsicherheit und Kryptographie. Mit [„Intrigenspiel“ 1590 hat Lübbe seinen zweiten Roman in die deutschen Buchläden gebracht, der komplexer ist als sein Vorgänger „Mailstorm“, aber erneut faszinierende Blickwinkel auf die Abgründe der Multi-Media-Gesellschaft eröffnet. Grund genug, um einige neugierige Fragen nach Dänemark zu schicken:|

_Alf Stiegler:_
Wie lange hast du an „Intrigenspiel“ gearbeitet und was war der schwierigste Teil seiner Entstehung?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe an dem Roman volle eineinhalb Jahre gearbeitet. Der schwierigste Teil war definitiv der Anfang. Ich musste den ersten Abschnitt mehrere Male neu schreiben, um die richtige Energie in die ersten Kapitel zu bekommen. Außerdem hatten die ersten fünf Kapitel ursprünglich 120 Seiten. Ich habe sie auf nur 70 Seiten heruntergekürzt.

_Alf Stiegler:_
Wie würdest du die Entwicklung beschreiben, die du von „Mailstorm“ bis zum aktuellen „Intrigenspiel“ durchlaufen hast?

_Per Helge Sørensen:_
Mailstorm ist ein recht traditioneller Thriller – trotz der Handlungsplattform Internet. Irgendjemand wird auf Seite sieben umgebracht und die Hauptfigur hat herauszufinden, warum. Verglichen dazu ist „Intrigenspiel“ ein viel komplexerer Roman. Es gibt keinen Mord, der den Plot vorantreibt. Und die Story ist aus vier verschiedenen Perspektiven heraus erzählt. Außerdem hat sich die Sprache verändert: von der traditionellen, kompakten Thrillersprache in „Mailstorm“ zur ausgefeilter satirischen Sprache in „Intrigenspiel“.

_Alf Stiegler:_
Sind deine Storys schon fertig konstruiert, wenn du zu schreiben beginnst? Oder ziehst du es vor loszuschreiben, um dann zu sehen, wohin dich die Geschichte führt?

_Per Helge Sørensen:_
In Mailstorm kannte ich den kompletten Plot, als ich zu schreiben begann, in „Intrigenspiel“ waren es stattdessen anfangs etwa 2/3 der Handlung. Ich hatte keine Vorstellung, wie die Geschichte enden würde. Sollte Herman verhaftet werden? Sollte er verurteilt werden? Ich war darüber wirklich ein wenig beunruhigt, aber als ich den Punkt erreicht hatte, wo nichts mehr geplant war, hatte ich keine Probleme damit. Das letzte Drittel der Story hat sich praktisch von selbst geschrieben.

_Alf Stiegler:_
Bist du als Autor eher ein „einsamer Wolf“ oder engagierst du dich in deiner lokalen Literatur-Szene?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin eingebunden in die lokale Autorengemeinschaft. Tatsächlich war ich ein Jahr Vorsitzender der dänischen Autorengemeinschaft (von 2004 bis 2005). Aber diese Arbeit betrifft hauptsächlich politische Themen: Vertragsverhandlungen mit Verlegern, Entschädigungen von öffentlichen Bibliotheken an Autoren usw. Was mein Schreiben betrifft, bin ich allerdings ein „einsamer Wolf“.

_Alf Stiegler:_
Wie bist du überhaupt mit Literatur und dem Schreiben in Berührung gekommen?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe 1998 für das dänische Ministerium gearbeitet, Internet- und Sicherheitsfragen betreffend. Irgendwann war ich einfach überarbeitet und musste verschwinden. Also habe ich mir ein Flugzeugticket gekauft, um mich in Kuba für sechs Monate zu entspannen. Dort dachte ich mir dann, dass es durchaus den Versuch wert wäre, über manche der Themen einen Roman zu schreiben, die ich im Ministerium bearbeitet habe (Kryptographie etwa, die ja auch in „Mailstorm“ eine Rolle spielt). Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

_Alf Stiegler:_
Wie wichtig waren deine „digital-rights“-Arbeiten für den Schreibprozess von „Intrigenspiel“ und wie sehr beeinflussen sie deine Autorenarbeit überhaupt?

_Per Helge Sørensen:_
Politik ist ein wichtiger Motor für mein Schreiben. „Mailstorm“ ist auf der Basis von Diskussionen entstanden, die sich um Internetüberwachung und Kryptographie gedreht haben. Eines der wichtigsten Themen in „Intrigenspiel“ ist „freie Meinungsäußerung vs. Pornographie und kontroverse Inhalte“. In dem Zusammenhang sind die Arbeiten, die ich für „digital rights“ verfasse, wichtige Inspirationsquellen.

_Alf Stiegler:_
Beide deiner Bücher behandeln den Missbrauch von Medien – besonders das Internet. Ist dieses Thema dir ein brennendes Anliegen?

_Per Helge Sørensen:_
Auf jeden Fall. Das Internet ist ein sehr mächtiges Medium. Das erste Mal in der Geschichte können sich normale Bürger der ganzen Welt darstellen, ohne von irgendwem zensiert zu werden. Und sie können sich mit Gleichgesinnten austauschen – über den kompletten Globus. Aber die Gesellschaft ist es nicht gewöhnt, mit einer solchen Freiheit umzugehen, vor allem nicht, wenn diese Freiheit dazu verwendet wird, Informationen zu verbreiten, die wir als kontrovers ansehen oder sogar als gefährlich. Wie die Gesellschaft mit dieser Freiheit umgehen soll, ist ein wichtiges Thema der Demokratie. Zum Beispiel: Sollten wir Informationen darüber verbieten, wie man Verbrechen begehen kann (wie man Bomben bauen kann etwa), oder sollen wir nur die Verbrechen selbst verbieten?

_Alf Stiegler:_
Wie viele Erfahrungen aus deinem Alltagsleben haben ihren Weg in „Intrigenspiel“ gefunden? Das Leben von Kristian Nyholm zum Beispiel, oder der Umgang, den die Journalisten des Dagbladet miteinander pflegen – es wirkt so „echt“, dass man es beinahe fühlen kann. Ist das deiner Vorstellungskraft entsprungen, oder gestattest du dem Leser hier Einblicke in frühere Abschnitte deines Lebens?

_Per Helge Sørensen:_
Nyholms Figur basiert tatsächlich auf Erfahrungen, die ich während meiner Arbeit im dänischen Ministerium gemacht habe. Und praktisch alle Szenen mit der Journalistin Camilla sind aus meinen Erfahrungen mit Journalisten entstanden, Erfahrungen, die ich sammeln konnte, wenn ich Interviews über digital rights gegeben habe usw. „Intrigenspiel“ ist sehr stark vom „wirklichen Leben“ beeinflusst.

_Alf Stiegler:_
Aufklärung vs. Unterhaltung; was ist dein wichtigster Schreib-Antrieb?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde sagen, Aufklärung. Aber natürlich muss es auch unterhaltsam sein, sonst verliert man seine Leser.

_Alf Stiegler:_
Ich persönlich mochte es, wie du mit Definitionen gespielt hast, das „Spiel der großen Worte“, wie es Kristian Nyholm genannt hat; Ich schätze, Luhman wäre stolz auf dieses „Man gestaltet die Realität, indem man sie formuliert“. War das deine Absicht?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde gerne sagen, dass dem so ist … Aber … wirklich: Ich habe nie viel von Luhmann gelesen. Ich kenne mich mit Mathematik und dem Ingenieurswesen aus. Das Luhman-Zeug in „Intrigenspiel“ basiert auf ein paar oberflächlichen Blicken, die ich auf die Diplomarbeit eines Freundes geworfen habe. Hm. Trotzdem freut es mich, dass dir das „Spiel der großen Worte“ gefällt. Ich bin auch ziemlich stolz darauf.

_Alf Stiegler:_
Was hältst du überhaupt von Cyberpunk und Science-Fiction? Eher eine Erweiterung des geistigen Horizonts oder Verschwendung von Gehirnkapazität?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn es gut gemacht ist, mag ich es sehr gerne. Gibson ist natürlich der Meister. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Art von Romanen, die ich hauptsächlich lese. David Mitchell kann ich wärmstens empfehlen – er verbindet Zeitgenössisches mit SF, Cyberpunk und vielen anderen Einflüssen. „Cloud Atlas“ und „Number9Dream“ sind die besten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe.

_Alf Stiegler:_
Okay, lass uns mal etwas spekulieren: Es gibt die Hypothese, dass wir bereits in einer virtuellen Realität leben. Diese Idee wurde von Moores Gesetz abgeleitet: Wenn Computer alle drei Jahre ihre Prozessor-Kapazitäten verdoppeln, wären wir vielleicht irgendwann in der Lage, perfekte Kopien unserer Realität anzufertigen. Solche virtuellen Realitäten hätten dann die Aufgabe, Konsequenzen von Projekten und Handlungen zu ergründen – ein Was-wäre-wenn-Simulator sozusagen.
Aber falls Moores Gesetz tatsächlich so etwas ermöglichen sollte, gäbe es in der Zukunft eine unvorstellbare Menge solcher virtuellen Realitäten – und der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechend wäre es viel wahrscheinlicher, in einer dieser virtuellen Realitäten zu leben – nicht etwa in der „wirklichen Realität“. Was hält ein IT-Spezialist von solchen Spekulationen?

_Per Helge Sørensen:_
Hm. Interessant. Kann ich einen Freund anrufen?

Nun, ich denke, die Idee ist einfach aufregend, dass wir in einer „gefälschten“ virtuellen Realität existieren könnten. Natürlich ist das auch ein hervorragender Aufhänger für eine Story. Ich glaube, das ist ein sehr grundsätzlicher Menschheitstraum: Es muss einfach mehr geben, wir leben nicht in der wirklichen Welt und es gibt eine Hintertür zu irgendeinem fremden Ort. Es ist wie der Traum vieler Kinder: Die eigenen Eltern sind nicht die echten Eltern, tatsächlich ist man der Sohn eines Königs, und der wird eines Tages kommen, um einen abzuholen. Wie auch immer, meistens stellt sich heraus, dass deine Eltern auch tatsächlich deine Eltern sind. Es stellt sich heraus, dass man hart arbeiten muss, um diese Hintertür zu finden, hinaus in eine Welt voller Magie.

Um zu den virtuellen Realitäten zurückzukehren: So leid es mir tut, dort gilt genau das Gleiche. Diese Welt ist, so fürchte ich, die wirkliche Welt. Aber wenn man hart genug arbeitet, kann man sich die Magie für sich selbst erschaffen.

Um auf die technischen Aspekte einzugehen: Was ist mit den Computern, in denen diese virtuellen Welten existieren sollen? Diese Computer müssten ja Teil der „wirklichen Welt“ sein. Aber müssten sie nicht genauso in der virtuellen Welt existieren? Müsste in dieser virtuellen Welt (einer perfekten Kopie unserer Welt!) nicht ein virtueller Computer existieren, der wiederum diese virtuelle Welt enthalten müsste? (Kann Gott der Allmächtige einen Felsen erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?)

_Alf Stiegler:_
Was hältst du vom „Transhumanismus“ und der dort vertretenen These, dass es eines Tages Super-Intelligenzen geben wird, die über den normalen Menschen bestimmen werden?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin ein Skeptiker. Ich habe während meines Studiums ein wenig mit künstlichen Intelligenzen gearbeitet. Obwohl die Geschwindigkeit der Prozessoren und die Speicherkapazität explodieren, sind Computer immer noch ziemlich dumm. Es ist ein Albtraum, wenn man auch nur versucht, einen Computer menschliche Sprache erkennen zu lassen. Rechner dazu zu bringen, eben Gesagtes auch zu |verstehen|, ist noch immer reine Zukunftsmusik. Man darf keinesfalls unterschätzen, wie komplex der menschliche Geist ist!

_Alf Stiegler:_
Andererseits: Die meisten exponentiellen Funktionen flachen irgendwann ab und Moores Gesetz wird es wahrscheinlich irgendwann genauso ergehen. Glaubst du, dass der Gipfel der Computerentwicklung schon an unsere Tür klopft?

_Per Helge Sørensen:_
Nein. Obwohl die technische Entwicklung sich durchaus verlangsamen könnte, glaube ich, dass es ein gewaltiges Entwicklungspotenzial gibt – neue Wege, wie man Computer oder das Internet nutzen kann. Ich würde sogar sagen, dass wir bisher nicht einmal die Spitze des Eisbergs gesehen haben.

_Alf Stiegler:_
Wie sieht es mit DNA-Computern aus? Handelt es sich dabei noch um Science-Fiction, oder greifen Ingenieure bereits auf diese Idee zurück?

_Per Helge Sørensen:_
Momentan ist das noch reine Science-Fiction. Aber das Bild-Telefon war ebenfalls Science-Fiction, als ich noch ein Kind war. Man braucht ja nur einen Blick auf Star Trek werfen … und einen Vergleich zum neuesten Nokia-Handy ziehen.

_Alf Stiegler:_
Neal Stephensons „Snow Crash“ behandelt auf faszinierende Weise eine „Vermählung“ von Religion mit einer ultra-modernen, Technik-geprägten Gesellschaft. Glaubst du, dass es noch Platz für eine Seele in unserer „postreligiösen Gesellschaft“ gibt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich denke, es gibt eine Menge Seele in der postreligiösen Gesellschaft: Die Seele innerhalb eines jeden menschlichen Individuums. In meinen Augen ist Religion hauptsächlich eine Ausrede, die (meist von alten Männern) benutzt wird, um das Leben anderer Menschen zu kontrollieren.

_Alf Stiegler:_
„Sex mit Kindern ist der Ersatz, den die postreligiöse Gesellschaft für Blasphemie gefunden hat.“ – Wahr und zynisch. Was hat dich zu dieser Ansicht geführt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe nach etwas gesucht, das den modernen, säkularen Menschen auf die selbe Weise vor den Kopf stößt, wie sich Muslime durch Kritik an ihrer Religion vor den Kopf gestoßen fühlen. Pädophilie ist mir als einziges Problem eingefallen. Vielleicht liegt das daran, dass Kinder für viele Menschen den Platz von Gott eingenommen haben – das wichtigste Ziel im Leben.

_Alf Stiegler:_
Kontrolle vs. Entscheidungsfreiheit. Würdest du eine Softwarelösung unterstützen, die „grenzüberschreitende Internetpornographie“ aus dem Internet filtern kann, eine Softwarelösung, wie sie die Softwarespezialisten von Kyner vorgeschlagen haben? Ich weiß, das ist eine gemeine Frage …

_Per Helge Sørensen:_
Das Schlüsselwort ist „grenzüberschreitend“. Kyner erzeugt die Illusion, dass es derart extreme Pornographie gibt, dass wir sie loswerden müssen. Obwohl es zweifellos |nicht| illegal ist (also Pädophilie, etc.)! Was Kyner tatsächlich sagt ist, dass diese Art von Information illegal sein |sollte| – aber solange wir damit nicht durchkommen (wegen irgendwelchem demokratischen Bockmist über „freie Meinungsäußerung“), versuchen wir dergleichen auf andere Weise zu ächten: über Filter.

Indem Kyner Worte verwendet wie „grenzüberschreitend“, erzeugt er die Illusion, dass es ein Problem gibt, welches wir zu lösen haben. Obwohl es keines gibt. Übrigens verwendet die EU-Kommission den Begriff „schädlicher Inhalt“.
Tatsächlich ist die Sache ganz einfach: Es gibt zwei Arten von Inhalten:
– illegale Inhalte, um die sich die Polizei und die Gesetze zu kümmern haben,
– legale Inhalte, die man in Ruhe lassen sollte.
Es gibt keinen Grund für Filter.

_Alf Stiegler:_
Was sind deiner Ansicht nach die widerlichsten Entwicklungen der Multi-Media-Unterhaltung?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn Streitkräfte die Sprache und Bilder der Spieleindustrie verwenden, um Soldaten zu rekrutieren. Die dänischen Streitkräfte veröffentlichen beispielsweise eine monatliche Broschüre, die wie Werbung für Counter Strike aussieht. Die US-Streitkräfte haben sogar ihr eigenes Rekrutierungs-Spiel entwickelt. Krieg ist kein Computerspiel. Die Streitkräfte sollten es am besten wissen.

_Alf Stiegler:_
Die dänische Literatur hat es schwer, sich einen Weg in deutsche Buchgeschäfte zu bahnen. Hast Du ein paar Underground-Tipps für Skandinavien-hungrige Sørensen-Süchtige?

_Per Helge Sørensen:_
Es gibt einen neuen Roman von Morten Ramsland. In Dänemark war er sehr erfolgreich und wird wahrscheinlich demnächst in Deutschland veröffentlicht. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Falls eher Kriminalromane bevorzugt werden, sollte man Sara Blaedel antesten. Sie ist die neue, dänische „Queen of Crime“.

_Alf Stiegler:_
Welche Lektüre ziehst du persönlich vor?

_Per Helge Sørensen:_
Im Moment lese ich eine Menge zeitgenössische Literatur aus England und Amerika. Allan Hullinghurst. David Mitchell (wie oben schon erwähnt). Jonathan Franzen. Poul Auster. Und den japanischen Guru natürlich: Haruki Murakami.

_Alf Stiegler:_
Gibt es eine Genre, von dem du die Finger lässt?

_Per Helge Sørensen:_
Als ich 13 war, habe ich eine Menge Fantasy gelesen. Ich denke, ich habe genug für den Rest meines Lebens.

_Alf Stiegler:_
Die dritte Veröffentlichung ist die Magische, sagt man im Musikgeschäft. Was dürfen wir von deiner dritten Veröffentlichung erwarten?

_Per Helge Sørensen:_
Den „Großen Dänischen Roman“, der sich mit all den wichtigen Themen der letzten 30 Jahre befasst, in Dänemark, Europa und dem Rest der Welt. Oder um es anders auszudrücken: Ich weiß es noch nicht. 😉

_Alf Stiegler:_
Ein paar letzte Worte für die Leser von Buchwurm.info?

_Per Helge Sørensen:_
Hört nicht auf zu lesen. Die magische Welt ist da draußen.

Reisen und Touristik 2005

Womit beginnt man am besten einen Überblick über die aktuelle Reisebuch-Branche? Ich dachte mir, ich gehe ganz ungewohnt auf die speziellen Nischen-Verlage zuerst ein.

Da wäre z. B. der _Trescher Verlag_, der sich seinen Namen als Osteuropaspezialist errungen hat. Insgesamt ein sehr anschauliches Programm und dabei mit vielen Ländern und speziellen Regionen sogar die einzigen deutschsprachigen Titel.

Sehr speziell und aus der Reihe fallend ist der kleine Spezialverlag _Ilona Huper_, der sich ausschließlich auf Reiseführer für Afrika und Australien beschränkt. Innerhalb einer solchen Nische wird dadurch auch sehr erfolgreich ein ausgezeichnetes Image erzielt. Durch ständige Neuauflagen der Titel ist eine hohe Aktualität gewährleistet. Eine große Besonderheit stellt auch dar, dass alle afrikanischen Titel von den Verlagsinhabern selber geschrieben sind, die seit zwanzig Jahren stets selbstständig, unabhängig und intensiv den afrikanischen Kontinent bereisen. Mit ihren Titeln beschränken sie sich auch auf die Länder, die sie hervorragend kennen.

Einer der weiterhin unabhängigen Verlage ist die _Edition Temmen_ in Bremen, mit einigen sehr feinen Reiseprogrammreihen. Für das touristische Erschließen der deutschsprachigen Heimat und angrenzenden Ländern bietet die kompakte Reihe „Illustrierte Reisehandbücher“ ausführliche Geschichten über das touristische Ziel mit reicher Bebilderung bei kleinem Preis. Als in Bremen ansässiger Verlag, liegen die vorliegenden Titel beim Schwerpunkt Norddeutschland, der Küste und Polen. Etwas teurer sind dann die Bildbandreihen, die in zwei Editionen – eine eher nationale sowie eine internationale – erscheinen. Eine dritte Bildbandreihe „Städteführer“ dagegen ist sehr preisgünstig und damit ein gut kalkuliertes Serviceangebot. Zwei innovative Themenreihen sind im Programm: die Reise- und Lesebücher, die mit einer unvergleichlichen Mischung praktische Informationen mit anderem Lesestoff mischen, sowie die Reihe historischer Reiseberichte. Mit der „Edition Erde“, in welcher Reiseführer für ausgewählte internationale Länder erscheinen, hebt sich der Verlag qualitativ von entsprechender Konkurrenz durchweg um einiges ab. Für diejenigen, die mehr erfahren wollen über Land und Leute, Kunst und Kultur, Geschichte und Gegenwart der jeweiligen Länder, stellen sie die auf dem Markt besten Begleiter für Studienreisen dar. Diese internationale Reihe für Kulturreisende erhielt bei den ITB-Buch-Awards 2005 als einzige der Kategorie „Klassische Reiseführer“ Höchstnoten für die Hintergrundinformationen „Natur, Kultur und Gesellschaft“.

Seit langem hält eigentlich der _Peter Meyer Verlag_ diese ITB-Auszeichnungen, zuletzt 2005 in „Anerkennung hervorragender publizistischer Leistungen“ mit dem Award „Beste Reiseführer-Reihen“ in der Kategorie Individualreiseführer. Diese Preise gelten als Gütesiegel auf dem Reiseführermarkt. Peter Meyer ist ein unabhängiger Verlag, der vor 30 Jahren in der Alternativszene entstand.

Gleich in drei Kategorien erhielt der _Michael Müller Verlag_ die begehrten Awards: Individualreiseführer, City Guides und „Griechische Inseln“. Der Verlag startete in den 70er Jahren, als der Markt von Kunst- und Kulturführern beherrscht wurde, die allerdings die Reiseorganisation selbst nicht berücksichtigten. Mittlerweile gehört Michael Müller unter den vielfältigen Individualreise-Buch-Verlagen zum Marktführer. In allen Titeln werden auch kleinere Sehenswürdigkeiten abseits vom touristischen Hauptstrom beachtet. Anschaulich bieten Übersichtskarten, Stadtpläne und Wanderskizzen die schnelle Orientierung mit allen relevanten Eckpunkten: Anfahrtswege, Entfernungen, Standorte von Museen, Hotels, Restaurants usw. Natürlich fehlt auch nicht die Hintergrundinformation zu Politik, Kultur und landespolitischen Themen. Das Programm umfasst vier Reihen in unterschiedlichen Formaten: Stadt, Region, Land und Tour-Guide.

Ebenfalls ideal für individuelle Entdecker sind die Titel von _Iwanowski`s Reisebuchverlag_. In allen Titeln stehen die Bedürfnisse der Individualreisenden im Vordergrund und mittlerweile sind die Bücher mit detaillierten Reisekarten zum Herausnehmen ausgestattet. Es liegen drei Programmreihen vor: die Reisebücher als ausführlichstes Segment, die Reisegast-Reihe mit Tipps zum Verständnis der jeweiligen Kultur und die erwähnten Reisekarten. Innerhalb dieser Reihen liegen aber auch Stadtführer, Insel- und Wanderführer vor.

30 Jahre ist es her, als sich alternativ reisende Globetrotter zusammentaten, um ihre Erfahrungen in aller Welt anderen Globetrottern zugänglich zu machen. 1984 entstand daraus der _Reise Know-how Verlag_, der, was persönliche Erfahrungen angeht, unverändert der führende Alternativ-Reise-Verlag geblieben ist, und das in einer unüberschaubaren Vielfalt zu allen Regionen dieser Erde. Es gibt die Reisehandbücher, die City-Guides, die Urlaubshandbücher, die etwas dünneren Reisehandbücher „kompakt“, Wohnmobil-Tourguides und auch eine Sachbuchreihe rund ums Reisen allgemein. Dies sind aber nur die eigentlichen Hauptreihen. Das Programm bietet darüber hinaus ist noch viel mehr. Eine sehr wichtige Reihe nennt sich „KulturSchock“ und informiert über die vielleicht doch sehr ungewohnten Denk- und Lebensweisen von Menschen anderer Länder. Ähnlich geartet sind die Reihe „Praxis-Ratgeber für Reisen“ und noch einige mehr. Die auffälligste Unterscheidung zu all den anderen Reisebuchverlagen liegt aber dann noch mal im Zusatzangebot. Im „World Mapping Project“ erscheinen weltweite Landkarten, mittlerweile superreiß- und wasserfest. Um sich verständlich zu machen, bieten die „Kauderwelsch“-Sprachprogramme in den Segmenten „Wort für Wort“ für das wichtigste, „Slang“ für das authentische Vokabular jenseits der sonstigen Fremdsprachenlehrgänge, „Dialekt“ die Sprache der einzelnen Regionen, aber auch „Deutsch für Ausländer“ ist vorhanden. Zu all diesen Reihen gibt es entsprechende Begleit-CDs oder auf CD-ROM auch alles zum digitalen Lernen am PC.

Fehlen darf in dieser Bestandsaufnahme keinesfalls der DuMont Reise Verlag, den sicherlich jeder kennt. Durch den Zusammenschluss des DuMont Reise Verlags mit dem Mairs Geographischer Verlag heißt das Programm neuerdings _MairDumont_, wobei als Reihe der mehr als eingeführte Name wirtschaftlich gesehen konsequent erhalten bleibt. Es gibt eine große Vielfalt verschiedener Programmreihen und insgesamt wohl mit das größte Titelangebot – im Vergleich zu anderen Verlagen – überhaupt. DuMont zeichnet sich selbstverständlich durch seine hohe Seriosität und vor allem Qualität aus.

Ganz wichtig und ein richtiger Klassiker ist auch _Polyglott_ bei Langenscheidt. „Polyglott on tour“ beispielsweise setzt in diesem Jahr neue Maßstäbe mit einer Flipmap, die in einem Etui vorne auf dem Reiseführer aufsitzt. Diese Mini-Karte hat eine patentierte Zick-Zack-Faltung und ist sehr einfach und praktisch, da klein genug, um in jeder Hosentasche Platz zu finden. Eine ganz neue Reihe ist „Polyglott go!“ für Strand-, Aktiv- und Wellness-Urlauber. Auch hier gibt es einen extra Atlasteil. Der schon im letzten Jahr gestartete „Polyglott mobile guide“ wurde weiter ausgebaut; dies sind keine Bücher, sondern regelmäßig aktualisierte Downloads direkt aufs Handy. Der damit erzielte Erfolg in den ersten zwölf Monaten hatte alle Erwartungen weit übertroffen. Bei den Sprachführern gibt es eine neue Reihe „Unzensiertes“ für Jugendliche mit Vokabular aus der Umgangssprache, die man normalerweise nicht erlernt, sodass man sich künftig nicht mehr blamiert in fremden Betten – Szeniges, Ehrliches und Scharfes. Slang, Schimpfwörter und Szeneausdrücke und das für hetero, gay und auch bi. Ein Thermometer zeigt den Schärfegrad der Ausdrücke an, weil ja nicht alles für die Ohren einer Gastfamilie geeignet ist.

Im _Bruckmann Verlag_ erscheint ein vielerlei gewohntes Buchangebot, das sich nicht sonderlich absetzt. Die Reihen umfassen einige interessante Einzeltitel mit Länderportraits, sind ansonsten vollkommen auf Outdoor, Trecking und Tourenführer ausgerichtet (Radführer, Wanderführer, Genusstouren, Auto- und Motorradtouren). Ähnlich gelagert ist der _J. Berg Verlag_ mit seinen Wander- und Freizeitführern, die allerdings vollkommen regional begrenzt sind und die bayrische Heimat erleben lassen. Der ähnlich firmierende und dadurch verwechselbare _Berg Verlag Rother_ hat sich ebenso auf Wanderbücher und Wanderziele spezialisiert, allerdings nicht in solch regional begrenzter Weise. Diese über 170 Titel zu den beliebtesten Regionen sind mit ihren sehr zuverlässigen Tourenvorschlägen mit Schwierigkeitsbewertung und einem Farbfoto zu jeder Wanderung sowie farbigem Wanderkärtchen im Maßstab 1 : 50000 sehr zu empfehlen. Zusätzlich gibt es Bildbände und diverse Multimedia.

Und solcherart Nischen sind weiteren Verlagen nicht fremd. Der auf Sport spezialisierte _Delius Klasing Verlag_ führt in seinem Wassersportprogramm unter dem Label „Maritime Reiseführer“ eine ganze Reihe Törnführer für die Reise mit dem privaten Schiff. Diese Führer sind ideal für Planung und Reise selbst, und liefern exakte Pläne und Beschreibungen von Häfen und Ankerbuchten sowie jede Menge Information für die Reisevorbereitung, zu Liegeplätzen, Ansteuerung und Versorgungsmöglichkeiten vor Ort.

Unzählige andere Nicht-Reisebuch-Verlage, die dennoch Reisenden programmatisch etwas zu bieten haben, wären natürlich in großer Zahl ebenso aufzuführen. Dies würde den thematischen Rahmen allerdings sprengen. Deswegen nur als Beispiel vielleicht der _Picus Verlag_, welcher eine sehr anspruchsvolle belletristische Reihe „Lesereisen und Reportagen“ mit umfangreicher Backlist anbietet. Ähnliches bietet seit langem sehr spezialisiert auch _Frederking & Thaler_, der _Peter Hammer Verlag_ und auch der _Malik Verlag_ (Piper). Über Landeskundliches informiert auch _C.H. Beck_.

Die Branche hat trotz Terrorismus oder Naturkatastrophen einen weiterhin hohen Stellenwert. Es wird heutzutage immer noch viel gereist, wenn auch wieder öfter in die heimatlichen Regionen – wo der Markt mittlerweile aber auch entsprechend bedient wird. Die Konkurrenz untereinander ist selbstverständlich groß und alle überlegen, wie sie direkt am Kunden bleiben können, und das geschieht vor allem über Service-Leistung. Da bietet sich das Internet an. Deswegen folgen nun am Ende die jeweiligen Internet-Adressen der vorgestellten Verlage. Es lohnt sich, da ein wenig zu stöbern und diejenigen Anbieter, die Foren, News und Aktuelles bieten, selber herauszufinden.

http://www.meyer-reisefuehrer.de/
http://www.loose-verlag.de/
http://www.reise-know-how.de/
http://www.michael-mueller-verlag.de/
http://www.tondok-verlag.de/
http://www.edition-temmen.de/
http://www.hupeverlag.de/
http://www.trescherverlag.de/
http://www.rother.de/Rother.htm
http://www.bruckmann-verlag.de/
http://www.delius-klasing.de/
http://www.reisebuch.de/

Individualreiseführer von Iwanowski’s


http://www.footprintbooks.com/
http://www.lonelyplanet.com/
http://www.ulysse.ca/
http://www.roughguides.com/
http://www.moon.com/

Home


http://www.frederking-thaler.de/
http://www.piper.de/
http://www.thorbecke.de/
http://www.horlemann-verlag.de/
http://www.peter-hammer-verlag.de/
http://www.jonas-verlag.de/
http://rsw.beck.de/
http://www.dumontverlag.de/
http://www.schimper.de
http://www.polyglott.de/

Buchwurminfos IV/2005

Bei der _Rechtschreibreform_ kann von einer einheitlichen Schreibweise nicht mehr die Rede sein. Nunmehr gibt es drei verschiedene Schreibweisen: die der einstigen Rechtschreibkommission, die vom Rat der deutschen Rechtschreibung beabsichtigte Reform der Reformschreibung sowie die herkömmliche Rechtschreibung. Dennoch wurde dieses Chaos zum 1. August gesetzlich verbindlich gemacht, wie die Kultusministerkonferenz beschlossen hat. Der Vorstoß der CDU-regierten Länder, den Einführungstermin um ein Jahr zu verschieben, fand keine Zustimmung. Aus Rücksicht auf die Positionen des Rates für deutsche Rechtschreibung gilt für strittige Teile (vor allem Worttrennung und Interpunktion) eine „Toleranzklausel“. Am 31. Juli endete damit zunächst nur die Übergangsfrist für die Laut-Buchstaben-Zuordnung, die Schreibung mit Bindestrich sowie die Groß- und Kleinschreibung. Nach den Vorstellungen des Rates für deutsche Rechtschreibung soll in erster Linie der Sprachgebrauch die Richtschnur für die Formulierung von Schreibregeln sein. Der Zusammenschreibung wird gegenüber Getrenntschreibungen der Vorzug gegeben. Ende Oktober werden die Änderungsvorschläge abschließend erörtert und Ende November soll ein Beschluss fallen. Erst danach wird sich die Kulturkonferenz mit dem Gesamtpaket befassen. Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) hat mit den Stimmen des Verlegers Michael Klett und des Sprachwissenschaftlers Theodor Ickler (PEN-Vertreter im Rechtschreibrat) ihre grundsätzliche Ablehnung der Reform nochmals unterstrichen. Verlage, die sich an die neue Rechtschreibung halten wollen, müssen, obwohl die jetzigen Änderungen nur einen minimalen Teil des Wortschatzes betreffen, dennoch alle Titel durchsehen und an den entsprechenden Stellen ändern. Aus wirtschaftlicher Sicht ein Riesenaufwand und auch volkswirtschaftlich betrachtet ein Desaster. Eigentlich wird die neue Rechtschreibung nur bei Kinder- und Schulbüchern beachtet werden. Fast jeder sonstige Verlag überlässt es weiterhin jedem Autor, wie dieser schreiben will. Widersinniges und Unstimmiges wird also nicht zum Maßstab für literarischen Ausdruck werden. Die Verleger sehen überhaupt keinen Handlungsbedarf, solange alles weiterhin unsicher und strittig ist. Die 23. Auflage des „Duden“ war nach Inkrafttreten der Reform nach dem 1. August das einzige Wörterbuch, das dem verbindlich geltenden Stand der neuen Rechtschreibung entspricht, aber schon warf Bertelsmann zum 1. August mit dem „Wahrig“ ein Wörterbuch zu einem „Kampfpreis“ auf den Markt, das schon wieder etwas mehr von der Reform 2004 berücksichtigt hat. Im „Wahrig“ macht man es jetzt auch ganz taktisch klug, indem man neben der neuen auch die alte Rechtschreibung aufführt. Seit Jahren sind der „Duden“ und „Bertelsmann“ in harter Konkurrenz, mussten schon gedruckte Auflagen wegen Änderungen gleich einstampfen, verramschen ihre Titel oder verschenken sie an Schulen.

Selbst der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, sieht jetzt eine künftige „Zwei-Klassen-Schreibung“, da die neuen Gesetze nur für Schulen und Behörden verbindlich sind und ansonsten jeder Autor schreiben kann, wie er will.

Und es besteht noch anderweitig Verunsicherung, z. B. bei den Lehrern, die Deutsch für Ausländer unterrichten. Das Ausland versteht nicht, wieso die Deutschen sich nicht darauf einigen können, wie sie ihre Worte schreiben. Das Goethe-Institut geht deswegen einen wiederum ganz eigenen Weg und hält sich an die zuerst geplante Originalfassung der Reform, bis endgültige Klarheit über die strittigen Punkte herrscht. „Das kann man so oder so schreiben“ sei für Fremdsprachen-Lehrer zu schwierig. Die neue Gesetzeslage ist längst nicht das Ende eines langjährigen Kampfes zwischen unversöhnlicher Willkür auf der einen und Widerstand auf der anderen Seite. In NRW hat Jürgen Rüttgers nach dem Wechsel der Landesregierung sein Wahlversprechen wahr gemacht: „Die CDU wird nach einem Wahlsieg bei der Landtagswahl im Mai 2005 dafür sorgen, dass man zu den bewährten Regeln zurückkehrt“ und auch Bayern ist dem gefolgt. Zwei Länder sind zwei Wochen vor Eintritt der gesetzlichen Regelung ausgestiegen. Die Glaubwürdigkeit in der Politik lässt sich bereits an einem Wort der Rechtschreibreform festmachen. Diese hat versucht, den Unterschied zwischen „viel versprechend“ und „vielversprechend“ aufzuheben, indem es nur noch die getrennte Schreibweise zulassen wollte. Wenn man sich das ganze Geschehen anschaut, bleibt dieser Unterschied der beiden Begrifflichkeiten aber sehr offensichtlich.

Es wird viel darüber geklagt, wie viel Geld Wörterbuch- und Schulbuchverlage verloren haben durch all die jahrelangen Änderungen. Interessant ist da aber eine These, die in der „Jungen Freiheit“ vom 29. Juli aufgestellt wurde. Dort wird aufgezeigt, dass die Rechtschreibreform für Schulbuchverlage ein Milliardengeschäft war, finanziert durch die Steuerzahler. Nach Angaben des VdS Bildungsmedien, mächtigster Verband der Schulbuchverlage, schaffte die öffentliche Hand zwischen den Jahren 1996 und 2004 Schulbücher in reformierter Rechtschreibung im Wert von etwa zwei Milliarden Euro an. Eltern gaben allein im Jahr 2003 rund 200 Millionen Euro für Lernmittel aus. Gewisse Verbände haben eine Menge Geld eingesetzt, um der Reform zum Durchbruch zu verhelfen. So investierten die Schulbuchverlage rund eine halbe Million Mark, um den Volksentscheid in Schleswig Holstein im September 1998 zu beeinflussen, der aber für die Reformer dennoch verloren ging. „Zahlreiche Beamte in den Kultusministerien sind als Schulbuchverfasser privatgeschäftlich mit Verlagen verbunden“, erklärt der bekannteste Kritiker der Rechtschreibreform, der Erlanger Germanist Theodor Ickler. Im internen Bericht des Verbandes VdS Bildungsmedien für 2000 – das Jahr, in dem die „Frankfurter Allgemeine“ das Abenteuer Rechtschreibung beendete – heißt es: „Wir haben also nicht allein auf die Kultusminister, sondern auch auf alle Ministerpräsidenten der Länder massiv eingewirkt und diese in die Öffentlichkeit gezwungen mit klaren und unmissverständlichen Erklärungen zu einer Reformumsetzung“. Die „Junge Freiheit“ geht deswegen so weit, der Staatsanwaltschaft zu empfehlen, aufgrund offenkundiger Verdachtsmomente zu untersuchen, inwieweit bei der Durchsetzung der Rechtschreibreform auch Korruption eine Rolle spielt. Die Aufdeckung eines Bestechungsskandals wäre der Todesstoß für die Reform, würde aber auch aufgrund der Beteiligung von Regierungsbeamten eine Krise auslösen.

Am gefährlichsten für die _Preisbindung_ wird es immer, wenn ein neuer _Harry Potter_ erscheint und in Deutschland, wo diese gesetzlich festgesetzt ist, muss man immer sehr sorgsam nach den „schwarzen Schafen“ Ausschau halten. Anders in England, wo eine Preisbindung nicht existiert. Dort lag der Preis bei Vorbestellungen teilweise bei der Hälfte des empfohlenen Verkaufpreises von 16,99 Pfund und damit eigentlich beim Bezugspreis. 2003 hatte dort die Branche am ersten „Potter“-Verkaufstag elf Millionen Pfund an Nachlässen gegeben. Insgesamt wurde an jenem Tag ein Umsatz von 17,5 Millionen Pfund erzielt – mit 1,7 Millionen Exemplaren. Und bei der Premiere des 6. Bandes boomte es wie eh und je: In den ersten 24 Stunden wurden weltweit rund elf Millionen Exemplare verkauft. Zwei Millionen davon in Großbritannien, 6,9 Millionen in Amerika. In vielen Städten wird das Erscheinen eines neuen Harry Potters längst wie ein Ereignis von nationaler Bedeutung begangen. Auch in Deutschland war die Medienresonanz noch einmal höher als beim fünften Band vor zwei Jahren. So schnell auch gigantischer Umsatz gemacht wird, bleibt das Paradox, dass mit Potter nicht auch entsprechend verdient wird. Der Reinerlös ist mager, die Preise purzelten in den Keller und erreichten bisher ungeahnte Tiefen. In britischen Supermarktketten ging er für 7,25 Euro weg – also weit unter dem Einkaufspreis. Der empfohlene VK in Deutschland liegt bei 26,30 Euro, im Schnitt wird er aber für 19,90 Euro angeboten, am billigsten war er bei Mail-Order Kaiser für 14,99 Euro.

Die legalen „_Billig-Bibliotheken_“ laufen gut und gehen weiter. Die Lizenz für die „SZ“-Bibliothek ist ausgelaufen, aber der Süddeutsche Verlag konnte elf Millionen Bücher damit verkaufen. Die Restbestände wurden vom Barsortiment LIBRI erworben, das diese noch „weit über das Weihnachtsgeschäft“ hinaus an Buchhandlungen liefern wird. Auch Weltbild hatte mit seiner „Bild“-Bestseller-Bibliothek wie auch der Zeit-Verlag die Gewinnziele weit übertreffen können. „Die Zeit“ startet mit dem Partner Brockhaus zur Buchmesse eine zwanzigbändige wöchentliche Buchreihe zum Thema Welt- und Kulturgeschichte. Die „SZ“ plant ein Projekt Kinder- und Jugendbibliothek – Zielgruppe Sechs- bis Sechzehnjährige – ab September nach bewährtem Muster der „SZ-Bibliothek“ mit fünfzig Bänden, die jeweils 4,90 Euro kosten. Auch „Die Zeit“ wird im Frühjahr 2006 mit einer 15-bändigen Vorlesereihe mit Titeln, die als besondere Schätze der Kinderliteratur gelten, für Kinder von fünf bis zehn Jahren starten. Der Reinerlös aller verkauften Bücher fließt an die Stiftung Lesen, zur Förderung des Vorlesens. Sowohl „Bild“, „Weltbild“ und „FAZ“ bringen Comic-Bibliotheken. Die FAZ-Reihe „Klassiker der Comic-Literatur“ dürfte auch richtig lohnenswert werden bei einem Preis von 4,90 Euro pro Band. Es beginnt mit „Superman“ von 1938 und führt über „Spiderman“, „Batman“, „Prinz Eisenherz“, „Hägar“, „Peanuts“ und natürlich auch „Disney“.

Da das _Hörbuch_ mit unveränderten Zuwachsraten in Folge Geschichte schreibt, sind nun auch die letzten großen Belletristikverlage Diogenes und Holtzbrinck ins Hörbuch-Geschäft eingestiegen. Mittlerweile gibt es rund 400 Hörbuchverlage in Deutschland. Jetzt erwartet die Branche einen Lizenzwettbewerb, den es bislang so noch nicht gab. Von der Hörbuch-Edition der Frauenzeitschrift „Brigitte“ über Aktionen beim Discounter ALDI bis hin zum Focus-Magazin, das ein neues Download-Portal plant, ist das Hörbuch endgültig aus seiner Nischen-Position herausgetreten, mit allen Konsequenzen, die ein entwickelter Markt mit sich bringt. Es wird Verschiebungen geben, bei denen einige Labels auf der Strecke bleiben. Und „Random House Audio“ vertieft die Zusammenarbeit mit „Gruner + Jahr“. Nach der „Brigitte“-Audio-Edition „Starke Stimmen“ folgt nun eine zwölfteilige Hörbuchserie mit der Zeitschrift „Eltern“. Mit der Brigitte-Zusammenarbeit konnten eine Million Einzelexemplare verkauft werden.

_Amazon_ hat eine neue Sparte entdeckt: Verleihen statt verkaufen. Für 9,99 Euro werden drei DVDs im Monat verschickt, ohne zusätzliche Versandkosten, Leihfristen und Säumnisgebühren. Die Kunden müssen nur die geliehene DVD im versankostenfreien Umschlag zurückschicken, um umgehend den nächsten verfügbaren Film von der Ausleihliste zu erhalten. Es gibt darüber hinaus sogar verschiedene Tarifmodelle: Für 13,99 Euro kann man vier DVDs monatlich ausleihen (zwei davon gleichzeitig) und für 18,99 Euro sechs DVDS (drei Titel gleichzeitig). Das ist ein Testlauf dafür, ob man künftig auch Hörbücher und Bücher in die Vermietung einbeziehen wird.

_Suhrkamp_ bringt die im angeschlossenen _Deutschen Klassiker Verlag_ erschienenen Editionen deutscher Literatur ins Taschenbuch. Im Oktober erscheinen die ersten Bände, darunter Goethes Faust, „Sämtliche Erzählungen“ von Kleist und Grimmelshausens „Simplicissimus“ – jeweils Text und Kommentar. Die meisten der herstellerisch hochwertigen Bände sollen ca. 18 Euro kosten und in einer Auflage von 5000 Exemplaren erscheinen. Von den 200 Hardcoverbänden, die in 40 Editionen erschienen sind, will man 90 Titel im Taschenbuchformat in den Handel bringen. Ab Frühjahr 2007 sollen in der _Suhrkamp Studienbibliothek_ grundlegende philosophische Texte nebst Kommentar von Aristoteles bis Habermas erscheinen. Offensichtlich hat sich nach den Unruhen im Verlagshaus (wir berichteten intensiv) sehr viel geändert. Das sieht man deutlich am aktuellen Suhrkamp-Taschenbuchverlagsprogramm und der Werbung dafür, die im Gegensatz zur Tradition richtiges Marketing umfasst. Die Zeiten, wo die Vermarktung von Hermann Hesse ausreichte, scheint vorbei. Angefangen hat das vor einem Jahr mit der Neugestaltung der erfolgreichen Taschenbuchreihe mit dem Kürzel st. Die Titelzahl wird reduziert und die traditionell starke Backlist verkleinert.

Der Fachverlag _Max Niemeyer_ hat seine Eigenständigkeit verloren und wurde an _Thomson Learning_, die Bildungssparte des amerikanischen Fachinformationskonzerns _Thomson Corporation_, verkauft. Die Zustimmung durch das Bundeskartellamt muss aber noch erfolgen. Niemeyer fungiert künftig als Imprint der _K. G. Saur_ Verlagsgesellschaft, die bereits Ende 2000 von Thomson eingekauft wurde. Niemeyer gehört zu den führenden Geisteswissenschaftsverlagen Deutschlands. Das anspruchsvolle Profil soll erhalten und ausgeweitet werden. Die Arbeitsplätze der gegenwärtigen Mitarbeiter wurden von Thomson nun erst einmal für ein Jahr garantiert.

Die _Wissenschaftliche Buchgesellschaft_ in Darmstadt hat den Verlag _Philip von Zabern_ (Fachverlag für Klassische Archäologie, Kunst und Kulturgeschichte) übernommen. Zur Verlagsgruppe der WBG gehören bisher die Verlage Primus, Konrad Theiss sowie die Versandbuchhandlung Conlibro.

Anthroposophen brauche mitunter etwas länger für neue Technik, dafür umso berichtenswerter ist, dass nun auch der _Pforteverlag_ online ist und auf Besucher wartet. Die Seiten werden in den nächsten Wochen noch laufend ergänzt, doch lohnt sich jetzt schon auf alle Fälle ein Blick ins Angebot: http://www.pforteverlag.com.

_Indizierungen_ erreichen derzeit einen neuen Höhepunkt. Die neueste dahingehende Welle betrifft die deutschsprachige Hiphop- und Rap-Szene, deren sexualisierte Texte als jugendgefährdend beurteilt werden. Man kann sich darüber mühsam streiten, sicherlich geht manches an die Würde der Frau und überzeichnet ein menschenverachtendes Bild. Nun werden Sendeverbote in den Rundfunkanstalten gefordert, was bis zum immer wieder vorkommenden Wort „ficken“ reicht. Also Zustände wie in Amerika. Im ganzen Medienrummel schwingt auch die durchaus berechtigte Angst vor Rechts wieder hoch. Selbst einem Linksbündnis wird rechte Gesinnung mediengerecht unterstellt. Und damit das klar zum Ausdruck kommt, gelten nunmehr auch wieder die „Böhsen Onkelz“, die sich wiederholt von rechtem Gedankengut distanziert hatten, als Verbreiter rechter Propaganda. Auf ihrem Abschlusskonzert auf dem Lausitzring hatten sie vor über 100.000 Zuschauern noch einmal Songs ihres ersten Albums gespielt. Das Landeskriminalamt Brandenburg hat sofort gegen die Band Anzeige erstattet.

Nachdem es im letzten Jahr während der Frankfurter Buchmesse zu großem Unbehagen führte, dass die _Verleihung des Friedenspreises_ nach jahrelanger Ausstrahlung durch die ARD von diesen kurzfristig abgesetzt wurde, führte der Protest dagegen zum Erfolg. Ab diesem Jahr wird die Verleihung aus der Frankfurter Paulskirche nun wieder jährlich abwechselnd vom ZDF und der ARD übertragen. Die diesjährige Verleihung wird am 23. Oktober um 11 Uhr live vom ZDF ausgestrahlt.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/. |

Buchwurminfos III/2005

Die Auseinandersetzungen zur _Rechtschreibreform_ nehmen kein Ende. Derzeit werden erneut die neuen Regeln überarbeitet und vereinheitlicht, wobei der tatsächliche Schreibgebrauch berücksichtigt wird. Viel Zeit bis zum 1. August, wenn das Regelwerk verbindlich für die Schulen in Kraft treten wird, bleibt aber nicht mehr. Ob es gelingt, den erbitterten Kampf um die Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung zu beenden, ist noch offen. Klar ist schon jetzt, dass auf jeden Fall aus den bisherigen Modifikationen ohnehin wieder Änderungen bei den vorliegenden Titeln der Schulbuchverlage erforderlich sein werden. Unter den Schulbuchverlegern gehört Verleger Michael Klett allerdings auch weiterhin zu den Gegnern der ganzen Reform, die er für unsinnig hält. „Mich ärgert auch der Eingriff in die Sprache mit politischer Macht. Als Unternehmer bin ich geschädigt durch die dauernden Änderungen, die wirtschaftlich unnötig sind“.

Der Börsenverein beschäftigt sich plötzlich auch mit der _Türkei und der Debatte um deren EU-Beitritt_. Nur vier Prozent lesen dort laut Statistik gelegentlich ein Buch. Das Lesen wird vom türkischen Staat nicht gefördert. Erschwerend kommt auch hinzu, dass ein funktionierender Buchhandel samt Vertrieb nur in Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa und Antalya vorhanden ist. Die Verlage stehen wirtschaftlich entsprechend auf schlechten Beinen, da sie auch von staatlicher Seite keine Unterstützung erhalten. Der türkische Staat ist selber Verleger und produziert über Ministerien und Institute sehr viele Bücher und ist der größte Konkurrent der privaten Verlage. Der türkische Verlegerverband hat gerade mal 230 Mitglieder und ist nicht professionell organisiert. Interessant ist auch, dass trotz der engen Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei keine deutschen Schriftsteller in der Türkei bekannt sind. Das gilt umgekehrt aber genauso für die türkischen Autoren in Deutschland. Dass sich das ein wenig ändert, versucht der schweizerische Unions-Verlag zu erreichen, der im Herbst mit einer zwanzigbändigen „Türkischen Bibliothek“ startet. http://www.unionsverlag.com/info/tbdefault.asp

Paulo Coelhos im April erschienene Novelle [„Der Zahir“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3257064640/powermetalde-21 (auf deutsch bei |Diogenes|) ist _im Iran verboten_ worden.

Die „_SZ-Cinemathek_“-Reihe mit DVDs ist gut gestartet. 20.000 Kunden der „SZ“ hatten in den ersten vier Wochen bereits die ganze Edition beim _Süddeutschen Verlag_ komplett abonniert. 60.000 Stück der jeweiligen Filme wurden an den Handel geliefert. Der empfohlene Preis von 9,90 Euro wurde dort aber schnell unterschritten. In Worms zuerst bei „Drogerie Markt Müller“ mit 7,90 Euro, worauf einige Wochen später andere Händler wie „Weltbild“ – die zuerst den empfohlenen Preis einhielten – schnell nachzogen und ebenfalls reduzierten. Es war auch ein Versuch, DVDs im Buchhandel zu etablieren, aber Buchhandlungen können diese Preiswettbewerbe der Mediamärkte einfach nicht mithalten. Nach den erfolgreichen Starts der Buch-, Klassik- und Spielfilm-Editionen wird der der Süddeutsche Verlag nun bald auch schon die Pop-Edition mit Songs herausgeben. Diese Zusatzgeschäfte – bis 2007 sind 25 Projekte geplant – haben dem Medienkonzern 2004 einen Umsatz von 26 Millionen Euro erbracht. Allein die „SZ-Bibliothek“ wurde achtzigtausendmal abonniert und insgesamt sind mehr als zehn Millionen Bücher abgesetzt worden. Die Verkäufe der CD-Editionen zur klassischen Musik werden auf 75.000 beziffert und die Zahl der verkauften DVDs ist nach wenigen Wochen bereits auf über 600.000 Exemplare gestiegen.

Und im Sommer starten nun auch Comic-Sammel-Editionen. „_Bild_“ präsentiert in Zusammenarbeit mit „_Weltbild_“ eine zwölfbändige Reihe mit Klassikern des Genres. Die „_Frankfurter Allgemeine Zeitung_“ wird eine Reihe „Meilensteine der Comic-Literatur“ in Kooperation mit der Stuttgarter _Panini-Gruppe_ herausgeben. Und bei der „_Berliner Zeitung_“ ist auch eine neunteilige Comic-Edition geplant.

_ALDI_ hat bereits mehrfach Hörbücher verkauft, aufwendige Hörspiele in diesem Preis-Leistungs-Verhältnis hat es jedoch noch nie gegeben. Die _Hörbuch-Edition_, die ALDI zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk (BR) herausbringt, umfasst acht Titel.

Das Magazin „_Focus_“, das sich auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen für Hörbücher in den letzten Jahren sehr stark eingesetzt hat, wird im Oktober ins Download-Geschäft einsteigen. Bislang gibt es zwei weiter Audiobook-Portale: http://www.audible.de und http://www.soforthoeren.de

In den Buchwurm-Info I/2005 berichtete ich über die „_Andere Bibliothek_“: |Eines der niveauvollsten Buchprojekte „_Die Andere Bibliothek_“ war vor einigen Jahren an den Eichborn-Verlag gegangen und wurde dort von _Hans Magnus Enzensberger_ verlegt. Dessen Vertrag geht noch bis 2007, aber er möchte nun vorzeitig beenden. Damit wird auch unwahrscheinlich, dass die Reihe überhaupt ihre Fortsetzung über das Jahr 2006 hinaus finden wird. _Franz Greno_, zuständig für die ästhetische Gestaltung dieser Reihe, geht von ihrem Ende aus, signalisiert allerdings auch, dass es in neuen Konstellationen zu einer Fortführung kommen wird.|
Nun steht die Fortführung fest. Enzensberger wird Herausgeber der „_Frankfurter Allgemeinen Bücherei_“, einer Buchreihe der _FAZ_. Die Ausstattung besorgt Franz Greno. Start ist im Herbst mit monatlich einem Band. Die Titel der Bibliothek sind bereits für die nächsten 48 Monate im Voraus geplant. |Eichborn| reagiert noch gelassen auf diese Ankündigung, denn bis September 2006 gehen noch deren Verträge mit entsprechenden Autoren. Über eine vorzeitige Beendigung wurde mit Enzensberger noch keine Einigung erzielt. Das FAZ-Projekt wird Eichborn sehr genau im Sinne des Wettbewerbsrechts prüfen und wenn die Reihe Ähnlichkeiten mit der „Anderen Bibliothek“ aufweisen sollte, auch entsprechend rechtlich vorgehen.

Nach dem geglückten Start mit der „Brigitte“-Hörbuch-Edition steigt die Frauenzeitschrift mit der _Brigitte-Edition_ nun auch ins Buchgeschäft ein. Ende August erscheint eine zunächst auf 26 Titel beschränkte vierzehntägige Reihe. Die Titel wurden von Elke Heidenreich ausgewählt. Bewusst wird man sich aber von den Niedrigpreis-Bibliotheken abheben: Die Bücher, die mit Halbleinen-Einband und Lesebändchen ausgestattet sind, kosten zehn Euro pro Band. Zurückhaltend ist man auch bei der Startauflage mit 50.000 Exemplaren. Vertriebspartner im Buchhandel ist der |Hanser|-Verlag.

_Random House Deutschland_ hat wie erwartet ein sattes Plus im Umsatz. 2004 wurde dieser im Vergleich zum Vorjahr um rund 57 Millionen Euro gesteigert. Das Plus ergibt sich durch die Anfang 2004 getätigten Verlagszukäufe von _Heyne_ und _Südwest_. Angaben zum Gewinn werden aber nicht gemacht. Der Umsatz von insgesamt 195,8 Millionen Euro betrifft nur die Bundesrepublik. Im Hardcover liegt das Plus bei sieben Prozent, im Jugendbuch bei mehr als 30 Prozent und vor allem im Hörbuch wurden mehr als 50 Prozent erwirtschaftet. Der Umsatz bei den Taschenbuchverlagen allerdings stagniert, was Random House unter anderem auf die Billig-Hardcover zurückführt. Im Herbst startet allerdings ein weiterer neuer Verlag: _Page & Turner_, der klassische Unterhaltungsliteratur in bibliophiler Ausstattung präsentieren wird. Neben den Publikumsverlagen wie Goldmann, die eine große thematische Bandbreite haben, wird Page & Turner mit einem geschlosseneren Programm aufwarten.

Nach dem Tod von Karl Blessing führt nun _Ulrich Genzler_ den _Blessing Verlag_ weiter. Genzler ist bereits Leiter des Heyne-Verlages. Seine Laufbahn begann der 49-Jährige bei der Verlagsgruppe Bertelsmann. 1997 wechselte er dann zu Heyne. Mit dem Erwerb des Verlages durch die Bertelsmann-Buchtochter Random House kehrte er 2003 gewissermaßen zu den Anfängen zurück. Die kraftvolle Tradition amerikanisch-angelsächsischer Erzähler wird ebenso wie die etablierten Programmlinien mit Kabarettisten wie Dieter Hildebrandt und Journalisten wie Frank Schirrmacher als Autoren auch künftig bei Blessing beibehalten.

Einige Zeit war der _Pendo-Verlag_ aus der Schweiz stillgelegt. Nun hat der frühere Chef von Ullstein-Heyne-List, Christian Strasser, die Verlagsleitung übernommen. Ullstein-Heyne-List hätte komplett an Random House gehen sollen, aber das Bundeskartellamt ließ dies nicht zu. So war dann ein Teil an Bonnier gegangen. Das Angebot auf Rückverkauf von Christian Strasser und anderen ehemaligen Mitarbeitern von Ullstein-Heyne-List hatte Random House ausgeschlagen. Pendo war zuletzt eine Tochter des Eichborn-Verlages und wurde Ende Mai 2004 geschlossen. Zum 1. Oktober startet der Verlag jetzt wieder neu mit literarischem Programm, Sachbuch und Lebenswissen. Eichborn kümmert sich allerdings weiterhin um die Herstellung und die Rechte und Lizenzen.

Der Frankfurter _Campus-Verlag_ begeht 30-jähriges Jubiläum. Die Themen des Verlages haben in den letzten Jahren eine Wandlung erhalten. Mittlerweile werden mehr als 50 Prozent des Umsatzes durch Lebenshilfe-Ratgeber erwirtschaftet. Auch die Hörbücher sind bei Campus im Aufwind. Das traditionelle Programm dagegen ist in der Wissenschaft bei Geschichte und Soziologie ähnlich dem von Suhrkamp oder C.H. Beck. Mit den Wirtschafts- und Bewerbungsbüchern rangiert man auf Platz zwei hinter Gabler.

Der sechste _Harry Potter_-Band bei Carlsen erscheint am 1. Oktober zum Ladenpreis von 22,50 Euro. Die Startauflage beträgt zwei Millionen Exemplare. Die Buchhandlungen erhalten kein Remissionsrecht. Von den bisherigen fünf deutschen Potter-Bänden wurden bislang 21 Millionen Exemplare verkauft. Weltweit beläuft sich die Zahl der verkauften Potter-Bände auf ca. 260 Millionen Exemplare in 61 Sprachen.

Der Verlag _Fantasy Productions_ startete mit dem Titel „Vor Adam“ von Jack London die Taschenbuchreihe „_Paläo Fiction_“, Geschichten aus der Vorzeit. Unterstützt wird die Reihe vom Neanderthal-Museum in Mettmann.

Der verstorbene _Papst Paul II._ begeisterte sich für Literatur und schrieb selber Lyrik, Dramen und Texte. Von ihm selber sind 62 Werke derzeit allein in deutscher Sprache lieferbar. Dazu kommen mehr als 100 Buchtitel, die sich mit seiner Person befassen. Nach seinem Tod im April aktualisierten die Verlage natürlich ihre Biografien und Bildbände. Mit dem gewaltigen Ansturm der Kunden hatten sie allerdings nicht im stattgefundenen Ausmaß gerechnet. Natürlich folgten dann auch schnell die Titel vom und über den neu gewählten Papst _Johannes Ratzinger_, von dem vor seiner Wahl bereits 29 geschriebene Bücher vorlagen und zählt man seine Ko-Autor-Titel hinzu, kommt man sogar auf 57 Titel. In vielen Buchhandlungen waren diese sofort ausverkauft; zwar lässt der Ansturm natürlich bald wieder nach, aber wenn der Papst im Sommer nach Köln kommen wird, erwartet der Handel die nächste Nachfrage-Welle. Ratzinger hat ein regelrechtes „Chart-Wunder“ vollbracht. Mit gleich vier Titeln war er in die Verkaufshitlisten eingedrungen, mit seiner „Einführung ins Christentum“ auf Anhieb auf Platz 1 der Sachbuch-Charts und bescherte damit dem Kösel-Verlag zum ersten Mal einen Nummer-1-Titel. Ratzinger ist der erste Autor, dem es gelang, aus dem Stand heraus mit vier Positionen die Bestseller-Listen erobern zu können. Was man von dem nun neu stattfindenden Dialog mit Religionen erwarten darf, zeigt beispielsweise eine meiner früheren Rezensionen zu [„Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen“, 165 eines jener Bücher, die jetzt auch in den Bestseller-Listen stehen.

Im April verstarb _Marie Louise Fischer_ im Alter von 82 Jahren. Die Autorin hat mehr als 150 Liebesromane und 75 Kinderbücher verfasst, die in bis zu 23 Sprachen übersetzt wurden, und erreichte mit ihrer Trivialliteratur damit ein Millionenpublikum. Allein in Deutschland verzeichnete sie eine Gesamtauflage von mehr als 70 Millionen Büchern.

Am 22. April ist im Alter von 98 Jahren _Erika Fuchs_ gestorben. Sie war die erste Chefredakteurin des „Micky Maus“-Magazins, langjährige Barks-Übersetzerin und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Am 17. März ist der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1982 _George F. Kennan_ im Alter von 101 Jahren gestorben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der einflussreiche US-Diplomat einer der Initiatoren des so genannten Marshall-Plans zum Wiederaufbau Europas. Als Gegner der atomaren Aufrüstung quittierte er später den diplomatischen Dienst, wirkte als Wissenschaftler und Publizist. Seine Einsicht, dass der Massenexport von Waffen in andere Länder, insbesondere in die Dritte Welt, Frieden verhindert, ist aktueller denn je. Auch in den vergangenen Jahren hat sich Kennan immer zu Wort gemeldet und vehement gegen Massenvernichtungswaffen ausgesprochen.

Am 7. April ist _Heinrich Hugendubel_, der sicherlich bedeutendste deutsche Buchhändler, im Alter von 68 Jahren verstorben. Er führte das 112-jährige Buchhandels-Imperium bereits in vierter Generation. Gegenwärtig zählt das Unternehmen 32 Filialen an 16 Standorten, ist mit 50 Prozent an Weltbildplus beteiligt, hält 40 Prozent Beteiligung an Orell Füssli in der Schweiz und ebenso je 50 Prozent an den Verlagen Ariston, Diederichs, Irisiana und Kailash. Nach seinem Tode bleibt das Unternehmen in fünfter Generation bei der Hugendubel-Familie.

Die Deutsche Bibliothek soll umbenannt werden in _Deutsche Nationalbibliothek_. Das sieht ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, den das Bundeskabinett am 11. Mai unter Federführung von Kulturstaatsministerin _Christina Weiss_ beschlossen hat. Das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ kann in seiner Neufassung erst in Kraft treten, wenn nach den parlamentarischen Beratungen auch der Bundestag zustimmt.

Zwar hatte der für nächstes Jahr gekündigte Frankfurter Buchmessendirektor _Volker Neumann_ bereits den künftigen Direktor _Jürgen Boos_ an seiner Seite, aber die Messe 2005 sollte noch die Messe von Neumann sein. Dennoch hat er nach all den nicht endenden Querelen nun sein Amt vorzeitig zum 30. April niedergelegt. Mit der neuen Leitung soll die Messe ab 2006 noch internationaler als bisher werden. Man ging nun ein Joint-Venture mit dem Südafrikanischen Verlegerverband für eine _Buchmesse in Kapstadt_ ein. Bislang galt die internationale Buchmesse in Harare (Simbabwe) als potenzielle Leitmesse für die schwarzafrikanischen Länder. Die neue Messe ist besonders für die englischsprachige Welt interessant, ebenso aber auch für die indischen Verleger – ein großer Teil der Bevölkerung Südafrikas ist indischer Herkunft. Neben der Fachmesse wird es ein großes Lesefestival geben. Betreffs der Leseförderung werden Schulen und Universitäten einbezogen und es wird große Events fürs Publikum geben. Die südafrikanische Regierung unterstützt die Messe, um das Lesen zu popularisieren und die Alphabetisierung voranzutreiben. Schriftsteller aus der ganzen Welt sollen nach Südafrika kommen. Die Frankfurter Messe war bereits Pate bei der Gründung der _Buchmesse in Budapest_ und insgesamt in den 90er Jahren im osteuropäischen Raum stark engagiert. Das waren allerdings alles Starthilfen. Für die wirtschaftliche Beteiligung der Frankfurter Buchmesse ist nun Kapstadt das erste Beispiel. Gleichzeitig wird versucht, von dieser Plattform aus ein noch stärkeres Engagement afrikanischer Verleger in Frankfurt zu gewinnen und Autoren von internationalem Rang aus Südafrika noch stärker an Frankfurt zu binden. Südafrika gilt auch als geplantes Gastland für die Frankfurter Buchmesse. Weitere solcher Joint-Ventures sind in Planung, denn man will das Knowhow nun auch international vermarkten.

Die Einladung des diesjährigen Gastlandes _Korea_ bleibt weiterhin ernüchternd. Nach all den schon geschilderten Vorfällen hat nun Nordkorea endgültig seine Teilnahme abgesagt und damit ist auch der große politische Versuch, kultur- und friedenspolitisch für dieses geteilte Land Akzente zu setzen, vollkommen gescheitert. Ungeachtet der Absage versucht die Messeleitung zusammen mit Südkorea Nordkorea zu bewegen, diese Absage wieder zurückzunehmen. Neben diesem Gastland-Gerangel wird die begonnene Kooperation mit der Filmindustrie fortgeführt und ausgebaut, wobei sich vor allem auf die Zusammenarbeit mit der „Berlinale“ gestützt wird. Und dies soll in den nächsten Jahren noch internationaler werden. Weiteres Beispiel solcher Kooperationen ist die Zusammenarbeit mit der Nürnberger Spielwarenmesse.

Neu im Netz sind nun drei Landesverbände des Börsenvereins: http://www.boersenverein-hessen.de, http://www.boersenverein-rheinland-pfalz.de und http://www.boersenverein-saarland.de.
|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net. |

Interview mit Rainer Wekwerth

Andreas Jur:
Hallo Rainer, dein neuer Thriller „Das Hades-Labyrinth“  ist nun bei Fischer erschienen – Kannst du uns schon etwas zum bisherigen Verkaufserfolg und den Reaktionen bei Leserschaft und Presse sagen?

Rainer Wekwerth:
Über den Verkaufserfolg lässt sich nach so kurzer Zeit noch nichts sagen. Ich weiß aber, dass der |Fischer|-Verlag mit den Abverkäufen in den Buchhandel sehr zufrieden ist. Die Reaktionen zu „Das Hades-Labyrinth“ fallen dagegen sehr vielseitig aus. Bei Amazon und in verschiedenen Foren hoch gelobt, habe ich auch Leser, die mir sagen, sie können das Buch nicht lesen, da sie Angst haben, davon in ihren Träumen verfolgt zu werden. Zugegeben ist es an manchen Stellen harter Stoff, aber die Schauereffekte werden allein durch die Phantasie der Leser erzeugt, denn ich ergehe mich nicht in blutigen Details. Aber ich wollte auch ein gewissen Effekt erzielen und meine Leser an Grenzen führen. Offensichtlich ist mir das gelungen.

Andreas Jur:
Das macht neugierig. Welchen Plot können unsere Leser im „Hades-Labyrinth“ erwarten?

Rainer Wekwerth:
„Das Hades-Labyrinth“ handelt von der Geschichte eines Mannes und seiner Rache. Kommissar Daniel Fischer erhält Informationen, dass unter der Erde seiner Heimatstadt Lichtenfels in unterirdischen Tunneln und natürlichen Höhlen Drogen im großen Stil angebaut werden. Er steigt mit zwei Kollegen hinab und trifft auf Adam, einen größenwahnsinnigen Killer, der dort mit seinen Jüngern haust. Fischer und die Beamten werden überwältigt und grausam gefoltert. Die beiden Beamten sterben einen schrecklichen Tod. Adam lässt sie pfählen. Für Daniel Fischer hat er sich etwas Besonderes ausgedacht. Ihn lähmt er mit einem Gift und überlässt ihn den Ratten.

Dies ist die Ausgangssituation, und mit Fischers Kampf gegen die Lähmung und die Angriffe der Ratten beginnt auch das Buch.
Daniel Fischer überlebt und kehrt nach drei Tagen an die Oberfläche zurück, aber er ist ein gezeichneter Mann. Körperlich und seelisch zerstört, bleibt ihm nichts mehr. Seine Frau verlässt ihn, seinen Job im Rauschgiftdezernat kann er nicht mehr ausüben. Daniel ähnelt durch unzählige Rattenbisse und viele Operationen inzwischen einem Albtraum der Mary Shellys Frankensteinroman entsprungen sein könnte. Achtzehn Monate verbringt er in Kliniken und findet danach nicht mehr ins Leben zurück.

Und dies ist die Story. Daniel Fischer muss erkennen, dass Adam ihm sein Leben genommen hat und nur Adam kann es ihm wiedergeben. Rache wird der alles beherrschende Gedanke, aber Adam ist verschwunden. Schließlich entdeckt Fischer seine Spur und schleicht sich unerkannt in ein Spezialeinsatzkommando der Polizei ein, das in den Abgrund steigt, um Adams Treiben ein für allemal ein Ende zu machen. Doch Daniel Fischer weiß: Adam ist mehr als nur ein Mensch, denn im Lauf seiner Jagd nach dem Killer hat er erfahren, dass eine dunkle Legende unter der Erde ruht und Adam eine alte Prophezeiung erfüllt.

Andreas Jur:
Ein Psychothriller mit Mysteryeinschlag also. Klingt lecker. „Hades“ übrigens klingt in Anlehnung an die griechische Unterweltsmythologie auch schon recht düster. Spielen die mythologischen Aspekte auch selbst mit in die Handlung hinein oder woher stammt der Hades-Bezug?

Rainer Wekwerth:
Es gibt historische Bezüge zu einer der grausamsten Figuren der Menschheitsgeschichte, neben der selbst Diktatoren wie Hitler und Stalin wie Waisenknaben wirken. Alles, was in diesem Buch geschieht, hat seinen Ursprung im 15. Jahrhundert und ich lasse in „Das Hades-Labyrinth“ einen Herrscher zu Wort kommen, der einem wirklich Albträume bescheren kann. Es gilt, eine alte Prophezeiung zu erfüllen. Der Fürst der Finsternis wartet auf seine Wiedergeburt.

Übrigens sind alle historischen Details gesichert. Ich habe intensiv recherchiert und mir nur ganz wenige künstlerische Freiheiten genommen.

Andreas Jur:
Die gründliche Recherchearbeit wurde ja auch schon in deinem vorigen Roman spürbar. Konnte sich [Traumschlange“ die erhoffte Aufmerksamkeit der deutschen Thrillerfans erkämpfen?

Rainer Wekwerth:
Traumschlange war kein großer Verkaufserfolg, hat mir aber eine Stammleserschaft gesichert und wurde in der Presse durchweg positiv besprochen. Mit „Das Hades-Labyrinth“ sieht die Sache schon anders aus. Allein die Vorbestellungen waren um ein Vielfaches höher als die Gesamtauflage von Traumschlange. Ich führe das auf den Schauplatz der Story in Deutschland zurück. Trotzdem kommt die Exotik nicht zu kurz, denn ein Großteil der Handlung spielt unter Erde. Diese Exotik ergibt sich also diesmal aus unterirdischen Stollen, Tunneln und Höhlen. Dort im Dunklen, unter ungewöhnlichen Bedingungen, sind meine Figuren auf sich allein gestellt. Es gibt keine Hilfe von oben. Sie könnten ebenso auf einem fremden Planeten gestrandet sein.

Andreas Jur:
Bei der Gelegenheit: Du konntest ja bereits unter dem Pseudonym „David Kenlock“ eine kleine Stammleserschaft um dich scharen. Was bewog dich dazu, das englisch anmutende Alias abzulegen und die letzten beiden Titel unter deinem bürgerlichen Namen zu veröffentlichen? Das war doch sicherlich ein Wagnis. War es die richtige Entscheidung? Und ist David Kenlock nun in den Ruhestand versetzt worden?

Rainer Wekwerth:
Das Pseudonym David Kenlock war ein Erfolg und Bücher wie z.B. [„Dunkles Feuer“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3502519994/powermetalde-21 laufen noch heute gut im Buchhandel. Allerdings habe ich ein englisch anmutendes Pseudonym immer als Last empfunden, da ich generell beweisen möchte, dass deutsche Autoren es mit den anglo-amerikanischen Kollegen aufnehmen können. Als ich mit dem Schreiben von internationalen Thrillern begann, war die Situation auf dem Buchmarkt allerdings so, dass man es deutschen Autoren einfach nicht zutraute, einen Roman auf internationaler Ebene und mit einem hohen Spannungsniveau zu schreiben. Mein erster Roman „Dunkles Feuer“ spielte in den USA. Damals hätten die Leser hierzulande gesagt: Was brauchen wir einen deutschen Autor, der über Amerika schreibt, dafür haben wir die „Amis“.

Der Buchmarkt wurde vor wenigen Jahren im Bereich Spannungsliteratur dermaßen von englischen und amerikanischen Autoren dominiert, dass ich keine Chance gehabt hätte. Also blieb mir nur der Weg über ein Pseudonym, denn im Regal hätte ich zwischen Autoren wie Stephen King, John Grisham, Michael Chrichton, etc. als deutscher Autor fast lächerlich gewirkt. Erst durch Autoren wie Andreas Eschbach und Frank Schätzing hat sich die Situation geändert, aber die beiden haben nicht mit internationalen Thrillern, sondern im Fall von Eschbach mit Science-Fiction, oder Schätzing mit deutschen Krimis begonnen. Ihre Ausgangssituation war anders und nun haben sie Autoren wie mir den Weg bereitet. Ich muss mich nicht mehr hinter einem Pseudonym verbergen, denn deutsche Verlage haben erkannt, zu welchen Leistungen deutsche Autoren fähig sind.

Zur Frage: „Richtige Entscheidung?“. Dies wir die Zeit zeigen. Noch ist es zu früh, darüber eine Aussage zu treffen, aber es ist richtig, David Kenlock hat sich seinen Platz auf dem Buchmarkt erobert, Rainer Wekwerth muss dies erst noch gelingen, aber ich bin zuversichtlich. Ob es noch Bücher unter dem Pseudonym David Kenlock geben wird, ist noch nicht entschieden.

Andreas Jur:
Die zentrale Figur in „Traumschlange“ ist eine Frau – Hat deine Gattin dich dabei in Sachen weiblicher Psychologie und Handlungsweise beraten?

Rainer Wekwerth:
Meine Frau Gaby liest alle meine Bücher und gibt mir wertvolle Anregungen. Ohne sie wären meine Bücher um einiges schlechter. Speziell zur weiblichen Psyche hat sie mir aber nichts gesagt, denn sie erfährt immer erst, um was es in dem Buch geht, wenn sie das fertige Manuskript in Händen hält. Dann legt sie aber richtig los. Es gibt Romane von mir, die nie ein Verlag zu sehen bekommen hat, weil sie ihr nicht gefallen haben. Ich verlasse mich zu hundert Prozent auf ihr Urteil, denn sie ist eine ungewöhnlich aufmerksame Leserin, die viele Büchern gelesen hat und somit über eine große Leseerfahrung verfügt.

Andreas Jur:
Auch die Örtlichkeiten in „Traumschlange“ klingen zunächst nicht gerade nach vertrautem Terrain. Die Protagonistin ist Britin, die Haupthandlung spielt auf Hait – Auch hier tun sich sicherlich einige Falltüren auf, in die man als Autor stolpern kann, wenn man bekanntes Gebiet verlässt. Abby Summers hätte vermutlich auch eine Stuttgarter Innenarchitektin sein können. Was hat dich zur Wahl der Nationalität bewogen? Gerade was Haiti angeht: Wie sorgst du für die nötige Authentizität? Warst du vor Ort oder hast du dich auf gründliche Recherchen beschränken müssen?

Rainer Wekwerth:
Ich würde Haiti niemals betreten. Dieses Land ist die Hölle auf Erden. Wer „Traumschlange“ gelesen hat, wird mir zustimmen, denn ein Großteil der Handlung wird von der politischen und sozialen Situation in Haiti bestimmt. Ich sorge für die nötige Authentizität, indem ich akribisch recherchiere und mit Menschen spreche, die dort lange Zeit gelebt haben. Ich bin ein Fanatiker und höre erst auf, wenn jedes Detail stimmt. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich einen Straßennamen benötige oder den Fahrpreis für eine Taxifahrt von einem Ort zum anderen. In „Traumschlange“ werden Gifte verwendet, deren Zusammensetzung ich bis ins Milligramm kenne. Ich habe mich mit Voodoo beschäftigt und meine Figuren benutzen alle kreolischen Begriffe korrekt. Ich kenne die Geschichte des Landes und verarbeite sie in meinem Roman. Ein Rezensent hat über „Traumschlange“ geschrieben: „Wenn man dieses Buch liest, kann man Haiti riechen, schmecken und sehen.“ Ein größeres Kompliment gibt es nicht.

Abby Summers wurde in meinem Kopf als Engländerin geboren. Sie war einfach da. Dies zu ändern hätte bedeutet, die Figur zu vergewaltigen.

Andreas Jur:
Du hast dich bei „Traumschlange“ auf einen zentralen und geradlinigen Plot beschränkt. War die Versuchung nicht spürbar, die besondere soziale, politische, wirtschaftliche und militärische Situation des Schauplatzes Haiti stärker mit der Storyline zu verflechten und ein regelrechtes Verschwörungsgebäude drumherum zu zimmern? Angeboten hätte es sich ja vielleicht.

Rainer Wekwerth:
Nein. Ich habe die besonderen Zustände auf Haiti in meine Handlung einfließen lassen, wollte aber einen geradlinigen Plot. Menschen tun anderen Menschen Böses an. Ich wollte das Böse an konkreten Namen festmachen, denn hinter allem Schlechten in der Welt steckt keine unbekannte Größe, sondern Menschen, meist von Gier getrieben. Es ist nicht der große Konzern, der die Umwelt verschmutzt, sondern der Manager in diesem Konzern, der aus Gewinnsucht die Umweltbestimmungen missachtet. Wenn irgendjemand auf dieser Welt stirbt, verdient ein anderer daran. Das sollte jedem von uns klar sein. Die Bombe, die ein Krankenhaus in Bagdad zerstört, sorgt für Gewinne bei den Rüstungskonzernen in den USA. In meinen Büchern versuche ich, diffuse Aussagen zu vermeiden und gebe dem Bösen ein Gesicht. In unserer zivilisierten Welt sieht man leider das Antlitz der Bösen nur, wenn jemand zum Massenmörder wird oder besonders grausam handelt. Aber das Böse verbirgt sich viel häufiger hinter dem Lächeln eines Aufsichtsratsvorsitzenden, der im Bestreben, seine Gewinne zu steigern, die Produktion ins Ausland verlegt, Tausende Arbeitsplätze vernichtet und kleine Kinder in Indonesien seine Turnschuhe in 12-Stunden-Schichten nähen lässt. Autoren wie ich sind ein Spiegel für die Gesellschaft. Auch wenn der Wunsch nach Unterhaltung dominiert, sollte der Leser nach der Lektüre eines Buches etwas klüger sein als zuvor und sich über bestimmte Problematiken seine Gedanken machen.

Andreas Jur:
Du bist oder warst ja wahrlich ein Hans Dampf in allen Gassen – Grafikdesigner, Kampfsportlehrer, Gärtner, Händler, Vertreter, Breakdancer, Redakteur, Spieleentwickler, noch so einiges mehr und schließlich Autor. Umtreibt dich ein unruhiger Geist? Das klingt nach einem spannenden Lebensstil. Wie bringt man das alles mit einem Leben als Ehemann und Familienvater unter einen Hut? Bist du immer noch so unternehmungslustig oder macht sich die Ruhe des heranschleichenden Alters bemerkbar? In welchen Bereichen neben der Schriftstellerei bist du derzeit noch aktiv geblieben?

Rainer Wekwerth:
Es ist schon ruhiger um mich geworden. Als kreativer Mensch unterliegt man immer wieder der Versuchung, sich neu zu erfinden. Das Neue ist die spannende Herausforderung, das Bekannte nur langweilige Routine. In diesem Denken schwebt eine große Gefahr mit, denn man konzentriert sich nicht und macht vieles nicht so gut, wie man es könnte, da man von einer inneren Unruhe vorangetrieben wird. Inzwischen lasse ich die Figuren meiner Romane die Abenteuer erleben und führe selbst ein ruhigeres Leben. So interessant mein Leben auch war, es war auch anstrengend, und neben vielen gefeierten Erfolgen galt es auch, Misserfolge zu verarbeiten.

Derzeit konzentriere ich mich auf das Schreiben und auf ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt. Ich habe eine literarische Agentur gegründet, die „Literarische Agentur Rainer Wekwerth“, im Internet zu finden unter http://www.die-autoren-agentur.de. Es soll eine Agentur von Autoren für Autoren sein, denn ich bin der Meinung, dass ein Schriftsteller die Arbeit eines anderen Schriftstellers am besten beurteilen und Verbesserungsvorschläge machen kann. Auf den Gedanken, eine Agentur zu gründen, kam ich durch meine Schreibkurse. Ich war überwältigt von der Einsicht, wie viele Talente da draußen darauf warten, entdeckt zu werden. Es lag nahe, dieses Potenzial zu nutzen. Meine Schreibkurse sind somit eine Art „Kaderschmiede“ für den schriftstellerischen Nachwuchs und Basis für die Arbeit der Agentur. Ich denke, von diesem neuen Konzept profitieren nicht nur die Autoren, sondern auch die Verlage, die mit der Zeit erkennen, dass „meine“ Autoren eine harte Schule durchlaufen haben und sehr professionell arbeiten.

Andreas Jur:
Als Jonathan Abendrot hattest du ja auch bereits Erfolge als Jugendbuchautor feiern können. Gerade jetzt, wo du seit einigen Jahren Vater bist – inspiriert dich das nicht, auch in dieser Richtung mal wieder einen Vorstoß zu wagen?

Rainer Wekwerth:
Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich spiele sehr viel mit meiner Tochter Anna (drei Jahre alt) und erzähle ihr Geschichten, die ich frei erfinde. Es genügt mir, jeden Tag einige Stunden in einer kindlichen Welt zu verbringen. Meine Arbeit als „harter“ Thrillerautor bietet hierzu einen gewissen Ausgleich. Aber wer weiß schon, was morgen ist? Bei einem entsprechenden Angebot werde ich nicht „nein“ sagen.

Andreas Jur:
Woran arbeitet der Thrillerautor Rainer Wekwerth dieser Tage? Was können wir als nächstes erwarten?

Rainer Wekwerth:
Derzeit erlebt die realistische Phantastik (Preston/Child, Frank Schätzing, etc.) einen Boom, dem ich mich aber nicht anschließen will. Ich arbeite an einem historischen Roman zur Zeit der spanischen Inquisition, aber ich habe auch noch ein paar andere Projekte im Hinterkopf.

Vielen Dank für das Interview.

Andreas Jur:
Ich habe zu danken und wünsche dir viel Erfolg mit dem „Hades-Labyrinth“ und deinem weiteren Schaffen.

Autorenhomepage: www.wekwerth.com

Literarische Agentur Rainer Wekwerth (inklusive Schreibkurs):
www.die-autoren-agentur.de

Buchwurminfos II/2005

Die Zusammenarbeit Hörbuch und Publikumszeitschrift scheint sich überaus zu lohnen. In diesen Wochen liegen der _“Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“_ jeweils in drei Folgen ungekürzte Hörbuchlesungen von „Die Schatzinsel“, „Robinson Crusoe“, „In 80 Tagen um die Welt“ und „Robin Hood“ kostenlos bei. Die PR-Aktion für die Jugendklassiker-Reihe des „Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen“ soll einer größeren Öffentlichkeit für die insgesamt 18 Titel umfassende Reihe dienen. Auch Random House und Verlagshaus Gruner + Jahr – konkret die Frauenzeitschrift „Brigitte“ – haben eine gemeinsame _Hörbuch-Edition „Starke Stimmen“_ konzipiert und das kommt richtig gut an. Bereits die erste Ausgabe für Elke Heidenreichs Interpretation von Dorothy Parkers „New Yorker Geschichten“ hatte schon vor dem Erstverkaufstag 50.000 Vorbestellungen. Für ein Hörbuch eine gigantische Zahl. Hörbücher bleiben zwar mit einem steigenden Marktanteil von nur 3,2 % eigentlich unbedeutend, aber statistisch glaubt man an den Erfolg. Denn dieser schnellt nach oben. 2004 14,7 % Umsatzzuwachs gegenüber 2003, 2003 waren es 10,3 % gegenüber 2002 gewesen. An kräftigsten natürlich im Bereich der Belletristik. Und dort gibt es nun die ersten literarisch anspruchsvollen satten Verkaufserfolge. Der Verband der phonographischen Wirtschaft verleiht dem Verlag _steinbach sprechende Bücher_ gleich _drei goldene_ Schallplatten für die Hörbücher von _Paulo Coelho_. 150.000-mal wurde sowohl das Hörbuch „Der Alchemist“ wie auch „Der Wanderer“ verkauft und 100.000-mal „Unterwegs“. Der auf die ungekürzte Lesung profilierte Verlag mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Literatur, klassischen Autoren, literarisches Sachbuch sowie Kinderhörbuch produziert jährlich etwa 30 Titel, lieferbar sind rund 200 Titel. Gespannt kann man jetzt schon auf das im Mai erscheinende Hörbuch „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami mit 20 CDs sein. Die Preise für Hörbücher purzeln endlich auch immer mehr. Den gestarteten Niedrigpreisreihen anderer Verlage hat sich nun auch der Münchner _Hörverlag_ mit seiner „Smart Edition“ angeschlossen. Die Reihe startete mit neun Titeln zum Preis von 7,99 Euro.

Zeitungen scheinen mit den Bucheditionen richtig Geschäfte zu machen. Die _“SZ-Bibliothek“_ der Süddeutschen Zeitung, die auf 50 Titel konzipiert war, wird fortgesetzt und um weitere 50 Bände erweitert. Nicht nur mit Büchern und Hörbüchern, auch mit DVDs wird da viel ausprobiert. Nach der _DVD-Reihe_ in Kooperation ZDF und der „Welt“ legte jetzt auch die _“Frankfurter Allgemeine Zeitung“_ in Zusammenarbeit mit „Spiegel TV“ eine zwölfteilige Dokumentation zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vor. Außerdem hat die „FAZ“ seit Ende Februar bis Anfang Mai unter dem Titel „Faszinierende Natur“ eine zehnteilige Reihe von BBC-Dokumentationen auf DVD. Und nahtlos an die „SZ-Bibliothek“ begann sich die _“SZ-Cinemathek“_ anzuschließen, die ebenfalls 50 Spielfilme auf DVD umfasst. Was den Schaden solcher Zeitungs-Billig-Editionen für den Buchhandel angeht, beruhigt der Börsenverein. Im gesamten Kaufverhalten machte dieser Umsatz etwa 4 % aus und führte eher dazu, das Interesse an Büchern zu wecken.
Gut laufen im übrigen Buchgeschäft auch bestimmte _“Ratgeber“-Titel_. Das Lieblingsthema ist wie seit Jahren unverändert der eigene Körper und seine Befindlichkeit. Wellness und Selbstfindung liegt nach wie vor im Trend.

Am 16. Juli, eine Minute nach 1 Uhr (0.01 Uhr der britischen Sommerzeit), darf der _sechste Band von Harry Potter_ verkauft werden und im März ging der Hype schon wieder los. Die Buchhändler sind verärgert, denn wieder gibt es einen langen Vertrag mit 13 Punkten zu unterschreiben: Vor dem besagten Tag darf man weder selbst das Buch lesen, noch dürfen dies die Mitarbeiter; sogar Fotografien von Kartons sind unzulässig und noch mal anders als in den Vorjahren gibt es nur ein beschränktes Remissionsrecht: erst ab 1. November darf remittiert werden, die Gutschrift darf aber 20 % des Betrags der Eingangsbestellung bei Bloomsbury nicht überschreiten. Auf Nachbestellungen wird überhaupt kein Rückgaberecht mehr eingeräumt. Da keine Preisbindung vorliegt, läuft der Preiskampf auf Hochtouren, wahrscheinlich legen viel Händler wieder drauf, anstatt mal zu verdienen. Die Niedrigstpreisgarantie hat bislang Weltbild mit 15,75 Euro. Wer es woanders billiger bekäme, braucht dann sogar bei Weltbild nur diesen Preis zu zahlen. In diesem Jahr entschließen sich viele der kleinen Buchhändler erstmals dazu, die Verträge nicht zu unterzeichnen und Harry Potter bei Erscheinen nicht anzubieten, weil sie beim anstehenden Preisdumping einfach nicht werden mithalten können. Bei Interesse von Kunden nutzen sie die Barsortimente.

Die Zeitschrift _Hagal_, bislang im Verlag Zeitenwende erschienen, ist vom Regin-Verlag übernommen worden und kam im März erstmals unter ihrem neuen Untertitel „Zeitschrift für Tradition, Metaphysik und Kultur“ heraus. Der bisherige Untertitel „Zeitschrift für Mythologie, Religion, Metaphysik und Esoterik“ wurde geändert, weil esoterische und mythologische Themen künftig nur dann noch behandelt werden, wenn sie in einem Kontext mit der überlieferten Tradition stehen.

In Polen ist beim Warschauer Verlag XXL das in Deutschland verbotene Buch von Adolf Hitler _“Mein Kampf“_ als Neuausgabe gedruckt worden. Die Auflage liegt bei 2000. Bereits 1992 war dort eine erste Ausgabe erschienen, die inzwischen vergriffen war. Unter dem Kommunismus war das Buch in Polen verboten. In der Türkei ist Hitlers Buch seit langem sehr gefragt und erhältlich. „Kavgam“ (der türkische Titel) gehört dort zu den meist verkauften Büchern des ersten Quartals 2005.

_Rolf Hochhuth_ hat den Fehler begangen, sich differenzierter zu „rechten“ Zuordnungsmechanismen zu äußern, indem er den in Deutschland als „Holocaust“-Leugner bezeichneten britischen Historiker David Irving als „fabelhaften Pionier der Zeitgeschichte“ bezeichnete. Diese Aussage führte sofort zu großem Aufschrei über Hochhuth in Deutschland, weswegen er sich von seiner eigenen Aussage schnell wieder distanzierte. Dennoch wird nun die Deutsche Verlagsanstalt die für Frühjahr 2006 geplante Autobiografie von Hochhuth, die zu seinem 75. Geburtstag am 1. April erscheinen sollte, nicht mehr veröffentlichen, da die getätigte Aussage nicht mit den Autoren von DVA in Einklang zu bringen sei. Hochhuth besteht allerdings auf Vertragserfüllung und geht mit Anwalt vor Gericht.

Bundesinnenminister Otto Schily hat den in Hessen ansässigen Verlag der türkischsprachigen _Zeitung „Anadoluda Vakit“_ wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung verboten. Unter dem Deckmantel einer angeblich seriösen Berichterstattung sei antijüdische und antiwestliche Hetze verbreitet worden. Bereits im Dezember hatte die CDU gegen das Blatt, das in Deutschland in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheint, verfügt, Anzeige wegen Volksverhetzung erstattet.

Am 18. Februar kam endlich der Rat für deutsche Rechtschreibung zu seiner ersten Arbeitssitzung über die _Rechtschreibreform_ in Mannheim zusammen. Diskutiert wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung. Von den insgesamt 36 Sitzen des Gremiums blieben die beiden Plätze der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die aus Protest fernbleibt, nach wie vor unbesetzt. Da man nicht wirklich weiter weiß, wurde einfach mal wieder ein siebenköpfiger Arbeitskreis ins Leben gerufen. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, endlich eine diskussionsfähige Grundlage zu schaffen. Geleitet wird die Gruppe von Ludwig Eichinger, dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. Eigentlich soll der Rat bis zum 1. August die bereits reformierte Reform noch mal reformieren, bis dahin trifft sich der Rat noch dreimal. Das Ganze bleibt schildbürgerisch und Eichinger rechnet auch nicht mit der Klärung aller strittigen Fragen bis zum Inkrafttreten der Reform in den Schulen am 1. August. Auch einer der ausgetretenen prominenten Reformgegner ergreift im „Rat für deutsche Rechtschreibung“ doch wieder das Wort. Sprachwissenschaftler _Theodor Ickler_ vertritt die Interessen des deutschen PEN-Zentrums. Er möchte im Rat die „Interessen der Schulbuchvertreter“ aufdecken, denen er unterstellt, die Rücknahme der Reform zu verhindern. Sein Hauptanliegen ist ein „Moratorium“ für die Reform, die im August an den Schulen eingeführt wird.

Mit _Hans Christian Andersen_ können viele Verlage in diesem Jahr Jubiläum begehen. Seine Märchen sind jedem bekannt, allerdings weniger, dass er auch fünf Romane geschrieben hatte. Sein erster Roman „Der Improvisator“ von 1835 ist nun im 170. Erscheinungsjahr. Ansonsten feierte man am 2. April seinen 200. Geburtstag und am 4. August wird der 130. Todestag gewürdigt. Deswegen sind jede Menge Neuerscheinungen der Andersen-Märchen und -Romane, sowie Bücher über den Autor frisch auf den Mark gekommen. Einen Überblick über die medialen Höhepunkte, die zu den Jubiläen stattfinden, gibt es auf http://www.HCA2005.com.

Auch der am 29. Januar 1455 in Pforzheim geborene _Johannes Reuchlin_ ist im 550. Jubiläumsjahr. Sein Kampf gegen religiösen Fanatismus, Anmaßung und Intoleranz bildet bist heute die vorherrschende Perspektive auf das Leben und Werk dieses Gelehrten. Als neuplatonisch-kabbalistischer Philosoph, lateinischer Dichter, Gräzist und Begründer der christlichen Hebraistik hätte Reuchlin ohnehin Eingang in die Geschichtsbücher gefunden; zu jenem epocheprägenden „Wunderzeichen“, als das ihn nicht zuletzt Goethe gerühmt hat, wurde er aber erst durch seinen entschiedenen Einsatz für den Erhalt der jüdischen Literatur und seine daraus erwachsene Rolle als Verteidiger der Wissenschaft. Seine gesamten Werke nebst seinen Briefwechseln sind bei Frommann-Holzboog aufgelegt (www.fromman-holzbog.de).

Immerhin auch schon 130. Geburtstag feierte man mit _Edgar Wallace_, geboren am 1. April 1875 in Greenwich, gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood. Seine Kriminalromane wurden bereits in den 20er Jahren in Deutschland gelesen, aber ihre große Renaissance kam in den 50er Jahren mit der auffällig in rot gehaltenen berühmten Taschenbuchreihe des Goldmann-Verlages. Noch erfolgreicher waren dann die Filme – die ersten drei gab es bereits 1927 („Der große Unbekannte“), 1929 („Der rote Kreis“) und 1931 („Der Zinker“). Aber auch hier gelang der Durchbruch ebenso erst in den fünfziger Jahren mit „Der Frosch mit der eisernen Maske“. Wallace schrieb über hundert Kriminalromane. Davon wurden unter der Gesamtleitung von Horst Wendlandt und der Regie von Alfred Vohrer und Harald Reinl insgesamt 32 verfilmt. Ende der 60er Jahre ging es mit der Erfolgsreihe zu Ende, in welcher eine ganze Reihe großartiger Schauspieler regelmäßig agierten. Unvergesslich dabei vor allem Klaus Kinski in seinen Verbrecher-Rollen.

Der Verlag _Brockhaus_ begeht 200. Jahresjubiläum des Geburtstages von E. A. Brockhaus und zelebrierte diess mit einem spektakulären Festakt auf der diesjährigen Leipziger Messe.

Ebenso Jubiläum begeht der _Orlanda Frauenverlag_, der nun bereits seit drei Jahrzehnten gute Literatur für Frauen publiziert. Nachdem bei den meisten renommierten Verlagen die Frauenbuchreihen eingestellt sind, ist Orlanda einer der wenigen unabhängigen Verlage zur Frauenthematik. Begonnen hatte alles 1975 noch im Selbstverlag mit dem _“Hexengeflüster“_, einem Selbsthilfebuch der Frauengesundheitsbewegung. 1980 wurde der Verlag in sub rosa umbenannt, bevor 1986 die Idee kam, mit Orlanda den abgewandelten Titel eines Romans von Virginia Wolf als Verlagsnamen zu nehmen. Einer der weiteren großen Erfolge war _“Wechseljahre Wechselzeit“_ von Rina Nissim. Einer der Schwerpunkte von Anfang an ist auch die Literatur für das lesbische Publikum. In diesem Frühjahr startet mit |orlanda – die edition| eine neue Belletristikreihe, die von der langjährigen Fischer-Lektorin Ingeborg Mues betreut wird. Fischer hat ja seine anspruchsvolle Frauentaschenbuchreihe „Die Frau in der Gesellschaft“ vor einiger Zeit eingestellt. Dagegen sind in die derzeit boomende Frauenbelletristik hauptsächlich Romanheldinnen in eine leicht zu lesende Unterhaltungsliteratur verpackt, die in hohen Auflagen gedruckt und als preiswerte Stapelware angeboten wird. Der dafür verwendete Begriff: _“freche Frauenliteratur“_. Die Zielgruppe sind Frauen zwischen 25 und 35. Die besten Titel erreichen Auflagen von drei Millionen Exemplaren. Literarisch wertvoll sind sie nicht, eher substanzlos aus dem Leben gegriffen. Die Autorinnen gehören auch nicht zu hochgejubelten deutschen Gegenwartsautorinnen. Die heutige Frauenliteratur hat nichts zu tun mit der engagierten Frauenliteratur der 70er Jahre, die im Zusammenhang mit der neuen Frauenbewegung vor allem von Frauen für Frauen geschrieben wurde. Beispiele von damals: „Häutungen“ von Verena Stefan, „Wie kommt das Salz ins Meer?“ von Brigitte Schwaiger, „Gestern war heute“ sowie „Hundert Jahre Ewigkeit“ von Ingeborg Drewitz, „Kassandra“ von Christa Wolf oder auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. In all diesen Romanen ging es um die Beschreibung des Rollenverständnisses der Frau in einer vom Mann geprägten Gesellschaft. Begleitet wurde diese Erkundung von der großen Resonanz der feministischen Debatte innerhalb der Gesellschaft, was wiederum Verlage dazu veranlasste, eigene Frauen-Reihen aufzubauen. So entstanden 1977 die Reihen „Neue Frau“ bei Rowohlt und 1978 „Frau in der Gesellschaft“ bei S. Fischer. Damals wurden in dieser Sparte noch Alternativen und Antworten gesucht. Davon ist in dem neuen Genre der „frechen“ Frauen nicht mehr viel übrig geblieben. „Frech“ und „angepasst“ ist da kein Gegensatzpaar mehr. Der Stil dieser neuen Bücher ähnelt den weiblichen Psycho-Befindlichkeitstexten aus Frauenzeitschriften. Tatsächlich stammen viele der jüngeren Autorinnen aus den Redaktionen von „Brigitte“, „Cosmopolitan“, „Vogue“, „Freundin“ oder „Elle“. Begründet wurde das Genre Ende der 80er Jahre durch Eva Heller („Beim nächsten Mann wird alles anders“), Hera Lind („Ein Mann für jede Tonart“) und Gaby Hauptmann („Suche impotenten Mann fürs Leben“). Die Sehnsucht nach der großen Liebe und dem richtigen Mann fürs Leben scheint zeitlos. Auffallend an dieser Literatur ist jedoch, dass sie das traditionelle Frauenbild bevorzugt. „Frech“ hat heute nicht mehr den emanzipatorischen Beigeschmack der 70er Jahre. Der Markt dieser Literatur ist größtenteils aufgeteilt zwischen den Verlagen der Random-House-Gruppe (Goldmann, Heyne, Blanvalent etc.), Rowohlt, den S.-Fischer-Verlagen, der Verlagsgruppe Lübbe, Piper, Droemer Knaur und dtv. Die Übergänge zwischen „frechen“ Frauen als neuem Genre, aktueller Frauenliteratur und klassischen Liebesromanen sind fließend. Es gibt im dritten Jahr schon eine eigenständige Buchmesse – die „Liebesroman Messe“ vom 20. bis 22. Mai in Wiesbaden mit 200 geladenen Gästen, darunter Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Lektoren und Literaturagenten. Die Verlagsgruppen Droemer Knaur, Lübbe und Random House haben dort Stände und die „freche“ Frauenliteratur Workshops und Gesprächsrunden.

Zehnjähriges Jubiläum begeht auch die Reihe _C.H. Beck Wissen_, in der bereits mehr als 250 Titel erschienen sind.

Am 20. Februar verstarb _Hunter S. Thompson_, einer der besten Schriftsteller unter den amerikanischen Journalisten. Am populärsten ist wohl sein Roman „Angst und Schrecken in Las Vegas“, der auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.

Nach langer schwerer Krankheit ist der Verleger _Dr. Karl Blessing_ am 12.3.05 in München im Alter von 63 Jahren verstorben. Dr. Karl H. Blessing, geboren am 24. März 1941 in Berlin, verfasste nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie seine Dissertation über die Frühwerke Döblins. Lange Jahre in leitenden Positionen in der Verlagsbranche tätig, leitete er von 1982 – 1995 als Verleger und Programmgeschäftsführer die Verlage Droemer, Knaur und Kindler. 1996 gründete er mit der Bertelsmann Buch AG den Karl Blessing Verlag und verlegte dort niveauvolle Belletristik und interessante Sachbücher. Als klassischer Autorenverleger bot er in seinem zutiefst individuellen Programm immer wieder bekannten und noch nicht bekannten Autoren eine verlegerische Heimat. So wurde er 2004 vom Magazin |BuchMarkt| zum Verleger des Jahres gewählt. Unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House wird das anspruchsvolle Programm im Sinne Karl Blessings weitergeführt.

Der diesjährige _Leipziger Buchpreis_, seit 1994 jährlich auf der Leipziger Buchmesse vergeben, geht an die kroatische Schriftstellerin _Slavenka Drakulic_, die seit Beginn der 1990er Jahre die jugoslawische Bürgerkriegstragödie in mehreren Romanen und Reportagebänden analyisiert. Die Auszeichnung gilt vor allem ihrem jüngsten Werk: „Keiner war dabei – Kriegsverbrechen auf dem Balkan“. Als Beobachterin der Prozesse am Internationalen Tribunal in Den Haag zeichnet sie dort die Portraits der Täter nach. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung würdigt Autoren, die sich vor allem um die ost- und mitteleuropäische Annäherung verdient gemacht haben. Zu den Preisträgern gehörten bisher unter anderem Aleksandar Tisma, Peter Nadas, Imre Kertesz und Dzevard Karahasan. Auch andere Preise wurden auf der Messe vergeben, z. B. der seit 1977 vom |Börsenblatt| ausgeschriebene _Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik_, den diesmal _Hubert Spiegel_, der Leiter der „FAZ“-Literaturredaktion erhielt. Den _Kurt-Wolff-Preis_ erhielt der Bonner Verleger _Stefan Weidle_ vom Weidle-Verlag für sein engagiertes Programm mit Literatur der 20er und 30er Jahre als vorbildliches Beispiel für unabhängige Verlage in Deutschland. Und erstmals wurde in diesem Jahr der _Preis der Leipziger Buchmesse_ in den Kategorien Belletristik an _Terézia Mora_, Sachbuch/Essayistik an _Rüdiger Safranski_ und Übersetzungen an _Thomas Eichhorn_ verliehen. Auch zeigte sich die „kleinere Messe“ in diesem Jahr internationaler als je zuvor. Zunehmend gibt es Länder-Beiträge wie auch auf der Frankfurter Messe. Sogar Korea war angereist und gab einen Vorgeschmack auf die Frankfurter Messe, wo das Land dieses Jahr Gastland ist. Im Gegensatz zur Frankfurter Messe machen die kleineren und mittleren Verlage in Leipzig achtzig Prozent der Aussteller aus. Die Leipziger Buchmesse ist ansonsten mit der Aktion _“Leipzig liest“_ mit 1.200 Veranstaltungen und über tausend Mitwirkenden das größte europäische Literaturfest. Erfreulich war, dass die Bundeswehr dieses Jahr nicht mehr mit einem Werbestand auf der Buchmesse vertreten war. Unaufhaltsam wächst der Leipziger Branchentreff, bereits im 15. Nachwendemessenjahr, von Jahr zu Jahr.

Je näher der Termin der Messe anrückte, desto größer wurde innerhalb der Branche das Murren. Dass die Leipziger Messe zeitgleich mit der Lit.Cologne veranstaltet wird, stößt auf einheitliche Kritik, für dessen Ärgernis man die Kölner verantwortlich macht, denn Leipzig war nun einmal eher da. Man ist sehr gespannt, wie dieses Konkurrenzgebahren sich künftig entwickelt, denn die Kölner Messe hat nach dem Abgang der Popkomm kräftig in eine eigene Hörbuchmesse investiert. In der Öffentlichkeit ist Lit.Cologne auch nicht mehr wirklich beworben worden, sondern die meisten setzten dann doch wie gewohnt auf die Leipziger Messe. 120 Hörbuchverlage kamen nach Leipzig, im Jahre 2000 waren es gerade mal 40. Darunter waren alle renommierten Hörbuchverlage sowie alle ARD-Rundfunkanstalten, die sich als Hörbuchproduzenten nur in Leipzig vereint präsentieren. Wie auf der Frankfurter Messe gibt es nun das „Focus“-Hörbuch-Café mit attraktivem Fachprogramm. Bereits zum fünften Mal fand die zur Tradition gewordene „ARD-Radionacht der Hörbücher“ statt, die am Messefreitag live ausgestrahlt wurde. Als erfolgreichstes Hörbuch des Jahres wurde _“Die Päpstin“_ (DAV) mit dem _“HörKules“_ ausgestattet. Damit ist die Leipziger Messe der wichtigste Treffpunkt für die Hörbuchbranche geblieben.

Dennoch war die _5. Lit.Cologne_ mit rund 50.000 Besuchern ebenfalls überaus erfolgreich, was zu Änderungen führt. Der Termin für 2006 ist der 10. bis 18.März und die Messe wird damit von fünf auf neun Tage ausgedehnt und erstreckt sich über zwei Wochenenden. Da das Kinderprogramm auf der Messe auf großes Interesse stieß, wird es 2006 – neben der dann zweiten Kölner Hörbuchmesse – auch eine eigene Kinderbuchmesse geben. Der Streit um die Hörbücher wurde beigelegt, denn die Hörbuchmesse Audio Books Cologne wird nur vom 10. – 13. März 2006 gehen und die Leipziger Buchmesse ist dann erst die Woche darauf vom 16. – 19. März. Das überschneidet sich natürlich dennoch wieder mit der sonstigen Lit.Cologne. Zwar ist Köln eine Autorenmesse und Leipzig eine Buchmesse, dennoch erwartet Leipzig weiterhin, dass Köln den 2001 angezettelten widersinnigen Wettbewerb auf eine Weise löst, die in künftigen Jahren zu keinen Terminüberschneidungen mehr führt.

Das diesjährige Gastland auf der _Frankfurter Buchmesse_ könnte ein Flop werden. Politisch war die Auswahl des Gastlandes Korea – da Süd- und Nordkorea zusammen auftreten – ein genialer Coup, aber nun hat Südkorea sein kulturelles Rahmenprogramm radikal gestrichen. Als Grund wird angegeben, dass die einheimische Wirtschaft das Projekt im Stich gelassen habe und so wurden die geplanten Kultur- und Diskussionsveranstaltungen auf ein Minimum reduziert. Da verspricht man sich schon jetzt um so mehr vom Gastland 2006, welches Indien sein wird, denn dort entwickelt sich das Verlagswesen überaus rasant. Und 2007 folgt dann Katalonien als Ehrengast der Messe. Interessant dabei ist, dass sich damit nur eine Region präsentiert und nicht das gesamte Land Spanien. Erstmals schaut dann die Messe auf einen eigenständigen historischen Kulturraum und experimentiert mit einer neuen Herangehensweise an das Konzept des Gastlandes. In jedem Jahr nehmen die deutschen Verlage das Gastland zum Anlass, um Schwerpunkte in ihrem Programmen zu setzen.

Im _Börsenverein des deutschen Buchhandels_, dessen umfangreiche Reform in den letzten Jahren zu einem großen Wirtschaftsbetrieb geführt hatte, wird heftig um die Verbandsdemokratie diskutiert. Hauptthematik ist die bessere Kommunikation zu den Mitgliedern, denn „diese wollen nicht beruhigt werden, sondern beruhigt sein“ (Matthias Ulmer, Sprecher Arbeitsgruppe Verbandsreform). Bisherige Strategie war es immer gewesen, Probleme nicht an die große Glocke zu hängen. Dies erweist sich nun als ganz schlecht für die Bindung an die Mitglieder. Zum Beispiel durften auf den Hauptversammlungen bislang die Mitglieder dem Bericht des Vorstands lauschen, doch eigentlich sollte ein Vorstand doch auch hören, was die Mitglieder ihm zu sagen haben. Die einzelnen Sparten im gemeinsamen Verband driften immer mehr auseinander. Überhaupt verliert der Verband kontinuierlich pro Jahr etwa 200 Mitglieder. Vor kurzem ist auch Amazon aus dem Verband ausgetreten, was als Zeichen gewertet wird, dass die Großen den Börsenverein nicht mehr brauchen. Für die politische Lobbyarbeit ist es aber weiterhin wichtig, dass der Verband die gesamte Branche repräsentiert. Bertelsmann z. B. kann froh sein, dass der Börsenverein dem Club eine Plattform geboten hat, um das Potsdamer Abkommen neu zu verhandeln. Sehr problematisch ist auch, dass der Ruf nach einem eigenen Verlegerverband lauter wird. Die Differenzen in den Streitigkeiten – wie z. B. Konditionen mit dem Sortiment – scheinen zu groß zu werden. Der Börsenverein will nun, um als spartenübergreifender Verband bestehen zu bleiben, mehr das selbstständige Eigenleben der Sparten innerhalb des Verbands fördern. Für den Austausch unter den Sparten gab es bislang die Abgeordnetenversammlung, die aber in der Praxis nicht funktionierte. Auf den Treffen wurde genau das erzählt, was auch am Tag zuvor in den Fachausschüssen gesagt wurde. Die Mitglieder assoziieren mit der Abgeordnetenversammlung einen „Frankfurter Klüngel“ und wollen, dass Entscheidungen auf der Hauptversammlung getroffen werden, bei der jedes zahlende Mitglied Sitz und Stimme hat. Die Vision der künftigen Hauptversammlung ist ein wirklich lebendiger Verleger- und Buchhändlerkongress mit einem vielfältigen Rahmenprogramm und intensiver Diskussion über den Verein. Inzwischen fühlen sich selbst Vorstandsmitglieder desinformiert. Jetzt soll der Vorstand erweitert und mit neuen Strukturen die Verbandsarbeit wirklich revolutioniert werden. Auch die Vertreter der Landesverbände werden in den Vorstand mit aufgenommen. Um den Streitereien ein Ende zu bereiten, müssen alle an einem Strang ziehen können. Die Entfremdung der Mitglieder von den Landesverbänden ist allerdings seit Jahren schon nicht mehr übersehbar. Es besteht die Pflicht einer Doppelmitgliedschaft im Bundesverband wie im Landesverband, was die Mitglieder schon lange nicht mehr einsehen. Aufgrund solcher nun eskalierender Politik der letzten Jahre zum Wirtschaftsverband war das kulturpolitische Profil auf der Strecke geblieben. Das Ansehen als Kulturverband soll gestärkt werden mit den bewährten Projekten wie dem Friedenspreis oder dem Vorlesewettbewerb. Aber auch durch neue Projekte wie den Deutschen Buchpreis und „Ohr liest mit“.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Gottesstaat Iran

Im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen weltweiten Informationsgesellschaft treffen Kulturen frontal aufeinander, weswegen der interkulturelle Dialog notwendiger ist als je zuvor. Dem gegenüber gibt es allerdings Kräfte, deren Interesse ein klares Feindbild „Gut“ gegen „Böse“ aufrechtzuerhalten versucht. Für die westliche Gesellschaft ist das „Böse“ das Schreckgespenst des Islams, jedenfalls in Form der Vorstellung der islamischen Utopien für einen „Gottesstaat“. Ungeachtet des pathologisch kranken Fundaments der islamischen Religionsvorstellung, welches aber genauso auch in den anderen monotheistischen Buchreligionen der Christen und Juden besteht, erscheint es viel zu einfach, den Islam auf eine bestimmte Ideologie festzulegen. Die Strömungen innerhalb dieser Religion sind genauso vielfältig, facettenreich und unterschiedlich zueinander wie in anderen Systemen auch.

Im Koran selbst findet sich keinerlei Hinweis auf die Gestaltung eines Gottesstaates, denn dieser gilt erst möglich, wenn der letzte Imam sich aus seiner Verborgenheit sichtbar manifestiert. Philosophisch steht dahinter der Gedanke, dass solches in einer weltlichen Realität überhaupt nicht möglich ist. Der heilige Krieg ist synonym mit der Rückkehr ins Paradies und der Erkenntnis, dass ein Paradies auf Erden nicht möglich sei. Im Grunde ist dies also dieselbe Idee wie der christliche augustinische Gottesstaat, der nur im Himmelreich verwirklicht werden kann. Dennoch gibt es die Bestrebungen, einen solchen Gottesstaat zu verwirklichen, und die Bemühungen dahingehend lassen sich am besten am Beispiel des Iran aufzeigen, da dieser das einzige islamische Land ist, wo dies versucht wurde zu verwirklichen. Dabei gehört die Staatsidee selbst schon zur Moderne, was vom Westen gerne ignoriert wurde.

Die Verfassung des Iran, die auf demokratischen Ideen beruht, ist nun bereits einhundert Jahre alt und war schon damals ein Zeichen dafür, dass Moderne und Tradition sich zu vermischen begannen. Angehalten wurde dieser Prozess durch den Staatsstreich 1921 von Reza Khan und die Einführung der Monarchie, was die Bevölkerung zwar unterdrückte, aber genauso auch mit westlichem Denken infiltrierte. Erst mit der Revolution 1979 wurde diese Diktatur beendet und die erste islamisch-klerokratische Staatsform unter Homeyni eingeführt. Der anfangs vom Westen zu Recht geächtete Fundamentalismus hat seitdem viele Entwicklungen durchlebt und sich längst wieder liberalisiert. Selbst unter dem „Revolutionsrat“ zu Homeynis Zeiten gab es aber – ähnlich vielleicht wie unter den vielfältigen unterschiedlichen Gruppierungen unserer NS-Zeit – völlig konträre Sichtweisen.

Diese zu kennen und differenzieren zu lernen, gehört eigentlich zur Pflicht, wenn man in der Gottesstaats-Debatte mitreden möchte. Denn es ist sehr profan zu glauben, dass die islamischen Geistlichen als Urheber solcher Visionen ins tiefste christliche Mittelalter zu rücken wären. Im Gegenteil handelt es sich um eine politische Philosophie auf höchstem Niveau, die sich sehr wohl auch fundierteste Kenntnisse der westlichen Philosophie angeeignet hat. Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte spielen in den religiösen Diskussionen eine große Rolle. Wie erwähnt, ist im Offenbarungstext des Koran auch keine Stelle zu finden, mit der ein politisches Mandat der Religion eindeutig begründet werden könnte. Natürlich gibt es schon seit dem frühislamischen Kalifat ein „dualistisches“ System mit Aufteilung politischer und religiöser Aufgaben, aber historisch ist das sowohl bei den Sunniten mit dem Tod des 4. Kalifen als auch bei den Schiiten mit dem Entschwinden des 12. Imam aufgehoben.

Das islamische Gesellschaftsbild ist utopisch und lässt sich nicht politisch, sondern nur weltanschaulich definieren. Die Schiiten erkennen außer den zwölf Imamen keine rechtmäßigen Herrscher an und auf Mohammed selbst kann sich mangels Äußerungen von ihm sowieso kein Mohammedaner beziehen. Die Meinungen gehen bereits seit seinem Tod erheblich auseinander, weswegen es eine große Vielzahl religiöser Gruppierungen und Richtungen gibt. Die Herrschaft des „einfachen“ Menschen wird – da er göttlichen Ursprungs ist – solange akzeptiert, bis irgendwann der zwölfte Imam als rechtmäßiger endzeitlicher Herrscher wieder erscheint. Auch im Islam es am naheliegendsten, deswegen den islamischen Staat auf freier Wahl und Volksherrschaft zu begründen.

Die Errichtung eines islamischen Staates ist eigentlich nur der Versuch, die kulturelle Eigenart bewahren zu können. Es handelt sich dabei um eine Sache der Vernunft. Eine islamische Identität der Muslime ist im Grunde ein Zeichen der Verwestlichung, um überhaupt eine gewisse Geschlossenheit der islamischen Welt in politisch und religiös-geistlicher Hinsicht präsentieren zu können. Obwohl die Grundrichtung dadurch schon immer antiwestlich ist, wurde die Notwendigkeit der Aneignung der modernen Wissenschaft und des westlichen Denkens auch immer als notwendig betrachtet. Die islamischen Philosophien gingen sogar so weit festzustellen, dass die Europäer mit der Praxis der Freiheit, der Gleichheit und der bürgerlichen Gesetze eher dem Islam folgten als die Muslime selbst. Seit der Verfassungsschaffung von 1906 im Iran setzten sich die religiösen Führer für modernes Bildungssystem, moderne Wissenschaft und politische Erneuerung ein, wobei sie aber den Parlamentarismus immer wieder ablehnten. Modernisierung und Verwestlichung wurden immer klar unterschieden, aber dessen, dass Modernisierung nicht vollkommen ohne Verwestlichung machbar ist, war man sich ebenso bewusst. Es gab jedoch keine Alternative zur Modernisierung, denn für den Fortschritt ist es unabdingbar, dass Armut und Elend im Volk beseitigt werden.

Schlüssig bleibt auch dabei die Bemühung, eigene Werte von denen der westlichen Zivilisation abzugrenzen. Soziale westliche Gedanken und deren Wissenschaften haben nichts mit Religion zu tun und stehen nicht in Widerspruch zu ihr. Vertreter des Gottesstaates sehen in ihrem Modell ein demokratisches und nicht-aristokratisches System. Die Schiiten sehen im Islam selbst eine revolutionäre Bewegung gegen die Schia der sunnitisch islamischen Mehrheit. Aber nie legten die Anhänger der 12-Imam-Lehre es auf einen Kampf gegen die so genannten unrechtmäßigen sunnitischen Herrscher an, wobei die schiitische Auffassung vom idealen Zweck der Religion im Kern die revolutionäre Aktion begünstigt, was 1978 auch zur Revolution von Homeyni führen konnte. Im Iran steht seitdem allerdings die Erneuerung der islamischen Gesellschaft auf der Tagesordnung, die ursprünglichen Ziele, diese Revolution zu exportieren, wurden fallen gelassen und die derzeitigen Reformbestrebungen sind auch nicht mehr radikal.

_Geschichtlicher Verlauf der religiösen Staatsentwicklung im Iran_

|1. Seyh Hadi Nagm`abandi (1834 – 1902)|

… befasste sich mit Vernunft und Glauben und entwickelte die „Kritik der religiösen Vernunft“, die in der Geschichte der iranischen „Erwachsenenbewegung“ maßgeblich war. Er stand in enger Beziehung zu den Freimaurern und somit Reformern. Seine Werke gelten als „neue spekulative Theologie“ mit dem Menschen als „vernünftigem Wesen“ im Mittelpunkt. Vor allem stellte er die Legitimation der Überlieferung in Frage, die ohne rationale Überprüfbarkeit nicht akzeptiert werden könne. Aus menschlicher Vernunft heraus betrachtet er den ersten Propheten. Mit ihm hätte ein authentischer islamischer Humanismus begründet werden können, wenn dies nicht nach Scheitern der späteren Staatsverfassung und Wiedereinführung der Monarchie verdrängt worden wäre.

|2. Seyyed Asadollah Harquani (1839 – 1936)|

Er befürwortete die Modernisierung im Land, aber bekämpfte die Kolonialmächte. Unter Moderne verstand er die technologische Modernisierung; die politischen, rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Aspekte ließ er dem Islam vorbehalten. Die Moderne sollte sich dem Islam anpassen. Im Islam sah er den Geist der Freiheit, Gleichheit, Wohltätigkeit und Brüderlichkeit und da dies im islamischen Gesetz auch verankert ist, sah er die islamische Demokratie gegenüber der unvollkommenen, begrenzten Gleichheit westlicher Länder als die vollkommenere an. Aber in der Verbreitung der Demokratieversuche in der westlichen Welt sah er ein Indiz, dass die Erscheinung des verborgenen zwölften Imam näher rücke. Während der Verfassungsrevolution 1906 saß er im Revolutionskomitee und machte sich dort besonders für Re-Islamisierung stark. Herrschaftsgewalt war auch bei ihm nicht vererbbar, sondern von der islamischen Gemeinschaft gewählt.

|3. Mirza Mohammed Hoeyn Na´ini (1860 – 1906)|

Von ihm stammt der Entwurf zur Errichtung eines islamischen Staates nach westlichem Muster (1906), der sich zwar mit eigenen zivilgesellschaftlichen Strukturen und eigenen kulturellen und religiösen Werten von westlich fremden Werten abgrenzen sollte, aber nicht die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten anstrebte. Eine Verfassung neben der Scharia war für einen Teil der schiitischen Herrscher eine menschliche Rechtsordnung neben der göttlichen Ordnung. Er konstruierte eine moderne religiös-politische Lehre, die einen Bruch mit der Tradition bedeutete und vom Revolutionskonzept Homenys wieder aufgegriffen wurde. Der Geistliche Na`ini sah keine Unvereinbarkeit zwischen Religion und Politik bzw. Islam und modernem Staatssystem. Religion und Staat bilden in der islamischen Gesellschaft eine Einheit, die Errichtung eines islamischen Staates ist aber eigentlich aufgrund der Abwesenheit des heiligen Imam nicht möglich. Aus rationalem Denken heraus erschien eine Staatsbildung trotz dieser Tatsache dennoch notwendig.

Na`ini war überzeugt, dass das abendländische Christentum die moderne Wissenschaft und Zivilisation der islamischen Kultur verdanke. Die europäische Gesellschaft habe zuvor in Barbarei und Wildnis gelebt und ihren unzivilisierten Zustand durch die Begegnung mit der islamischen Welt überwunden und bezieht sich dabei auf Ansichten Rosseaus. Zu seiner Zeit sah er das aber umgekehrt, dass nämlich inzwischen Barbarei und Unterdrückung den Islam ergriffen haben. Deswegen setzte er auf den Staat, der bis zur Rückkehr des Endzeit-Imams provisorische Natur ist, und den Despotismus der konservativen islamischen Rechtsgelehrten beenden solle. Diese vergleicht er mit dem Despotismus der Päpste des Mittelalters, die ebenfalls die Menschen ihrer Freiheit beraubten. Durch einen Staat bekämen die Menschen ihre Freiheit zurück. Na´ini propagierte die Autonomie des Volkes, eine Gleichberechtigung zwischen Volk und politischen Akteuren und ließ dabei die herrschende und politische und religiöse Hierarchie außer Acht. Die islamische Religion, die immer als Religion der Vernunft betrachtet wurde, muss sich der „modernen Vernunft“ der Aufklärung anpassen.

|4. Seyyed Mohammad Hoseyn Tabataba`i (1902 – 1982)|

Er ist der wichtigste Theologe der Schia im 20. Jahrhundert, dessen Koraninterpretationen heute die stärkste Beachtung finden. Auch er ist von westlicher Philosophie inspiriert, stellt die Vernunft über Emotionen und sieht eine Staatsgründung als zum Menschsein gehörende Entwicklung an, die ein friedliches Miteinander ermöglicht. In seiner Soziallehre lässt sich nur ein Unterschied zu Hobbes‘ Philosophie feststellen, nämlich, dass die so genannte „Machtlehre“ Hobbes den metaphysischen Aspekt nicht berücksichtigt. Tabataba`i ist überzeugt, dass nur religiöse Gemeinschaften die einzig wahren Gesellschaften seien, weil sie eine Diesseits- wie Jenseitsperspektive bieten.

Die Frage der Herrschaft kann nicht im Rahmen der islamisch-schiitischen Rechtswissenschaft gestellt werden, sondern nur im Rahmen eines sozialphilosophischen Prinzips im Islam. Herrschaft ist eine „vormundschaftliche Betreuung“. Solch eine Gesellschaft für die Zeit der Verborgenheit des Imams zu definieren, gelingt ihm aber ebenso wenig wie den übrigen Geistlichen. Ein Mehrheitsprinzip, das Vorgänger von ihm vertraten, lehnt er ab, denn für ihn muss die Wahrheit der Maßstab sein. Das Prinzip der Humanität gehört für ihn zum Wahrheitsgemäßen. Die von demokratischen Gesellschaften ausgehende Kolonialisierung und Ausbeutung, unter denen die islamische Welt gelitten hat, sind für ihn ein Zeichen dafür, dass die westlichen Werte zu Entfernungen von den von Gott gegebenen Prinzipien der Natur führen. Aber er distanziert sich genauso auch davon, die religiösen Rechtsgelehrten in der „Zeit der Verborgenheit“ explizit als höchste Instanz der durchführenden und gesetzgebenden Gewalt zu bezeichnen.

|5. Seyh Mortaza Motahhari (1920 – 1979)|

Der führende Ideologe und Wegbereiter der islamischen Revolution 1978/79 beschäftigte sich stark mit der marxistischen Philosophie und wandte diese auch an. Beim Aufstand Homeynis 1962 kam er kurzzeitig in Haft, stand aber bis zur Revolution 1978/79 in ständigem Kontakt zu Homeyni, den er ideologisch und finanziell unterstützte. Während der Revolution gehörte er dem geheimen Führungsrat an, der nach dem Sieg weiterhin die Führung der islamischen Republik innehatte. Kurz nach dem Sieg der Revolution wurde er von der religiösen Gruppe „Forqan“ ermordet. Als Schüler Tabataba`is stand er ganz auf dessen Linie, transportierte diese Ideen aber in die intellektuelle Öffentlichkeit. Er vermittelte eine theologische Weltsicht der Scharia, die sich nicht direkt einer traditionellen theologischen Schule zuordnen lässt. Als Reformer verfolgte er das Ziel, die islamische Lehre von jeglichen eklektizistischen Ansätzen zu säubern. Nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“ versuchte er, den Glauben zu seinem Ursprung zurückzuführen. Dies geht mit einer „Entwestlichung“ einher.

Für ihn ist der Islam die Religion der Praxis und nicht der illusionären Bestrebungen und demnach vertritt er einen revolutionären Islam. Dieser ist eine politische neuplatonische Einheit-Vielheits-Lehre, aus welcher heraus die soziale Einheit postuliert wird. Die absolut klassenlose Gesellschaft erscheint ihm utopisch, da er Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Fähigkeiten erkennt. Seine Gesellschaftsutopie ist eine, in welcher es keine Diskriminierung gibt. Herrschaft darf nicht durch Gewalt erlangt werden, aber auch nicht durch Wahlen. Der Herrschaft wird der göttliche Maßstab vorangestellt, und sie ist kein republikanische, sondern eine vormundschaftliche. Keine Herrschaft des Volkes über das Volk wie in westlichen Demokratien, sondern eine Herrschaft des Volkes für das Volk. Er betrachtet dabei den islamischen Staat nicht als einen von Geistlichen regierten Staat.

|6. Seyyed Ruholla Homeyni (1902 – 1989)|

Er strebte schon früh den Rang eines Großayatollahs an. 1962 wurde er wegen seiner öffentlichen Kritik an Mohammed Reza Schah und dessen Reformmaßnahmen verhaftet und nur durch Vermittlung Kazem Sari`at Madaris vor der Hinrichtung gerettet. Darauf ging er in die heilige schiitische Stadt Nagaf im Südirak ins Exil und setzte von dort aus seine Aktivitäten gegen das Schahregime fort und formulierte erneut seine politische Lehre von einer islamischen Regierung in der Zeit der Verborgenheit des Imams. Unter seinen Schülern gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten, größtenteils auch viel differenzierter betrachtet als durch ihn. Aber zu seiner Zeit hat niemand anderes diese Ideen mit solchem Nachdruck vertreten. Islam ist für ihn politisch, und allen Geistlichen, die das anders sahen, erklärte er: „Ihr könnt rituelle Gebete verrichten, so viel ihr wollt. Sie wollen euer Erdöl. Was kümmern sie eure rituellen Gebete? Sie wollen unsere Bodenschätze. Sie wollen, dass unser Land zu einem Absatzmarkt ihrer Ware wird. Deswegen verhindern ihre Handlanger die Industrialisierung unseres Landes“.

Der Monarchie, die im Iran von den religiösen Gelehrten über Jahrhunderte zum Teil geduldet, zum Teil als notwendig erklärt wurde, spricht er jede Legitimität ab. Dafür propagiert er den islamischen Staat, denn selbst wenn der Imam erst in hunderttausend Jahren erscheine, dürfe nicht das Chaos regieren. Er stellt die religiösen Gelehrten sowohl bezüglich ihrer politischen Verantwortung als auch bezüglich der Quelle ihrer Macht mit den heiligen Imamen gleich. Historisch hat aber keiner dieser Imame, außer dem dritten (dem unsterblichen Märtyrer, der bei Kerbala getötet wurde), ernsthaft ein solches „Führungsamt“ angestrebt. Alle Imame begnügten sich mit geistlicher Macht. In Homeynis Weltanschauung stehen dagegen gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Fragen im Vordergrund, die gottesdienstlichen Handlungen sind nur als gering zu veranschlagen. Mit Homeyni hat die Anfangsphase der göttlichen Herrschaft und die Erscheinung eines Mahdi, des letzten Imams, begonnen.

Seiner Meinung nach bestand der schiitische Islam nur noch aus mythischen Ritualen und einem fanatischen Märtyrer-Kult. Dies versuchte er mit der Revolution 1978/79 und Gründung der islamischen Republik zu ändern, aber diese vollzog sich anders als die theokratische Herrschaft im „Goldenen Zeitalter“ des Frühislams. Das Volk ist an der Herrschaft beteiligt und die Struktur der islamistischen Republik trägt eklektische Züge: Traditionelle und dynamische religiöse Vernunft, schiitische, sunnitische und politische Einflüsse der Moderne sind enthalten. Zwar bekennt sich die Verfassung zur absoluten Souveränität Gottes, aber Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, öffentliche Meinung, Volkswillen, Wahlprinzip, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, nationale Sicherheit, relative Religionsfreiheit, moderne Wissenschaft und Industrie sind ebenso enthalten. Es ist keine rein islamische Herrschaftsstruktur, sondern jeder ist vor dem Gesetz gleichgestellt und Gott und Volk sind gleichermaßen wichtig. Entschieden wird im Parlament, diese Entscheidungen aber vom Wächterrat der geistlichen Führer auf Übereinstimmung zur Scharia überprüft. Genauso kann die oberste religiöse Instanz durch den vom Volk gewählten „Expertenrat“ vorgeschlagen wie auch abgesetzt werden.

|7. Seyh Ali Tehrani (geb. 1925)|

Ein Anhänger Homeynis, der sich gleich nach der Revolution 1978/79 weigerte, sich der religiösen Elite zu unterwerfen. Schon vor der Revolution arbeitete er mit den gemäßigten und linksprogressiven religiösen Denkern und national-liberalen Politikern zusammen. Zwar war er einer der Lieblingsschüler Homeynis und Revolutionsrichter, aber 1981 flüchtete er in den Irak und kündigte seine Loyalität zur islamischen Republik. Zu der Zeit stand er den Volksmudschahedin nah und befürwortete deren bewaffneten Kampf gegen das System. Heute lebt er allerdings wieder in Teheran. Seine Kritik richtet sich allein ans Vetorecht der Geistlichen. Wie auch die Mehrheit der modernen religiösen Denker sieht er die Herrschaft in der Zeit der Verborgenheit des unteilbaren Imams als eine Volksherrschaft. Im Grunde sind seine Vorstellungen die der Demokratie, stark beeinflusst von Platon und Aristoteles, mit modernem sozialistischem Gedankengut. Der Unterschied zur westlichen Demokratie ist der, dass es keinen Despotismus der Mehrheits/Minderheitenverhältnisse gibt – da das islamische Gesetz dem übergeordnet steht – und Materialismus natürlich verurteilt bleibt. Er sieht im Islam einen „islamischen universalen Sozialismus“.

Mittlerweile ist der Iran wider sehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Manche haben Angst vor einem iranischen Atombombenprogramm, vor allem ist aber zu befürchten, dass die USA nun auch noch nach Afghanistan und Irak in den Iran einfallen werden. Auch wurden die letzten iranischen Wahlen kritisch beobachtet wegen des Ausschlusses oppositioneller Politiker. Was den antiwestlichen und antikolonialistischen Aspekt betrifft, besteht allerdings kein Unterschied zwischen iranischen linken und gemäßigten Politikern gegenüber der radikalen religiösen Elite. Dennoch lohnt es sich auch, abschließend noch die Vertreter des neues geistigen Potenzials vorzustellen, die einen neuen politischen und religiösen Diskurs begonnen haben. Wie bisher festgestellt wurde, vollzieht sich diese Entwicklung aber bereits über hundert Jahre hinweg.

|8. Aqa Mahdi Ha´eri Yazdi (1923 – 1999)|

Er studierte westliche Philosophie an den amerikanischen und kanadischen Universitäten Georgetown, Harvard, Michigan und Toronto und schloss mit dem Doktorgrad ab. Nach der Revolution 1979 kehrte er in den Iran zurück. Er legt eine systematische Staatslehre aus islam-philosophischer Sicht dar, was in der herkömmlichen Tradition der islamischen Philosophie selten ist. Die politischen Ideen richten sich nicht mehr nach dem antiken Staatsdenken, sondern stützen sich vor allem auf die moderne westliche politische Philosophie. Damit führt er neue Ansätze und Modelle in die islamische Philosophie ein, aber prinzipiell setzt er an die Blütezeit der islamischen Zivilisation um das 9. – 11. Jahrhundert an, die später im 17. Jahrhundert ebenfalls schon im Iran als „Lichtphilosophie“ („Schule des Illuminismus“) weit gepflegt worden war.

Ähnlich wie Kant stehen bei Ha`eri die Philosophie als höchste Wissenschaft, die Existenz des universalen Archetypus als wahre Natur der Dinge und die Einheit der Existenz im Mittelpunkt. Nicht ganz eindeutig ist bei ihm, ob man von einer islamischen Philosophie überhaupt noch sprechen kann, denn dem Islam als Religion kann dieses Philosophieverständnis nicht entnommen werden. Alle Philosophien sind im Grunde von indischem, chinesischem, altiranischem, platonischem, neuplatonischem und aristotelischem Gedankengut durchdrungen. Ha`eris Werk ist aber das einzige in der Philosophiegeschichte des Islams, das sich nicht explizit der Metaphysik zuwendet, sondern sich umfassend der politischen Philosophie widmet. Er zeigt die unversöhnliche Beziehung zwischen Philosophie und Theologie und macht deutlich, warum die Theologie mit all ihren religiösen Wissenschaftszweigen für die Herrschaftslehre nicht zuständig ist.

Da Politik respektive Herrschaft zu den erfahrbaren und erfassbaren Dingen gehören, dürfen sie nicht von der Theologie behandelt werden. Er spricht sich gegen jegliche Form der Diktatur, d. h. gegen Despotismus, Totalitarismus und Autoritarimus aus. Denn die ideale politische Lebensführung und das menschliche Zusammenleben sind nur möglich, wenn man sich der Vernunft verpflichtet. Dabei bezieht er sich auf Vers 38 der Sure 42 des Koran und den Begriff „Sura“ (Beratung), der auf das Recht der Bürger hinweist, über eigene Angelegenheiten selbstständig zu beraten und Lösungsvorschlägen zu unterbreiten: „D. h. die menschliche Angelegenheiten sollen durch gegenseitige Beratung und Abstimmung gelöst und geregelt werden, nicht jedoch durch Offenbarung und die göttliche Gesandtschaft“.

Nach Ha`eris Philosophie negieren sich im Iran das Prinzip der Herrschaftsgewalt der Rechtsgelehrten und das Wahlprinzip einander gegenseitig. Er meint, dass man sowohl das Volk im Iran als auch die internationale Öffentlichkeit in die Irre geführt habe. Die religiöse Herrschaftsgewalt werde im Sinne eines juristischen Aufsichtsorgans lediglich als „Wächteramt“ verstanden. Die tatsächliche Bedeutung dieses Konzepts sei nicht nur eine Okkupation des entmündigten Volkes, sie sei auch eine Okkupation der göttlichen Souveränität. Ha´eri trennt politische und religiöse Fragen. Aus dieser Trennung folgt, wie in modernen westlichen Demokratien üblich, dass keine politische und staatliche Entscheidung rechtskräftig werden darf, wenn das Volk nicht selbst beteiligt ist. Ha`eri glaubt jedoch, dass dieses säkulare Verhältnis in der islamischen Welt nicht notwendigerweise mit einer Angleichung an die säkulare westliche Welt gleichgesetzt werden kann. Er kritisiert diejenigen islamischen Denker, die beim Versuch, den Islam zu stützen, den Islam entweder mit der Demokratie in Einklang bringen wollen oder ihn in Gegensatz zu anderen politischen Systemen stellen. Denn dies führe entweder dazu, den Ideen anderer bedingungslos zuzustimmen oder sie von vornherein als subjektiv und irrational abzulehnen. Ha`eri zieht es deswegen vor, von zwei Formen des kulturellen und gesellschaftlichen Gefüges zu sprechen, anstatt islamische und demokratische Herrschaftsformen zu vergleichen.

Der Islam ist für ihn weder ein politischer Entwurf, noch hat er der Islam die Absicht, eine politische Herrschaft zu stiften, die dem Menschen die Mündigkeit entziehe. Ha`eri betont die „die Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ im Koran, den Menschen als „Abbild und Gleichnis“ Gottes, eine Sicht, die auch in der christlichen Theologie besteht. Im Koran spricht Gott den Menschen als ein autonomes Individuum an. Deswegen kritisiert Ha`eri die moderne Gesellschaft, in der die Demokratie einerseits auf die Souveränität, Freiheit und Individualität seiner Bürger stolz ist, und andererseits seine Bürger als willenlose Mitglieder seiner Gesetze und seiner vereinbarten Anordnungen ansieht. Seine Staatstheorie ist ein Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf der Basis, dass nur der freie Wille und die persönliche Freiheit zählen. In der islamischen Welt gibt es nicht nur den staatlichen Pluralismus, sondern auch eine individuelle Pflicht dazu. Der Mensch als Individuum ist im Islam gegenüber seinen Mitmenschen, seien es Ungläubige oder Glaubensbrüder, zu jeder Zeit und an jedem Ort in sozialen, ethischen, ökonomischen und menschlichen Beziehungen überhaupt in die Pflicht genommen.

|9. Mohammad Mogtahed Sabestari|

Er wurde in Täbris in der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan geboren. Nach einem theologischen Studium in der heiligen Stadt Qom, wo er sich auf Philosophie und spekulative Theologie spezialisierte, mit Doktorgrad abgeschlossen, leitete er vor der islamischen Revolution das schiitische islamische Zentrum in Hamburg. Dabei lernte er die deutsche Sprache und beschäftigte sich mit der christlichen Theologie. Heute unterrichtet er an der Universität in Teheran. Er sieht als wichtigsten gesellschaftlichen Faktor in der Weltpolitik nicht die Machtlosigkeit des Islams, sondern in den gegenwärtigen Kriegen und Feindseligkeiten sieht er als Ursache die „Ungleichheit“, die hauptsächlich auf materielle Verhältnisse zurückzuführen ist und nicht auf kulturelle Unterschiede. Das Problem der gegenwärtigen Menschheit sind Sklaverei, Feudalismus, religiöse Kriege, Nationalismus sowie der moderne Kapitalismus und Kolonialismus. Die Menschheit ist in eine schwache Mehrheit und eine starke Minderheit aufgeteilt.

Heute mobilisieren sich massiv die Kräfte der Menschen gegen diejenigen Minderheitsvertreter, die die Wächter von Diskriminierung und Kolonialisierung sind. Es wird der Ruf nach einer weltweiten Einheit der Menschen und nach Gleichheit unter den Menschen aus allen Ecken der Welt laut. Sabestari setzt dabei auf internationale Organisationen wie die UNO. Die westliche Welt hat bei der Verwirklichung von Einheit und Gleichheit versagt, da ihre Organisationen unfähig und krank sind. Was heute als Frieden bezeichnet wird, ist eine instabile und unsichere Gleichgewichtsstrategie, die auf der Basis des Schreckens beruht. Rüstungswettlauf, Ausbeutung der Entwicklungsländer, Vetorecht für die starken Länder, verschiedene Militär- und Verteidigungsbündnisse wie das nordatlantische, sowjetische und asiatische Bündnis, die zunehmende Armut, ungleiche Arbeits- und Einkommensverhältnisse, Rassendiskriminierung usw. sind Beweise für die Unfähigkeit der westlichen Mission.

Nächstenliebe ist für Sabestari die grundsätzliche Bedingung für das friedliche Zusammenleben zwischen den Nationen. Aber keine der Nationen ist mehr bereit, auf den geringsten ihrer Vorteile zu verzichten, auch in Angelegenheiten, die für andere als lebenswichtiges Thema zur Debatte stehen. Jegliche fundamentale Veränderung muss im Denken, in den Überzeugungen, den Ethiken und den Gesellschaftsnormen, eben allem, was die geistige Kultur einer Gesellschaft ausmacht, beginnen. Aus diesem Grund benötigt der Wandel der Welt hin zu einer Weltregierung fundamentale Veränderungen in den Kulturen aller Nationen der Welt.

Sabestari stellt einen Entwurf einer „Weltgesellschaft und Weltreligion“ aus islamischer Sicht vor. Dies nennt er das „islamische internationale Völkerrecht“. Die Art und Weise, wie er seine islamische Weltgemeinschaft konstruiert, hat einen besonderen Charakter, den man bei den meisten seiner Zeitgenossen nicht findet. Er verzichtet darauf, auf die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit der islamischen Gebote mit einem zeitgemäßen Rechtsdenken bzw. einer zeitgemäßen Rechtspraxis einzugehen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Fundamente des „islamischen Internationalismus“ nach dem Muster der französischen Menschenrechtserklärung und des sozialistischen Internationalismus. Aus seiner Charta: „1. Beseitigung jeder Form geistiger Unterdrückung, Kampf gegen die Ursachen der geistigen Versklavung der Menschen, Schaffung einer freien geistigen Atmosphäre für die Masse. 2. Befreiung der unterdrückten Gruppen und Individuen von erbärmlichen Ketten und Abhängigkeiten, welche sie immer unter der unterdrückenden und ausbeuterischen Herrschaft bestimmter Klassen oder Personen halten, Schaffung von Freiheit, damit diese Gruppen den richtigen Weg des Lebens aus freiem Willen heraus wählen können“.

Nach seiner Auffassung kann das ohne Gewalt und nur mit Hilfe der revolutionären Zielsetzung in der Welt durchgesetzt werden. Rassismus, der Missbrauch der religiösen Gefühle und der übertriebene Nationalismus sind die drei geistigen Missbildungen, die von der politischen und wirtschaftlichen Expansion des westlichen Imperialismus und Neokolonialismus geerbt wurden. Der Islam könne mit einem „revolutionären Humanismus“ dieses schwere westliche Erbe beseitigen. Das islamische Weltgemeinschaftskonzept orientiert sich nicht an der Machtfülle, sondern an der Veränderung. Das Konzept verfolgt vier Ziele: freie Glaubens- und Gewissensüberzeugung, freundliche und humane zwischenmenschliche Beziehungen, rationaler und logischer Umgang im Diskurs und Kampf gegen den Fanatismus.

Eine religiöse Gesellschaft kann nur dann einsichtig und rechtgeleitet sein, wenn sie vor den Gefahren der Erstarrung und des Aberglaubens bewahrt bleibt, so dass die religiöse Empirie in jener Gesellschaft überdies auf gnostischer und empirischer Grundlage in eine Denkform mündet, die analysierbar und kritisierbar ist. Sabestari kündigt die Geburt eines neuen Geistes der islamischen Theologie an. Politik soll „technisch“ und „eine Kunst“ sein, nämlich die Staatskunst. Ihr Ziel ist das Gemeinwohl. Dies bedeutet für ihn aber auch die Entmonopolisierung der religiösen Rechtswissenschaft in ihrer traditionellen Form. Er steht mit seinem Denken auch sehr dem „Ich-Du“-Verhältnis in der chassidischen Lehre Martin Bubers nahe. Ohne Freiheit kann es keinen Glauben geben. Das heißt, dass die Menschen durch die destruktiven Wahrheitsansprüche, die das Wissensmonopol erhoben hat, der tatsächlichen Wahrheit entfremdet wurden. Sabestari versucht, „Transzendenz“ und „Immanenz“ miteinander zu verbinden, um den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheiten nicht verloren gehen zu lassen. Die Religion soll ihren Wahrheitskern bewahren, indem sie immer als Substanz der evolutionären Erkenntnis erhalten bleibt.

|10. Abdolkarim Sorus|

Er versucht eine neue Begegnung mit den religiösen Weltanschauungen hervorzurufen, widmet sich dabei den Ideen der vorrevolutionären religiösen Reformer wie Tabataba`i und Motahhari und versucht, einen „Entideologisierungsprozess“ voranzutreiben. Wenn die Religion zu einer Ideologie werden will, so hat sie sich zum Provisorium verurteilt und auf ihre Ewigkeit verzichtet. Er erinnert dabei an den Marxismus und seine Ideologiekrise. Dabei setzt er sich mit vielen modernen westlichen Gesellschaftstheoretikern wie Karl Marx, Emil Durkheim, Max Weber, Peter Winch, Karl Popper und Jürgen Habermas auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ideologie ein Gedankengebilde ist, das entweder nicht begründet werden kann oder falsch ist, vor allem unter dem empirischen Aspekt des kritischen Rationalismus. Im Gegensatz zu Ideologien haben Religionen gar keinen Absolutheitsanspruch. Diese Behauptung stellt das genaue Gegenteil einer weit verbreiteten Auffassung von Religion dar. Sorus versucht damit, den Unterschied zwischen dem Absolutheitsanspruch der Religionen und dem der Ideologien zu kennzeichnen.

Sein Entideologisierungsprozess ist in Wirklichkeit eine Entideologisierung der religiösen Lehren, nicht jedoch der Religion selbst. Der Kern der Religion, der nach seinem Konzept in verschiedenen Bezeichnungen wie Religion, Scharia, Wahrheit und Offenbarung vorkommt, kann tatsächlich nicht interpretiert werden. Die Religion ist demzufolge schweigsam und stumm. Sie ist unabänderlich bzw. konstant. Die Unveränderbarkeit ihrer Fundamente setzt er mit Naturgesetzen gleich. Aufklärung kann positiv und negativ interpretiert werden. Nach der positiven Definition stellt sich die Aufklärung als eine an der „Diesseitsgestaltung orientierte Humanität“ dar, die unter anderem religiöse Toleranz fordert. Dies ist der Kern des intellektuell-religiösen Ziels von Sorus bei seinen Bemühungen, Religion und Demokratie zu verbinden. Er möchte in seiner neuen Staatsform beides vertreten sehen.

Toleriert wird in erster Linie nicht die Religion, sondern die Demokratie. Denn diese Staatsform bringt keine Enttheologisierung der Naturrechte mit sich. Diese Form der religiösen Demokratie steht für eine neue Theologisierung, welche die alte theologische Elite durch eine neue zu ersetzen versucht. Die wahre Demokratie braucht hohe ethische Maßstäbe. Die Ursachen für eine negative Entwicklung der Gesellschaft liegen in der „Unwissenheit“ der Menschen. Die Gesellschaft benötigt aber für ihre menschenwürdige Gestaltung Werte. Seine These ist letztendlich einfach: Die Gesellschaft Irans ist religiös. Jede Herrschaftsform ist Teil der jeweiligen Gesellschaft und stimmt daher mit ihr überein. Eine Herrschaft im Iran ist also zwangsläufig eine religiöse Herrschaft. Sollte im Iran die Herrschaft anderer Natur als religiös sein, so muss daraus der Schluss gezogen werden, dass die iranische Gesellschaft entweder eine areligiöse Gesellschaft oder die Herrschaft illegitim, d. h. undemokratisch ist.

Diese zehn Beispiele aus hundert Jahren schiitischer Theologie im Iran, welche natürlich nur sehr rudimentär dargestellt werden konnten, zeigen, dass sich im dortigen Islam eine „Glaubenswissenschaft“ zu entwickeln begann, die die Aufgabe hat, Freiheit und Glaube miteinander zu versöhnen. Trotz der homogenen religiösen Strukturen in Theorie und Praxis sind in der Gegenwart Veränderungen bezüglich der Religion zu beobachten, die unter der geistigen und politischen Übermacht der Moderne in Erscheinung treten. Die Moderne zwingt die Religion, zu neuen Fragen Stellung zu nehmen und ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen. Die religiösen Bestrebungen im heutigen Iran werfen neue politischen Fragen auf. Zwar ist die „religiöse demokratische Regierung“ keine echte Innovation und hat auch noch kein politisches System. Mit ihrer Theorie bahnt sie sich aber den Weg zurück zur Tradition und macht gleichzeitig den Weg frei für eine Annäherung an die moderne Demokratie. Die Idee der religiösen Herrschaftsgewalt, die einen Bevormundungsstaat bevorzugt, wurde zunehmend als unzeitgemäß erkannt. Der Legitimationsanspruch der Theologenherrschaft wird nicht nur bezweifelt, sondern als unvereinbar mit dem Islam gewertet. Derzeit dominiert im Iran aber noch die Tradition. Die Zukunft kann aber nur einen Weg zeigen, den in die offene Gesellschaft. Es sei denn, die US-Amerikaner vereiteln mit einem Krieg gegen den Iran erneut alle unabhängigen Entwicklungen in ihrem eigenen Herrschaftsinteresse.

Berthold Röth

|Quelle:
Reza Hajatpour, Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus.
Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert,
387 S., geb., Reichert Verlag 2002, ISBN 3-89500-264-X |

|Weiterführende Informationen bei wikipedia:|
[Iran]http://de.wikipedia.org/wiki/Iran
[Islam]http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
[Schari’a]http://de.wikipedia.org/wiki/Scharia
[Ruhollah Chomeini]http://de.wikipedia.org/wiki/Ruhollah__Chomeini