Archiv der Kategorie: Belletristik

Janice Deaner – Als der Blues begann

Janice Deaners Debütroman „Als der Blues begann“ wurde bereits 1994 in Deutschland veröffentlicht und erhielt viel Lob. Im Sommer 2007 bringt |Rowohlt| das Buch als Neuauflage heraus, um dem geneigten Leser mit einem wunderbaren Familienroman in der heißen Jahreszeit zu erfrischen.

Die zehnjährige Maddie lebt mit ihrer älteren Schwester Elena, dem kleinen Bruder Harry und den Eltern Leo und Lana in den Siebzigern in Detroit. Leo gibt Klavierunterricht, während Lana von sich behauptet, Schriftstellerin zu sein, und den ganzen Tag in einem Sessel sitzt und in Notizbücher schreibt, die ihre Kinder nicht lesen dürfen.

Janice Deaner – Als der Blues begann weiterlesen

Alsanea, Rajaa – Girls von Riad, Die

Die fünfundzwanzigjährige Saudi-Araberin Rajaa Alsanea hat mit ihrem Debütroman „Die Girls von Riad“ eine Welle der Empörung in ihrer konservativen Heimat losgetreten. Dort wurde das Buch zuerst verboten, weil es die alten Traditionen in Frage stellt. Für den westlichen Leser ist die Aufregung vermutlich nicht wirklich verständlich. Alsanea hat keinen reißerischen, pornografischen Roman geschrieben, sondern ein leichtfüßiges Buch, das aus dem Leben von vier Freundinnen in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, berichtet.

Dabei geht es weniger darum, eine stringente Handlung auf die Beine zu stellen oder einen umfassenden Einblick in die Sitten und die Gesellschaft Saudi-Arabiens zu geben. Stattdessen erzählt die Autorin in kurzen, abgeschlossenen Episoden aus dem Leben der jungen Frauen, beschränkt sich aber hauptsächlich auf deren Liebesleben. Da wäre zum Beispiel Kamra, die mit einem ihr unbekannten Mann verlobt wird und mit ihm nach Amerika zieht. Sie findet heraus, dass er dort eine Geliebte hat, und als sie die Geliebte zur Rede stellen will, reicht er die Scheidung ein. Kamra kehrt nach Riad zurück, schwanger, geschieden und damit so gut wie wertlos auf dem Heiratsmarkt.

Den anderen Protagonistinnen ergeht es ähnlich. Auch sie haben mit Zwangsverheiratung zu kämpfen. In manchen Fällen werden sie selbst zwangsvermählt, in anderen, wie zum Beispiel im Fall der recht frei denkenden Michelle, deren Mutter Amerikanerin ist, ist es der Geliebte, der plötzlich mit einem anderen Mädchen verheiratet wird und sie verlässt.

Auf knapp 330 Seiten erzählt Alsanea von den Versuchen der Freundinnen, das große Liebeslos zu ziehen. Die Betonung liegt auf „Versuchen“, denn viel Einfluss haben sie nicht darauf. Die Freundinnen haben Geld, sind gebildet, studieren Medizin und Informatik und können trotzdem ihr Leben nicht selbst bestimmen. Alsanea, selbst überzeugte Kopftuchträgerin, hält sich mit Kritik in ihrem Buch vornehm zurück. An der einen oder anderen Stelle blitzt diese zwar zart durch, doch letztendlich zeigt die Autorin lediglich auf und lässt ihre Romanfiguren für sich selbst sprechen.

Der Aufbau des Buches ist dabei ungewöhnlich. Den vier Freundinnen ist eine Ich-Erzählerin vorangestellt, die in Newsgroup-E-Mails von den Girls von Riad erzählt. Die Kapitel sind dabei immer gleich aufgebaut. Nach einem einleitenden Sprichwort oder Gedicht wendet sich die Erzählerin kurz an den Leser, um auf aktuelles Geschehen und die Reaktionen auf ihre E-Mails einzugehen. Danach folgt eine Episode aus dem Leben der Mädchen, in die sich die Erzählerin nicht mehr einklinkt.

Stattdessen berichtet sie in einem leicht oberflächlichen, dokumentarisch wirkenden Schreibstil, der eine simple, manchmal poetisch angehauchte Sprache benutzt. Romantische Begriffe tauchen immer wieder auf und bringen etwas Pathos in die Geschichte, der es aufgrund des berichtenden Stils an Lebendigkeit mangelt. Insgesamt wirkt das Buch sehr „mädchenhaft“, und gelegentlich hat man das Gefühl, Zeuge eines Von-Freundin-zu-Freundin-Gesprächs zu sein.

Wer kein Fan von Mädchengesprächen ist, wird deshalb vermutlich seine Probleme haben, mit „Die Girls von Riad“ warm zu werden. Der Roman dreht sich nun mal hauptsächlich um die Liebeswirren der Mädchen und stellt den Schreibstil sowie auch die Charaktere etwas in den Hintergrund. Der Berichtstil tut das Seinige, um Tiefgang in Bezug auf die Protagonistinnen zu verhindern, so dass das Buch an einigen stellen etwas an Oberflächlichkeit kränkelt.

Trotzdem hinterlässt „Die Girls von Riad“ einen positiven Gesamteindruck. Der Einblick in die saudische Gesellschaft beschränkt sich zwar auf einen sehr kleinen, unscharf umrissenen Ausschnitt, aber Rajaa Alsaneas lieblicher Schreibstil, der leichtfüßig aus dem Leben der Mädchen berichtet, bereitet Freude und sorgt für gute Unterhaltung.

http://www.pendo.de

Fröhlich, Susanne – Moppel-Ich

Die Deutschen werden dicker und dicker. Laut einer aktuellen Studie soll inzwischen bereits jeder zweite an Übergewicht leiden – was könnte da also passender sein als ein Diät-Buch? Doch Susanne Fröhlichs „Moppel-Ich“ ist kein typisches Diät-Buch, hier gibt es keine Rezepte zu lesen und auch keine Diät vorgesetzt, nein, hier geht es um das Zwiegespräch mit dem Moppel-Ich, das Susanne Fröhlich während ihrer eigenen (offensichtlich vergangenen) Diät oftmals gehalten hat. Das Moppel-Ich – wer kennt es nicht? – das ist der innere Schweinehund, der einem nach der halben Pizza „gut“ zuredet, dass es nun ja nicht mehr drauf ankomme und man ruhig auch noch die andere Hälfte und das Dessert essen dürfe. Eine Diät könne man immerhin auch morgen anfangen, der heutige Tag sei schließlich mit der ersten Hälfte Pizza bereits ruiniert. Tja, und naiv wie man nun mal ist, möchte man nur allzu gern auf dieses besagte Moppel-Ich hören, das einen immer wieder an einer erfolgreichen Diät hindert.

Wie Susanne Fröhlich richtig erkannt hat – ich kann das aus eigenen leidvollen Erfahrungen bestätigen – ist es tatsächlich das Moppel-Ich, an dem die anvisierte Kleidergröße zwangsläufig scheitern muss. Doch damit soll nun Schluss sein, Fröhlich will den Kampf gegen das eigene Moppel-Ich aufnehmen und schildert in ihrem Diät-Tagebuch von ihren eigenen Abnehmversuchen, die schlussendlich zum Verlust von rund 25 kg geführt haben. Ganz nebenbei erzählt Fröhlich von ihren eigenen unangenehmen Erfahrungen mit dem (Über-)Gewicht, wenn beispielsweise die anprobierte Hose in der Umkleidekabine partout nicht über den Po gehen will und schlussendlich einige Nähte den Anziehversuchen nachgeben müssen oder wenn zickige Schlanke mit ihren spitzen Fragen das Selbstbewusstsein der abnehmenden Dicken erschüttern möchten. Doch Fröhlich will sich von all dem nicht verunsichern oder gar demotivieren lassen, denn sie hat längst erkannt, dass Schlanke ihr den Abnehmerfolg bloß nicht gönnen, weil sie dann zur schlanken Konkurrenz werden könnte. Denn jeder dicke Mensch hat seinen besonderen Status in der Gesellschaft, im Freundeskreis ist es derjenige der dicken und gutmütigen Freundin, die im Bikini garantiert schlechter aussehen wird als man selbst, und auch in der Öffentlichkeit ist es die Rolle der Dicken, gegen die jede andere Frau dann umso schlanker aussehen kann.

In zahlreichen Episoden schildert Susanne Fröhlich uns ihre erfolgreiche Diät, aber sie lässt auch nicht die Rückschläge aus, wenn dann doch die kulinarischen Verlockungen und das Moppel-Ich stärker sind. Aber sie macht Hoffnung darauf, dass ein Rückschlag noch lange nicht das Ende einer Diät sein muss, solange man sich davon nicht so weit deprimieren lässt, dass man instantan die begonnene Diät wieder abbricht. Auch die Analyse des Diät-begleitenden Partners findet Eingang in dieses Buch oder aber die kritische Auseinandersetzung mit heutigen Konfektionsgrößen, die bei gleichem Stoffumfang einen immer erniedrigenderen Namen tragen, denn schon mit Kleidergröße 38 wird man nur schwerlich in die Größe XL in manch einem Geschäft passen, wenn man Fröhlich glauben mag. So ist „Moppel-Ich“ schließlich ein Diät-Potpourri, das viele Seiten (gute wie schlechte) einer Diät aufzeigt und den Leser an die Hand nehmen und dazu motivieren mag, auch sein eigenes Leben und seine Ernährung umzustellen. Erst ganz am Ende berichtet Fröhlich von der Diät, die sie selbst eingeschlagen hat, und beruft sich dabei größtenteils auf die Glyx-Diät. Andere Diät bekommen dagegen im wahrsten Sinne des Wortes ihr Fett weg.

So viel zum Inhalt, an dem man schon erkennen kann, dass sich das vorliegende Buch nur schwer einem Genre zuordnen lässt. Denn es handelt sich dabei weder um einen Roman noch um ein Sachbuch, es gibt keine Romanhandlung, keine fiktiven Figuren, durch deren Leben wir geführt werden, und um sich Sachbuch nennen zu können, fehlen mir persönlich ehrlich gesagt die wissenschaftlich fundierten Fakten. Auf mich macht „Moppel-Ich“ eher den Eindruck eines etwas erweiterten Tagebuchs, das Susanne Fröhlich inzwischen erfolgreich zu viel Geld gemacht hat.

Doch wer soll eigentlich die Zielgruppe für dieses Buch sein? Offensichtlich gehöre ich dazu, denn ich habe den Fehler gemacht, mir das Buch zu kaufen – zugegebenermaßen allerdings unter falschen Voraussetzungen, denn eigentlich hatte ich mir einen lustigen Roman inklusive Romanhandlung darunter vorgestellt. Damit lag ich allerdings weit daneben. Zu „Moppel-Ich“ werden wahrscheinlich all die diätgeplagten Frauen greifen, denen die Hosen vor dem Sommer wieder einmal arg kneifen und bei denen die Bikini-Figur in weiter Ferne liegt. Allerdings wird genau diese Zielgruppe nicht bedient. Denn was hat Frau Fröhlich uns eigentlich zu sagen? Im Grunde genommen nämlich nicht viel und vor allem nichts Neues. Denn dass Sport zu einer Diät dazugehört und dass Frauen größtenteils abnehmen, weil sie in schönere Klamotten passen wollen (die es eben nicht bei Ulla Popken zu kaufen gibt), das ist nun wirklich ein alter Hut. Warum sollte ich also „Moppel-Ich“ lesen? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Das vorliegende Buch ist weder lustig noch informativ, sodass ich alle diätwilligen Frauen, die ein weiteres Diätbuch lesen wollen, nur vor einem Kauf warnen kann; da sollte man lieber bei Helen Fieldings „Bridget Jones“ bleiben – das ist zwar auch kein wirkliches Diätbuch, aber zumindest eins mit einer sympathischen moppeligen Hauptfigur, die die eigenen Sorgen teilt.

Frau Fröhlich möchte hier wohl ihre eigenen Erfahrungen und einige Episoden aus ihrem bewegten Leben mitteilen. Doch leider versucht sie dies mit ziemlich erzwungenem Humor, der einem beim Lesen das Lächeln im Gesicht gefrieren lässt. Ehrlich gesagt glaube ich, dass selbst Hera Lind humorvoller schreiben kann als Susanne Fröhlich. Fröhlichs Episoden verdienen meistens eher den Stempel „peinlich“ als „lustig“, denn was nutzt mir eine 24-seitige Abhandlung über familiäre Diätbremsen, die mir erklärt, dass Kinder, Ehemann und Mutter dick machen, weil sie jede Diät boykottieren? Immerhin kann man seine Familie schlecht abgeben, wenn man denn eine Diät plant; hinterher mag man dann zwar ein paar Kilo verloren haben, aber auch seine Familie und wahrscheinlich gar die Freunde, wenn man mit der Einstellung an eine Diät herangeht, dass alle von außen die Abnehmversuche ohnehin nicht unterstützen werden.

Unter dem Strich bleibt nur noch einmal festzuhalten, dass man vom „Moppel-Ich“ lieber die Finger lassen sollte. Wer ein gutes Diätbuch sucht, sollte sich direkt ein Buch über die Glyx-Diät kaufen, die im übrigen zum Teil sehr informativ sind, und wer einen lustigen Roman sucht, der findet unzählige bessere und unterhaltsamere Bücher. So war das „Moppel-Ich“ meine erste und mit Sicherheit auch letzte „literarische“ Bekanntschaft, die ich mit Susanne Fröhlich geschlossen habe …

http://www.fischerverlage.de

Cusk, Rachel – Arlington Park

Fiktive Vororte haben schon seit längerem ihre Blütezeit. In amerikanischen Abendserien sprießen sie aus dem Boden wie Unkraut und auch die Engländerin Rachel Cusk hat sich ein lauschiges Plätzchen zusammengesponnen.

„Arlington Park“, Buchtitel und fiktiver Londoner Vorstadtort, ist die Heimat von Familien der gehobenen Mittelschicht, die mit lukrativen Jobs und zwei bis drei Kindern gesegnet sind. Es passiert nicht viel in Arlington Park. Man bringt die Kinder zur Schule und zum Kindergarten und holt sie wieder ab. Man lädt sich zu Kaffee und Dinner ein und verschwendet den Rest des Tages darauf, sich Gedanken über sein kleines Leben zu machen.

Tun das wirklich alle? Nein. Tatsächlich sind es Frauen zwischen dreißig und vierzig, die in Rachel Cusks Buch die Kapitel hauptsächlich mit dem Sinnieren über ihre Situation verbringen. Mit der sind sie zumeist natürlich nicht zufrieden, aber sie machen eigentlich nichts dagegen. Nur Juliet, Lehrerin an einer Mädchenschule, wagt einen radikalen Schritt und lässt sich ihre hüftlangen Haare raspelkurz schneiden. Wirkliche Erleichterung bringt ihr das aber nicht, denn am Ende des Buches bleibt alles gleich: Die Ehefrauen kochen ihren Männern das Essen und erziehen die Kinder.

„Arlington Park“ beginnt mit seiner sehr umfassenden und bildreichen Beschreibung eines Regentags in Arlington Park, ohne die Protagonistinnen dabei schon vorzustellen. Dieser verregnete Tag ist bezeichnend für das ganze Buch, denn sonderlich optimistisch stellt Cusk ihren fiktiven Vorort nicht dar.

Die Handlung besteht aus verschiedenen Frauenperspektiven, die ihren zähen Alltag beschreiben. Es passiert nicht wirklich etwas. Trotzdem ist der Autorin ein unterhaltsames Büchlein gelungen, das man so schnell nicht aus der Hand legt. Damit ein Buch mit so wenig Handlung gefällt, müssen zwei Kriterien erfüllt sein: Die Personen müssen interessant sein und der Schreibstil etwas Fesselndes besitzen. Beides ist Cusk gelungen, wobei die beiden Kriterien oft zusammen auftreten.

Die Charaktere sind, wie gesagt, hauptsächlich Frauen in den besten Jahren, deren Leben teilweise einer Sackgasse namens Arlington Park gleicht. Am besten im Gedächtnis bleibt Juliet, die sich die Haare schneiden lässt. Grund dafür ist ihr zynischer Humor, der in ihren Gedanken immer wieder durchschimmert. Ihre Hochzeit bezeichnet sie zum Beispiel gerne als den Zeitpunkt, an dem ihr Mann sie umbrachte. Während sie ihre Schülerinnen unterrichtet, denkt sie auch immer wieder über deren Zukunft nach und ob sie vielleicht eines Tages auch „umgebracht“ werden.

Die anderen Frauenfiguren sind ebenfalls sehr gut ausgearbeitet, vor allem, was ihre Persönlichkeit angeht. Maisie lästert zum Beispiel gerne und Amanda fühlt sich im Frauenkreis von Arlington Park nicht akzeptiert. Allerdings gelingt es den wenigsten, an den Witz von Juliet heranzukommen, was sich ein wenig nachteilig auswirkt. Sie hinterlassen dadurch weniger Eindruck und sind auch weniger interessant. Vor allem entstehen dadurch ein oder zwei Charaktere, die austauschbar bzw. sich sehr ähnlich wirken.

Was das Buch letztendlich zusammenhält, ist Cusks intelligenter und wacher Schreibstil. Der Großteil der Zeilen wird im Kopf der Protagonistinnen bestritten, jedoch auf so abwechslungsreiche Art und Weise, gemischt aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass keine Langeweile aufkommt.

Cusk beweist sich als erstklassige Beobachterin des mittelständischen Lebens. Ihre Darstellungen sind unglaublich authentisch und treffen schmerzhaft den Nagel auf den Kopf. Jeder wird sich vermutlich in dem einen oder anderen Absatz wiederfinden, denn Cusk schildert lebensnah, was in den Köpfen der Frauen vor sich geht. Die Konflikte und der Schmerz ob der oft aussichtslosen Lage beschreibt die Britin sehr realistisch; überhaupt weiß sie Gefühle sehr gut in Buchstaben umzusetzen. Mit einem einfachen und nüchternen Wortschatz schafft sie es, den Inhalt des Buches in beinahe klassischer Art und Weise darzustellen. Ab und zu benutzt sie bildschwangere Beschreibungen oder garniert das Ganze mit einer guten Portion Zynismus, ohne dabei ins komödiantische Fach abzugleiten.

Rachel Cusk umreißt in „Arlington Park“ die mittelständische Gesellschaft aus der Sicht der unzufriedenen Mütter. Sie nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, wird aber auch nicht ausfällig, sondern beschreibt in klaren, intelligenten Bildern mit Witz und einem guten Auge fürs Detail das Leben in Arlington Park.

http://www.rowohlt.de

Fried, Amelie – Findelfrau, Die

Holly Berger ist 38 Jahre alt und führt ein vermeintlich perfektes Leben: Sie ist mit ihrem Traummann Chris verheiratet, den sie einst auf einer WG-Party kennen gelernt hat, als sie sich in der Gästetoilette eingeschlossen hatte und die Tür nicht mehr aufbekam. Chris wurde an dem Abend nicht nur ihr Retter in der Not, sondern auch ihre große Liebe. Aber auch nach 15 Ehejahren sind die beiden glücklich wie am ersten Tag und leben nun zusammen mit ihren beiden Kindern, die kurz vor der Pubertät stehen. Holly hat bereits zwei erfolgreiche Ratgeber geschrieben und sucht nun nach einem Thema für den nächsten Bestseller. In dieser perfekten Idylle erfährt Holly allerdings, dass sie als Neugeborenes ausgesetzt wurde und dass ihre Eltern demnach nicht ihre leiblichen Eltern sind. Holly ist schockiert, ihr ganzes bisheriges Leben ist für sie zu einer großen Lüge geworden.

Auf der Verlobungsfeier ihres „Bruders“ kommt es zum Eklat: Holly klagt ihre Adoptivmutter Margarete an und wirft ihr vor, sie 38 Jahre lang belogen zu haben, die ganze Familie droht auseinanderzubrechen. Als Holly aber auch noch erfahren muss, dass sogar ihr Mann Chris von dem großen Geheimnis gewusst hat, zerbricht alles, woran sie bislang geglaubt hat. Trotz der wenigen Hinweise, die sie auf die wahre Identität ihrer Mutter hat, macht Holly sich auf eine detektivische Suche nach ihren Wurzeln. Nach und nach kommt sie ihrer Mutter auf die Spur, die sie schließlich nach Ägypten in ein Frauenkloster führt.

In Ägypten erhält sie Hilfe durch die lebenslustige Inga und ihren Geschäftsführer Ashraf, die Holly bei ihrer Suche in allen Belangen unterstützen. Im Kloster angekommen, erfährt Holly allerdings, dass ihre Mutter sie gar nicht sehen will; eine Welt bricht für Holly zusammen, denn selbst ihre Ehe kriselt gewaltig, außerdem bemerkt Holly, dass sie Ashraf mehr als nur nett findet und kommt ihm immer näher …

Ob Holly ihre leibliche Mutter am Ende schließlich doch noch kennen lernen wird und ob sie ihre Ehe wieder kitten kann, das enthält Amelie Fried uns natürlich nicht vor, denn ganz am Ende wird sich alles auflösen. Gemeinsam mit Holly Berger erleben wir, wie ihr bisheriges Leben auseinanderbricht, als sie erfahren muss, dass sie als Kind ausgesetzt wurde und ihre Familie gar nicht ihre „echte Familie“ ist.

Zu Beginn lernen wir Holly als glückliche Familienfrau kennen, die in ihrem Beruf als Schriftstellerin erfolgreich ist und nun nach einem Thema für ihr nächstes Buch sucht. Ihr Verleger Jochen, der gleichzeitig ein guter Jugendfreund Hollys ist, schlägt ihr einen Ratgeber für eine glückliche Ehe vor, weil Holly und Chris das einzig glückliche Ehepaar im gesamten Freundeskreis sind. Während Holly nämlich die schwerste Krise ihres Lebens durchstehen muss, erleben auch ihre beiden besten Freundinnen Schlimmes: Diana, die beruflich außerordentlich erfolgreich ist und sich nebenbei einen Geliebten hält, weil sie dies für wesentlich unkomplizierter hält als eine Ehe, wird nun von der Frau ihres Geliebten verfolgt und tyrannisiert, aber Karins andere beste Freundin Karin hat es sogar noch übler getroffen: Ihr Ehemann sendet versehentlich eine für seine Geliebte bestimmte SMS an seine Frau, sodass seine Affäre auffliegt. Karin ist am Boden zerstört, denn ihr Mann weigert sich, die Affäre zu beenden und verlangt vielmehr Verständnis für seine außerehelichen Eskapaden von Karin. Ein Eheratgeber scheint also die perfekte Idee für einen neuen Sachbuchbestseller zu sein. Obwohl Holly sich einen Haufen Literatur zu dem Thema besorgt, kommt sie mit ihrem Buch aber nicht so recht voran, da die Suche nach ihrer Mutter und ihre persönlichen Probleme sie zu sehr ablenken.

Wir erleben jedes Hoch und jedes Tief in Hollys Leben mit; Amelie Fried zeichnet einen Charakter, der zu Beginn des Buches ins Bodenlose stürzt und ein emotionales Chaos erlebt. Wir lernen Holly zu einem Zeitpunkt kennen, als sich ihr gesamtes Leben verändert und sie zum ersten Mal eine große Krise meistern muss. Zugegebenermaßen können wir ihre teilweise irrationalen Handlungen nicht immer nachvollziehen, denn manchmal erscheint mir Holly für eine 38-jährige Erwachsene dann doch etwas zu stur. Außerdem reagiert Holly einige Male über, sodass sie hier auch mal einige Sympathiepunkte einbüßt. Doch über die meisten Strecken des Buches begleitet man Holly ausgesprochen gerne auf ihren verschlungenen Wegen, die am Ende zu ihrer Mutter führen sollen und zur Aufklärung der Frage, warum diese Holly damals ausgesetzt hat.

Auf herzerfrischende Art und Weise erzählt uns Amelie Fried die Geschichte einer Frau, deren Leben von einem Tag auf den anderen zerstört wird, als sie ein dunkles Familiengeheimnis aufdeckt. Fried schafft es, diese ungewöhnliche Geschichte zum größten Teil glaubwürdig zu schreiben, und macht Hollys Unglück spürbar, sodass Holly für uns zu einer guten Freundin wird. Mit ihrem sympathischen Schreibstil und einer gelungenen Figurenzeichnung erschafft Amelie Fried einen unterhaltsamen Roman, der alle eigenen Sorgen vergessen und Hoffnung darauf macht, dass man viele Krisen im Leben doch überstehen kann, wenn man es denn nur versucht. Getrübt wird das Lesevergnügen allerdings durch zahlreiche Tipp- und Rechtschreibfehler, die den Lesefluss stören und ein gutes Korrektorat offensichtlich vermissen lassen.

Insgesamt ist „Die Findelfrau“ ein erfrischendes Leseerlebnis, wenn auch sicherlich keine große Literatur. Dennoch hat Amelie Fried eine verwickelte Familiengeschichte mit sympathischen Charakteren zu erzählen, mit denen man gerne einige Lesestunden verbringt, auch wenn die Geschichte doch recht vergänglich ist und wohl schnell in Vergessenheit geraten wird. Aber für den bevorstehenden Sommer und Urlaube am Strand ist „Die Findelfrau“ genau die richtige Lektüre zum Entspannen, Träumen und um die Welt um einen herum zu vergessen.

http://www.heyne.de

|Amelie Fried bei Buchwurm.info:|

[„Liebes Leid und Lust“ 562
[„Taco und Kaninchen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=561
[Interview vom September 2004]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=26

Genazino, Wilhelm – Mittelmäßiges Heimweh

Es ist Fußballeuropameisterschaft, und Deutschland befindet sich angesichts des bevorstehenden Spiels gegen Tschechien im Ausnahmezustand. Jeder Fußballfan fiebert dem spannenden Spiel entgegen, und auch unser Roman(anti)held Dieter Rotmund schaut sich das Fußballspiel in einer überfüllten Kneipe an. Doch das Getümmel wird ihm fast zu viel: Während er noch überlegt, ob er nicht doch lieber nach Hause gehen soll, erblickt er unter dem Tisch im Dreck sein eigenes Ohr liegen. Zunächst denkt er darüber nach, ob er sich das Ohr in einem unbemerkten Moment schnappen und damit verschwinden soll, doch dann kann er sich doch nicht überwinden, das abspenstige Körperteil vom schmutzigen Fußboden aufzuheben, und beschließt, lieber sein Haar über die kahle Stelle zu legen und sich später eine Ohrklappe zuzulegen.

Aber mit dem Ohr alleine ist der Verfall Rotmunds noch nicht abgetan: Seine Ehe steht auf der Kippe, eigentlich hat er Edith nichts mehr zu sagen, doch seiner Tochter zuliebe fährt er an den Wochenende nach Hause in den Schwarzwald, um die Familienfassade aufrechtzuerhalten. Edith dagegen tut rein gar nichts mehr für die Ehe, gibt am laufenden Band Geld aus, das die Familie eigentlich gar nicht übrig hat, und gesteht ihrem Mann schließlich, dass sie eine Affäre hat und von ihm nichts mehr wissen will.

So ist es also nicht nur Rotmunds Körper, der langsam aber sicher zerfällt, obwohl er doch erst Anfang 40 ist, auch in seinem Privatleben geht es rauf und runter – allerdings eindeutig mehr runter als rauf. Dafür erwartet Rotmund im Berufsleben ein überraschender Aufschwung, denn unverhofft wird er zum Finanzdirektor seiner Firma befördert, obwohl eigentlich jemand anderer für den Job viel besser geeignet wäre, wie sowohl Rotmund als auch besagter Kollege sehr genau wissen.

Eine Zufallsbekanntschaft ist es, die Rotmund so etwas wie „Liebesglück“ beschert, da ist nämlich die geheimnisvolle Frau Schweitzer – seine Vormieterin -, die noch ein paar Sachen aus dem Keller abholen möchte, die sie beim Auszug nicht mitgenommen hat, die Rotmund bislang aber noch gar nicht aufgefallen waren. Nach einer kurzen Phase der Annäherung landen die beiden im Bett, aber da Frau Schweitzer den Eindruck macht, als brauche sie Geld, legt ihr Rotmund nach jedem Geschlechtsverkehr Geld hin, bis sie eines Tages verschwindet und Rotmund sich auf den Weg macht, sie zu finden …

Wilhelm Genazinos Protagonisten sind Antihelden meist männlichen Geschlechts und mittleren Alters – so auch hier. Wir begegnen Dieter Rotmund, der mit seinem Job nicht ganz zufrieden scheint und den Geldsorgen plagen. Seine Frau Edith gibt so viel Geld aus, dass er sich die Bahnfahrkarte am Wochenende nicht leisten kann und lieber im völlig überfüllten Zug vor der Toilette steht, um in diese verschwinden zu können, sobald die Fahrscheinkontrolle droht. Aber als er in einer lauten Kneipe sein Ohr verliert, ist er auch offensichtlich „geschädigt“ und fühlt sich plötzlich nicht mehr komplett. Zunächst kaschiert er sein fehlendes Ohr mit einer Ohrklappe, doch irgendwann lässt er diese einfach weg und geht vermeintlich selbstbewusst seines Weges. Als ihm im Schwimmbad aber plötzlich noch ein kleiner Zeh abhanden kommt, ist das Gejammer sogar noch größer als beim Ohr. Rotmund spürt, dass etwas mit ihm und seinem Leben passiert, will aber die Zeichen nicht erkennen. Nach und nach zerbricht sein Leben, trotzdem macht er weiter, als sei nichts geschehen.

Seine Trauer und sein eigenes verkorkstes Leben kaschiert Rotmund durch die genaue Beobachtung fremder Menschen, an deren Leben er stichpunktartig teilhaben kann, wenn er kleine Situationen beobachten und miterleben kann. Diese Momente sind es, in denen er seinen eigenen Kummer übertönen kann und in denen mehr die Gefühle und kleinen Katastrophen der anderen Menschen zählen. Rotmund flieht vor sich, seinem eigenen Leben und seinen Problemen.

Und auch wenn es merkwürdig anmuten mag, wenn eine Romanfigur nach und nach einzelne Körperteile verliert, so passt es doch zum Buch und Genazinos Antihelden, der auch für andere sichtbar verfällt und sich nicht mehr vollständig fühlen kann. Ihm fehlt etwas, aber es ist nicht nur das Ohr und es ist nicht nur der Zeh, sondern es sind auch Familie, (Lebens-)Glück und Zufriedenheit. Selbst über die unverhoffte Beförderung kann er sich nicht so recht freuen, er denkt vielmehr darüber nach, dass jemand anderer in der Beförderungskette eigentlich vor ihm gestanden hätte.

Rotmund kann nicht einmal Erfolge feiern, stattdessen erscheint er uns resigniert und seinem eigenen Leben gegenüber teilnahmslos. Als er eines Abends zu einer Prostituierten geht und bemerkt, dass sie ihn mit einem billigen Trick um den „richtigen Geschlechtsverkehr“ bringen will, lässt er dies geschehen und sieht es stattdessen als Wink des Schicksals, als ebendiese Prostituierte ihm zu viel Wechselgeld gibt, sodass sein kleines Abenteuer ihn im Endeffekt nichts gekostet hat.

In bestechender Treffsicherheit bringt uns Wilhelm Genazino ein weiteres Mal seinen Antihelden und seine gesamte Umgebung näher. Kaum jemand kann Menschen so genau beobachten und ihre gesamte Persönlichkeit sezieren wie Genazino durch die Worte seines Protagonisten, aber auch kaum ein Schriftsteller lässt so hoffnungslose Charaktere auf den Plan treten wie eben Genazino. Und genau hier liegt seine Besonderheit.

Wir lernen einen eigentlich ganz alltäglichen Menschen kennen, der aber trotz (oder vielleicht auch wegen) seiner Alltäglichkeit gerade so besonders wird. Es sind die kleinen Eigenarten und die kleinen Katastrophen, die diesen Menschen zu etwas Besonderem und auch Interessantem machen. Wie immer passiert auf der Inhaltsebene bei Genazino nicht sonderlich viel; er konzentriert sich ein weiteres Mal auf eine überaus genaue Charakterzeichnung, die seinen Helden als Menschen aus Fleisch und Blut – wenn auch ohne Ohr – erscheinen lässt. Und damit dürfte er seine Fans wieder einmal glücklich gemacht haben.

Unter dem Strich ist „Mittelmäßiges Heimweh“ wieder ein „typischer Genazino“, der von seiner gelungenen Figurenzeichnung, der feinen Sprache und seinen Beobachtungen lebt, die jede noch so winzige Kleinigkeit festhalten und zu etwas ganz Besonderem machen. Verglichen mit der [„Liebesblödigkeit“ 999 schneidet Genazinos aktuelles Werk vielleicht etwas schlechter ab, einfach weil die Rahmengeschichte mich nicht so sehr gepackt hat wie bei seinem letzten Buch, aber Genazino kann an so vielen anderen Stellen punkten, dass er mich erneut nach dem Lesen des Buches tieftraurig zurückgelassen hat – einmal, weil das Buch bereits ausgelesen war, aber auch weil Genazino mir in beeindruckender Weise das traurige Schicksal seines Helden vor Augen geführt und mich damit tief berührt hat. Wilhelm Genazino ist und bleibt einfach etwas Besonderes!

http://www.hanser-verlag.de/

Pierre, DBC – Bunny und Blair

DBC Pierre hat sich mit seinem Debüt „Vernon God Little“ (Deutsche Übersetzung: [„Jesus von Texas“) 1336 eine große Anhängerschaft erschrieben, die er hofft, mit „Bunny und Blair“ bei Laune halten zu können.

Erneut setzt er auf sehr schräge Charaktere, denn die beiden im Titel erwähnten Brüder sind getrennte, siamesische Zwillinge, die in einem Heim leben. Sie haben die dreißig bereits überschritten, als sie das erste Mal aus Albion herauskommen und bei einer Art Projekt für eine Weile zu zweit in einer Wohnung in London leben dürfen.

Blair, der Stärkere von beiden, hofft, sich in der großen Stadt endlich seine sexuellen Träume erfüllen zu können, während der schwächliche Bunny am liebsten den ganzen Tag in der Badewanne sitzt, Alkohol trinkt und seinen Bruder mit dreisten Sprüchen aufstachelt. Blair, der ein wenig naiv ist, fällt auf die großherzigen Versprechen seines Chefs herein, was darin endet, dass er sich in das Bild einer jungen Kaukasierin verliebt, das von einem schmierigen Heiratsvermittler ins Internet gestellt wurde. Blair glaubt, das Mädchen seiner Träume gefunden zu haben, und macht sich mit seinem protestierenden Bruder und einem Bündel von Cocktailpulverpäckchen, die ähnlich wie Viagra wirken, auf den Weg zu Ludmilla.

Diese ist dem Leser bereits bekannt, denn zusammen mit den beiden ungleichen Brüdern bestreitet sie das Buch. Es wird erzählt, wie sie ihren aufdringlichen Großvater umbringt, indem sie ihm einen Handschuh in den Rachen schiebt, und wie sie hierauf von ihrer bitterarmen Familie in die nächste Stadt geschickt wird, wo sie mit ihren Englischkenntnissen etwas verdienen soll. Sie landet in der Bar eines windigen Heiratsvermittlers, der ihr auf die Pelle rückt, doch mit ihrer direkten, bäuerlichen Art hat sie dieses Problem sehr schnell im Griff.

Auf verschlungenen Wegen begegnen sich die drei Protagonisten und im Haus von Ludmillas Familie kommt es schließlich zum blutigen Showdown …

Eines vorweg: Wer schon „Jesus von Texas“ als Zumutung empfand, dem wird „Bunny und Blair“ auch nicht gefallen. Pierre kopiert die Geschichte zwar nicht, aber die Mittel bleiben die gleichen: ein paar schräge Vögel von Charakteren, ein politisch nicht ganz korrekter Schreibstil und eine Handlung zwischen echter Spannung, Verwirrung und Ratlosigkeit.

Besonders die Handlung ist ein wenig das Sorgenkind. Lange Zeit besteht sie hauptsächlich aus Wortgeplänkeln zwischen Bunny und Blair oder zwischen Ludmilla und ihrer Familie. Ziemlich langsam kommt Schwung in die Geschichte, wobei sie sich leider manchmal an ihren eigenen Kapriolen verschluckt. DBC Pierre hat ohne Frage ziemlich viel Fantasie, aber er schafft es nicht immer, sie auch in verständliche Bahnen zu lenken. Manchmal sind Sprünge im Plot, die der Leser nicht ganz nachvollziehen kann, und manchmal ist die Handlung so abgehoben, dass man sie beim besten Willen nicht mehr verstehen kann.

Tatsächlich ist das aber das kleinere Übel. Viel besorgniserregender ist, wie bereits erwähnt, der zähe, meterlange Vorspann, in dem einfach nichts passieren möchte. Wortgeplänkel und gelegentliche, banale („banal“ für DBC Pierre’sche Verhältnisse) Ereignisse sind nun wirklich kein Ersatz für einen durchkomponierten und zielorientierten Handlungsaufbau.

Die Charaktere dagegen begeistern, weil sie einfach unglaublich originell und urkomisch sind. Alleine schon die Wahl der Protagonisten – eine osteuropäische Landpomeranze und zwei ehemalige siamesische Zwillinge – ist schon derart ausgefallen, dass daraus nur Gutes erwachsen kann. Und tatsächlich. Unglaublich schillernd und individuell zeichnet Pierre die Personen, wobei er dabei oft auf Klischees zurückgreift und diese schlitzohrig übertreibt. Besonders Osteuropa hat es ihm in diesem Fall angetan, denn neben der Bauernschläue und der Dumpfbackigkeit, die er diesem Volk andichtet, bastelt er ihm auch eine ureigene Sprache. Begriffe wie „Mach die Futterluke dicht!“ oder „Sperr die Lauscherchen auf!“, „Du Ganter!“ oder „Klatsch deinen Kuckuck!“ sorgen dafür, dass man einen sehr guten Eindruck davon bekommt, wie Pierre sich die Bewohner von Ubil vorstellt. Ob das politisch korrekt ist, sei dahingestellt. Lustig ist es allemal und ein paar Lacher tun der transusigen Handlung ganz gut.

Pierres größte Stärke ist aber nach wie vor sein fantastischer Schreibstil. Wild und ungebändigt toben die Worte zwischen den Buchdeckeln herum und formen sich zu grandiosen Bildern und Metaphern. Über allem thront ein skurriler schwarzer Humor, der sich für nichts zu fein ist. Je dreckiger desto besser, und Pierre hat definitiv keine Berührungsängste, wenn es darum geht, Schimpfwörter zu benutzen. Empfindliche Gemüter mögen sich daran stören, aber tatsächlich passt dieser derbe Humor zu dem Buch und seinen Person wie die Faust aufs Auge.

Was Pierres Schreibstil neben dem Witz am meisten auszeichnet, ist sein Umgang mit der Sprache. Er biegt sie sich immer so zurecht, dass alles passt, das heißt, dass er Begriffe zweckentfremdet, seinen Personen eine sehr eigentümliche Sprache in den Mund legt oder sogar selbst Begriffe erfindet. Ein großes Lob gilt an dieser Stelle dem Übersetzer Henning Ahrens, der es geschafft hat, die Atmosphäre, die in Pierres englischsprachigen Büchern herrscht, ins Deutsche zu übertragen.

„Bunny und Blair“ hat durchaus seine Höhepunkte. Die originellen Charaktere und der Schreibstil sind ziemlich einzigartig in der Literaturwelt und machen das Buch, trotz schwacher Handlung, zu einem humoristischen Genuss. Trotzdem, Mister Pierre, das nächste Mal bitte mit etwas mehr Substanz! Dann wird es eines Tages ein Klassiker.

http://www.aufbauverlag.de

Aubyn, Edward St – Schöne Verhältnisse

Edward St Aubyn, dessen Debütroman „Schöne Verhältnisse“/“Never mind“ in England bereits im Jahr 1992 erschien, hatte lange damit zu kämpfen, dass die englische Presse ihn nicht als Schriftsteller ernst nahm. Die Journaille stürzte sich lieber darauf, dass St Aubyn, Mitglied einer großen Adelsfamilie aus Cornwall, früher drogenabhängig und von seinem Vater sexuell missbraucht worden war. Dabei kann man nicht gerade behaupten, dass der Roman von schlechten Eltern wäre …

Eines schönen Sommertages im einem schönen, kleinen französischen Örtchen bereiten sich drei Pärchen darauf vor, sich zum Abendessen zu treffen. Gastgeber ist der tyrannische David Melrose, der nicht nur einen Heidenspaß daran hat, Ameisen zu ersäufen, sondern auch seinen Sohn tyrannisiert und sexuell missbraucht und seine Frau Eleanor, die ihn ohne Alkohol gar nicht mehr aushält, erniedrigt. Nicholas und Victor waren mit David auf einer Schule und gehören wie er zur gehobeneren Schicht Englands. Während Victor seine Zeit mit Philosophie und der cleveren und schlagfertigen Amerikanerin Anne verbringt, hat Nicholas sich mit der proletenhaften, jointrauchenden Bridget eingelassen.

Bei solch einer Ausgangslage ist es natürlich wichtig, dass die Charaktere dementsprechend ausgearbeitet und originell sind. Der originellste ist dabei David Melrose, um den sich das ganze Buch zu drehen scheint. Er ist ein sadistischer Tyrann, der überzogene Forderungen an seine Mitmenschen stellt und sich dessen auch noch bewusst ist. Da ihm aber niemand Paroli bietet, kann er seinen Zynismus perfekt ausleben. Er unterdrückt seine unterwürfige Frau auf garstige Art und Weise und auch der fünfjährige Sohn Patrick hat unter seinem patriarchischen Vater zu leiden. Das ist in gewisser Weise sicherlich bemerkenswert, denn St Aubyn hat in einem Interview zugegeben, dass Patrick sein literarisches Alter Ego ist.

Die Einzige, die im Verlauf des Abendessens keine Rücksicht auf Davids Eigenheiten nimmt, ist Bridget, die, jung und ungebildet, eine Art Gegenpol zur übrigen Tischgesellschaft darstellt. Obwohl es ihr ein wenig an Intelligenz mangelt, stellt sie sich immer wieder die Frage, was sie hier eigentlich will und wieso alle dem Hausherren so hörig sind.

Sohn Patrick fällt ebenso aus dem Rahmen, was schon allein mit seinem Alter zusammenhängt. Edward St Aubyn gelingt es, sehr authentisch aus der Perspektive des Kindes zu schreiben. Alles sieht aus wie ein Spiel oder ist im kindlichen Kontext übertrieben.

Diese beiden Perspektiven, nämlich Patrick und Bridget, bringen frischen Wind ins Geschehen und lockern das Buch, das stellenweise an den alten Herren etwas zu ersticken droht, auf. Die alten Herren nehmen zwar kein Blatt vor den Mund und ihre zynischen Ansichten erheitern durchaus, doch manchmal zieht der Autor die Dialoge zu sehr in die Länge.

Da kaum Handlungselemente existieren, beruht der Roman hauptsächlich auf der Darstellung der einzelnen Charaktere und deren Beziehungen zueinander. Neben der Bezugnahme auf herrschende Klischees über Briten bzw. Amerikaner wird hauptsächlich „gelästert“. Auffällig ist, dass Beschreibungen von Charakteren, Orten etc. selten objektiv, sondern zumeist persönlich eingefärbt und in eine der Erzählperspektiven eingebunden sind. Bereits dadurch entsteht der Eindruck, als hätten die Personen wahrlich nichts Gutes über einander zu sagen, was auf der anderen Seite aber, dank des fiesen Humors, in gewisser Weise den besonderen Charme ausmacht. Es entsteht ein gänzlich unchristliches Bild von der englischen Intellektuellenschicht, wobei St Aubyn nicht versucht, direkt zu kritisieren, sondern vielmehr durch das bloße Aufzeigen der Ungereimtheiten das Gehirn des Lesers anspricht.

Er wählt dazu einen trockenen, nüchternen Schreibstil ohne großartige Emotionen, dessen beißender Witz sich erst in den Dialogen oder Gedanken der Personen zeigt. Dadurch wirkt das Buch wider Erwarten sehr lebendig, weil nur dann scharfzüngiges Leben im Spiel ist, wenn der Fokus auf den Personen und nicht der Umgebung liegt.

Ist es positiv, wenn sich ein Buch beinahe ausschließlich auf seine Charaktere konzentriert? Diese Frage lässt sich in diesem Fall einfach beantworten, denn wenn die Protagonisten so stimmig sind wie in „Schöne Verhältnisse“, ist die Gefahr der Langeweile gering. Der Roman hat zwar an der einen oder anderen Stelle einen kurzen Durchhänger, aber da er mit knapp 190 Seiten nicht gerade besonders lang geraten ist, fallen Handlungslosigkeit und Dialoglastigkeit nicht sonderlich ins Gewicht.

http://www.dumontliteraturundkunst.de/

|Ergänzend:|
[Interview im Deutschlandfunk]http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/602891/drucken/

Power, Susan – Grastänzer, Die

„Die Grastänzer“ gehört zu den außergewöhnlichsten Bücher, die ich je gelesen habe. Das meiste, was je über Indianer und ihre Kultur geschrieben wurde, stammt aus der Feder von Nicht-Indianern. Mit „Die Grastänzer“ hielt ich zum ersten Mal ein Buch in der Hand, das von einer Indianerin geschrieben wurde.

Aber das war es nicht allein. Als ich versuchte, etwas zu diesem Buch zu schreiben, stellte ich fest, dass ich keinen ordentlichen Inhaltsabriss zustande brachte. Diese Geschichte ließ sich einfach nicht auf gewohnte Weise in Worte fassen. Erst, als ich das Pferd von hinten aufzäumte, war der Sache beizukommen!

_Fangen wir also mit den Charakteren an:_

Zunächst ist da Harley Wind Soldier, ein junger Bursche kurz vor seinem High-School-Abschluss. Harley hat ein Problem mit sich selbst, mit seinem Inneren. Er fühlt sich leer, an der Stelle, wo sein Ich sein sollte, ist nur ein schwarzes Loch.

Harleys Mutter Lydia ist seine einzige Verwandte. Seit Harleys Vater und Bruder bei einem Autounfall ums Leben kamen, hat sie kein Wort mehr gesprochen, nur noch gesungen.

Dann ist da noch Charlene, eine Klassenkameradin von Harley, die ihn ziemlich anhimmelt. Auch sie hat ein Problem, nämlich ihre Großmutter Mercury, die ziemlich besitzergreifend ist.

Mercury hieß früher Anna, hat sich aber irgendwann einfach umbenannt. Sie ist im ganzen Reservat gefürchtet, denn sie besitzt Zauberkräfte, die sie sehr selbstsüchtig einsetzt, nicht zum Wohl der Menschen.

Zu guter Letzt sei noch Red Dress erwähnt. Sie ist eine Vorfahrin von Anna, genau gesagt, ihre Großtante, und eine Kriegerin.

_Die Geschichte_ beginnt in der Gegenwart, genau gesagt 1981, im Reservat der Dakota. Das Buch ist in mehrere Kapitel unterteilt. Jedes Kapitel trägt eine Jahreszahl und geht in der Historie ein Stück zurück. Es wird sozusagen rückwärts erzählt. Manche Kapitel tragen auch einen Namen, in der Regel den derjenigen Person, von der die Geschichte gerade handelt.

Hauptsächlich ist es Annas Geschichte. Die Geschichte einer erstaunlichen Frau, die zunächst nichts Besonderes zu sein schien, bis sie durch ein Ereignis gewissermaßen zu Stahl gehärtet wurde, und die die oben genannten Personen und noch weitere in ihr Schicksal mit hineinzieht, sich selbst zu ihrem Schicksal macht.

Je weiter man liest, desto mehr erfährt man über das Warum: Man erfährt, warum Harley sich so leer fühlt, warum Lydia nicht mehr spricht, warum Jeanette McVay, die weiße Lehrerin, das Reservat nicht verlassen kann, warum Anna so eine harte, selbstsüchtige Frau ist; aus den Lebensfäden der Personen wird ein Netz von Verstrickungen und Abhängigkeiten, durch die Annas Faden sich zieht wie eine leuchtendrote Linie.

Dadurch, dass die Geschichte von hinten nach vorn erzählt wird, hat man den Eindruck einer Blume. Am Anfang sieht man nur die äußere Hülle der Knospe. Doch je weiter man liest, desto weiter erblüht die Blume, desto mehr innere Blätter kann man erkennen, bis sie schließlich voll erblüht ist, an ihrem Ursprung, bei Red Dress. Und während die Blume erblüht, erblüht auch das Verstehen.

Am Ende kehrt die Geschichte in die Gegenwart zurück, die, wie wir jetzt wissen, unter dem Schatten der Vergangenheit liegt, um zu erfahren, wie die, auf denen der Schatten lastet – Harley, Charlene und Jeanette McVay -, sich daraus lösen, um ihren eigenen Weg zu gehen.

_Faszinierend_ ist aber nicht nur der Erzählverlauf an sich, sondern auch die Sprache, das heißt, die Bilder, die sie entstehen lässt. Es sind Bilder, denen eine andere Weltsicht, eine andere Art zu denken zugrunde liegt. Für die Indianer sind ganz andere Dinge wichtig als für uns, auch ihr Umgang miteinander und mit der Welt im Allgemeinen ist anders. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, trotzdem zeigt sich immer wieder, dass der Weiße Mann diese Tatsache noch immer nicht wirklich begriffen hat. Mag sein, dass er ganze Bücher mit Informationen über die Indianer und ihre Kultur füllen kann; Wissen kann man das aber nicht nennen. Das fängt schon damit an, dass die indianische Kultur ungefähr so einheitlich ist wie die europäische. Deshalb wird in „Die Grastänzer“ auch nicht die Kultur der Indianer lebendig, sondern die der Dakota.

Die Welt der Dakota ist von Geistern erfüllt, denen verstorbener Vorfahren, und anderen. Man kann sie sehen und mit ihnen reden, wenn sie und man selbst es zulassen. Sie sind Mahner, Ratgeber, manchmal auch Helfer zur Erkenntnis sowohl seiner selbst als auch anderer.

Das macht das Buch stellenweise sehr mystisch. Man sollte das aber keinesfalls mit Mystery verwechseln! Hier geht es nicht um die Inszenierung des Geheimnisvollen oder Unerklärlichen, sondern um eine tiefe Verbundenheit der Dakota mit ihrem Volk und ihrem Land, aber auch um die Tatsache, dass diese Verbindung zu einem großen Teil verloren gegangen ist.

Was mich an diesem Buch so gefesselt hat, war, dass all das, was ich bisher aus trockenen Sachbüchern erfahren hatte (und das war leider nicht viel), hier nicht nur durch ganz unerwartete Dinge ergänzt und erweitert wurde, sondern dass all das in diesem Buch zum Leben erweckt wird, eine konkrete Bedeutung erhält, mit Sinn gefüllt wird. Wir lesen nicht das Buch eines Forschers, der niederschrieb, was er wusste oder glaubte zu wissen, sondern wir lesen direkt in den Wolken, im Wasser und im Gras.

Eines darf man allerdings nicht erwarten: Wildwestromantik. Die Indianer und Weißen in diesem Buch sind keine Helden und Schurken, wie wir sie von Karl May oder Cooper kennen, sondern einfach Menschen. Ihr Leben besteht nicht aus dem, was wir unter Abenteuern verstehen, auch nicht im Kapitel von Red Dress. Dies ist die Geschichte des „Wilden Westens“ aus Sicht der Indianer, nicht aus Sicht der Weißen. Diese Geschichte ist auf ihre Art ebenso dramatisch, aber nicht so stilisiert, nicht so idealisiert.

Wer also nostalgisch veranlagt ist und seine Träume von einem Amerika à la Winnetou nicht demontiert sehen will, der lese dieses Buch nicht.
Es bietet keine Spannung im Sinne eines Krimis oder Abenteuerfilmes, es bietet keine große Liebesgeschichte, keine Lacher und auch keinen echten Grusel. Aber es bietet durchaus Dramatik und Gefühl. Jedem, der sich für Menschen und für indianische oder überhaupt für fremde Kulturen interessiert, kann ich das Buch nur wärmstens empfehlen. Einziger Nachteil: Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.

_Susan Power_, geboren 1961 in Chicago, ist eine Standing-Rock-Sioux und Nachfahrin des berühmten Häuptlings Mato Nupa (Two Bears). Schon als Kind hat sie sich intensiv mit der Kultur der Sioux und der benachbarten Cheyenne auseinandergesetzt und studierte schließlich in Harvard Literatur und Kunstgeschichte. Außer „Die Grastänzer“ hat sie einige Kurzgeschichten geschrieben, die u. a. in „The Best American Short Stories“ sowie als Sammlung unter dem Titel „Roofwalker“, allerdings nicht auf Deutsch, erschienen sind.

|Originaltitel: The grass dancer, 1993
Deutsch von Marion Sattler Charnitzky|

McCarthy, Cormac – Straße, Die

Filme und Romane, die sich mit dem Ende unserer bekannten Welt und Zivilisation befassen, gibt es viele. „The Day after“ zeigte uns in den Achtzigerjahren die Eskalation der Weltmächte und Angriffe auf die USA mit Nuklearwaffen; ob es dabei nun ein Erst- oder Gegenschlag war, wusste der Zuschauer nicht.

Es ist eigentlich auch egal, denn das Ende der Welt ist nicht mehr aufhaltbar. Der Bevölkerung bleiben nach dem Atomschlag nur verbrannte Erde, völlig zerstörte Großstädte, es gibt keine Zivilisation mehr und keine Gesetzgebung, keine Krankenhäuser, kein gezähmtes Wasser und keinen Strom, keine für uns so selbstverständlichen Güter, auf die wir scheinbar unbegrenzt zugreifen können und ohne die wir wahrscheinlich nicht mehr überleben könnten.

Wer die Bilder von Hiroshima und Nagasaki gesehen hat, bekommt eine Vorstellung von den möglichen Ausmaßen eines solchen Endzeitszenarios. Nicht nur die Bilder zerstörter Städte sind es, die uns erschrecken, sondern auch die der Bevölkerung, die zwar der Atombombe nicht sofort zum Opfer fiel, doch viele dieser Überlebenden sterben noch Jahrzehnte später an den Folgen der Radioaktivität oder geben ihr krankes Erbgut an die folgenden Generationen weiter – die Erb- und Krebskrankheiten steigen überdimensional an.

In der heutigen Zeit glauben nur noch die wenigsten an einen Atomkrieg. Die Theorie der atomaren Abschreckung gelingt scheinbar. Die militärische und politische Lage wirkt zwar zurzeit nicht entspannt, aber auch nicht kritisch. Es gab schon zu Zeiten Kennedys schwerwiegendere Krisen und Gefahren für die Weltbevölkerung.

Der amerikanische Autor Cormac McCarthy hat in diesem Jahr „Die Straße“ bei uns veröffentlicht. Der apokalyptische Reiter betritt wieder einmal die literarische Welt und reitet dem Untergang entgegen. Cormac McCarthy hat mit „Die Straße“ ein packendes und düsteres Endzeitdrama vorgelegt, in dem die uns bekannte Welt und die verbliebene Menschheit nach einer nicht näher benannten Kriegs- oder Naturkatastrophe auf ihren kleinsten Nenner reduziert und die Hinfälligkeit von allem und jedem endlich zutage getreten ist.

Unerbittlich zieht Cormac McCarthy den Leser mit einer traumwandlerischen Sicherheit in die Unausweichlichkeit hinein, die keine Hoffnung mehr lässt. In dieser Hoffnungslosigkeit existiert nur noch die Liebe zwischen einem namenlosen Vater und seinem Sohn. Das Leben der beiden auf der Straße kann sekündlich zu Ende sein – beide wissen dies, und ihr Martyrium führt den Leser an die Grenze des Erträglichen.

_Die Geschichte_

Ein verbranntes Amerika, eine verlorene Zivilisation, ohne Leben und ohne Hoffnung. Es existieren keine Städte mehr, das verkohlte schwarze Gelände erstreckt sich meilenweit. Astlose Baumstümpfe, Asche weht über die Straßen und von den geschwärzten Strommasten hängen die abgerissenen Kabel und wimmern ein Klagelied im Wind. Eine verlassene Baustelle an der Straße und Reklametafeln, die für Hotels werben, die aufgehört haben zu existieren. Die Einöde erhebt sich wie eine makabere Kohleskizze.

Ein namenloser Mann wandert mit seinem Sohn durch ein verbranntes Land, durch eine versunkene Zivilisation. Ihr einziges Hab und Gut ist ein quietschender Einkaufswagen mit wenigen gefundenen Habseligkeiten. Die Luft ist eiskalt und der Schnee grau. Ihre Kleidung hängt nur noch in Fetzen an den ausgemergelten unterernährten Körpern. Der Mann trägt als einzige Waffe einen Revolver, zwei Kugeln sind die letzte Munition, die sie noch haben. Sie haben nichts mehr, nur noch einander.

Ihr Weg ist das Ziel, und auf der Straße bewegen sie sich vorsichtig. Der Rückspiegel am Einkaufswagen warnt sie vor marodierenden Überlebenden, die schon lange alles an Menschlichkeit verloren haben, nicht aber vor Kälte und dem Hunger und schon gar nicht vor der Hoffnungslosigkeit, die sie wie ein treues Tier begleitet.

Auf der Straße bewegen Vater und Sohn sich in Richtung Süden, geradewegs auf das Meer zu; vielleicht ist das Meer noch blau, vielleicht gibt es noch Hoffnung auf Nahrung, auf Hilfe. Der Weg ist lang und voller Gefahren. In zerstörten Städten suchen sie in den schwarzverbrannten Ruinen nach Nahrung, nach Kleidung, die sie wärmt. Auf der Straße liegen die Autos und zeugen von einer Zerstörung, welche die Insassen in Sekundenbruchteilen überrascht hat, auf der Flucht vor dem Inferno verbrannt und vernichtet. Andere Überlebende wie sie, von Vater und Sohn nur die „Bösen“ genannt, haben ihre Menschlichkeit aufgegeben, und andere Menschen dienen diesen nur als Nahrung. Zeugnis davon geben aufgesteckte Köpfe und ausgeweidete Körper, die in Höfen liegen, und Feuerstellen, in denen man noch Knochen menschlicher Körper entdecken kann.

Doch die Tage des Überlebends sind limitiert. Der Vater erkrankt, und bereits Blut spuckend, ist er panisch verzweifelt, spricht aber dem Sohn noch immer Hoffnung zu. Notfalls, überlegt er, sind vielleicht die beiden letzten verbleibenden Kugeln für sie selbst die letzte Straße in ein neues Leben …

_Mein Eindruck_

Die dunkle Pilgerfahrt eines Vaters mit seinem Sohn durch ein offenbar nuklear vernichtetes Amerika ist ein verstörendes Stück Literatur. Der Leser erschauert, aber er wacht auch auf angesichts der Zerstörung und der Hoffnungslosigkeit. Cormac McCarthy hat mit seinem Roman „Die Straße“ ein packendes Endzeitdrama veröffentlicht. Er beschreibt in einem kühlen literarischen Stil den grausamen Pilgerweg seiner beiden Protagonisten und verschönert die Tragödie durch kein Wort. Wenn der Autor das Leben und Sterben im offenbar nuklearen Winter beschreibt, so wirkte der Roman düsterer, als jeder Film es uns zeigen könnte.

Es wird sehr wirksam mit der Frage jongliert, ob ein gütiger und gnädiger Gott noch über die Menschheit wacht oder jemals gewacht hat. Es gibt keine zufriedenstellende Antwort, nur die Liebe zwischen dem Sohn und seinem Vater, der ihn bis zuletzt vor allem beschützt. Spätestens jetzt wissen wir, wohin die Reise sich bewegt. Auch wenn die apokalyptische Erzählung grausam geschildert ist, so bildet die Liebe zwischen Vater und Sohn ein zärtliches Band in einer unwirtlichen, zerstörten Welt.

„Die Straße“ ist ein Roman über die letzten Dinge des Lebens. Über das Schlimmste und Beste, wozu die Menschheit fähig ist; ultimative Zerstörung, verzweifeltes Durchhaltevermögen und, nicht zuletzt, die Zärtlichkeit und Zuneigung, die Menschen im Angesicht der Vernichtung die nötige Kraft zum Überleben geben.

_Fazit_

Diese Vater-Sohn-Geschichte geht unter die Haut; bereits beim Lesen des ersten Kapitels wird dem Leser klar, welche Stimmung sich durch die Geschichte ziehen wird. Am Ende des Romans wird kein Leser sich entspannt zurücklehnen können oder gar den Kopf schütteln und vielleicht milde lächeln.

Wenn wir alles Materielle, allen Luxus, jegliche Annehmlichkeit unseres Lebens verloren haben, was bleibt dann übrig? Letztlich nur die Liebe und Opferbereitschaft, für den liebenden und geliebten Menschen alles zu geben. Wo Leben ist, ist auch Hoffnung, wo Liebe besteht, herrschen Menschlichkeit und Güte.

„Die Straße“ fasziniert nicht zuletzt durch das realitätsnahe Grauen und die individuelle Vorstellung einer verbrannten Welt, einer zerstörten und verstörten Zivilisation. Es gab einzelne Passagen, die zu lesen schwerfiel, nicht wegen des Stils, sondern wegen der Szenen, die der Autor gekonnt und erschreckend zu erzählen weiß. Was bleibt am Ende der Straße? Es gibt Hoffnung, eine offene, nicht endgültige, und das Ende, das letzte Kapitel ist mitnichten das wichtigste.

Wenn der Autor uns dazu bewegen wollte, über unser Dasein und unsere Verantwortung gegenüber uns und unseren Mitmenschen nachzudenken, so hat er mit „Die Straße“ ein gewaltiges Werk geschaffen.

„Wer vom Tod nicht sprechen will, der ist kein seriöser Schriftsteller“
|Cormac McCarthy|

McCarthy wurde 2007 für „The Road“ der Pulitzer-Preis verliehen. Eine Verfilmung des Stoffes ging im April 2007 in Arbeit; Regie wird John Hillcoat führen, dessen düsteres Westernepos „The Proposition – Tödliches Angebot“ Mitte Mai 2007 als DVD bei uns in den Handel kommt.

_Der Autor_

Cormac McCarthy wurde im Jahre 1933 in Rode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für seine Romane wurde er mit dem William Faulkner Award, dem American Award, dem National Book Critics Circle Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. McCarthy lebt in El Paso, Texas.

http://www.rowohlt.de

Kittle, Katrina – Zerbrechlich

In „Zerbrechlich“ behandelt die Amerikanerin Katrina Kittle ein sehr sensibles Thema: Kindesmissbrauch.

Sarah Laden ist die Mutter zweier halbwüchsiger Söhne und besitzt einen kleinen Cateringservice. Vor zwei Jahren ist ihr Mann Roy gestorben. Courtney Kendrick, ihre beste Freundin, hat ihr über die schwere Zeit nach dem Verlust geholfen. Eines Tages kommt der Verdacht auf, dass Courtney und ihr Mann ihren Sohn Jordan, der mit Sarahs Sohn Danny in eine Grundschulklasse geht, sexuell missbraucht haben sollen.

Sarah kann das natürlich nicht glauben, doch die Beweise werden immer erdrückender. Sie nimmt Jordan bei sich auf, obwohl sie schon genug mit ihren beiden Söhnen zu kämpfen hat. Besonders der pubertierende Nate hat immer wieder Ärger in der Schule, doch wider Erwarten bessert er sich, als Jordan in die Familie kommt. Allerdings hat Sarah nicht damit gerechnet, dass dieser Fall ihre Familie so sehr in Aufruhr bringen würde …

„Zerbrechlich“ wird aus drei Perspektiven erzählt, die sehr geschickt gewählt sind. Sarah hat nicht nur damit umzugehen, dass die beste Freundin nicht das ist, was sie zu sein scheint, sondern auch, dass ihr jüngerer Sohn bei den Kendricks aus und ein ging. Wie sehr kann man sich eigentlich in Menschen täuschen?

Nate, Sarahs ältester Sohn, plagt sich dagegen mit Schuldgefühlen herum. Er hat nie jemandem davon erzählt, aber tatsächlich hat Courtney Kendrick ihn vor kurzem geküsst – und zwar nicht nur geschwisterlich. Er hatte sich dadurch geschmeichelt gefühlt. Hätte er nicht stattdessen erkennen müssen, wie krank diese Frau ist? Er fühlt sich gegenüber Jordan schuldig und kümmert sich deshalb besonders um den Jungen.

Jordan, das Opfer, darf sich ebenfalls zu Wort melden, auch wenn er in seiner Perspektive keine genaue Schilderung der Vorfälle abgibt. Trotzdem kommen immer wieder Erinnerungen zutage, und Jordan berichtet, wie es ist, in der neuen Familie zu leben und wie er damit umgeht, dass sein Vater auf der Flucht ist und seine Mutter, der er überhaupt keine Schuld gibt, im Gefängnis sitzt.

Das Thema Kindesmissbrauch geht Katrina Kittle sehr sensibel an. Sie verzichtet auf reißerische Darstellungen und emotionale Schocker und überlässt es vielmehr Jordan, der diese Erinnerungen natürlich zu verdrängen versucht, mit kleinen Bemerkungen in seiner Perspektive dem Leser sein Schicksal bewusst zu machen.

Überhaupt geht es in dem Buch um weit mehr als Kindesmissbrauch, auch wenn dies das Motiv ist, um das sich alles dreht. Es geht auch um den schönen Schein, den die Kendricks – sie Ärztin, er erfolgreicher Geschäftsmann – aufrechterhielten, damit niemand hinter ihr Geheimnis kam. Es geht darum, wie sie alle getäuscht haben und wie Jordan und Sarahs Familie damit umgehen, dass der Junge jetzt bei ihnen wohnt.

Die Handlung beschäftigt sich also mehr mit emotionalen Seiten als mit der Spannung, auch wenn das Buch als „Thriller“ deklariert ist. Wer Nervenkitzel bis zur letzten Seite erwartet, wird enttäuscht. Natürlich ist es auch nicht gerade langweilig, das Zusammenleben einer „normalen“ Familie mit einem sexuell missbrauchten Jungen zu beobachten, aber Sex and Crime darf man in „Zerbrechlich“ nicht erwarten.

Kittle beweist ein gutes Händchen, um diese zwischenmenschlichen Ereignisse glaubhaft zu erzählen. Der Leser kann dank der unterschiedlichen Perspektiven gut nachvollziehen, was im Hause Laden vor sich geht. Besonders Jordans Charakter ist der Autorin gut gelungen. Der schüchterne, abgekapselte Junge scheint in seiner eigenen Welt mit ihm sehr eigentümlichen, da von seiner Vergangenheit geprägten Gedankengängen zu wohnen. Er hat eine ganz andere Sicht auf gewisse Dinge als andere Menschen, und Kittle schafft es, diese für den Leser verständlich herüberzubringen, ohne viel dabei zu erklären. Man merkt, dass Jordan sehr verletzt wurde, ihm aber auch eine gewisse Stärke innewohnt.

Die anderen Charaktere sind ebenfalls sehr tiefgründig und gut gestaltet, aber gerade Nate, der mitten im Teenageralter ist, wirkt an manchen Stellen etwas zu vernünftig und dadurch unrealistisch.

Ein wirkliches Manko des Romans ist allerdings der Schreibstil. Das beginnt schon mit der schlampigen Übersetzung. Wieso bleibt das Wörtchen „Yeah“, das des Öfteren vorkommt, unübersetzt, und wieso sagt man statt „Soccermom“ nicht einfach „Fußballmama“? Es ist sicherlich nicht allen Deutschen bewusst, was „soccer“ ist, und die Übersetzung als „Fußball“ tut nicht weh und ist auch in Zeiten des Neudeutschen noch modern genug.

Ansonsten gibt es wenige positive Eigenschaften, mit denen sich Kittles Schreibstil hervortut. Sie schreibt durchschnittlich gut, auch wenn sie an einigen, zumeist unwichtigen Stellen zu sehr ins Detail geht. Unwichtige Stellen sind vor allem ihre Arbeit als Köchin. Für den Verlauf der Geschichte ist es zum Beispiel völlig irrelevant, alle Schritte bei der Zubereitung eines Fischgerichtes aufzuzählen. Leider passiert das aber nicht nur einmal im Buch, was auf die Dauer nervt.

„Zerbrechlich“ von Katrina Kittle ist eine zweischneidige Angelegenheit. Inhalt und Charaktere gefallen sehr gut und sind authentisch, aber der Schreibstil ist zu durchschnittlich, um das Buch in die oberen Ränge zu hieven. Das ist schade, denn der angebliche Thriller hat mehr als genug gute Ansätze.

http://www.bastei-luebbe.de

Richler, Mordecai – Lehrjahre des Duddy Kravitz, Die

Mordecai Richler gilt einer der meistgelesenen Autoren Kanadas. „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ stammt aus dem Jahr 1959 und zählt zu den bekanntesten Werken des 2001 im Alter von 70 Jahren verstorbenen Autors. Es erscheint nun erstmals in deutscher Übersetzung.

Duddy Kravitz wächst im jüdischen Viertel von Montreal in einfachen Verhältnissen auf. Duddy ist gewitzt, verschlagen und stets zu Streichen aufgelegt und verschafft sich so den Respekt der Jungs aus dem Viertel. Nachdem er die Mittelschule beendet hat, strebt Duddy sein großes Ziel an: ein Stück Land erwerben. Sein Großvater Simcha hat ihm einst erzählt, dass ein Mann ohne eigenes Land ein Niemand ist und als Niemand will Duddy nicht enden.

Duddy hat sich schon ein schönes Stück Land ausgesucht, das er gerne hätte. Versteckt an einem romantischen See gelegen und wie geschaffen dafür, touristisch erschlossen zu werden. Und so tut Duddy alles, um das Geld zusammenzukratzen, das er für den Erwerb „seines“ Landes braucht. Duddy verkauft Toilettenartikel, verdingt sich als Kellner, fährt Taxi und versucht sich als Schmuggler und Filmproduzent. Hauptsache es kommt genug Geld rein.

Doch mit der Zeit verstrickt Duddy sich in immer turbulentere Unternehmungen und vergrault sich damit auch schon mal diejenigen, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind und die er eigentlich als Freunde betrachtet hatte …

„Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ ist ein schöner „Comming-of-Age“-Roman, gewitzt und flott erzählt. Richler erzählt pointiert und mit bissigem Humor von den Abenteuern eines jungen Mannes, der seine großen Träume verwirklichen will und alles dafür tut. Es ist schon faszinierend zu beobachten, wie Duddy Kravitz seinen Weg geht. Er hat sich ein Ziel gesetzt, dessen Verwirklichung er verbissen voranbringt. Dabei riskiert er eine Menge und der Leser wartet förmlich darauf, dass Duddy sich irgendwann verspekuliert.

Doch Duddy ist gleichermaßen gerissen wie charmant, und so schafft er es immer wieder, potenzielle Geldgeber und Geschäftspartner erfolgreich zu umgarnen. Duddy scheint der geborene Geschäftmann zu sein, der es stets schafft, mehrere heiße Eisen gleichzeitig im Feuer zu haben. Zu beobachten, wie Duddy mit so vielen Bällen gleichzeitig jongliert, birgt schon eine gewisse Spannung, zumal man stets erwartet, dass er auf die Nase fällt.

Mordecai Richlers Werk blieb immer sehr umstritten, und warum, das lässt sich sehr gut nachvollziehen. Mit Duddy Kravitz skizziert Richler das Bild des geschäftstüchtigen Juden, der überall Geld wittert. Wegen seiner Darstellung jüdischer Lebensweise und jüdischer Traditionen musste Richler sich oft den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Richler, selbst Jude, antwortete auf solche Vorwürfe meistens mit dem Hinweis: |“Sie schämen sich für Dinge, die ich verherrliche.“|

Und so spielt das Judentum auch in „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ eine durchaus gewichtige Rolle und zeigt dabei, wie Richler das Judentum thematisiert. Er packt den Stoff nicht mit der Vorsicht an, die für die heutige Zeit typisch ist, sondern skizziert unverfälscht Positives wie Negatives und sucht dabei stets nach der satirischen Komponente. Richlers Humor ist schon eher von der respektlosen Sorte, doch der Vorwurf des Antisemitismus zeigt mal wieder, dass dabei wohl eher die moralische Keule mitschwingt, die immer gleich gezückt wird, sobald jemand die Themen Judentum und Israel mal nicht mit Samthandschuhen anfasst.

Duddy Kravitz ist sicherlich genauso wenig der Vorzeigejude wie Mordecai Richler, aber gerade das macht ihn zu einer durchaus interessanten Figur. Er ermöglicht einen differenzierteren Blick auf das Judentum. Duddy hadert mit den Vorurteilen und tut gleichzeitig eine Menge für deren Bestätigung.

„Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ entwickelt sich mit zunehmender Seitenzahl zu einer fesselnden Lektüre. Man fiebert mit Duddy und versinkt dabei förmlich in der Geschichte. Obwohl Duddy kein uneingeschränkt sympathischer Mensch ist, obwohl er seine besten und loyalsten Freunde nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten, schließt man ihn auf eine gewisse Art doch ins Herz.

Und am Ende ist „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ eben auch ein schöner Roman über die Verwirklichung der Träume. Duddy richtet sein ganzes Sein auf dieses Ziel aus. Doch was aus Träumen wird, wenn man sie dann verwirklicht, steht immer noch auf einem ganz anderen Blatt, und diese Erfahrung muss auch Duddy machen.

So ist „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ unterm Strich ein ausgesprochenes Lesevergnügen. Ein gewitzter und flotter „Coming-of-Age“-Roman mit sympathischen und vor allem auch skurrilen Figuren. Richler erzählt seine Geschichte gleichermaßen erheiternd wie fesselnd. Er garniert das Ganze mit satirischem Witz und ironischen Blicken auf das Judentum und das Leben im französischsprachigen Teil Kanadas. „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ ist in jedem Falle eine Empfehlung wert.

Verlagsbuchhandlung Liebeskind:
[www.liebeskind.de]http://www.liebeskind.de

Setterfield, Diane – dreizehnte Geschichte, Die

|“Alle Kinder mythologisieren ihre Geburt. Das ist nur allzu menschlich. Du willst jemanden wirklich kennen lernen? Mit Leib und Seele? Dann frag ihn, wann und wo er das Licht der Welt erblickt hat. Du wirst nicht die Wahrheit zu hören bekommen, sondern nur eine Geschichte. Und nichts ist so aufschlussreich wie eine Geschichte.“|

Und genau eine solche Geschichte hat die berühmte Schriftstellerin Vida Winter zu erzählen. Viele Geheimnisse umranken ihre Person, niemand weiß, welcher Mensch sich wirklich hinter diesem Pseudonym versteckt, und niemand kennt ihre sagenumwobene dreizehnte Geschichte, denn wo diese stehen sollte, finden sich in ihrem Buch nur leere Seiten. Nun ist Vida Winter alt und sterbenskrank und genau in diesem Moment erhält die Buchhändlerin Margaret Lea einen geheimnisvollen Brief der Schriftstellerin, in welchem Vida Winter ihr anbietet, ihr erstmals die Wahrheit über ihr Leben zu erzählen. Doch obwohl Margaret Lea leidenschaftlich gerne liest und in alten Büchern stöbert, muss sie zugeben, dass sie noch keinen Bestseller von Vida Winter jemals gelesen hat. Als sie aber erst einmal mit Vida Winters Büchern zu lesen beginnt, ist sie sofort gefesselt von den Erzählungen und möchte der Person Vida Winters und auch ihrer dreizehnten Geschichte auf den Grund gehen. Und so reist Margaret Lea zu der sterbenden Autorin, um die Wahrheit zu hören und um die heißersehnte Autobiografie einer Autorin zu schreiben, von der eine ungeahnte Faszination ausgeht.

Doch noch immer kann sich Margaret keinen Reim darauf machen, warum gerade sie diesen Brief erhalten hat und warum Vida Winter gerade ihr die Wahrheit erzählen will, kennen die beiden Frauen sich doch nicht und hat Margaret Lea niemals eine Biografie eines noch lebenden Autors geschrieben. Dennoch fühlt Margaret sich magisch von der rätselumwobenen Schriftstellerin angezogen, denn auch Margaret umgibt ein Geheimnis. Noch als sie klein war, hat sie herausgefunden, was ihr immer gefehlt hat, warum sie sich nie komplett gefühlt hat, denn Margaret hatte einst eine Zwillingsschwester, die allerdings kurz nach der Geburt gestorben ist. Margarets Mutter ist an diesem Verlust zerbrochen und konnte nie ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis aufbauen, und genau aus diesem Grund wollte sie Margaret vor der schrecklichen Wahrheit bewahren. Umso neugieriger ist Margaret nun, Vida Winters Familiengeschichte zu hören, denn auch Vida Winter, die einst einen anderen Namen trug und in Angelfield aufgewachsen ist, hatte eine Zwillingsschwester. Doch bei einem schrecklichen Feuer in Angelfield kam Vidas Schwester ums Leben. Niemand hat aber jemals die Wahrheit erfahren über die Nacht des Feuers.

Viele Geschichten sind zu entwirren, viele Geheimnisse aufzudecken, als Vida Winter damit beginnt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie berichtet von Isabelle und ihrem Bruder Charlie, die eine innige Liebe miteinander verbindet. Als Isabelle einen anderen Mann kennen lernt, plagt Charlie die Eifersucht und er tröstet sich stattdessen mit zahlreichen anderen Frauen. Isabelle heiratet Roland schließlich und bekommt Zwillinge von ihm. Doch kurz nach der Geburt der beiden Mädchen stirbt Roland und Isabelle kehrt nach Angelfield und zu ihrem rastlosen Bruder zurück. Der Verlust des Mannes und die ganz unbrüderliche Liebe ihres Bruder entfremden Isabelle von ihren Kindern, sodass das Hausmädchen sich um die Erziehung von Adeline und Emmeline kümmert. Die jedoch ist dieser anspruchsvollen Aufgabe kaum gewachsen, denn Adeline ist ein rücksichtsloser Wildfang, Emmeline dagegen ein stilles, zurückhaltendes und vielleicht auch zurückgebliebenes Mädchen, das sich immer wieder stillschweigend von seiner Schwester quälen lässt. Als später Hester als Kindermädchen für die beiden eingestellt wird und auf die Idee kommt, die Zwillinge voneinander zu trennen, beschwört sie damit eine Tragödie herauf, die das ganze Leben auf Angelfield für immer verändern wird …

Es ist eine stille und ganz sensible Geschichte, die uns Diane Setterfield in ihrem Roman zu erzählen hat. Mit großem Sprachgefühl und viel Einfühlungsvermögen bringt sie uns die Lebensgeschichte der handelnden Personen und vor allem ihre Gefühle, ihre Sorgen und ihre Stimmungen näher. Ganz geschickt hat Setterfield verschiedene Geschichten ineinander verwoben, denn es ist nicht nur die Geschichte der Familie Angelfield, die wir zu hören bekommen, sondern auch die von Margaret Lea und ihrem merkwürdigen Aufenthalt bei Vida Winter. So verschlingen sich Gegenwart und Vergangenheit ineinander und wir entwirren nur ganz allmählich die Gedankengänge der Autorin und die zugrunde liegenden Zusammenhänge.

Was die gesamte Romanhandlung, die sich über insgesamt 520 Seiten erstreckt, trägt, sind die persönlichen Beziehungen zwischen den handelnden Figuren und die eingehende Charakterstudie, die Setterfield anstellt. Ganz vorsichtig und zaghaft berichtet sie von Lieben, die nicht sein dürfen, von Geschwisterbeziehungen, die nie zustande kamen bzw. die fast krankhafte Zustände annehmen, und von den Sorgen, die die einzelnen Personen mit sich durchs Leben tragen. Auf dem Wege zur schlussendlichen Auflösung kommen wir allen Charakteren so nah, dass man das Gefühl hat, man würde sie persönlich kennen.

Margaret Leas persönliches Schicksal ist es, das sie regelrecht in die Geschichte der Familie Angelfield hineinzieht, denn auch dort geht es um die Liebe zwischen Geschwistern und um die Beziehung zwischen Zwillingen, die kaum voneinander lassen und ohne einander scheinbar nicht leben können. Und obwohl die persönlichen Beziehungen der Charaktere so unglaublich sind, dass sie sich jedem Menschenverstand entziehen, so können wir sie doch nachfühlen, können wir nachvollziehen, warum die Figuren handeln, wie sie eben handeln müssen. Das ist der Verdienst von Diane Setterfields einfühlsamen und eindringlichen Schreibstil, der in jeder Situation so weit ins Detail geht, dass wir plötzlich mitten in der Geschichte stehen und alles hautnah miterleben können. Jede Kleinigkeit findet Erwähnung und Setterfield zieht unzählige Metaphern heran, um auch alles ganz genau zu beschreiben, bis wir es bildlich vor Augen haben. Es ist wahrlich meisterhaft, was wir hier zu lesen bekommen.

Aber auch der Spannungsbogen, der nur ganz zurückhaltend immer wieder aufblitzt, ist äußerst gelungen, denn wir möchten unbedingt erfahren, welche Geheimnisse sich um Vida Winters Kindheit ranken, welch schreckliche Dinge in der Nacht des Feuers geschehen sind und wie die dreizehnte Geschichte lautet. Als dann mitten im Buch plötzlich ein geheimnisvoller Mann auftaucht, der als Baby ausgesetzt worden und nun auf der Suche nach seiner Familie ist, kann der Leser diesen neuen Handlungsstrang zunächst nicht in das Gesamtgefüge einordnen, doch nach und nach legt Setterfield die Verbindungen dar und wir erhalten immer mehr Hinweise, die schließlich zum großen Aha-Erlebnis führen werden.

„Die dreizehnte Geschichte“ ist ein ganz stiller und leiser Roman, der zwar unter der Fassade auch Mord, Familienzwistigkeiten und menschliche Tragödien verborgen hält, aber dennoch sind es andere Elemente, die zu genau der gleichen Faszination führen, die auch Margaret Lea gepackt hat, als sie Vida Winters Geschichte zu hören bekommt. Diane Setterfields Schreibstil ist unglaublich lautmalerisch, einfühlsam und detailreich, sodass jeder Satz ein reines Vergnügen ist, und dennoch – trotz all der Lobeshymnen – ist „Die dreizehnte Geschichte“ wohl doch auch ein Frauenroman, denn es wird wahrscheinlich nur wenige männliche Leser geben, die sich so sehr in die Erzählung eindenken und einfühlen wollen, wie es notwendig ist, um sich von Diane Setterfield mitreißen zu lassen. Aber wenn man sich auf die Geschichte einlässt, dann gibt es Großartiges zu entdecken!

|Originaltitel: The Thirteenth Tale
Originalverlag: Orion
Aus dem Englischen von Anke und Dr. Eberhard Kreutzer
Gebundenes Buch, 528 Seiten, 13,5 x 21,5 cm|
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/dynamicspecials/setterfield__geschichte/
http://www.thethirteenthtale.com/

Gowdy, Barbara – Hilflos

Kindesmissbrauch ist ein äußerst sensibles Thema. In ihrem Roman „Hilflos“ nähert die Kanadierin Barbara Gowdy sich diesem schwierigen Komplex an und hat dabei ein äußerst einfühlsames Werk geschaffen.

Rachel Fox ist neun Jahre alt und ein hübsches Mischlingskind, das Interesse erweckt. Braune Haut mit blonden Haaren und blauen Augen – das ist ein Erscheinungsbild, das so manchen Blick auf sich zieht. Rachel stammt aus einfachen Verhältnissen. Die Mutter ist alleinerziehend, der Vater unbekannt. Die Mutter Celia verdient den Lebensunterhalt als Pianistin in einer Bar, aber das Geld reicht nur so gerade eben.

Rachel weiß, dass ihre Mutter sich ständig Sorgen macht, und so erwähnt Rachel auch nicht, dass sie seit einer Weile ein Mann beobachtet. Sie will nicht, dass ihre Mutter sich noch mehr sorgt. Der Mann, der Rachel beobachtet, ist Ron. Er ist hin und weg von Rachel und kann sich von ihrem Anblick kaum losreißen. Und so passiert eines Tages das, was unvermeidlich zu sein scheint und wovor die Mutter immer Angst hatte. Rachel wird entführt – von Ron.

Ron hat im Keller seines Hauses ein schickes Kinderzimmer eingerichtet, mit allem, was das Kinderherz begehrt: hübsche Möbel, viele Spielsachen, eine DVD-Sammlung. Und so versteht Ron auch gar nicht so recht, warum Rachel unbedingt wieder nach Hause will und sich weigert, sich bei ihm einzuleben. Zum Glück ist da aber noch Nancy, Rons Freundin. Ron selbst bringt es kaum fertig, in die Nähe von Rachel zu gehen, und so kümmert Nancy sich um das Kind und entwickelt dabei wahre Muttergefühle.

Während draußen die Fahndung auf Hochtouren läuft und Rachels Mutter vor Sorge und Verzweifelung fast umkommt, träumt Ron davon, mit Nancy und Rachel in Florida einen Neuanfang zu starten – als Familie. Rachel lässt er glauben, dass er sie vor bösen Männern gerettet hat, die hinter ihr her sind. Und so fasst Rachel doch irgendwann langsam Vertrauen, während Ron darum kämpft, seine Liebe zu Rachel unter Kontrolle zu halten. Doch wie lange wird ihm das gelingen?

„Hilflos“ ist das Porträt einer fehlgeleiteten Liebe. Ron ist voller Liebe für Rachel, und so will er selbst an seine edlen Motive glauben. Er will glauben, dass er Rachel retten musste, weil die nackte Wahrheit auch für ihn zu schmerzhaft ist. Er weiß, dass mit seiner Liebe zu Rachel etwas nicht in Ordnung ist, aber dagegen anzugehen, ist für ihn ein ständiger Kampf. Er ringt mit sich, um nicht so zu enden wie andere Männer, und er kämpft gegen einen Trieb an, den er nicht abstellen kann.

Dieses Bild des Kindesentführers Ron entwirft Gowdy und setzt dem Leser damit einen schwer verdaulichen Brocken vor. Ron ist ein schüchterner und zurückhaltender Mensch, stets höflich zu seinen Mitmenschen und wegen seiner Fähigkeiten als Mechaniker geschätzt. Dass er gleichzeitig ein Pädophiler ist, ist nicht das eigentlich Erschreckende, schließlich sind die Medien voll mit Menschen, die ein Doppelleben führen.

Das eigentlich Erschütternde ist, dass Ron ein Pädophiler mit Gewissen ist, denn das macht ihn menschlich. Er ist nicht das Kinder missbrauchende Monster, das die Medien so gerne darstellen, und so muss der Leser ganz anders mit ihm umgehen und ihn ganz anders begreifen. Man tut sich teils schwer damit, eindeutig Stellung zu beziehen. Rons Annäherung gegenüber Rachel ist so behutsam und vorsichtig; er wirkt dabei so schüchtern und eingeschüchtert zugleich, dass sich irgendwo tief im Leser auch ein gewisses Mitleid für diesen seltsamen Menschen mit seiner fehlgeleiteten Liebe regt.

Genau das ist eine der Stärken von Gowdys Roman. Sie zeichnet nicht schwarzweiß, sondern bewegt sich irgendwo in den schummrigen Grauzonen der Liebe, die man schwer begreifen kann. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Und dabei lotet sie ihre Figuren überaus einfühlsam aus. Auf der einen Seite die der Opfer in Form von Rachel und Celia, und auf der anderen Seite die der Täter in Form von Nancy und Ron.

So einfach, wie man es sich wünschen mag, lassen sich Täter und Opfer dabei nicht abgrenzen. Zum eindeutigen Täter lassen Nancy und Ron kriminelle Energie und skrupellose Entschlossenheit vermissen. Sie wirken stets unsicher, haben keinerlei böse Absichten und handeln teilweise in gutem Glauben und aus Liebe, und allein das erscheint schon fast unglaublich.

Und so tut man sich auch etwas schwer damit, die Taten der beiden eindeutig zu verurteilen. Natürlich ist es falsch, was sie machen, aber da man nicht umhinkommt, sie selbst aufgrund ihrer persönlichen Geschichte in gewisser Hinsicht als Opfer zu sehen und ihnen eine gewisse moralische Hemmschwelle zuzugestehen, fällt es schwer, sie mit aller Entschiedenheit zu verurteilen. Gowdy zwingt den Leser zu einem differenzierteren Urteil, in dem es nicht einfach nur Schuldige und Unschuldige gibt, und das ist eben auch eine der Herausforderungen des Buches.

Das Szenario, das sie entwirft, das Luxus-Kinder-Gefängnis im Keller von Rons Haus, ist geradezu furchteinflößend. Die Gegensätzlichkeit seiner großen Liebe zu Rachel und der Abgründigkeit seiner Tat ist absolut erschreckend. Man fürchtet und ahnt, worauf das Ganze hinauslaufen wird und auch hinauslaufen muss. Wie lange wird es Ron gelingen, seinen Trieb zu unterdrücken? Je mehr Rachel Zutrauen zu Ron fasst, desto gefährlicher entwickelt sich die Lage für sie, ohne dass sie es ahnt, und das sorgt dafür, dass „Hilflos“ sich zu einer wirklich nervenaufreibenden Lektüre entwickelt.

Gowdys Roman entfaltet ein enormes Spannungspotenzial und schöpft dieses auch voll aus. Dabei bleibt bis kurz vor Schluss offen, wie das Ganze überhaupt endet. Alles erscheint möglich, ein Happyend genauso wie die Katastrophe, und doch kann es eigentlich gar nicht anders enden als so, wie Gowdy es auflöst.

„Hilflos“ ist ein Buch, das voller Emotionen und Abgründe steckt und sich dabei zu wahrer Spannungslektüre entwickelt. Gowdy blickt tief in die Seelen ihrer Protagonisten und skizziert ein differenziertes Bild von ihnen. „Hilflos“ ist eine Lektüre, die es wirklich in sich hat, sie steckt voller Leben und Liebe und ist im gleichen Moment gespenstisch und düster.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. „Hilflos“ ist eine intensive Leseerfahrung. Gowdy zieht das Thema Kindesmissbrauch einmal von einer ganz anderen Warte auf und entwirft so das Porträt einer krankhaften und fehlgeleiteten Liebe, das es in sich hat.

http://www.kunstmann.de/

Haddon, Mark – wunde Punkt, Der

Die Durchschnittsfamilie aus der Vorstadt war in der Vergangenheit schon so manche gute Story wert. Man denke nur an einen Film wie „American Beauty“, der wie kein anderer die piefige Vorstadtwelt porträtiert. Ähnlich kleinbürgerlich, aber eben dennoch gänzlich anders als die Welt von Lester Burnham sieht das Leben von George Hall aus: Zwei-Kinder-Standardfamilie, Vorstadthaus mit Garten – alles in bester Ordnung.

George Hall ist Rentner, aber diese einschneidende Veränderung birgt für ihn scheinbar keine Probleme. Seine Zeit verbringt er damit, an seinem Gartenhäuschen herumzuwerkeln oder dezenten Jazz zu hören. Das Familienleben läuft in geregelten Bahnen, die Kinder sind aus dem Haus, die Gattin Jean pflegt ein außereheliches Verhältnis, von dem er nichts weiß, und die Homosexualität des Sohnes Jamie wird dezent totgeschwiegen.

Doch alles ändert sich mit dem Tag, an dem George in der Umkleidekabine eines Kaufhauses einen seltsamen Fleck an seiner Hüfte entdeckt. Das muss Krebs sein, denkt er und macht sich gleich darauf Gedanken, wie er am unkompliziertesten von dieser Welt abtreten kann, ohne anderen größere Umstände zu bereiten. Mit der Konsequenz, dass er einen Blackout erleidet.

Doch schon zu Hause ereilt den Rentner der nächste Schock: Tochter Katie will zum zweiten Mal heiraten, und das, obwohl ihre Eltern mit ihrem Auserwählten alles andere als glücklich sind. George bekommt auf den Schreck prompt seinen nächsten Blackout. Während Jean sich in die Vorbereitung der Feierlichkeiten stürzt, beginnt George mehr und mehr an seinem Verstand zu zweifeln. Und auch das Krebsgeschwür an seiner Hüfte macht ihm Kummer, führt es ihm doch die eigene Vergänglichkeit vor Augen und zwingt ihn dazu, sich gedanklich auf den Tod einzustellen. Und warum nimmt sein Hausarzt das alles nicht wirklich ernst?

Sohnemann Jamie hat derweil ganz andere Sorgen. Da hat er nun endlich einen festen Freund, aber kann er den auch mit auf eine Vorstadthochzeit im spießbürgerlichen Peterborough mitnehmen? Der Geliebte nimmt im Angesicht des zögerlichen Verhaltens seines Freundes prompt Reißaus, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da nun auch noch die Hochzeit zu platzen droht. Mitten in dem ganzen Trubel steht George allein und machtlos seinem vermeintlichen Krebsgeschwür gegenüber. Aber er resigniert nicht, und so entscheidet er sich für eine Radikalmaßnahme …

Ein wenig erinnern die chaotischen Halls von Mark Haddon an die nicht minder merkwürdigen Lamberts aus Jonathan Franzens [„Korrekturen“. 1233 Beide Familien sind sonderbar und alltäglich zugleich, und beiden Autoren ist gemein, dass sie mit ihren jeweiligen Romanen außerordentlich unterhaltsame Familienporträts entworfen haben.

Jede Figur hat ihre Macken, und doch wirkt jede auf ihre Art ziemlich normal. George, der Rentner, der kein Mann großer Worte ist, der eigentlich ein so bescheidenes Leben führt und nun auf so eigentümliche Art und Weise aus seinen bisherigen Bahnen ausbricht, ist sicherlich die schillerndste Figur der Geschichte. Seine Charakterisierung nimmt schon gewisse verrückte Züge an, bleibt nichtsdestotrotz aber stets sehr liebenswürdig.

Der Rest der Familie hat auch seine Macken, wirkt dabei aber etwas bodenständiger. Sie alle werden von Problemen im Liebesleben geplagt, und in allen Fällen entblättert Haddon wunderbar nachvollziehbar Motive und Gedanken der Protagonisten. Er wechselt immer wieder die Perspektive, spult die Handlung immer wieder aus neuen Blickwinkeln ab und schafft es auf diese Weise sogar, eine gewisse Spannung zu erzeugen.

Der Leser ahnt, dass alles auf einen unvermeidlichen Höhepunkt zuläuft, eine Katastrophe, in der das Chaos seinen Zenit erreicht. Das ganze Buch, der ganze Spannungsverlauf zielt auf diesen einen Moment ab, und so schafft Haddon es mit Leichtigkeit, den Leser bei der Stange zu halten. Man muss einfach wissen, wie es weitergeht, und so entwickelt sich „Der wunde Punkt“ zu ganz unerwarteter Spannungslektüre.

Haddon bedient sich so gesehen einer sehr geschickten Erzählweise. Was auf den ersten Blick wie ein ganz lockerer Unterhaltungsroman wirkt, zeigt bei genauerer Betrachtung ganz andere Qualitäten. Ein spannend aufgebauter Plot wird mit facettenreichen Figurenskizzierungen und unerwartet tiefen Einblicken in die Abgründe der verschiedenen Persönlichkeiten verquickt – und das glaubwürdig und in sich stimmig.

Eine weitere Qualität ist Haddons wunderbarer Erzählton. Ganz leichtfüßig erzählt er seine Geschichte, locker und unverkrampft. Er streut immer wieder Gags ein und bringt den Leser zum Schmunzeln, baut dabei aber im Laufe der Kapitel auch eine gewisse Dramatik auf. „Der wunde Punkt“ ist eine ausgeglichene und toll erzählt Tragikomödie, die voller Leben steckt und dabei das Kunststück vollbringt, gleichermaßen herrlich skurril, unspektakulär normal und voller ehrlicher Ansichten über das Leben zu sein.

Von Anfang bis Ende schafft Haddon ein stimmiges Romangefüge und eine dichte Atmosphäre. Leichtfüßiger Unterhaltungsroman und tiefgründiges Drama in einem: Haddon gelingt damit ein gewisser Balanceakt, der sich ganz nebenbei wunderbar unterhaltsam liest.

Bleibt unterm Strich ein durchweg positiver Eindruck zurück. Mark Haddon hat mit „Der wunde Punkt“ ein herrlich liebenswürdiges und skurriles Familienporträt abgeliefert, das von der ersten bis zur letzten Seite keine Sekunde Langeweile aufkommen lässt. Wer schon Spaß daran hatte, Jonathan Franzens Lamberts in den „Korrekturen“ zu beobachten, und wer britisch angehauchte Tragikomödien mag, für den dürfte „Der wunde Punkt“ absolut lohnenswerte Lektüre sein.

http://www.blessing-verlag.de

Kitty Fitzgerald – Pigtopia

Jack Plum wird mit einer Entstellung geboren, die ihn ähnlich aussehen lässt wie ein Schwein. Sein Kopf ist deformiert, er hat Sprachschwierigkeiten und für seine Mutter, die nach der schweren Geburt bleibende Schäden zurückbehielt und inzwischen im Rollstuhl sitzt, ist er ein Monster. Jacks Vater, ein Metzger, schützt seinen Sohn dagegen und weiht ihn in die Grundlagen der Schweinezüchtung ein. Doch nach Jacks zwölften Geburtstag verschwindet Daniel Plum spurlos und kehrt nicht zurück. Von nun an lebt Jack allein mit seiner depressiven Mutter, abgesperrt von der Außenwelt.

Kitty Fitzgerald – Pigtopia weiterlesen

Dubois, Jean-Paul – Ein französisches Leben

Ganz unspektakulär klingt der Titel von Jean-Paul Dubois‘ Roman „Ein französisches Leben“. Ganz pragmatisch beschreibt er den Inhalt und wirkt dabei gleichermaßen banal wie unaufregend. Und so läuft man beinahe Gefahr, ein schönes Kleinod zu verpassen, das man angesichts des unscheinbaren Titels in der Masse der Neuerscheinungen kaum wahrnimmt.

„Ein französisches Leben“ erzählt in der Tat ein solches, und zwar das von Paul Blick. Eine Kindheit in den fünfziger Jahren, das Aufbegehren der Achtundsechziger und später der Rückzug in die Bürgerlichkeit. Pauls erstes einschneidendes Erlebnis ist der Tod des Bruders am Tag der Wiederwahl von Charles de Gaulle. Paul verliert einen wichtigen Haltepunkt, den großen, starken Bruder, der ihn auf alles im Leben hätte vorbereiten können.

Doch Paul geht auch so seinen Weg, wenngleich die Familie nicht mehr die Gleiche ist wie vor dem Tod des Bruders, dessen Platz am Abendbrotstisch schon bald ein Fernsehgerät einnimmt. Paul entflieht dem Elternhaus, so früh er kann, und beginnt sein Studium mitten in den unruhigen Zeiten der achtundsechziger Bewegung. Auch Paul steckt mittendrin. Zügelloses WG-Leben, Bandproben statt Vorlesungen, politische Debatten anstelle von Klausuren – Paul entwickelt viele Leidenschaften, aber keine für sein Studienfach Soziologie.

Irgendwie bekommt er sein Diplom, wenngleich man sich fragt, wofür. Er nimmt einen Job als Sportjournalist an und verliebt sich in Anna, die Tochter seines Chefs. Als Anna schwanger wird, beugt Paul sich den gesellschaftlichen Konventionen und heiratet Anna. Mit der Heirat schwenkt er wieder in ein konventionelleres Leben ein, wenngleich die Rollenverteilung in der jungen Familie Blick für die damalige Zeit noch eher unkonventionell ist. Während Anna im eigenen Betrieb Karriere macht, hütet Paul Haus und Kinder und kocht das Abendessen.

Als die Kinder größer werden, entdeckt Paul zwei neue Leidenschaften: das Fotografieren von Bäumen und Laure, die Freundin seiner Frau. Zwischen Laure, Dunkelkammer und Hausarbeit spielt sich Pauls Leben in den folgenden Jahren ab, und mit seiner Ehe geht es dabei ganz leise bergab. Als dann nacheinander mehrere persönliche Katastrophen über die Blicks hereinbrechen, ist das beschauliche Leben für Paul vorbei. Er muss sich dem Schicksal stellen …

Eine Lebensgeschichte erzählt „Ein französisches Leben“ nur in erster Linie. In zweiter Linie ist Jean-Paul Dubois‘ Roman auch ein Abbild der Gesellschaft zwischen 1958 und heute. Wie schon am Tag, als Pauls Bruder stirbt, durchkreuzen die politischen Ereignisse immer wieder das persönliche Schicksal des Paul Blick. Paul ist ein Mensch mit hochgesteckten, linken Idealen, und so spielt Politik immer wieder eine Rolle in seiner Biographie. Dubois schildert Pauls Leben mit einem stetigen Auge auf die politischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit, und so ist „Ein französisches Leben“ gleichzeitig ein Resümee der französischen und europäischen Geschichte der letzten fünfzig Jahre.

Paul ist dennoch der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Alles wird aus seinem Blickwinkel beschrieben und an ihm kann man wunderbar die unterschiedlichen Ausprägungen der Epochen nachvollziehen, die er erlebt hat. Interessant wird es mit dem Aufbegehren Ende der sechziger Jahre, als Paul gerade sein Studium antritt. Wie ein Befreiungsschlag vom dumpfen Alltag seines Elternhauses, auf dem noch immer der Tod des Bruders lastet, wirkt der Start in sein neues Leben. Paul will so schnell wie möglich auf eigenen Füßen stehen, sein Leben nach seinen Vorstellungen führen.

Der rebellische Charakter des Achtundsechzigers wird unter den Konventionen des Ehelebens jedoch schnell gebrochen. Paul zieht sich zurück, bleibt zu Hause und kümmert sich um den Nachwuchs, während seine Frau als erfolgreiche Geschäftsfrau immer mehr in eine Rolle schlüpft, die ihm als Linken nicht in den Kram passen kann. Und so schleift das Leben nicht nur die Ecken und Kanten von Pauls Persönlichkeit ab, sondern auch die des Ehelebens. Das Zusammenleben wird zunehmend farbloser. Die Leidenschaft der erste Jahre weicht wortkargen Mahlzeiten und einsamen Abenden auf dem Sofa.

Dabei führt Paul eigentlich ein so bewundernswert ruhiges Leben. Da seine Frau die Brötchen verdient, bleiben ihm alle Freiheiten, die er sich wünschen kann. Er hat Zeit, sich der Fotografie zu widmen, die immer mehr zu seiner einsamen Insel wird, die ihn von den anderen isoliert. Stundenlang hockt er in der Dunkelkammer, während sich Bäume auf dem Fotopapier materialisieren und die Welt um ihn herum immer weiter wegrückt.

Es muss unweigerlich irgendwann zu einem Bruch in diesem Leben kommen, das voller Entfremdung und Müßiggang ist, und so schlägt das Schicksal am Ende gnadenlos zu. Es passiert wahnsinnig viel auf den letzten Seiten des Buches, und man kann sich ausmalen, welch radikalen Umbruch das im Leben eines Paul Blick bedeuten muss.

Das Leben des Paul Blick ist sicherlich nicht in jeder Hinsicht exemplarisch für das einer ganzen Generation, dennoch gelingt es Jean-Paul Dubois durch seine weitsichtige Erzählweise, das Abbild einer Epoche darzustellen. Mit präzisem Blick porträtiert er die unterschiedlichen Generationen und skizziert das Leben der unterschiedlichen Menschen in Paul Blicks Leben.

Auch wenn das nicht immer spannend ist (von Spannung kann eigentlich erst gegen Ende des Buches die Rede sein), so ist es dennoch stets sehr schön zu lesen. Dubois hat einen absolut fantastischen Erzählstil, an dem einzig die häufigen und teils skurrilen Fremdwörter stören. Ansonsten jongliert er so wunderbar mit Worten und setzt sie auf so erstaunliche Weise zu punktgenauen und wohlakzentuierten Formulierungen um, dass die Lektüre ein wahrer Genuss ist. Es ist vor allem Dubois‘ Erzählstil, der den Leser leichtfüßig durch die Handlung trägt.

Dubois schreibt mit wunderbar klarem Blick und bringt dabei eine solche bunte Palette an Emotionen unter, die so herrlich treffsicher in Worte verpackt sind, dass man sich das Buch einfach auf der Zunge zergehen lassen muss. Ein Roman, der langsam und genießerisch gelesen werden will und dann das ganze Kaleidoskop seiner Emotionen entfaltet.

Bleibt unterm Strich ein positiver Eindruck zurück. „Ein französisches Leben“ ist sicherlich nichts für Leser, die eine fesselnde Erzählung erwarten. Wer sich aber auf eine schöne Sprache voller Gefühl und Leben einlassen kann und wer einfache Geschichten zu schätzen weiß, die das Leben halt so schreibt, der wird an der Lektüre sicherlich seine Freude haben. Dubois‘ Erzählstil bereitet sehr viel Freude und verlangt genießerisches Lesen. Wer sich darauf einlässt, der wird mit einer Geschichte voller intensiver Gefühle belohnt.

http://www.ullsteinbuchverlage.de

Palme, Oliver / Hillen, Boris / Nowak, Stefan (Hgg.) – Fotosynthesen. Anthologie

Im Frankfurter |Pahino|-Verlag ist eine Anthologie mit dem Titel „Fotosynthesen“ erschienen, die ein reizvolles Konzept aufzeigt: Anspruch war es, Text und Bild miteinander zu verbinden und ein Gesamtarrangement in Form eines Buches herauszugeben. Es wurden 18 literarische Reaktionen auf 18 Fotografien gesammelt, und versucht, einen Zusammenhang zwischen dem narrativen Element der Erzählungen und der Momentaufnahme des Fotos herzustellen. Die Anthologie folgt keinem zentralen Thema, die Erzählungen der beteiligen Autoren und Autorinnen kreisen um beliebig ausgewählte Fotos. Für die Sammlung schrieben u. a. Autoren wie Dietmar Dath, Buddy Giovinazzo und Feridun Zaimoglu.

Im Vorwort heißt es, dass die Bilder nicht als Illustrationen, also als Verzierung der Texte, und die Texte nicht als Kommentar zu den Bildern verstanden werden sollen. Dieser Anspruch konnte leider nur zum Teil eingelöst werden. Eine Text-Bild-Synthese beginnt meiner Meinung schon mit einem konzeptionalisierten Thema und sollte doch gerade Wert auf die Bildauswahl legen. Wenn dagegen nach dem Prinzip der Beliebigkeit gearbeitet wird, kann zwar eine gelungene Sammlung von Erzählungen entstehen, doch der Versuch, dass sich Bild und Text in einem Zusammenhang, als Synthese, vorstellen, kann nur durch eine einheitliche Basis als geglückt bezeichnet werden. Jeder Text in „Fotosynthesen“ würde – für sich genommen – auch ohne das zugehörige Foto funktionieren, doch ein einzeln betrachtetes Foto verliert seine Substanz, wenn das narrative Element genommen wird. Zurück bleiben beliebig ausgewählte Fotografien und meist Schnappschüsse. Der im Vorwort beschworene Zusammenhang zwischen Text und Bild wurde nur einseitig eingelöst: Das Gesamtarrangement ist nicht so gelungen wie angedacht.

Das Gefühl der Beliebigkeit wird nicht zuletzt auch durch die recht nervöse Gestaltung des Buches verstärkt. Die vorgefundenen Fotos, auf die es literarische Reaktionen gab, wurden bewusst zerfasert und ihre Teilausschnitte als Dekoelemente in den Textfluss eingefügt. Ein gestalterisches Konzept, welches die einheitliche Basis von Text-Bild-Synthesen enorm fördert, war mir nicht erkennbar.

Auch wenn die Fotografien neben den Texten keinen eigenständigen Raum erhalten, sind der Großteil der Erzählungen lesenswerte Beiträge. Die Vielfalt der Textformen und Inhalte ist in dieser Hinsicht ein Pluspunkt. Besonders zu empfehlen sind die Beiträge von Melanie Stumpf, Kathleen Weise, Markolf Hoffmann, Boris Hillen, Feridun Zaimoglu und Boris Koch.

„Fotosynthesen. Anthologie“ wurde herausgegeben von Boris Hillen, Stefan Novak und Oliver Palme. Mit Beiträgen von Dietmar Dath, Buddy Giovinazzo, Peter Glaser, Boris Hillen, Markolf Hoffmann, Sakura Ilgert, hci-krauskopf, Boris Koch, Mustang Lamar, Tobias O. Meißner, Mathias Mertens, Stefan Nowak, Frank Schuster, Melanie Stumpf, Jamal Tuschick, Kata W. Fonsen, Kathleen Weise und Feridun Zaimoglu.

http://www.pahino.de

Fleischhauer, Wolfram – Schule der Lügen

„Deine Geschichte wird Dich finden“ – ein Satz, der sich wie eine Bestimmung vom Anfang bis zum Ende durch den Roman „Schule der Lügen“ von Wolfram Fleischhauer zieht.

Zugleich ist dieser Satz das elementare Sinnbild der hier geschilderten Familiengeschichte, die dem Leser in sinniger und ungemein interessanter Form ein ganz eigenes Spiegelbild präsentiert, in dem sich ein jeder wiederfinden kann. In der heutigen schnelllebigen Zivilisation, in der Moral, Ethik und Anstand oftmals nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, lässt Fleischhauers „Schule der Lügen“ den Leser genau über diese Problematiken in philosophischer Weise ins Grübeln kommen.

Wie oft verrennen wir uns in geheimen Wünschen und Hoffnungen und vergessen dabei unsere eigene Persönlichkeit in den Mühlen von Arbeit, Verpflichtungen gegenüber der Familie und dem Druck, der daraus resultiert? Wie oft meinen und empfinden wir, dass wir uns in einem Irrgarten verlaufen haben und unmöglich den erlösenden Ausgang finden können? Wenn wir dann eines Tages die Wahrheit über uns selbst herausfinden, ist es meist zu spät, um die verlorene Zeit einzufangen, und wir fügen uns dem scheinbar unausweichlichem Schicksal.

Wolfram Fleischhauer erzählt in seinem 2006 erschienen Roman elegant und einfühlsam ein abgründiges Familiendrama voller Intrigen, Täuschungen und Lügen, Verführungen und Liebe, mit dem Hintergrund, uns aufzuzeigen, was wirklich wichtig im Leben ist, um sich selbst verwirklichen zu können.

_Die Geschichte_

Der junge adlige Student Edgar von Rabov verbringt seine Abende und Nächte in dunklen Bars und zweifelhaften Etablissements in den Tagen der Weimarer Republik, inmitten von Berlin. In den goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik ist er auf der Suche nach sich selbst, vernachlässigt dabei das Studium der Chemie, sich dessen bewusst, dass er der Alleinerbe des väterlichen Konzerns ist, obwohl er nicht davon innerlich nicht überzeugt ist, der Aufgabe und Nachfolge seines Vaters gerecht zu werden.

In einer kalten Februarnacht des Jahres 1926 begegnet Edgar eine exotisch aussehende, schöne Inderin, mit der er heimliche Blicke tauscht, doch die Edgar offensichtlich nicht sonderlich interessant findet. Außerdem befindet sie sich in Begleitung eines mysteriösen älteren Herrn, der zudem noch aus England zu kommen scheint. Beim Verlassen der Bar steckt ihm die orientalische Schönheit im Vorbeigehen einen Zettel zu: „Übermorgen hier. Ich erwarte Sie.“

Edgar trifft sich mit der jungen Inderin Alina und kann sich ihrem exotischen Zauber nicht entziehen. Alina wirkt auf den jungen von Rabov anziehend, zugleich aber auch abschreckend und widersprüchlich. Er lässt sich auf ein abgründiges Liebesabenteuer mit ihr ein, das er selbst nicht gänzlich ergründen kann.

Edgar empfindet nach und nach eine immer tiefere Zuneigung für Alina, doch seine intolerante und standesbewusste Familie sieht diese Verbindung nicht gerne, lässt ihn beschatten und setzt ihn persönlich stark unter Druck. Edgar soll sich seiner Position in der Familie und seiner Verpflichtung gegenüber Deutschland bewusst werden.

Edgar und Alina bewegen sich in einer Art von Zwischenwelt, voller ungelöster Fragen. Bei aller Zuneigung, die sie füreinander empfinden, wird ihre Liebe auch von einer philosophischen Sicht der Dinge begleitet.

Eines Tages verschwindet Alina plötzlich ohne Vorankündigung und reist zurück nach Indien, das unter englischer Kolonialherrschaft steht. Edgar folgt ihr entschlossen; er will Antworten auf all seine Fragen finden, doch was er stattdessen findet, ist zunächst die Vergangenheit seiner Familie – oder einer Familie, die er bis dahin zu kennen glaubte …

_Leseprobe_

Und dann war dieser Brief gekommen. Ein Brief von ihr. Wie oft hatte er ihn schon gelesen? Diesen Abschiedsbrief, der keinerlei Erklärung enthielt.

|Edgar, bitte folge mir nicht. Es war alles falsch. Vergiss mich. Es tut mir unendlich leid, was geschehen ist. Bitte hasse mich nicht. Und Du würdest mich hassen, wenn wir uns noch einmal begegnen würden. Auch deshalb gehe ich. Was immer Du glauben magst: Auf meine Weise war ich immer ehrlich zu Dir. Auch mein Körper, vor allem mein Körper, der noch immer nach Dir ruft. Ohnehin sind nur unsere Körper ehrlich.

Bitte vergiss, was geschehen ist. Wenn Du es kannst. Ich würde einiges dafür geben, wenn ich die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen könnte. Auch wegen Phil. Allein ich bin an allem schuld.

Ich habe den Brief zahllose Male geschrieben und wieder zerrissen. Denn wie sollte ich Worte für uns finden? Oder gar letzte Worte?

Leb wohl. Alina.|

Die Briefmarke auf dem Umschlag war italienisch, abgestempelt in Genua. Zwei Stunden später stand Edgar vor dem Schaufenster der Norddeutschen Lloyd am Tauentzien und studierte die Linienpläne nach Ostasien.

_Kritik_

Wolfram Fleischhauers „Schule der Lügen“ ist ein sehr mitreißender Roman, der von Schuld und Lüge erzählt, von Täuschung und Intrigen, Verführung und Freiheit. Ein Familienroman, der kompliziert erscheint und trotzdem eine philosophische Liebesgeschichte beinhaltet, die zum Nachdenken anregt.

In der bewegten Weimarer Republik, in welcher der Roman spielt, schickt Fleischhauer die Hauptperson Edgar von Rabov auf eine Suche nach der Liebe, nach der Wahrheit und schließlich auf die erlösende Suche nach sich selbst.

Der Autor beweist sich als sehr guter Geschichtslehrer und entführt den Leser in die bewegten gesellschaftlichen Tage zwischen den beiden Weltkriegen. Er schreibt auch aus der Sichtweise der „adligen“ Bevölkerung, die dem Untergang geweiht zu sein scheint und verbissen um die alten Werte und Normen kämpft – allerdings bereits auf verlorenem Boden.

Zwischen Mystik und der ganz anderen Lebensweise in Indien, zwischen Religionen und damit verschiedenen Grundsätzen von Moral und Ethik bewegen sich die hervorragend ausgestalteten Charaktere in „Schule der Lügen“. Ein Hauch von Orientalismus im andersartigen und fernen Indien sowie das schwelende Pulverfass des dekadenten Berlins werden dem aufmerksamen Leser vor das innere Auge gebracht.

Ich kann die Lektüre dieses Roman jedem Leser nahelegen. Besonders zu gefallen wissen als wichtiger Bestandteil des Romans die philosophischen Gespräche, die Fragen nach dem Sinn eines Lebens, nach den elementarsten Grundsätzen des Lebens. Sicherlich Fragen, die sich der Leser individuell beantworten muss und auch sollte, schließlich befindet sich ein jeder auf die Suche nach dem „Wer bin ich? Wohin gehe ich? Worin besteht der Sinn?“

„Schule der Lügen“, der fünfte Roman von Wolfram Fleischhauer, ist überraschend gut und der Autor weiß mit seinem Wissen um Indien und die innerdeutsche Politik in der Weimarer Republik zu überzeugen.

_Wolfram Fleischhauer_, geboren 1961 in Karlsruhe, studierte in Deutschland, Spanien, Frankreich und in den USA. Als Konferenzdolmetscher pendelt er zwischen Brüssel und Berlin, wo er zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn lebt. Unter anderem hat Wolfram Fleischhauer die Romane „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ und [„Das Buch, in dem die Welt verschwand“ 265 veröffentlicht. Er ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, deren Romane auch international erfolgreich sind.

|528 Seiten|
http://www.piper.de

Szerb, Antal – In der Bibliothek

|“Das, was hier geschah, war die Interferenz von Lieben. Wenn sich zwei Lieben in einem Herz treffen, dann verstärken sie sich entweder, oder sie schwächen sich gegenseitig ab, so wie jedes Licht, jeder Ton und jede andere Welle oder schwingende Bewegung. Einmal war ich in zwei Frauen zugleich verliebt, und diese beiden Lieben trafen sich in einer so unglücklichen Phase in meiner Seele, daß sie sich gegenseitig aufhoben und ich mich gezwungen sah, mich in eine dritte zu verlieben.“|

Diese wunderbaren Worte, die den Leser in der Seele treffen und anrühren, können eigentlich aus kaum einer anderen Feder stammen als aus der des ungarischen Literaturprofessors Antal Szerb, den der |Deutsche Taschenbuchverlag| nun endlich für sich entdeckt hat. Im vorliegenden Buch „In der Bibliothek“ sind insgesamt 14 Kurzgeschichten des verstorbenen Autors zusammengestellt, die sich im ersten Teil vornehmlich der Liebe widmen. Doch das Thema „Liebe“ greift Szerb immer wieder auf und beleuchtet es von allen Seiten. Und so kurios manche Geschichten anfangs auch anmuten mögen, bei genauerem Hinschauen fällt immer wieder auf, dass Szerb den Nagel auf den Kopf trifft.

Da begegnen wir beispielsweise Lancelot, der unsterblich, aber auch unglücklich in die schöne Königin Guinever verliebt und nun losgezogen ist, um gegen einen Drachen zu kämpfen und von diesem den Schuh der schönen Königin wiederzuerlangen. Auf seiner Reise verbringt Lancelot eine Nacht im Hause des Zauberers Klingsor und schüttet diesem sein Herz aus, weil er ja so unglücklich sei, da seine Angebetete mit König Artus verheiratet ist. Des Nachts fängt Klingsor die Liebe ein und verschließt sie in einer Phiole, woraufhin Lancelot plötzlich von seiner blinden Liebe zu Guinever befreit ist. Doch anstatt sich seiner neu gewonnenen Freiheit zu freuen, bemerkt er bald, dass er ganz ohne die Liebe – und sei sie noch so unglücklich und unerfüllt – eben auch nicht leben kann. Auf den ersten Blick mag sich das merkwürdig anhören, aber hat Lancelot – bzw. Antal Szerb – damit nicht vollkommen Recht? Wer möchte denn schon ganz ohne Liebe sein?

Aber wir lernen in den einzelnen Geschichten noch ganz andere bemerkenswerte Charaktere kennen, die wir ein Stück ihres Weges begleiten. In der Titelgeschichte erzählt uns Tamás, wie seine große (ehemalige) Liebe aus Studienzeiten Edit ihn brieflich bittet, ihrer Cousine Ilonka die Bibliothèque Nationale zu zeigen, in der Tamás den Großteil seiner Zeit verbringt. Zunächst ist der Ich-Erzähler skeptisch und malt sich schlimme Visionen dieser Ilonka aus. Als er eines Tages aber eine unsichere junge Dame bemerkt, die ihn zu suchen scheint, stellt er fest, dass Ilonka alles andere als unscheinbar oder gar hässlich ist, sondern sehr attraktiv. Tamás zeigt ihr daraufhin die Bibliothek, geht mir ihr Kaffee trinken und zeigt ihr einen Teil des Pariser Lebens, ohne allerdings zu bemerken, wie er sich nach und nach in die schöne Ilonka verliebt. Als diese ihm seine Liebe gesteht, weist Tamás sie aber zurück. Diese kleine Geste ist es, die die Beziehung der beiden grundlegend verändert.

Bei Antal Szerb sind es im Übrigen meist die kleinen Dinge, die eine entscheidende Wende herbei führen, wie auch in der Geschichte, in der ein Mann sich auf den ersten Blick in die wunderschöne Delia Danthorp verliebt, die eigentlich nur Augen für seinen guten Freund, den Pianisten János, hat und die dennoch eigentlich nur auf Frauen steht. Als Delia ihn aber zu einem Tee zu sich nach Hause einlädt und ihm unmissverständlich klarmacht, dass diese Einladung ohne jegliche Hintergedanken ausgesprochen wurde, gibt es dennoch diesen einen winzigen Moment, in dem der Ich-Erzähler das Richtige tut und anschließend mit einer schier unglaublichen Liebesnacht belohnt wird.

Im zweiten Teil des Buches widmet Antal Szerb sich mehr den historischen bzw. fabelhaften Figuren und dem Übersinnlichen. Er erzählt die Geschichte des jungen Parzivals, der den schrecklichen roten Ritter besiegt und am Ende mit dem Kelch des Himmels belohnt wird, wir erfahren die Geschichte von Ajándok, die sich in einen schwarzen Magier verliebt, und wir lesen, wie das Unglück einer Stadt durch seine Kälte alle Kinder dahinrafft.

Mit einer großen Liebe zum Detail und vor allem einem fantastischen Sprachgefühl erzählt Antal Szerb uns Geschichten seiner Alltagshelden, die in diesen Erzählungen aber dennoch ganz wunderbare Dinge erleben. Auch wenn das Einlesen einige Mühen kostet, da man sich in zahlreiche Kurzgeschichten neu einfinden muss, wird man als Leser doch mit herrlichen Erfahrungen belohnt und vor allem mit Szerbs ganz besonderer Sprache, seiner genauen Beobachtungsgabe, seinem großen Sprachtalent und wunderbaren Formulierungen, die man sich am liebsten alle aufschreiben möchte, um sie später bei geeigneter Gelegenheit zitieren zu können. Antal Szerbs Geschichten, aber auch seine einzelnen Sätze sind wie kleine Schätze, die man beim Lesen ausgräbt und die einem richtig das Herz erwärmen können. Seine Erzähler und Figuren sind so sympathisch, manchmal auch ein klein wenig naiv, aber doch immer so herzensgut, dass wir mit ihnen fiebern und mit ihnen traurig sind, wenn sich die große Liebe und das große Glück am Ende dann doch nicht einstellen wollen.

Aus jeder dieser Geschichten kann man etwas mitnehmen, das Szerb uns sagen möchte. Seine Erzählungen stecken voller Botschaften, die er mit seiner genauen Beobachtungsgabe analysiert und aufdeckt. Antal Szerb vermittelt uns das Gefühl, als habe er nicht nur das menschliche (Un-)Glück durchschaut, sondern auch das menschliche Verhalten generell. Oftmals hält er uns einen Spiegel vor und führt uns vor Augen, wie irreal wir uns verhalten und wie unlogisch unsere Handlungen sein können, wenn doch das Gefühl und die Liebe im Spiel sind. Szerbs Geschichten sind fein und zerbrechlich und sie entfalten ihre volle Wirkung erst, wenn man das Buch zugeschlagen und das Gelesene verdaut hat. Erst beim anschließenden Nachsinnen entdeckt man vieles, das Szerb zwischen den Zeilen versteckt hat und was dazu führt, dass man immer wieder zurückblättert, um seine Worte ein weiteres Mal auf sich einwirken zu lassen.

„In der Bibliothek“ ist wieder einmal eine literarische Entdeckung, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Wer Antal Szerb noch nicht kennt, der hat wahrlich etwas verpasst, denn auch wenn sich seine Geschichten nach heutigen Gesichtspunkten vielleicht nicht ganz so einfach runterlesen lassen, so wird man doch durch Szerbs feine Ironie, sein Sprachgefühl, seine scharfe Beobachtungsgabe, seine beachtlichen Charaktere und seine wunderbaren Erzählungen belohnt, die dem geneigten Leser ein Lächeln auf die Lippen zaubern.

_Antal Szerb bei |Buchwurm.info|:_

[„Reise im Mondlicht“ 1292
[„Reise im Mondlicht“ 2724 (Hörbuch)
[„Die Pendragon-Legende“ 955
[„Die Pendragon-Legende“ 2135 (Hörbuch)
[„Das Halsband der Königin“ 1855