Archiv der Kategorie: Belletristik

Mittelberger, Werner – Henker und der Hofnarr, Der

Diese Erzählung in Form einer Novelle führt den Leser |in medias res| in die Gewölbe der Pariser Bastille zu Zeiten Karls VI., König von Frankreich.

In der Exposition wird der Hofnarr Bouchet des Hochverrats angeklagt und dazu verurteilt, bis zu seiner Hinrichtung in sieben Tagen eingekerkert zu sein. In sechs weiteren Kapiteln setzt sich die Erzählung fort, wobei das letzte Kapitel etwa die Hälfte der gesamten Erzählung umfasst. Historisch gesehen ist es das Jahr 1392, jenes Jahr, in dem sich in König Karl VI., der schon im Alter von zwölf Jahren den Thron bestieg, erstmals Symptome seines beginnenden Wahnsinns zeigten.

Bouchet trifft auf den Henker des Königs, Saberge, und liefert sich manch ein Wortgefecht mit ihm. Gleich einem Harlekin spricht der Narr in Versen und Metaphern, doch der Henker ist seinen Späßen anfangs nicht zugänglich. Beide teilen nicht nur das Schicksal, ihr Ich unter einer Maske bzw. Kapuze zu verbergen zu müssen, sondern auch ihre Funktionalität in den Gefügen der Gesellschaft, die von der Willkür eines Königs bestimmt ist. Doch der Narr schafft es nicht nur, Spiegel des Königs und der Gesellschaft zu sein, sondern auch ein Spiegel des Henkers zu werden.

Dies führt zu „einer sich ereignenden unerhörten Begebenheit“ in der Erzählung, die nach J. W. von Goethe in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann Merkmal einer Novelle ist und zu einem Wendepunkt überleitet. Denn am zweiten Tag schließen sie eine Freundschaft, die im Henker einen Zwiespalt zwischen der Loyalität zum König und seiner Freundschaft zum Narren erzeugt. Erzählerisch erfolgt die Annäherung auch durch ein vertrautes ‚Du‘ unter ihnen – das der Autor nicht konsequent einhält, der später noch mal in ein ‚Sie‘ zurückfällt -, das Fallenlassen der Masken und die körperliche Verteidigung des Narren vor sadistischen Kerkerwachen. Ebenso werden geschickt Erzählungen aus der Vergangenheit des Henkers sowie des Narren eingeflochten.

Insgesamt werden die beiden Figuren zunehmend personifiziert und aus ihrer Funktionalität herausgeholt; so spricht der Narr nicht mehr in Versen und der Henker entwickelt eine vielfältige Gefühlswelt. Es ist eine Entwicklung, die bis zum Ende fortdauert und in die Freiheit führt. Über die listige, humorvolle und spannende Flucht beider sei hier nicht viel verraten, führt sie aber in eine nur mit „Nur der Horizont war das nächste Ziel, und er würde es auch für immer bleiben“ (S. 99) angedeutete Zukunft – ebenfalls ein typisches Novellenmerkmal.

Auch wenn manchmal der österreichische Dialekt durchkommt, so erleichtert der Autor Werner Mittelberger durch seine der Zeit nachgeahmte Sprache dem Leser das Hineinfühlen in diese Epoche.

Mittelbergers Erstlingswerk bietet gehobene sowie spannende und humorvolle Unterhaltung, die Freude macht auf sein nächstes Werk. Ob der geringen Editionsauflage ist auch der Preis von 11,90 € gerechtfertigt. Das Titelbild von Svend Richter ist ebenso symbolträchtig wie die Erzählung.

_Martin Dembowsky_

Despentes, Virginie – Bye Bye Blondie

Virginie Despentes hat sich in den letzten Jahren vom Schmuddelkind zu einer der beliebtesten Autorinnen Frankreichs gemausert. Mit „Bye Bye Blondie“ möchte sie diesen Status weiter ausbauen.

Hauptperson ist die Mitdreißigerin Gloria, eine Chaotin, die für ihre Wutanfälle gefürchtet, in ihrer Stammkneipe „Royal“ bei den Stammgästen aber sehr beliebt ist.

Eines Tages, als sie gerade von ihrem Freund rausgeschmissen worden ist, trifft Gloria auf Eric, eine Jugendliebe, die sie damals bei einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik kennengelernt hat. Nachdem sie beide entlassen wurde, verbrachten sie eine glückliche Zeit, bis Eric plötzlich wie vom Erdboden verschwand und sich nicht mehr bei ihr meldete. Das brach Gloria das Herz und als sie ihn, der mittlerweile ein bekannter Fernsehmoderator ist, auf der Straße verheult und außer sich wiedertrifft, hat sie überhaupt keine Lust, sich wieder auf ihn einzulassen.

Trotzdem folgt sie ihm nach Paris in sein schmuckes Appartement und in ein Leben voller Glitzer und Glamour, in dem sie sich als rotzfrecher Altpunk nicht gerade wohlfühlt und das auch zeigt. Ob die beiden trotzdem eine Chance haben?

Das Buch spielt in zwei verschiedenen Welten. Neben dem aktuellen Handlungsstrang erzählt die französische Autorin auch aus der Jugend der Punkerin Gloria aus anständigem Elternhaus, gegen das es sich zu rebellieren lohnte. Sie beschreibt dabei einen ganzen Lebensstil. Von spontanen Fahrten nach Paris, ohne einen einzigen Cent in der Tasche, und dem Leben auf der Straße bis hin zu Prügeleien mit Skinheads ist alles dabei und Gloria präsentiert sich als alles andere als ein liebes, nettes Mädchen. Das stößt den Eltern von Eric, die der höheren Schicht zugehörig sind, natürlich sauer auf, besonders weil Gloria noch nicht mal damit zurückhält, was sie von diesen Spießern hält.

Die Gloria von heute ist vielleicht keine Punkerin mehr, aber ganz normal ist sie trotzdem nicht. Als Sozialhilfeempfängerin mit einem Faible für Alkohol und das Anpöbeln fremder Menschen in der Öffentlichkeit lebt sie bei ihren ständig wechselnden Freunden, die sie zumeist deshalb rausschmeißen, weil sie ihre Wutanfälle nicht mehr ertragen.

Gloria ist nicht glücklich. Sie ist kaputt und gleichzeitig auf der Suche nach ein bisschen Wärme. Diese nicht ganz alltägliche Protagonistin weiß Virginie Despentes sehr schön darzustellen, ohne dabei seitenlange Beschreibungen abzuliefern. Sie beschreibt ihre Figur lieber aus deren Erinnerung heraus, so dass der Leser versteht, wieso sie handelt und was sie schon hinter sich hat.

Auch die anderen Charaktere in dem Buch wissen aufgrund ihrer Authenzität zu gefallen, und trotzdem schleicht sich da eine kleine Frage in den Kopf des Lesers, der gerne mal einen der modernen französischen Autoren wie Pille oder andere Bücher von Despentes liest. Wieso kommt einem die Konstellation eines armen Mädchens, das in die höheren Schichten aufsteigt, weil es irgendeinen neureichen jungen Mann kennenlernt, so bekannt vor? Eine gewisse Klischeehaftigkeit lässt sich folglich nicht verbergen.

Die Handlung ist auch nicht immer so goldig, wie sie laut den Kritiken glänzen sollte. Glorias Jugenderinnerungen, die einen Großteil des Buches einnehmen, sind wirklich sehr gut gelungen. Dicht, ohne Längen und sogar mit einer gewissen zwischenmenschlichen Spannung gewürzt, sorgen sie dafür, dass man das Buch lange nicht aus der Hand legen will. Besonders, wenn man von dem dargestellten Lifestyle weit entfernt ist, ist es sehr interessant zu lesen, wie die junge Gloria ihre Freizeit verbringt.

Der Erzählstrang, der sich mit der aktuellen Beziehung von Gloria und Eric beschäftigt, wirkt dagegen zum größten Teil wie die lästige Pflicht nach der Kür. Arme Sozialhilfeempfängerin trifft schneidigen Moderator und landet auf VIP-Feiern – das ist wirklich nichts Neues mehr und der Großteil der Erlebnisse von Eric und Gloria ist furchtbar vorhersehbar und langweilt dementsprechend ein wenig.

Da hilft teilweise noch nicht einmal der überzeugende Schreibstil Despentes‘. Despentes schreibt einfach, trocken, alltäglich, manchmal obszön, aber immer treffend. Sie gibt den Emotionen ihrer Charaktere nicht wirklich viel Raum, aber gerade das lässt die Emotionen umso authentischer wirken. Sie benutzt auch hier die für sie typischen Beobachtungen der kleinen Dinge des menschlichen Zusammenlebens und schmückt sie oft mit nüchternen, aber passenden Metaphern wie auf Seite 53 aus:

|“Sie nahm wohl wahr, dass sie am ehesten einem durchgeknallten Vogel glich, der für alle anderen unsichtbar Skateboard fuhr und mit gesenktem Kopf gegen alle Wände um sich herum knallte.“|

Derartige rhetorische Mittel lockern das Buch auf, auch wenn die Jugendsprache in der deutschen Übersetzung stellenweise eher grenzwertig ist. (|“Seine Nase ist rot verquollen, voll die Erbeere.“|, Seite 16).

„Bye Bye Blondie“ ist dementsprechend ein durchwachsen anmutendes Buch mit einer positiven Tendenz. Die Handlung hat ihre Höhepunkte, aber auch ihre Tiefpunkte, und die Personen sind, solange sie nicht Gloria heißen und unglaublich gut ausgearbeitet sind, manchmal etwas klischeehaft. Der Schreibstil kann sich dagegen mit seinen feinsinnigen Anspielungen, Metaphern und Beobachtungen lesen lassen.

http://www.rowohlt.de

Mueller-Stahl, Armin – Hannah

„Hannah“ handelt von einer sowohl tiefen, innigen und wahren als auch falschen Liebe.

In einem Hotel treffen sich zwei alte Schulfreunde, um nach dem Tod der jungen und inzwischen sehr bekannten und ungewöhnlich begabten Musikerin Hannah ihrer zu gedenken und manches Geheimnis dem anderen erklären zu können. Für beide Männer wird das Gespräch zu einer Art von Lebensbeichte. Der Vater Hermann Krämer, von Beruf ein erfolgreicher Schriftsteller, und sein Jugendfreund Arnold erzählen von ihrem Leben mit Hannah.

Hermann Krämer übernimmt das Wort und erzählt unter Trauer von seiner Tochter. Hannah war immer musikalisch hochbegabt und verstand es bereits mit vier Jahren, eine Viertelgeige perfekt zu spielen. So selbstverständlich und harmonisch, so individuell begabt, entwickelte sie ihren ganz eigenen Stil. Über Bach sagte sie: „Wenn ich Bach spiele, weiß ich, was Unendlichkeit ist. Es ist die Unendlichkeit selbst. Bei Bach gibt es keinen Tod.“

Hannah war eine selbstbewusste, stets neugierige Frau. Ihre Melancholie, ihre Philosophie kompensierte sie mit ihrem Geigenspiel. Die Musik schien ihre Seele zu reinigen. Hannah war auch immer das Kind ihres Vaters. Die Ehe von Hermann Krämer war schwierig, durch seine schriftstellerische Arbeit distanzierte er sich immer mehr von seiner Frau, aber nicht von Hannah selbst.

Arnold, sein Freund, hört still die Beichte seines Freundes. Es ist eine Lebensbeichte, die Auflösung aller Schwierigkeiten, aller Geheimnisse, die vielleicht beide irgendwo teilen. Hermann erzählt von seinem Verhältnis zu seiner Frau Hellen, die schwer erkrankte und kurz nach Hannahs Tod selbst starb. Hermann ist einsam, er fühlt sich im Stich gelassen und stellt fest, dass er einiges einfach nicht wahrgenommen hat oder wahrnehmen wollte. Kurz vor Hannahs Tod offenbarte er ihr die Wahrheit über ihr Leben. Trägt er eine Mitschuld am Tode seiner Frau und Hannahs?

In stolzem Bewusstsein und Trauer hört Arnold still zu; kritisch und aller Illusionen beraubend präsentiert er seinem Freund die harte, melancholische Wahrheit. Zum ersten Mal seit ihrer Jugend erzählt er von seinem Verhältnis zu Hermanns Frau und Hannah. Der Kreis des Lebens scheint sich zu schließen, und Geheimnisse werden zum ersten und wohl zum letzten Mal gelüftet.

Der Roman ist unglaublich faszinierend geschrieben. Armin Mueller-Stahl beschreibt die verschiedenen Verhältnisse der beiden Männer zu Hannah in stiller Melancholie. Die Geschichte ist akribisch, detailliert erzählt. In einer ganz eigenen poetischen Stimmung und Spannung entführt uns Armin Mueller-Stahl in unterschiedliche, aber auch gemeinsame Lebensläufe seiner Charaktere. Der Roman ist in der Ich-Form des Hermann Krämer geschrieben. Man spürt förmlich die Trauer und das tiefe Schuldbewusstsein der Vaterfigur.

Dies ist der erste Roman, den ich von Armin Müller-Stahl gelesen habe, und er macht Lust auf mehr. Der Roman ist leider nur 134 Seiten stark, aber jedes Kapitel ist eine Geschichte für sich. Als Schauspieler hat er mich schon längst überzeugt, sein schriftstellerisches Talent kann ich nur als ebenso brillant beschreiben.

Als einzigen negativen Punkt kann nicht nur anmerken, dass der Schluss des Romans vorhersehbar ist, aber doch wegen der einen oder anderen Erklärung der beiden Hauptpersonen nicht uninteressant. Letztlich geht es auch nicht darum, die Spannung bis zum Schlusssatz aufzusparen, denn die ganze Geschichte wirkt in sich einmalig.

Für die Leserschaft wird dieser Roman unterschiedlich interessant sein. Der Roman regt zum Nachdenken an. Der Leser stellt fest, dass die Wahrheit nicht immer die bessere Lösung sein muss, denn diese kann vernichtendes Potenzial haben. „Warnend“ sei gesagt, dass dieser Roman nicht unterhaltsam oder durch Handlung spannend sein will. Diese Geschichte gehört dafür nicht zu den Erzählungen, die man liest und gleich wieder vergessen hat.

_Armin Mueller-Stahl_ ist bekannt geworden durch Film- und Theaterschauspiel. Geboren 1930 in Tilset, gehört er inzwischen zu den erfolgreichsten deutschen Künstlern. Er ist neben der Schauspielerei noch ausgebildeter Konzertgeiger, Maler und Schriftsteller. Armin Mueller-Stahl schreibt seit vielen Jahren und hat noch einige andere Romane veröffentlicht, u. a. „Der verordnete Sonntag“ (1981) (leider vergriffen), „Drehtage“ (1991), „Unterwegs nach Hause“ (1997) und „In Gedanken an Marie Louise“ (1998).

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Marc Levy – Solange du da bist

Die Story

„Solange du da bist“ von Marc Levy spielt in der heutigen Zeit in San Francisco. Die junge Assistenzärztin Lauren verunglückt eines Tages mit ihrem Auto schwer. Die Unfallärzte schaffen es aber, ihr Leben unter Anstrengung zu retten. Lauren wird dennoch zur Koma-Patientin, angeschlossen an Maschinen, die sie am Leben erhalten.

Monate später zieht der Architekt Arthur in die inzwischen leer geräumte Wohnung der Patientin. Eines Abends schaltet er sein Radio ein, geht unter die Dusche und hört ein ständiges Fingerschnippsen und Summen, als würde jemand den Song rhythmisch begleiten. Aufgeschreckt und auch leicht beunruhigt öffnet er seinen Badezimmerschrank und entdeckt eine junge Frau, dort sitzend mit geschlossen Augen, die die Musik tatsächlich begleitet. Es ist Lauren, oder besser gesagt es ist ihr „Geist“, ihre Seele, ihre Essenz des Lebens.

Damit beginnt für beide eine seltsame und verrückte Geschichte. Anfangs ist Arthur verständlicherweise genervt, dann amüsiert ihn diese Situation doch und schließlich verliebt er sich in seine Mitbewohnerin, die er immerhin als „Gespenst“ bezeichnen könnte. Er erzählt seinem besten Freund Paul von seiner Liebe, der ihm anfangs kein Wort glaubt. Er nimmt sich Urlaub, um Lauren zu helfen. In endlosen Stunden versuchen sie gemeinsam, eine Lösung zu finden, um sie aus dem Koma wecken zu können. Arthur ist der einzige Mensch, der Lauren in dieser Form sehen und, ja, auch berühren kann. Er opfert seine ganze Zeit und achtet nicht auf Mitmenschen, die ihn bei einem Restaurantbesuch seltsam beobachten, weil er Selbstgespräche führt, lacht und sich aufführt, als würde jemand an seiner Seite sitzen.

Inzwischen raten die Ärzte im Krankenhaus Laurens Mutter, die lebenserhaltenden Apparaturen abzuschalten, da scheinbar nach Monaten des Hoffens keine Möglichkeit mehr besteht, dass Lauren noch aufwachen könnte.

Arthur und Lauren lieben sich, so gut es zwischen einem Gespenst und einem lebenden, fühlenden Menschen eben möglich ist. Beide wissen, dass sie nur noch wenig Zeit haben. Arthur fasst einen Entschluss: Er will Laurens Körper aus der Klinik entführen, denn er will sie nicht verlieren …

Kritik

Selbst jetzt, einige Zeit, nachdem ich diesen Roman gelesen habe, rühren mich das erneute Durchblättern des Werkes und die Erinnerung an die Lektüre. Mancher Leser wird diesen Roman sicherlich als zu kitschig empfinden. Doch gilt es bei dieser Lovestory auch zwischen den Zeilen zu lesen. Ganz sicher ist dieser Roman, auch wenn man ihn an einem Tag durchlesen kann, nicht trivial oder rein melodramatisch; es gibt so viele einzelne, kleinere Textstellen, die den Leser zum Nachdenken inspirieren. Zum Beispiel erzählt die Figur des Gespenstes Lauren dem Architekten Arthur, was Zeit ist. Denn sie als körperloser Geist kann nicht schlafen, und kein anderer hat sie bisher gesehen oder wahrgenommen.

Dieser Roman schafft es, die Balance zwischen Komik, Trauer, Romantik, aber auch zwischen Poesie und Witz zu halten. Ich würde „Solange du da bist“ von Marc Levy nicht nur als Lovestory unserer Zeit umschreiben; dieser Roman ist viel mehr, und jeder von uns wird sich ein wenig darin wiederfinden.

Levy beschreibt in seinem Debüt wundervoll die beiden Hauptdarsteller in ihrem Glauben und ihrer Hoffnung auf ein Leben. Mit viel Witz und schöner Situationskomik entführt er den Leser in ungemein vielschichtige Gefühlswelten. Tragödie und Komödie liegen hier eng beisammen, und ich kann diesen Roman nur wärmstens weiterempfehlen.

Der Autor

Marc Levy, 1961 geboren, entdeckte schon früh sein Faible für Kino und Literatur. Diesen ersten Roman schrieb er eigentlich für seinen Sohn Louis, der ihn lesen sollte, wenn er zwanzig Jahre älter ist. Levy sagt, er wollte von einem Mann erzählen, der sich in den Inhalt eines Menschen verliebt und nicht in seine äußere Verpackung.

Der Roman wurde ein Welterfolg: „Solange du da bist“ wurde in 28 Sprachen übersetzt und verkaufte sich alleine in Deutschland über 600.000-mal. Der US-amerikanische Regisseur Mark Waters verfilmte den ersten Teil der Geschichte im Jahr 2005 mit Reese Witherspoon. Seit seinem Welterfolg lebt Marc Levy als freier Schriftsteller in London und Paris.

Broschiert: 277 Seiten
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
www.aufbauverlag.de

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Cecelia Ahern – P.S. Ich liebe Dich

Das Leben dreht sich immer um Liebe und Schmerz, Verlust und Hoffnung. Egal, wie alt oder jung wir sind – Gefühle, Emotionen lenken unser Leben und bestimmen unser Schicksal. Und „menschliche“ Verluste wissen wir meistens erst dann zu würdigen, wenn es zu spät sein mag.

Story

Das Leben scheint für Holly und Gerry eine unerschöpfliche Quelle der Liebe und des Verstehens zu sein. Auch nach 15 Jahren gemeinsamer Zeit lieben sie sich und können auf eine Menge Erinnerungen zurückgreifen, sie sind mehr als Liebende, Seelenverwandte, Partner, Freunde, sie leben nicht nur miteinander, sondern auch füreinander.

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Yoshimoto, Banana – Eidechse

Banana Yoshimoto hat schon eine besondere Art, ihre Leser zu fesseln. Ihr Stil, ihre Art zu Erzählen, auf eine so lockere und gleichsam so intensive Weise, sucht in der literarischen Welt seinesgleichen. Seit ihrem Debüt „Kitchen“ von 1988 hat Yoshimoto auch hierzulande viele begeisterte Leser gefunden und in ihrer Heimat Japan einen Literaturpreis nach dem anderen eingeheimst.

Der aktuell bei |Diogenes| im Taschenbuch verliegende Erzählband „Eidechse“ ist von 1993 und vereint sechs Erzählungen, die vor allem eines verbindet: Sie handeln von Menschen, denen eine wichtige Veränderung bevorsteht. In allen Geschichten spielt dabei die Liebe eine wesentliche Rolle. Junge Menschen, die den Schritt wagen, sich zu einer Beziehung zu bekennen. Menschen, die mit einer Heirat den Grundstein zur gemeinsamen Zukunft legen, spielen die Hauptrolle.

Yoshimotos Erzählungen drehen sich dabei um die Gefühle dahinter, um Unsicherheiten und Ängste, um Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Ungewissheit, die mit dem festen Bekenntnis zu einem bestimmten Menschen einhergehen. Yoshimoto selbst formuliert das in ihrem Nachwort so wunderbar treffend, dass nichts näher liegt, als sie zu zitieren: |“Die Geschichten behandeln den gesamten Komplex von der anfänglichen Ratlosigkeit über die Phase der Ungewissheit, in der man sich daranmacht, sein seelisches Gepäck neu zu ordnen, bis hin zur Befreiung und Erleichterung, wenn man sich über etwas klargeworden ist.“|

Das Besondere an Yoshimotos Erzählungen ist dabei, dass sie ihre Geschichten immer mit einer besonderen Zutat, einem unerwarteten Element zu garnieren weiß. Sie legt eine spezielle Magie in die Zeilen, fügt geradezu fantastische Aspekte hinzu, wie in der ersten Erzählung des Buches „Frisch verheiratet“, die eine S-Bahn-Fahrt schildert, die ein junger Mann in betrunkenem Zustand durch das nächtliche Tokio macht und auf der er in dem scheinbar verwahrlosten Penner neben sich plötzlich eine hübsche Frau erkennt.

Yoshimoto versteht es, auf diese Weise zu überraschen und schwere und leichte Elemente zu verknüpfen. Sie erzählt ihre Geschichten in einem leichten, lockeren Ton und setzt dem sperrige, schwer verdauliche Elemente entgegen, die mit der Wahrnehmung des Lesers spielen und als Projektionsfläche für die komplexen Seelengemälde dienen, die Yoshimoto aus ihren Figuren entwirft.

Den Erzählungen verleiht diese Art etwas Surreales. Die sprachlichen Bilder, die Yoshimoto skizziert, sind wunderschön, wenngleich sie schnell wieder verblassen. Was zurückbleibt, ist in etwa so wie die diffuse Erinnerung an einen merkwürdigen Traum. Die Handlung verschwimmt, aber Stimmungen und Augenblicke bleiben zurück, und das auf eine teilweise erstaunlich intensive Art, bei der man sich am Ende fragt, wie sie das eigentlich vollbracht hat.

Yoshimotos Erzählungen sind etwas, auf das man sich voll und ganz einlassen muss, das Raum zum Wirken braucht und Zeit, sich zu entfalten. Je mehr man das Gelesene wirken lässt, desto intensiver sind die Bilder im Kopf.

Nicht alle Erzählungen sind dabei gleich einprägsam. „Helix“, „Der Kimchi-Traum“ und „Der Glücksbringer“ haben sich mir nicht ganz so intensiv eingeprägt wie „Frisch verheiratet“, „Eidechse“ und „Eine denkwürdige Begebenheit am Großen Fluss“, dennoch hat jede Erzählungen ihre Vorzüge. Sie hier inhaltlich zu reflektieren, ergibt wenig Sinn, zu sehr sind Stimmungen und Gefühle Kern der Erzählungen, als dass es eine konkrete Handlung gäbe, die sich zufriedenstellend wiedergeben ließe.

In Yoshimotos Erzählungen muss man einfach eintauchen und Figuren, Gespräche und Stimmungen wirken lassen. Wem das zu wenig ist, der wird Yoshimotos Erzählungen nicht viel abgewinnen können. Wer sich aber darauf einlassen kann, dem wird Yoshimoto mit ihren Erzählungen einige Freude bereiten.

Unterm Strich kann Banana Yoshimoto somit auch mit „Eidechse“ wieder überzeugen. Sie zeichnet komplexe Seelenporträts, entwirft interessante Figuren und zaubert dem Leser vielfältige Stimmungen in den Kopf. Ein Buch, das man mehr fühlt als liest, dessen Eindruck auf den ersten Blick flüchtig und auf den zweiten intensiv ist. Yoshimoto beweist einmal mehr, dass sie eindrucksvoll zu erzählen weiß und es immer wieder schafft, den Menschen tief in die Seele zu blicken.

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Nicholls, David – Keine weiteren Fragen

|“Immer wenn ich Edith Piaf ‚Non, je ne regrette rien‘ singen höre – was häufiger geschieht, als mir lieb ist, jetzt, wo ich an der Uni bin -, denke ich unwillkürlich, wovon redet die eigentlich? Ich bereue so ungefähr ALLES. Mir ist bewusst, dass der Übergang zum Erwachsenwerden ein schwieriger und mitunter schmerzlicher Prozess ist. Mir sind die Abläufe von Durchgangsriten vertraut, ich weiß, was der literarische Begriff ‚Bildungsroman‘ bedeutet, und ich bin mir darüber im Klaren, dass ich auf Dinge, die in meiner Jugend geschehen sind, eines Tages zurückblicken und sie amüsiert und milde belächeln werde. Aber das erklärt noch lange nicht, warum ich mich für Dinge schäme, die vor dreißig Sekunden passiert sind.“| (S. 378)

Diese Bestandsaufnahme gibt schon recht deutlich die Situation von Brian Jackson, dem Protagonisten aus David Nicholls‘ Roman „Keine weiteren Fragen“, wieder. Dabei sollte doch mit dem Beginn des Studiums alles super werden: geistreiche Gespräche, tiefsinnige Bemerkungen, gewichtige Freundschaften, tagsüber Sex mit schönen Frauen und exotisches Essen – so in etwa stellt Brian Jackson sich seine Mannwerdung vor. Doch wie das Einstiegszitat eindrucksvoll demonstriert, gestaltet sich dieser Prozess schwieriger, als Brian erwartet hat.

Wir schreiben die 80er Jahre: Brian Jackson ist hochmotiviert, aknegeplagt und lebensunerfahren, als er sich in das Studium und das Leben stürzt. Das große Ziel ist nicht nur, endlich zum Mann zu werden, sondern wenn möglich auch einen Platz in der TV-Quizshow „University Challenge“ zu ergattern. Doch dabei verknallt Brian sich unsterblich in Teamkollegin Alice. Brian strengt sich redlich an, Alice möglichst beeindruckend zu umgarnen, doch da die beiden ohnehin in zwei gänzlich unterschiedlichen Ligen spielen, gestaltet sich dies außerordentlich schwierig. Brian hat eben mehr das Talent zum Außenseiter als zum unschlagbaren, mysteriösen Verführer.

Doch wenn Brian auch nicht unbedingt in vielen Dingen zu brillieren weiß, so kann er auf eine Fähigkeit dennoch voll und ganz bauen – sein Quizkandidatentalent. Und so will Brian Alice beim „University Challenge“ demonstrieren, was in ihm steckt, und mit dieser todsicheren Strategie schließlich ihr Herz gewinnen …

David Nicholls Debütroman ist in seiner englischen Heimat gleich nach der Veröffentlichung gewaltig eingeschlagen. Die Verfilmung kam bereits im Herbst 2006 in die englischen Kinos. Kritiker und Presse sparen nicht mit Lob und greifen dabei gar zu einem Vergleich mit Nick Hornby. Das lässt auf einiges hoffen.

Mit Brian Jackson hat Nicholls eine Figur geschaffen, die immer wieder Anlass zu Heiterkeit bietet. Die Geschichte spielt mitten in der Rezession und Brian schafft nur dank eines Stipendiums den Weg an die Uni, wo er Englische Literatur studiert. Während seine Kumpels zu Hause ihn mit dem Begriff Mittelschicht belegen und das als Schimpfwort meinen, geht er an der Uni höchstens als Unterschicht durch. Das macht ihn im Angesicht der reichen, gutaussehenden Unikollegen gleich zum Außenseiter.

Zu beobachten, wie Brian sich damit abplagt, trotz all dieser Widrigkeiten anerkannt zu werden, ist äußerst unterhaltsam. Sei es seine gewagte Tanzeinlage zu James Browns „Sex Machine“ bei der ersten Uniparty oder sein Kampf um Anerkennung im „University Challenge“-Team. Immer wieder schafft Brian es, sich beim Versuch, Eindruck zu hinterlassen, lächerlich zu machen. Besonders gut gelingt ihm dies selbstverständlich in der Gegenwart von Alice.

Brian hat sich den Beginn des Studiums als glorreichen Neuanfang ausgemalt, dabei aber vergessen, dass er aus seiner Haut nicht heraus kann. Und so verläuft Brians Start ins Studentenleben für ihn selbst eher ernüchternd und für den Leser dafür umso erheiternder. Brian ist ein liebenswerter Versager, den man gleich zu Beginn ins Herz schließt.

Die Typen, denen Brian im Laufe seines ersten Studienjahres an der Uni begegnet, sind teilweise grundverschieden, was die Lektüre um eine weitere unterhaltsame Facette ergänzt. Da wäre beispielsweise Rebecca, die meistens auf Krawall gebürstet ist und gerne die Konfrontation mit Brian sucht. Die beiden sind herrlich gegensätzlich und ergänzen sich so wunderbar zu einem durch und durch komischen Team.

Alice dagegen ist ein ganz anderer Typ. Sie ist weltgewandt, gutaussehend und beliebt und damit das komplette Gegenteil von Brian. Dass sie ihn überhaupt wahrnimmt, grenzt schon an ein Wunder. Das Hin und Her zwischen Alice und Brian ist von einem so ausgeprägten Ungleichgewicht bestimmt, dass man gleich vom ersten Augenblick ahnt, dass Brian hier eigentlich nur Energie verschwendet. Aber er kann es ja einfach nicht lassen …

Was „Keine weiteren Fragen“ zu einer so unterhaltsamen und komischen Geschichte macht, sind das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten und die Art, wie sie miteinander umgehen. Daraus ergibt sich im Verlauf des Romans so manche Pointe und auch Brians Ehrgeiz bei „University Challenge“ offenbart so manchen komischen Moment.

Dennoch schafft Nicholls einen Brückenschlag zwischen Komik und Tragik. „Keine weiteren Fragen“ enthält auch ernsthafte Momente – in erster Linie geht es dabei um vernachlässigte Freundschaften. Brian schafft es nicht nur in der Sache Alice, sich immer wieder zum Idioten zu machen, sondern lässt auch sonst so ziemlich keine Gelegenheit dazu aus. Darunter haben vor allem seine Freunde von früher zu leiden. Diese Verknüpfung von Humor und ernsthaften Aspekten der Geschichte macht die Figur des Brian umso greifbarer. Er ist nicht einfach nur der Depp, der sich in eine Frau verliebt, die drei Nummern zu groß für ihn ist, sondern bekommt auch eine zunehmend menschliche Seite.

Ein besonderes Lob verdient das Ende der Geschichte. Nicholls lässt die Sache stimmig enden. Er löst sie im Grunde auf die einzige wirklich sinnvolle Art auf (und auch das wieder mit einem sehr schönen Lacher) und sorgt so dafür, dass „Keine weiteren Fragen“ nicht so schnell wieder aus dem Gedächtnis verschwindet, wie es so manchem anderen Roman dieser Art vorbestimmt ist. Nicholls schafft es, Geschichte und Figuren glaubhaft weiterzuentwickeln, und das rundet den Gesamteindruck positiv ab.

Unterm Strich ist „Keine weiteren Fragen“ eine wirklich runde Sache – unterhaltsam und flott erzählt, mit witzigen, liebenswürdigen Figuren, die man schnell ins Herz schließt, und einem stimmigen Handlungsverlauf. Wer humorvolle, selbstironische Bücher mag, dem sei dringend zur Lektüre geraten. David Nicholls ist mit „Keine weiteren Fragen“ eine herrlich komische Geschichte geglückt, die aus der Masse vergleichbarer „Coming-of-Age-Romane“ wunderbar hervorsticht.

http://www.heyne.de

Koch, Boris – adressierte Junge, Der

|-Beinahe hatte ich den Willen verloren, doch jetzt werde ich es tun, und morgen schon bin ich kein Sterblicher mehr, sondern fast ein Gott, der unbemerkt unter euch Menschen lebt.-|

_Inhalt_

Ein Okkultist versucht den Tod zu überlisten, indem er vorher Selbstmord begeht. Ein Griechenlandreisender entdeckt einen geheimen Ort, der ihn nicht wieder loslässt. Der Tod des Sohnes und das gleichzeitige Erscheinen einer geheimnisvollen Madonna zerreißen eine Familie.

| 5 Kurzgeschichten von Boris Koch:|

Todestag
Der adressierte Junge
Poteideia
Aus den Reisenotizen des Jonathan Mommsen
Die Mutter der Tränen

_Rezension_

Nun ist „Der adressierte Junge“ zugegebenermaßen nicht mehr der frischste, bedenkt mein sein Erscheinungsjahr, aber man sollte dennoch nicht versäumen, auch 2007 noch einmal auf diesen Band hinzuweisen. Denn wieder einmal überrascht Boris Koch durch Einfallsreichtum und Abwechslung. Langweilig wird es bei ihm wirklich nie.

Die fünf Kurzgeschichten könnten von den Plots her nicht unterschiedlicher sein. Nun mögen Niggelsköpfe vielleicht anmerken, dass der Band einen roten Faden vermissen lasse, eine Linie, die die Storys verbindet – für mich macht gerade |das| die Besonderheit des dünnen Büchleins aus, bei dessen Lesen mir schwer nach mindestens doppelt so vielen Erzählungen des „lebendigen Berliners“ war. Gerade als ich wieder voll an der Koch-Nadel hing, war ich bereits am Ende angelangt und es setzten, bevor ich das Buch zuklappte, Entzugserscheinungen ein.

Vor allem, weil die letzte Geschichte mich besonders zu fesseln vermochte. Sie zeigt einmal mehr das enorme Einfühlungsvermögen von Boris Koch und seine gesellschaftliche Beobachtungsgabe. Er legt verbal den Finger in die Wunden, die wir uns gegenseitig schlagen, zeigt menschliche Abgründe, aber auch psychische Grenzen auf, ohne allzu überspitzt daherzukommen oder gar zu dick aufzutragen. Das ist die wahre Kunst – deutliches Aufzeigen ohne Holzhammermethode oder reißerisches Vokabular. Man möge mir verzeihen, aber ich gerate wieder einmal ins Schwärmen.

Kommen wir also zu meinem Favoriten, der letzten Geschichte: In |Die Mutter der Tränen| leiden wir mit den Eltern, die ihren Sohn durch ein brutales Verbrechen verlieren und jeder auf seine Art – in sich zurückgezogen – damit umzugehen versucht. Während die Mutter hinter einer Mauer aus Aggression Schutz sucht, findet der Vater seinen ganz besonderen „Trost“ in einer madonnenhaften Erscheinung, die aber nur seiner Phantasie entsprungen scheint.

Ebenso unter die Haut gehend ist die Titelstory |Der adressierte Junge|, die ein perfektes Spiegelbild mancher Familienverhältnisse ist – barbarisch und fesselnd. Gesehen durch die Kinderaugen des Jungen, dessen Vater ihm eine kanadische Adresse auf die Stirn ritzt, mit der Drohung, ihn bei Ungehorsam dorthin zu schicken.

|Todestag| erzählt grandios von einem Kriegsflüchtling, der eine mystische Maschine baut, mit deren Hilfe er dem Tod ein Schnippchen schlagen will.

Mehr sei über den Inhalt des Titels nicht verraten – es wäre eine Schande, dem Leser zu viel vorwegzunehmen. Außer dass es wirklich längst an der Zeit – nein überfällig ist, dass die großen Verlage auf Boris Koch aufmerksam werden. Er hat das Zeug dazu, ein Großer zu werden. Nein, er ist es bereits – die breite Leserschaft muss ihn nur endlich entdecken und wird dann ebenso schnell erkennen, welches Potenzial in ihm steckt!

Kommen wir noch zum Handwerklichen des Bandes: Das Papier ist einwandfrei, das Lektorat korrekt (was auch daran liegen mag, dass drei der fünf Geschichten bereits veröffentlicht waren), und das Covermotiv stimmig, wenngleich es nicht die Brillanz der Texte widerspiegelt. Leider ist es auch nicht folienkaschiert, und ich vermisse die Vita des Autors (für die Leser immer von Interesse). Aber das kann man mit einigem Wohlwollen in die Kategorie „Geschmacksache“ einordnen.

Ich gebe es zu, ich habe extreme Bedenken, einen 102-Seiten-Band von stolzen 10 € zu empfehlen, aber ein Autor wie Boris Koch ist das allemal wert. Daher: Wer alle Koch-Werke sein Eigen nennen möchte, greife zu, solange es den Band noch gibt – textlich ist da jeder gut beraten!

http://www.eloyed.com/
[Interview mit Boris Koch, Christian von Aster & Markolf Hoffmann]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=73 im |StirnHirnHinterzimmer|

Jodi Picoult – Bis ans Ende aller Tage

Jodi Picoult, eine wahre Meisterin des Spannungsromans, hat mit „Bis ans Ende aller Tage“ ein Buch vorgelegt, das zwar sehr umfangreich ist und auf der Inhaltsebene gar nicht allzu viel zu erzählen hat, aber dennoch von der ersten Seite an fesselt und das man von Anfang an kaum aus der Hand legen kann. In ein Genre lässt sich dieses Buch nur schwerlich einordnen, hier muss (und sollte) sich jeder sein eigenes Bild machen.

Jodi Picoult – Bis ans Ende aller Tage weiterlesen

Massaron, Stefano – toten Kinder, Die

Wenn man mich fragt, welches zu rezensierende Buch ich in diesem Jahr am liebsten gelesen habe, dann gibt es nur eine Antwort: „Die toten Kinder“ von Stefano Massaron.

Wie? Nie davon gehört? Das sollte sich aber schnell ändern …

Schauplatz des Romans ist Mailand im Sommer 1977, genauer gesagt die Arbeitersiedlung der „Bienenstöcke“, wie die alten Hochhäuser überall genannt werden. In den Bienenstöcken wohnt auch eine Bande von Kindern zwischen neun und zwölf Jahren, deren Lieblingsspielort ein alter Schrottplatz ist. In dem Koloss aus Eisen, welcher den Hauptteil des Schrottplatzes ausmacht, haben sie ihre kleine Höhle. Doch ihr Frieden wird bedroht, als ein kleines Mädchen geschändet und erschlagen auf dem Schrottplatz gefunden wird. Für Carmine, den Anführer der Bienenstockbande, ist der Täter sofort klar. Der Sabberer, ein harmloser Geisteskranker, soll die kleine Magherita vergewaltigt und ermordet haben. Doch Carmine irrt, denn wenig später wird seine eigene Schwester entführt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Allerdings steht nicht Carmine im Vordergrund, so wie das vielleicht in der Beschreibung anmuten mag. Vielmehr ist es Sandro, aus dessen Sicht – sowohl 1977 als auch 2003 – erzählt wird, und es ist Cinzia. Sandro ist in Cinzia, die kratzbürstige Streberin, die Carmine offen die Stirn bietet, verliebt, was ihn gleichzeitig von den anderen isoliert. Im Jahr 2003 sehen die beiden sich endlich wieder – nachdem die Vergangenheit die beiden eingeholt. Sandro kommt damit nicht zurecht und verspürt den Drang, nicht nur zu rekapitulieren, sondern die Angelegenheit auch zu klären.

Neben diesen beiden Perspektiven erzählt Massaron aber auch subtil und meisterhaft aus der Sicht des Täters. Selbiger ist dem Leser von Anfang an bekannt und trotzdem schafft Massaron es, innerhalb der Handlung Spannung aufzubauen. Schon alleine die Frage, ob die Bienenstockbande Carmines Schwester retten kann, sorgt dafür, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will.

Schuld daran ist auch der phänomenale Schreibstil des Italieners, der weit über das hinausgeht, was man bei seinen Kollegen sieht. Er macht die Worte und die Schrift geradezu zu seinen Sklaven. So kommt es, dass er zum Beispiel die Gedanken des pädophilen Täters wiedergibt, aber neben den „normalen“ Gedanken in Klammern auch noch die böse innere Stimme sprechen lässt. Ähnlich verfährt er mit den Erinnerungen, die Sandro lieber unterdrücken möchte.

Durch derartige Geschicklichkeiten, aber auch durch die raffinierten Perspektiven- und Zeitsprünge, die immer wieder für Brüche im Erzählfluss sorgen, gelingt es Massaron, ein überaus lebendiges Bild der Geschichte zu gestalten. Lebendig und spannend, denn die düstere Spannung ist allgegenwärtig, so wie das drohende Streichergewitter im Hintergrund eines guten Thrillers.

Doch Massaron macht sich nicht nur die Schriftform völlig zu Eigen und reichert es zudem mit Mails, Worddokumenten und Bautafeln an. Er verfügt auch über entsprechende rhetorische Mittel. Metaphern, grandiose Erinnerungen aus den Köpfen von Kindern, dazu Stilmittel wie Wiederholungen und Metaphern.

Was ebenfalls Beachtung verdient hat, ist Massarons Umgang mit seinen Protagonisten, allesamt im besten Alter, nämlich der Pubertät. Er schafft es, sie perfekt darzustellen, nämlich als Mittelwesen zwischen Kindheit und Jugend. Der Einfluss der Eltern ist noch unübersehbar, jedoch werden die Gleichaltrigen, vor allem die der eigenen Bande immer wichtiger, genau wie das andere Geschlecht.

Massaron schafft also das, woran viele Autoren schon verzweifeln, wenn sie nur eines der vielen Elemente, die der Italiener verwendet, zu einem Roman verarbeiten wollen. Kindheitserinnerungen, Pubertierende als Charaktere, ein Pädophiler, eine Thrillerhandlung und ein Schreibstil für die Götter. Was will man mehr? Hier ist alles in einem wunderbaren Buch versammelt, das man einfach lieben muss. Hier gewinnt das Wort „Kunst“ wieder an Bedeutung!

http://www.rowohlt.de

Hornby, Nick – A Long Way Down

Nick Hornby, der Autor mit Vorliebe für Listen und gute Musik, hat mit „A Long Way Down“ den literarischen Soundtrack für Silvester geschrieben.

Vier Menschen treffen sich an Silvester auf dem Dach des Topper’s House, das dank seiner Höhe ein beliebter Ort für Selbstmorde ist. Die vier sind fest entschlossen, sich umzubringen. Martin, ein bekannter Fernsehmoderator aus dem Frühstücksfernsehen, hat sein Leben in den Sand gesetzt, nachdem er mit einer Minderjährigen geschlafen hat und deshalb ins Gefängnis musste. Seine Frau hat ihn verlassen, mit seiner Freundin funktioniert es nicht so, wie es sollte, und seine Karriere findet momentan beim heruntergekommensten Kabelsender Englands statt. Maureen ist das klassische Hausfrauenmauerblümchen und hat aus ihrem Leben nichts gemacht – konnte nicht, denn die Sorge um ihren schwerbehinderten Sohn Matty, den sie ganz alleine pflegt, hat sie ans Haus gefesselt. Die siebzehnjährige Jess dagegen hat andere Probleme. Seit ihr Freund Chas sich aus dem Staub gemacht hat, wird sie ihres Lebens nicht mehr glücklich. Nicht, dass sie das vorher jemals war, seit ihre Schwester Jen vor Jahren einfach verschwunden ist und sie in ihrem versnobten Elternhaus, immerhin ist ihr Vater der Erziehungsminister, alleine gelassen hat. Jess widmet sich in ihrer Freizeit neben dem Versuch, Chas zu finden und ihn zu verprügeln, vor allem Drogen, Alkohol und ihrer aggressiven und direkten Art, mit der sie Leute gerne vor den Kopf stößt.
Der vierte im Bunde ist JJ, ein gescheiterter Rockmusiker, der wegen eines Mädchens von Amerika nach England gezogen ist. Nun ist nicht nur seine Band kaputt, sondern auch seine Beziehung und er weiß nicht so recht, wie er nun weitermachen soll. Für immer Pizza ausfahren? Oder dann doch lieber vom Dach springen?

Nun treffen sich unsere vier Helden in besagter Nacht auf diesem Dach, und anstatt zu springen, essen sie die Pizza, die JJ eigentlich hätte ausfahren sollen, und reden. Sie erzählen sich ihre Probleme, und als Jess zu Chas kommt, beschließen sie, den Jungen zu suchen und ihn zu einer Aussprache mit Jess zu zwingen.

Was harmlos anfängt, endet nicht nur damit, dass sie in allen Zeitungen sind dank Martins Bekanntheitsgrad und Jess‘ Vater, sondern auch beschließen, den Selbstmord bis zum Valentinstag hinauszuzögern und sich währenddessen regelmäßig zu treffen. Allmählich entsteht so etwas wie eine Freundschaft zwischen den vier unterschiedlichen Persönlichkeiten und am Ende kommt sowieso alles anders …

Dieses Buch ist durch und durch ein Hornby. Schräge Gestalten, die doch irgendwie normal sind, und ein tiefgründiger, humorvoller Schreibstil. Eine Handlung, die nicht wirklich eine ist, und trotzdem kann man das Buch nicht zur Seite legen.

Der englische Kultautor hat es geschafft, vier abwechselnd aus der Ich-Perspektive berichtende Charaktere zu schaffen, die sich voneinander unterscheiden und authentisch wirken. Gerade Ersteres kann sehr schwierig sein, da vier Perspektiven verhältnismäßig viele sind und es aufgrund der sparsamen Handlung notwendig ist, jeden Charakter bis in die Haarspitzen zu durchdenken und das Durchdachte wiederzugeben. Hornby umschifft diese gefährlichen Klippen vorbildlich, indem er aus dem Vollen schöpft. Verschiedene Altersgruppen, verschiedene Einkommensschichten, Lebensläufe – nur eines haben sie gemeinsam: Sie sind verzweifelt und kommen in ihrem Leben nicht mehr weiter.

Das wird unglaublich anschaulich in den einzelnen Perspektiven beschrieben, wobei wir hier natürlich auf den typischen Hornbyschreibstil stoßen, in dem sich jeder, der schon mal etwas von diesem Autor gelesen hat, sofort zuhause fühlt. Spritzig, sehr persönlich und prall gefüllt mit allerlei sinnlosen bis verschrobenen Überlegungen über Leben und Leute, erzählt Hornby von den vier Helden, die auszogen, um zu sterben. Es ist ihm dabei hoch anzurechnen, dass man selbst ohne die Angaben der Namen in den Überschriften sofort erkennen würde, welche Person gerade spricht, denn er verpasst jeder einen sehr eigenen Schreibstil. Maureen ist aufgrund ihres Alters eher etwas distanziert und konservativ, Martin legt einen gewissen Zynismus an den Tag, JJ ist ein lieber Kerl und Jess ist ein schwerpubertierendes Mädchen, dem dementsprechende Gedanken durch den Kopf gehen.

Mal abgesehen davon, dass diese Überlegungen auf die Dauer etwas ermüdend sein können – vor allem in Verbindung mit der spannungsarmen Handlung -, hat Hornby hier wirklich Großes geschaffen, denn ein Buch mit einem solchen Aufbau und noch dazu mit fast 400 Seiten ist nicht einfach zu schreiben.

Was man vielleicht als Einziges wirklich bemängeln kann, ist die fehlende Handlung. Im ganzen Buch geht es nur um die aufkeimende Freundschaft der vier und die Höhen und Tiefen dieser Verbindung. Selbst die Frage, ob man sich nun umbringen soll oder nicht, rückt in den Hintergrund.

Ansonsten ist Nick Hornby aber ein unterhaltsames Buch gelungen, das vor allem in Bezug auf seine Charaktere und den Schreibstil sehr gefällt.

http://www.knaur.de

E.-E., Marc-Alastor – Maliziöse Märchen

Marc-Alastor E.-E. veröffentlicht in diesem wunderschönen, edel aufgemachten Band sieben anspruchsvolle Märchen für Erwachsene, die schon lange einer Veröffentlichung harren.

_Brauen Blätter und eine Zaunpassage_ berichtet von zwei verfeindeten Königreichen und der Liebe zwischen einer Prinzessin mit dem König des gegnerischen Lagers. Das Ende dieser Geschichte zeigt deutlich, weshalb der Band den Titel „maliziöse Märchen“ trägt.

_Erinnerungsschub_ ist wie das letzte Aufflackern der Gedanken an eine unbeschwerte, glückliche Vergangenheit, bevor der Geist dem Vergessen anheim fällt.

_Notengespräch_ gibt Zeugnis darüber, wie sehr sich Wahnsinn und Genie ähneln und wie anfällig menschlicher Geist für beider Art Krankheit ist. Eine junge Frau erkennt schon als Kind ihre Liebe zur Musik, die nach dem Tod der Eltern ins Groteske abgleitet.

_Der Widergänger_ ist ein Reisender, der in seinen verhassten Heimatort zurückkehrt, wo er als jenes Monster erkennbar wird, als das er sich ausgibt.

_Die Melancholistin und ein Kobold namens Freudlos_ ist eine düstere Geschichte über die Unbeständigkeit des Glückes und die böse Ironie der Melancholie.

_Der Prediger_ ist ein junger Mann, der mit der Natur in Einklang lebt und durch eine unerwiderte Liebe alles verliert, was für ihn von Wert war.

_Der Glasbläser_ ist der begnadetste seiner Zunft in Venedig. Aber erst die unverfälschte, reine Schönheit einer jungen Frau verhilft ihm zu seinem Meisterwerk.

Der Verlag |Lindenstruth| hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese ungewöhnlichen Märchen in einem Buch zu sammeln und zu veröffentlichen; die bizarre Atmosphäre der Geschichten spiegelt sich in dem Schutzumschlag auf vollkommene Weise wider. Dem Auge des Lesers wird aber nicht nur durch eine große Schrift und verstörend schöne Innenillustrationen geschmeichelt, welche jedes einzelne Märchen zieren, sondern vor allem durch die poetische Sprache, derer sich der Autor bedient. Satzbau und Vokabeln verdeutlichen dabei Moral und Botschaft, wie es keinem anderen Autoren treffender gelingen könnte.

Marc-Alastor E.-E. gehört zu den talentiertesten und vielversprechendsten deutschen Autoren. Seine Geschichten und Romane sind kein Handwerk, sondern Kunst, und als solche sind diese Märchen auch zu verstehen. Diese sieben kleinen, gemeinen Geschichten sind keine bloße Unterhaltungsliteratur, keine Massenware, und sollten in angemessener Art und Weise genossen werden. Sinn und verborgene Weisheiten erschließen sich mit Sicherheit nicht gleich beim ersten Lesen, vielmehr laden die Texte dazu ein, das Buch immer wieder zur Hand zu nehmen, um sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort das eine oder andere Märchen noch einmal zu Gemüte zu führen.

Der Autor versucht nicht, potenzielle Leser mit aufgesetzter Erotik oder übertriebener Gewalt zu ködern. Jeder sei hiermit davor gewarnt, bei dem Begriff „Märchen für Erwachsene“ schlüpfrige Gedanken zu hegen. Doch für Kinder sind diese Geschichten wahrlich nicht die richtige Lektüre, um vor dem Schlafen den unruhigen Geist zu glätten, und selbst die auf dem Waschzettel angesprochene Zielgruppe sollte es sich genau überlegen, ob sie sich diese Märchen als Bettlektüre erwählt, der anschließende Schlaf könnte sich mitunter sehr spät einstellen und recht unruhig werden. Dies weniger wegen gruseliger Geschehnisse als vielmehr aufgrund einiger zum Denken anregender Sätze und zu Papier gebrachter Gedanken. Jedes einzelne Märchen wird dabei begleitet von einer grotesken Melancholie und, wie die Werbung bereits treffend bemerkte, einer höchst zweifelhaften Moral.

Fazit: Für Liebhaber bizarrer, anspruchsvoller Geschichten ist diese bibliophile Sonderausgabe ein Muss.

_Florian Hilleberg_

|Limititerte und nummerierte Auflage von 111 Exemplaren; in Leinen handgebunden, mit Schutzumschlag, farbigem Vorsatzpapier, Silberprägung und Lesebändchen versehen
203 Seiten – 22 × 14,5 cm|
http://www.verlag-lindenstruth.de/

Cooper, T – Lipshitz

So modern können Familiensagas sein: T Cooper schafft es in seinem Buch tatsächlich, einen Bogen von Charles Lindbergh zu Eminem zu schlagen. Sappalott! Wie macht er das?

Es beginnt damit, dass die jüdische Familie Lipshitz 1907 aus Russland nach Amerika auswandert und bei ihrer Ankunft auf Ellis Island den jüngsten Sohn Ruben verliert. Ruben, obwohl jüdischer Herkunft, ist ein Bengel mit blonden Locken, der eigentlich auffallen müsste, aber er bleibt verschwunden. Seine Familie beschließt, ohne ihn in den Süden zu ziehen, wo bereits der Bruder von Ehefrau Esther auf die Familie wartet.

Allmählich lebt sich die Familie in Amerika ein, auch wenn es ihr schwer fällt und Vater Ben sich mit vielen dreckigen Jobs herumschlagen muss. Trotzdem kann Esther Ruben nicht vergessen und fühlt sich schuldig für sein Verschwinden. Als sie eines Tages einen Bericht über Charles Lindbergh und seinen gewagten Flug über den Atlantik liest, steht für sie fest: Charles ist ihr verschwundener Ruben. Er sieht genauso aus und ist genauso alt. Sie probiert, Kontakt mit ihm aufzunehmen und wird den Rest ihres Lebens damit verbringen, Zeitungsausschnitte über Charles zu sammeln und ihm hinterherzuschmachten.

Dann passiert ein Zeitsprung und wir befinden uns im Jahr 2002. Der letzte Spross der Lipshitz, T Cooper, hat nur wenig Kontakt zu seiner Familie und verdient sein Geld in New York, indem er auf Bar-Mizwas als Eminem-Double auftritt. Eines Tages erreicht ihn die Nachricht, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, und er muss zurück nach Amarillo, wo sich das Leben der Familie Lipshitz abgespielt hat …

Wissen wir noch alle, was eine Familiensaga wirklich ausmacht? Nun gut, wiederholen wir das lieber noch mal.

Wir haben ein Familiengeflecht namens Lipshitz, in dem jede Person ihren Platz hat und die meisten sogar ihr Kissen mitgebracht haben. Denn das muss man Cooper lassen. Er schafft es, seine Charaktere entspannt zwischen „recht normal“ und „leicht schräg“ zu balancieren. Esther zum Beispiel. Zuerst die treusorgende Familienmutter, bis ihr Wahn um Charles Lindbergh immer abstruser wird.

Zudem ist es sehr erfrischend, dass die Juden einmal nicht brav und Opfer der Geschichte sind, sondern wie ganz normale Menschen dargestellt werden. Das verleiht dem Buch eine erdige Authentizität.

Trotzdem vermisst man auf weiten Strecken Motive und Begründungen für bestimmte Verhaltensweisen, was leichte Fragezeichen in die Augen des Lesers zaubert. Zauber ist überhaupt das Stichwort, denn selbigen vermissen wir. Während es Familiensagas gibt, deren Inhalt zwar trocken ist, die man aber trotzdem nicht zur Seite legen kann, wirkt „Lipshitz“ oft entbehrlich. Das Buch entwickelt einfach nicht jenen Zauber, dieses den Leser umgarnende Netz aus alten Geschichten, das man oft in Büchern dieses Genres findet.

Zu diesem mittelprächtigen Ergebnis trägt auch der Schreibstil bei, der auf weiten Strecken nicht viel zu sagen hat. Es fehlt, vor allem im ersten Teil des Buches, an Einzigartigkeit. Ab und an schimmert ein wenig Humor durch, doch diese Stellen sind rar gesät, und so hinterlassen die ersten Jahrzehnte nur wenig Eindruck.

Wie auch? Nachdem man die ersten Jahre der Lipshitz‘ in Amarillo ausführlich behandelt hat, werden weitere Jahre in den Zeitraffer gestopft, was den Aufbau der Handlung aus dem Gleichgewicht bringt.

Was dann letztendlich für einen totalen Bruch sorgt, soll vermutlich auch einer sein. Wir machen einen riesigen Zeitsprung ins Jahr 2002 und statt der gewohnten, allgemeinen Perspektive erzählt T Cooper (Zitat: „Nicht ein Fitzel ist wahr, auch wenn einige Vorfälle stimmen, und andere auch, obwohl ich sie erfunden habe.“) aus der Ich-Perspektive in einem gänzlich anderen Schreibstil. Frech, sehr jung, kein Stück Familiensaga-mäßig und mit vielen (expliziten) Eminemzitaten angereichert, beschreibt der Autor die Reise seines literarischen Pendants nach Amarillo und den Scherbenhaufen Lipshitz, den er da vorfindet.

Nun, dieser zuerst verwirrend wirkende Schachzug einer totalen Zweiteilung des Buches sei ihm gegönnt, denn er tut dem Roman gut. Dumm nur, dass das bedeutet, dass der zweite, wesentlich kürzere Teil des Buches wesentlich besser erzählt und schöner geschrieben ist als der Rest. Ist das eine neue Form der Schizophrenie?

Im Großen und Ganzen hat Cooper einen Roman abgeliefert, der aufgrund seines Aufbaus aus dem Rahmen fällt, sich aber auf weiten Strecken eben an jene vorgegebene Rahmenmuster hält und sie manchmal noch nicht mal erfüllt. Trotzdem ist das Buch lesenswert, denn der letzte Teil und an manchen Stellen, nämlich dort, wo der Humor durchschimmert, auch der erste Teil sorgen für einige glänzende Momente.

http://www.marebuch.de

Hacker, Katharina – Habenichtse, Die

Katharina Hacker hat dieses Jahr den Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres für ihr Buch „Die Habenichtse“ erhalten. Das ist natürlich eine große Ehre, aber trägt die gebürtige Frankfurterin diesen Titel zu Recht?

Jakob hat Isabelle nie vergessen. Er hat nur einen Abend mit ihr verbracht, doch die junge, lebenslustige Frau hat sich in seinem Kopf und seinem Herzen festgebissen. Am 11. September 2001, als in New York die Türme zusammenbrechen, sehen sie sich wieder und nach einer kurzen Romanze heiraten sie und ziehen nach London, wo Jakob einen Job in einer Anwaltskanzlei angeboten bekommt.

Während er immer mehr Zeit im Büro verbringt, fasziniert von seinem neuen Chef, hat Isabelle, die als Grafikerin von zu Hause aus arbeitet, genug Zeit, um durch die Stadt zu streifen oder ihre Nachbarn zu beobachten. Da wären zum Beispiel der Dealer Jim, der in den Fängen seines Auftraggebers steckt und seiner Liebe Mae, der Isabelle ähnlich sieht, hinterherweint, und die Leute, die Wand an Wand mit Isabelle und Jakob wohnen. Was hat das Gepolter auf der anderen Seite zu bedeuten?

Der Leser weiß es längst, denn neben den Perspektiven von Isabelle, Jakob und Jim erfahren wir auch etwas aus dem Leben der kleinen Sara, die nach den Worten ihres Vaters zurückgeblieben ist und nicht wachsen will. Deshalb darf sie nicht in die Schule und muss die Quälereien ihres Vaters aushalten. Einzig ihr großer Bruder Dave kümmert sich um sie, doch Dave verschwindet und sucht Unterschlupf bei Jim …

Wenn man nach der letzten Seite von „Die Habenichtse“ gefragt werden würde, was denn nun im Buch passiert sei, würde man vermutlich erst mal eine Weile überlegen müssen. Die Stärken des Romans liegen eindeutig in einem anderen Bereich und es ist ebendieser, der das Buch wirklich auszeichnet.

Hacker hat ein unglaubliches Gespür dafür, wie sie Worte so platziert, dass sie ein kleines Universum bilden, in dem sich sowohl Protagonisten als auch Leser austoben können. Mit einer akribischen Detailiertheit, die aber nicht zu kleinteilig wirkt, und einem sicheren, reichhaltigen Stil erzählt sie in einem ruhigen Fluss aus dem Alltag ihrer Hauptpersonen. Dazu benutzt sie geradezu inflationär Bandwurmsätze, verkleidet als Reihungen, die sehr schön bildhaft darstellen, wie es im Leben der Protagonisten aussieht.

Unterfüttert wird dieser durchkomponierte, trockene Stil von weiteren Elementen wie Personifikationen oder treffenden Metaphern wie auf Seite 257:

|“Ich bin glücklich, wollte Jakob sagen, aber der Satz war wie ein Holzpüppchen, das man behutsam aufstellte und das sich doch nur einen Augenblick hielt, bevor es umkippte. Nicht schlimm, dachte Jakob, man kann es im Gleichgewicht halten, muß nur ganz leicht nachhelfen, mit einem Finger.“|

Auf den ersten Seiten hat man noch das Gefühl, die übliche junge deutsche Literatur vor sich zu haben, mit einem flappsigen Schreibstil und einer kühlen Distanz zu den Personen, aus deren Sicht erzählt wird, während man gleichzeitig schonungslos ihre Gedanken und Gefühle offenlegt. Hacker geht aber weit hinaus über diese Mode, indem sie „Die Habenichtse“ mit einer gewissen Reife ausstattet und das Buch ohne großartige Durchhänger auf über 300 Seiten bringt.

Doch innerhalb dieser über 300 Seiten bleibt ein Manko, das auch der Schreibstil nicht so einfach kaschieren kann: die Handlung und stellenweise auch die Handlungsmotive. Während die Protagonisten an und für sich wunderbar ausgearbeitet sind, mit einer Vergangenheit, mit Dingen aus ihrer Vergangenheit, die sie nicht vergessen können, und einer intensiv erlebten Gegenwart, bleiben einige ihrer Verhaltensweisen arg im Dunkeln. Gerade Jim, der Dealer, tut sich hier negativ hervor. Er ist natürlich ohnehin eine zwielichtige Figur, aber da wir innerhalb seiner Perspektive sehr viel über ihn erfahren, sollten wir eigentlich auch erzählt bekommen, wieso er Isabelle letztendlich so behandelt, wie er sie behandelt. Das lässt sich nämlich leider nicht völlig frei erschließen.

Gleichzeitig fehlt es dem Buch handlungstechnisch an Schwung. Zuerst hofft man noch, dass vielleicht in der Mitte des Buches endlich etwas Handfestes passiert, gegen Ende hat man die Hoffnung beinahe aufgegeben, wenn dann letztendlich die einzelnen Perspektiven zusammenfließen und klar werden sollte, warum dies so ist. Leider geschieht das nicht und es bleibt ein taubes Gefühl zurück. Was ist jetzt noch mal genau passiert? Und warum ist es passiert? Diese Fragen bereiten Schwierigkeiten.

Aber ganz ehrlich: Wer will solche lästigen Fragen schon beantworten, wenn der Schreibstil so wundervoll ist und mit seiner ruhigen und bildhaften Art das Auseinanderleben des Traumpaars Isabelle und Jakob so schön beschreibt? Nun, eigentlich sollte die Autorin diese Frage zwischen den beiden Buchdeckeln beantworten. Da dies nur unzureichend geschehen ist, kommt es an den sehr handlungsarmen oder -verwirrenden Stellen manchmal schon zu Langeweile, aber im Gesamtkontext kann sich „Die Habenichtse“ recht gut schlagen.

http://www.suhrkamp.de

Kanehara, Hitomi – Tokyo Love

In Tokyo ist die Welt noch in Ordnung. Die japanischen PISA-Ergebnisse könnten besser nicht sein, in der Wirtschaft läuft alles rund und in den U-Bahnen riecht es nicht nach menschlichen Fäkalien.

Trotzdem. Auch Tokyo hat seine Abweichler. Hitomi Kanehara, zweiundzwanzigjährige Autorin und jüngste Trägerin des Akutawaga-Preises, zum Beispiel. Noch eine asiatische Pseudoskandalnudel?, fragt man sich, doch ein Blick auf den Klappentext offenbart Erstaunliches. Kanehara hat tatsächlich mit siebzehn Jahren die Schule abgebrochen, um ihre literarische Karriere zu verfolgen. Dürfen wir in ihrem Debüt „Tokyo Love“ also mehr erwarten als heiße Luft und überzogenes Kritikerlob für biedere Sexszenen?

Die neunzehnjährige Lui ist eigentlich ein so genanntes Barbiegirl. Sie hat sich ihre Haare platinblond gefärbt und liebt es, mit ihren Freundinnen über Banalitäten zu tuscheln. Manchmal trinkt sie ein Bier, das schon, doch an und für sich ist sie eine Jugendliche in Tokyo, die versucht, sich von ihren Eltern abzuheben, aber doch nie zu weit geht.

Das ändert sich, als sie Ama kennen lernt. Der junge Punk mit der roten Irokesentolle, den Piercings und dem Drachentattoo auf dem Rücken fasziniert sie ungemein, doch was sie am meisten anzieht, ist seine Zunge. Sie ist gespalten wie eine Eidechsenzunge, eine split-tongue, eine besonders extreme Form von Körperschmuck. Lui möchte auch unbedingt so eine Zunge haben und geht deshalb mit Ama zu Shiba-San, einem Piercer und Tätowierer, der ihr nicht nur die Zunge pierct und ihr beim Weiten des Loches hilft, was für die Spaltung notwendig ist, sondern sie auch zu einer willigen Sexsklavin macht. Er ködert sie, indem er ihr ein kostenloses Tattoo verspricht, wenn er seine sadistischen Fantasie an ihr ausleben darf. Ohne dass Ama, mit dem sie mittlerweile fest zusammen ist, etwas davon mitbekommt, lässt sie sich auf dieses Angebot ein, doch eines Tages ist Ama verschwunden …

Völlig unvorbereitet wird der Leser |in medias res| geworfen, wenn er die erste Seite aufschlägt. Lui und Ama diskutieren über split-tongues und die verschiedenen Methoden, um ein Piercingloch zu weiten.

Ich bin mir sicher, bereits an dieser Stelle scheiden sich die Geister. Wer Fan von derartigen „jugendlichen“ Tätigkeiten wie Piercen und Tätowieren ist, wird sich innerhalb der manchmal, zugegeben, etwas zu langen Erklärungen über diesen Sport sicherlich freuen, doch wem Metall im Körper so fern ist wie |Eminem| von Volksmusik, der wird das Buch wohl gelangweilt ganz hinten ins Bücherregal stellen und es vergessen. Kanehara schreibt für ein junges, interessiertes Publikum und nimmt sich deswegen nicht wirklich Zeit, um bestimmte Phänomene zu erklären. Wie in einer Kurzgeschichte lässt sie alles Unnötige weg, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Das Wesentliche ist die Handlung. Nur leider deuten sich hier ein paar Schwächen an. „Tokyo Love“ mutet zwar eher wie eine auf 117 Seiten ausgedehnte Kurzgeschichte an, das ist sehr richtig, aber das entbindet die Autorin trotzdem nicht davon, eine Handlung mit Hand und Fuß auf die Beine zu stellen. Kanehara vernachlässigt bei all den „verstümmelten“ Körperteilen aber gerade eben diese. Es geschieht viel zu wenig und das Wenige viel zu diffus, um „Tokyo Love“ einen sehr guten Roman nennen zu können.

Warum sollte man Hitomi Kaneharas Debüt trotzdem lesen? Vielleicht, weil die nicht ganz gare Handlung zusammen mit einem nicht ganz perfekten Schreibstil wider Erwarten einen ziemlichen Sog entwickelt?

Nun, wie das geschieht, ist mir auch ein Rätsel, denn die Fakten sind, dass Kanehara die Gefühlswelt ihrer jugendlichen Protagonistin aus der Ich-Perspektive annehmbar herüberbringt, aber leider wirkt der Stil der Japanerin an manchen Stellen ein wenig kalt. Das bedeutet nicht, dass Gefühle nicht in ihrem Vokabular vorkämen. Sie versucht selbige sehr wohl darzustellen, nur leider entwickeln diese nicht die Wärme und das Eigenleben, das zu spüren man sich beim Lesen wünscht.

Ab und an pflegt Lui zwar den einen oder anderen tief gehenden Gedanken (|“Ich selbst will ja auch nur vom Äußeren her beurteilt werden. Ich stellte mir oft vor, wenn es auf der ganzen Erde keinen einzigen Ort ohne Sonnenschein geben würde, dann müßte ich eben selbst eine Technik erfinden, mich in ein Schattenwesen zu verwandeln.“| Seite 50), aber das reicht nicht, um das Buch von seiner leichten Oberflächlichkeit zu kurieren.

Wieso gefällt das Buch dann trotzdem ganz gut? Ist es vielleicht so wie bei mathematischen Gleichungen? Ein Minus an Handlung und ein Minus an Schreibstil ergeben ein Plus im Gesamtbild?
Klingt komisch, ist aber so. Ich würde wieder zu einem Kanehara greifen.

http://www.list-verlag.de

Shan Sa – Himmelstänzerin

Die junge chinesische Autorin Shan Sa, die als Aufsteigender Stern Pekings gefeiert wird, emigrierte nach dem so genannten Tian’anmen-Massaker im Juni 1989 nach Paris, wo sie auch heute noch lebt. Inzwischen veröffentlicht sie ihre Romane in französischer Sprache und wurde für das vorliegende Buch mit dem |Prix Goncourt du premier roman| ausgezeichnet. „Himmelstänzerin“ kann schon auf den ersten Blick durch seine ansprechende Optik begeistern, doch auch der zweite Blick ins Buch hinein überzeugt auf ganzer Linie.

Am 4. Juni 1989 steht Shan Sas Romanheldin, die junge Studentin Ayamei, unschlüssig auf dem Platz des Himmlischen Friedens, den das chinesische Militär stürmt, um gewaltsam die Studenten zu vertreiben, die den Platz seit Wochen besetzen. Ihr alter Schulfreund Xiao schreckt Ayamei auf und überredet sie zur Flucht, denn Ayamei war maßgeblich an den Studentendemonstrationen beteiligt und wird nun gesucht. Als Xiao auf der Flucht stirbt, realisiert Ayamei, in welcher Gefahr sie schwebt. Sie muss alleine weiter und wird des Nachts vom LKW-Fahrer Wang aufgesammelt, der sie mit sich nimmt und vor dem Militär verstecken will.

Doch ahnt Wang noch nicht, in welche Gefahr er seine eigene Familie damit bringt, denn die Suche nach Ayamei hat bereits begonnen. Der pflichtbewusste Soldat Zhao verfolgt die junge Studentin und will sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Zhao kommt Ayamei immer näher, er befragt rücksichtslos Ayameis Familie, bis es dort zu einem schrecklichen Zwischenfall kommt. Allerdings bringt auch dies Zhao nicht von seinem Wege ab, sein einziges Ziel ist nach wie vor die Ergreifung Ayameis. Ein Tagebuch der rebellischen Studentin ist es schließlich, das Zhao zum Nachdenken bringt …

Im Mittelpunkt dieses gefühlvollen und ergreifenden Romans stehen zwei Figuren, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die dennoch viel voneinander lernen können. Mit poetischen Worten beschreibt Shan Sa die Geschichte Ayameis, die schließlich überleben und den Soldaten entkommen möchte. Shan Sa hat Peking damals nach dem Tian’anmen -Massaker verlassen, doch spürt man auf jeder Seite, wie sehr sie dieses Thema immer noch bewegt. Es scheint, als möchte Shan Sa ihre traurigen Erinnerungen an dieses Ereignis in diesem Buch verarbeiten. Die Grausamkeit der Soldaten wird besonders deutlich, als Zhao und seine Kumpane Ayameis Familie befragen und dabei im wahrsten Sinne des Wortes sogar über Leichen gehen. Die Sympathien der Leser sind klar verteilt, sie liegen eindeutig bei Ayamei, die ständig auf der Flucht vor ihren Verfolgern ist.

Die Geschichte, die Shan Sa zu erzählen hat, könnte kaum dramatischer sein. Es scheint, als habe Ayamei praktisch keine Chance zur Flucht, denn die Personen, die ihr geholfen haben, müssen dies teuer bezahlen. Xiao lässt auf der Flucht sein Leben und Wangs Familie wird so lange bedroht, bis sie Ayameis Aufenthaltsort verraten müssen. Die Aussichtslosigkeit der Situation ist es, die den Leser tief erschüttert. Die stärkste Stelle im Buch ist allerdings der Fund von Ayameis Tagebuch, welches Zhao schließlich liest, um sein Opfer näher kennen zu lernen. Zhao ist bewegt von Ayameis Geschichte und fasziniert von der jungen Frau, die sich in den geschriebenen Worten wiederfindet. Die Erzählung im Tagebuch ist es, die Zhao zum Nach- und auch zum Umdenken bringt. Zum ersten Mal beginnt er, sein Tun zu hinterfragen. Dies ist der Moment, in der Zhao seine ersten Pluspunkte sammeln kann.

Shan Sa schafft es auf unglaublich faszinierende und packende Weise, uns ihre Romanheldin vorzustellen und näher zu bringen, sodass wir ihr alles Glück der Welt wünschen, damit sie ihren Verfolgern entkommen möge. Besonders faszinierend ist die Entwicklung, welche die Protagonisten im Laufe der Erzählung durchmachen. Bei Zhao ist es zunächst eine Neugierde, er möchte wissen, wen er eigentlich jagen und auffinden soll. Als er Ayameis Spuren verfolgt und ihr langsam immer näher kommt, ist es eine Faszination, doch als er schließlich ihr Tagebuch gelesen hat, kann er sich Ayamei kaum noch entziehen. Langsam beginnt Zhao, von Ayamei zu lernen. Aber auch Ayamei muss viel lernen in dieser kurzen Erzählung. Anfangs scheint es fast, als wäre sie in eine Demonstration hinein gestolpert, von der sie noch gar nicht ganz verstanden hat, worum es eigentlich ging. Sie erscheint uns naiv und unbeteiligt, doch wird sie uns dann als eine der Anführerinnen der rebellischen Studenten vorgestellt. Zu Beginn hat sie jedoch keinen Überlebenswillen, alles erscheint ihr gleichgültig, hier scheint sie die Bedrohung kaum registriert zu haben. Doch nach und nach wächst ihr Überlebenswille, am Ende ist nichts stärker als der Wunsch, ihren Verfolgern zu entkommen. So machen beide Hauptfiguren trotz der Kürze der Geschichte eine erstaunliche Veränderung mit.

Sprachlich ist „Himmelstänzerin“ äußerst angenehm zu lesen. Shan Sas Sprache ist poetisch und einfach nur wundervoll, besonders die Tagebucheinträge Ayameis sind sehr persönlich; hier lässt Shan Sa uns sehr nah an ihre Protagonistin heran. In den Einträgen erfahren wir etwas aus Ayameis Vergangenheit, von ihrer ersten großen (und unglücklichen) Liebe, über ihre Gefühle und auch über ihre Flucht vor den Soldaten. Nirgends lernen wir die junge Studentin so gut kennen wie in ihrem Tagebuch.

Insgesamt ist Shan Sa mit „Himmelstänzerin“ ein überzeugender – leider viel zu kurzer – Roman über zwei junge Menschen gelungen, die für das kämpfen und leben, woran sie glauben. Trotz des schmalen Buchumfangs erleben wir besonders bei Zhao eine erstaunliche Weiterentwicklung mit, die sehr zum Lesegenuss beiträgt. „Himmelstänzerin“ erzählt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist, darin besteht die ganz besondere Faszination dieses schmalen Büchleins, das ich nur weiterempfehlen kann.

http://www.piper.de

Kunkel, Benjamin – Unentschlossen

Wenn ein Buch als „neuer Kultroman aus New York“ angepriesen wird, dann weckt das Erwartungen an einen hippen, lässig geschriebenen Roman, der sich in Szeneclubs abspielt und jede Menge Sex und Drogen bietet. Andere „Kultromane“ wie „Less Than Zero“, „Bright Lights, Big City“ oder „Trainspotting“ sparten zumindest nicht mit solchen Dingen.

Ob ein Roman zum Kultbuch wird, muss erst die Zeit beweisen. Ein bemerkenswertes Debüt ist „Unentschlossen“ von Benjamin Kunkel aber auf jeden Fall. Auch wenn sein Name durchaus auf einen deutschen Autoren schließen lässt, handelt es sich bei ihm um einen Amerikaner. Viel erfährt man im Klappentext jedoch nicht über ihn: „Benjamin Kunkel wuchs in Colorado auf. Er schreibt für Dissent, The Nation und The New York Review of Books und ist Mitbegründer des Magazins n+1.“

Die wichtigste Information zum Autor erhält man allerdings erst, wenn man zu schmökern beginnt. Kunkel hatte eine echte „novel idea“. So stattete er seinen Protagonisten und Erzähler in Personalunion mit einer wirklich skurrilen Krankheit aus. Der 28-jährige Dwight Wilmerding leidet an Abulie, auf Deutsch chronische Unentschlossenheit. Die Krankheit gibt es wirklich. Sie bezeichnet eine krankhafte Willenlosigkeit, bei der die betroffenen Personen zwar den Wunsch nach einer Handlung haben, sich für die Durchführung dieser Handlung aber oft nicht entscheiden können. Der überaus sympathische Dwight schafft diesem Problem mit Hilfe einer Münze ab, indem er sie entscheiden lässt, ob er zu etwas Lust hat oder nicht. Auch sonst scheint sich der New Yorker nur irgendwie durchs Leben zu wuseln. Nach dem Besuch einer Elite-High-School entscheidet er sich für ein Philosophiestudium an einer kleinen Universität. Dass dieses zu keiner erfolgreichen Karriere führt, ist klar. Dafür hat es ihm die Werke des Philosophen Otto Knittel (hinter dem sich Heidegger verbirgt) näher gebracht, aus denen der Erzähler des Öfteren Zitiert.

Eine Anstellung hat Dwight schließlich in dem Pharmakonzern Pfizer gefunden, doch dort wird er gekündigt. Die WG, in der er mit seinen drei Slackerfreunden wohnt, steht ebenfalls kurz vor der Auflösung. Höchste Zeit also, um ein paar Entscheidungen zu treffen. Sein Mitbewohner und Medizinstudent Dan weiß auch schon Abhilfe: Abulinix soll die Wunderwaffe gegen chronische Unentschlossenheit sein und Dwight stellt sich bereitwillig als Proband zur Verfügung. In der Zwischenzeit hat er sich mit Hilfe seiner Münze dazu entschlossen, seine alte Schulfreundin Natasha in Ecuador zu besuchen. In einer neuen Umgebung auf die neue Willensstärke warten, das ist sein Plan. Dieser wird aber gleich wieder durcheinander gebracht: In Ecuador angekommen, verschwindet Natasha und Dwight muss mit ihrer Freundin Brigid vorliebnehmen. Anstatt durch den Großstadtdschungel muss sich Dwight nun durch den Urwald kämpfen.

Von der Hochburg des Kapitalismus wechselt das Geschehen also in ein Land, das stark an dessen Folgen zu leiden hat. Der Ton des Buches ändert sich auf subtile Weise, immer überdeckt von der komisch-lockeren Sprache des Protagonisten. Dieser Wechsel wurde vielerorts kritisiert, vielleicht auch, weil die Themenbandbreite mit scheinbar jedem Kapitel weiter anwächst. Aus „Unentschlossen“ hätte gut ein über 500 Seiten langer Schmöker werden können. So wird das Thema 9/11 mal eben im Vorbeigehen gestreift. Dwight und seine Freunde haben den traurigsten aller New Yorker Tage im Ecstasyrausch einfach verschlafen. Doch es tut sich noch mehr auf. Da wäre die komplizierte Beziehung zu den Eltern (sein Vater scheint ihn wie einen Hund zu sehen) und die noch viel verworrenere Beziehung zu seiner Schwester Alice. Von der lässt er sich nicht nur psychoanalytisch untersuchen, es gibt auch inzestuöse Gefühle zwischen beiden. Wirklich ausgebaut wird dieses Thema jedoch nicht von Kunkel. Stattdessen mutiert der Roman, oder besser dessen „Held“, im equadorianischen Urwald mehr und mehr zu einem „demokratischen Sozialisten“. Zwischen Dwight und seiner Begleitung entwickelt sich zudem eine Liebesbeziehung. Beides findet seinen Ausbruch in einem wirklich grandios erzählten psychedelischen Drogentrip mit Adam und Eva Romantik.

Was nimmt man also von diesem postmodernen Bildungs- und Coming-of-Age-Roman mit? Erst eimal eine wirklich unterhaltsame Geschichte, die dank der (zum Teil auch mal derben) Situationskomik mehr als nur einen Lacher kreiert. Zum anderen portraitiert Kunkel einen jung gebliebenen Endzwanziger im Zusammenspiel mit dessen komplexer Umwelt. Dwight wurde sicherlich nicht mit Abulie ausgestattet, um dieser eher unbekannten Krankheit Gehör zu verschaffen. Sie mutiert vielmehr zu einer Metapher, die das Dilemma eines weiten Teils der westlichen Gesellschaft thematisiert. Mit einer unbegrenzten Zahl an Alternativen ausgestattet, fällt es nicht nur dem Protagonisten schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Am leider weniger gelungenen Ende der Erzählung muss der Leser feststellen, das es nicht unbedingt die Unentschlossenheit Dwights war, die ihn in eine Krise stürzte, sondern vielmehr die Passivität, mit der er ihr begegnete. Das Warten auf eine Entscheidung, in diesem Fall auf das Wirken eines Medikaments (was im Übrigen ein weiterer Schlag gegen die amerikanische Mentalität, alle psychischen Probleme mit einem Medikament lösen zu wollen, ist), ist das eigentliche Problem. Wenn Dwight glaubt, die Wirkung von Abulinix zu spüren, wird er aktiver – und siehe da: Auf einmal weiß er, was er will.

In der New York Times fragte man „Wer hat Angst vor Holden Caulfield?“, dem Helden aus Salingers „Der Fänger im Roggen“. Dwight Wilmerding sicherlich nicht, auch wenn man auf den etwas kitschigen Epilog gerne verzichtet hätte. Hollywood wird das sicherlich nicht stören.

Allende, Isabel – Mein erfundenes Land

[„Zorro“ 1754 war das letzte von Isabel Allende auf Deutsch erschienene Buch, eine Art Biographie der frühen Jahre des berühmt-berüchtigten Rächers mit der Maske. Und wenn der Roman auch alles bot, was man von einer Abenteuergeschichte erwarten würde, so war er doch ein außergewöhnlicher Stoff für eine Autorin, die mit starken Frauenfiguren, südamerikanischen Settings und weit ausladenden Familiengeschichten bekannt geworden ist. In „Mein erfundenes Land“ dagegen, im Spanischen bereits 2003 erschienen, hält sie sich wieder an Bewährtes, was dazu führt, dass man als Leser genau das bekommt, was man von Isabel Allende erwartet. Bei der Lektüre der 200 Seiten (geradezu Kurzprosa für Allendes Verhältnisse) stellt sich daher sofort der gewünsche Effekt ein: eine wohlige Wärme ob der flott dahingeschriebenen, teils liebenswerten, teils skurrilen Erinnerungen der Autorin.

Dabei ist „Mein erfundenes Land“ ein seltsamer Hybrid – irgendwo zwischen Autobiographie, Reiseführer, politischem Essay und Fiktion. Es ist der Versuch, die Sehnsucht nach diesem Land Chile, in dem sie tatsächlich nur einen geringen Teil ihres Lebens verbracht hat, in Worte zu fassen, zu erklären oder wenigstens zu beschreiben. Und es wäre kein Buch von Isabel Allende, würde man nicht ständig das Augenzwinkern der Autorin beim Umblättern der Seiten spüren.

Sie beginnt mit einer farbenprächtigen Kartographie ihres Heimatlandes – das Gebirge, das Meer, die Wüste, die brodelnde Stadt Santiago. Das alles klingt für den gemeinen Mitteleuropäer exotisch und weckt unweigerlich die Reiselust. Nie wirken Allendes Beschreibungen hier trocken oder gar abgeschrieben, denn in gewohnter Manier ist eine Bergkette bei ihr immer auch mehr als das: Die Beschaffenheit des Landes weist über sich hinaus, ist unabdingbare Voraussetzung für den Charakter seiner Bewohner, ihre Traditionen und Macken. Und von diesen Macken gibt es viele, wie die Autorin nicht müde wird zu erwähnen …

Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie schon immer ein Querkopf war, sich dem Machismo Chiles nicht unterordnen wollte. Vielleicht ist es ihre journalistische Tätigkeit, die ihr diesen scharfen Blick ermöglicht. Vielleicht aber auch die Tatsache, dass sie nun schon seit zwanzig Jahren in Kalifornien lebt und daher aus einer anderen Perspektive auf Chile blickt. Sei’s drum, die Kapitel, welche die Skurrilitäten, die Eigenheiten und (für uns) fremdartigen Charakterzüge der Chilenen zum Thema haben, sind ein wahres Feuerwerk an genauer Beobachtung gepaart mit literarischer Verfremdung: Denn man kann sich nie ganz sicher sein, wann Isabel Allende Tatsachen beschreibt und wann sie ins Fiktionale abgleitet. Die Frage nach der Beziehung von Wahrheit und Fiktion ist eine typisch deutsche, meinte Allende, als sie das Buch in Berlin vorstellte. Für sie ist alle Erinnerung eine Mischung aus beidem – Tatsächlichem und Erfundenem. Was macht es da, ob etwas wahr oder unwahr ist? Genau aus diesem Spannungsfeld ergibt sich auch der Titel des Buches, der tatsächlich kein Widerspruch, sondern eine unbedingte Folge von Allendes Wahrnehmung ist.

Eingebettet in die Beschreibung von „Land und Leuten“ erfährt man auch viel Persönliches von der Autorin. Man trifft Charaktere aus ihren früheren Romanen wieder (allen voran natürlich „Das Geisterhaus“) und stellt fest, dass sie auf Mitgliedern ihrer Familie fußen. Mit viel Zuneigung, aber auch einem verschmitzten Lächeln gibt sie all die kleinen Absurditäten ihrer großen Sippe wieder: die hellsichtige Großmutter, der überlebensgroße Großvater, die Eindrücke, die ihre Kindheit geprägt haben. Einiges daraus kennt der treue Leser bereits aus „Paula“, doch fehlen in „Mein erfundenes Land“ die unbändige Trauer und das Verlangen, Dinge dem Vergessen zu entreißen. Das verleiht ihrem neuen Erinnerungsbuch eine uneingeschränkte Leichtigkeit, die dazu führt, dass man den Kapriolen und Sprüngen der Autorin gern folgt. Ihre Wege mögen verschlungen sein und sich von Zeit zu Zeit unvermutet kreuzen, doch ist dies kaum ein Grund zu bereuen, überhaupt auf die Reise gegangen zu sein. Im Gegenteil, es macht die Lektüre abenteuerlich und überraschend!

Es gibt natürlich ernste Momente. Wenn Allende den Militärputsch von 1973 beschreibt, der sie ins Exil trieb und ihre Heimat mit Folter und Repression überzog, dann bleibt kaum Raum für das altersweise ironische Lächeln, mit dem sie sonst ihr Lebens betrachtet: „Das hab ich hinter mir, und es hat mich stärker gemacht“, scheint ein Credo zu sein, das einen Großteil ihres Schreibens beschreibt. Doch der Putsch bleibt eine Wunde, die nur langsam heilt, und das Narbengewebe überzieht sowohl Chile als auch die Autorin.

„Mein erfundenes Land“ hat viele Eigenschaften, die für das Buch sprechen: Es ist unterhaltsam, kurzweilig, humoristisch und von Zeit zu Zeit sogar lehrreich. Es weckt die Neugier auf ein Land am Ende der Welt, wo die Sitten gleichzeitig fremd und sympatisch sind. Das Buch wirkt spontan, erfrischend, mit leichter Feder heruntergeschrieben, und dieses Gefühl überträgt sich unweigerlich auf den Leser, der sich mitnehmen lässt auf eine Reise, deren Ende nicht klar bestimmt ist. Doch, wie heißt es so schön: Der Weg ist das Ziel. Und selten war es so erfrischend, vom Weg abzukommen, wie in „Mein erfundenes Land“.

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Lewycka, Marina – Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Ich hätte es im Leben nicht für möglich gehalten, dass ich eines Tages mal ein Buch lesen würde, das „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ heißt. Die Geschichte des Traktors würde mich nicht einmal auf Deutsch so brennend interessieren, dass ich unbedingt ein Buch darüber lesen müsste …

Aber wie gut, dass bei Marina Lewyckas Debütroman der Name nicht Programm ist, denn (der geistreiche Leser mag es schon anhand des deutschsprachigen Titels scharfsinnig kombiniert haben) ein Buch mit deutschem Titel dürfte wohl kaum wirklich ukrainischen Inhalts sein. So gesehen ist also auch die Sache mit dem Traktor nicht all zu wörtlich zu nehmen.

Was soll das also für ein Buch sein, wo schon der Titel so sonderbar ist? „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ erzählt im Grunde eine Familiengeschichte. Erzählt wird die Geschichte von Nadias Familie, deren Eltern zu Kriegszeiten aus der Ukraine geflüchtet sind und die es über Umwege schließlich nach England verschlagen hat.

Nadias 84-jähriger Vater ist mittlerweile verwitwet, hegt aber bereits neue Heiratspläne, die für seine beiden Töchter Nadia und Vera kaum schockierender sein könnten, denn die Auserwählte ist Valentina, Mitte Dreißig und ein üppig bestücktes, ukrainisches, wandelndes Blondinenklischee. Nadias Vater Nikolai ist hin und weg, aber für die beiden Töchter ist von vornherein klar, wie sich Valentinas „Liebe“ zu dem alten Mann begründet: Sie will eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für sich und ihren Sohn Stanislav – und dazu muss sie Nikolai nun einmal heiraten.

Nikolai ist im Taumel der späten Liebe blind für Nadias und Veras Versuche, eine Eheschließung zu vereiteln, und so kommt es, wie es kommen muss: Die beiden heiraten, Valentina zieht zusammen mit Stanislav in Nikolais Haus ein. Als die gute Valentina dann jedoch feststellen muss, dass Nikolais Rente dermaßen spärlich ausfällt, dass er ihr nach ihrer Auffassung kein guter Ehemann sein kann, nimmt das Unglück seinen Lauf.

Für Nadia und Vera steht fest: Sie müssen ihren Vater schleunigst aus den Klauen dieses skrupellosen Frauenzimmers befreien – koste es, was es wolle. Dafür nehmen die beiden Schwestern es sogar in Kauf, dass sie wieder miteinander reden müssen, nachdem sie im Streit um das Erbe der Mutter eigentlich nie wieder ein Wort miteinander wechseln wollten.

Und so schreiten die beiden beherzt zur Rettung des Vaters, der unterdessen dem Unheil im eigenen Haus immer wieder dadurch entflieht, dass er sich schriftstellernder Weise seinem Lieblingsthema widmet: den Errungenschaften der Industrialisierung und dabei im Speziellen den Errungenschaften der ukrainischen Traktorindustrie …

Marina Lewycka ist mit „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ ein herzerfrischendes Debüt geglückt, das nicht umsonst nach seiner Veröffentlichung in England von Kritikern und Presse gefeiert wurde. Ganz leichtfüßig steigt Lewycka in ihre Geschichte ein und serviert dem Leser ein Buch, das zunächst einmal nach einem luftig-lockeren Unterhaltsroman aussieht.

Die Figuren wirken ein wenig klischeebeladen. Nikolai, der 84-jährige Rentner, der auf die junge Blondine hereinfällt, Valentina, die nicht ein einziges Klischee auslässt und wie das Abziehbild der üppigen Ostblock-Blondine wirkt – Lewyckas Figuren mögen im ersten Moment platt wirken. Dennoch schafft die Autorin es, ihren Figuren mit jedem Kapitel mehr Tiefe zu verleihen. Der Leser lernt ihre Geschichten kennen, wirft einen Blick hinter die Klischees und schafft es in zunehmendem Maße, die Persönlichkeiten zu begreifen, die dahinter stecken.

Ein wenig erinnert das Ganze auf den ersten Blick an Zadie Smiths Roman „Zähne zeigen“. Dort ging es um die Geschichte einer indischen Familie, die versucht, in England zwischen eigenen Traditionen, der eigenen Identität und den Verlockungen der modernen, westlichen Welt ihr eigenes Glück zu finden. Doch wo „Zähne zeigen“ mir manchmal etwas träge und behäbig vorkam, da ist „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ flott und spritzig erzählt.

Lewyckas Roman lebt vor allem von der Verquickung zweier gänzlich unterschiedlicher Zutaten. Auf der einen Seite steht die humorvolle Betrachtung der Gegenwart, der ironische Blick auf die Figuren und ihre Verhaltensweisen, das Spiel mit den Klischees und das Irrwitzige der Situation. Auf der anderen Seite blickt der Roman auch immer wieder in die Vergangenheit.

Der Weg von Nadias Eltern von der Ukraine nach England wird bruchstückhaft aufgearbeitet. Man begreift, wie die Figuren zu dem geworden sind, was sie verkörpern, und wirft im Falle von Nadias Eltern einen Blick auf die schicksalhaften Zeiten von Stalin und Zweitem Weltkrieg. Nadias Eltern haben in der Ukraine die schlimmsten Kapitel der jüngeren europäischen Geschichte miterlebt. Ganz ernst und sachlich schafft Lewycka es, diese Schicksale in ihren ansonsten so ironisch-heiteren Roman einzufügen.

Das dürfte ihr auch deswegen so gut gelingen, weil ein Teil davon sicherlich auch eng mit ihrer eigenen Geschichte verknüpft ist. Zwischen Nadia und der Autorin gibt es auffällige Parallelen. Beide haben ukrainische Eltern und sind in einem Flüchtlingslager geboren. Beide leben sie in England. Mit „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ dürfte Marina Lewycka sich auch einen Teil der eigenen bedrückenden Familiengeschichte von der Seele geschrieben haben.

Dass ihr dabei der Balanceakt zwischen heiterer Erzählung und ernsten geschichtlichen Hintergründen so gut gelingt, verleiht dem Lesegenuss eine besondere Tiefe. Man durchlebt bei der Lektüre vielfältigste Gefühle. Mal möchte man sich über die komischen Figuren, die witzigen Dialoge und Nadias immer wieder in Klammern eingestreute Gedanken fast kaputt lachen, mal verspürt man bei den Schilderungen der Hungersnöte in der Ukraine und bei den Zahlen der von Stalin systematisch ausgehungerten Menschen einen dicken Kloß im Hals.

Mit dieser Mischung weiß Lewycka in jedem Fall zu fesseln. „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ entwickelt sich schnell zu einer Lektüre, die man nicht mehr beiseite legen mag. Das liegt nicht zuletzt an Lewyckas leicht zugänglichem Schreibstil, der sich durchweg sehr unterhaltsam liest. Sie trifft stets den richtigen Ton und skizziert ihre Figuren mit all ihren Klischees genau so, dass sie dennoch größtenteils glaubwürdig bleiben und nicht ins Lächerliche abdriften. Sprachlich und erzählerisch hat Lewycka einen fein akzentuierten und hochgradig unterhaltsamen Roman abgeliefert, der zu begeistern vermag.

Für mich persönlich ist „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ eine der Entdeckungen des Jahres und ein Lesegenuss, den man nur jedem ans Herz legen kann: herrlich komisch, mitreißend und hochgradig unterhaltsam und dabei dennoch feinsinnig, mit großem Ernst geschrieben und voller tragischer Momente. Prädikat: zu hundert Prozent empfehlenswert!

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Pepper, Kate – 7 Minuten zu spät

Die Freundinnen Alice, Lauren und Maggie sind alle Mitte dreißig und stehen sich so nah wie Schwestern. Alice, verheiratet und bereits Mutter zweier Kinder, ist im sechsten Monat mit Zwillingen schwanger. Auch Lauren steht kurz vor der Entbindung ihres zweiten Kindes. Die beiden Frauen freuen sich schon auf die gemeinsame Zeit mit ihren Babys. An einem heißen Sommertag kommt Alice mittags ein paar Minuten zu spät zu ihrer Verabredung. Alice und ihrem Mann wurde die Wohnung gekündigt und sie braucht ihre Freundin dringend als Beraterin, da diese gerade eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Doch Lauren erscheint nicht am Treffpunkt. Zunächst macht sich Alice keine Sorgen. Sie holt ihre beiden Kinder, Nell und Peter, und Laurens Sohn Austin von Kindergarten und Schule ab, schaut bei Kollegin Maggie vorbei, mit der sie gemeinsam einen Schuhladen führt und nimmt deren Sohn mit zum Einkaufen.

Die Zeit vergeht und niemand hat etwas von Lauren gehört. Alice vermutet, dass bei ihr frühzeitig die Wehen eingesetzt haben, aber auch die Anrufe in allen Krankenhäusern bleiben ohne Erfolg. Laurens Ehemann Tim ist in großer Sorge und verständigt am Abend schließlich die Polizei. Die Ermittlungen ergeben, dass Lauren auf dem Weg zu ihrem Schwangerschaftsgymnastik-Kurs verschwunden ist. Wenige Tage später dann der Schock: Laurens Leiche wird im Fluss gefunden. Lauren wurde mit einem Kopfschuss getötet. Anschließend wurde ihr Bauch aufgeschnitten und das Baby entführt.

Alice und die anderen stehen unter Schock. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Bereits vor zwei Jahren verschwand eine schwangere Frau in der gleichen Gegend. Hat es ein Serienmörder auf die ungeborenen Babys abgesehen? Lebt Laurens Kind etwa noch? Eine fieberhafte Suche nach dem Täter und dem Baby beginnt. Doch auch Alice bekommt immer mehr das Gefühl, in Gefahr zu schweben, seit sie ein seltsamer Mann verfolgt. Aber sie will nicht eher ruhen, bis Laurens Mörder gefunden ist …

Eine verschwundene Frau, ein grausamer Mord, die Suche nach einem Baby und die Mördersuche einer Schwangeren, die sich selber dabei in Gefahr bringt – aus diesen Zutaten hat die Autorin einen über weite Strecken unterhaltsamen, wenn auch nicht überdurchschnittlichen Thriller gebastelt.

|Spannung in der ersten Hälfte|

Die Spannung ist von Anfang an hoch. Nur wenige Seiten dauert es, bis klar ist, dass Alices Freundin Lauren etwas zugestoßen sein muss. Gerade weil es sich um eine hochschwangere Frau handelt, ist die Situation besonders brisant. Der Leser wird hineingesogen in die hektische Suche nach der werdenden Mutter. Die Polizei führt erste Ermittlungen durch, Alice und ihre Freunde hängen Suchzettel in den Straßen auf, die Freundin macht gar Anstalten, eine Internetseite zu der Vermissten zu erstellen. Mit jeder weiteren Stunde, die vergeht, schwindet die Chance, dass Lauren unversehrt gefunden wird.

Als ihre Leiche auftaucht, entstehen gleichzeitig unzählige neue Fragen: Wo ist das Baby, lebt es noch? War Lauren ein Zufallsopfer oder wurde sie gezielt ausgesucht? Schweben auch andere schwangere Frauen in Gefahr? Besteht ein Zusammenhang mit der vor zwei Jahren verschwundenen Christine? Dem Leser wie den Charakteren ist völlig unklar, wer hinter dem grausamen Mord stecken mag. Lauren schien keine Feinde zu haben, ihre Angehörigen sind geschockt und ratlos.

Besonders fesselnd wird es, als Alice sich mehr und mehr beobachtet fühlt und Grund zur Annahme hat, dass auch sie ins Visier des Täters geraten ist. Gleichzeitig aber weiß Alice oft nicht, wie viele der Gefahren, die sie sieht, wirklich existieren – oder ob sie sich manche Dinge nicht aus Angst einbildet. Auch die Polizei reagiert skeptisch auf einige ihrer Mutmaßungen; immerhin ist Alice hochschwanger, die bevorstehende Zwillingsgeburt schwächt sie körperlich, dazu der schwere Schock über den Tod der Freundin. Ähnlich wie in „Rosemarys Baby“ wissen weder Alice noch der Leser hundertprozentig, welche Verdächtigungen ihrer angespannten Phantasie und welche realer Gefahr zuzuschreiben sind.

Hochgehalten wird die Spannung zusätzlich durch das rasche Tempo, in dem die Handlung verläuft. Es existieren keine abschweifenden Nebenschauplätze. Die Story verläuft geradlinig, auch die Sätze sind eher kurz gehalten, die Beschreibungen eher spartanisch, sowohl was Örtlichkeiten als auch was das Aussehen der Personen angeht. Selbst wenn man das Buch mal eine Weile zur Seite legen sollte, gibt es keine Probleme, sich anschließend wieder in die Geschichte hineinzufinden.

|Sympathische Protagonistin|

Einen guten Anteil an der Spannung trägt auch die Hauptfigur Alice mit sich. Alice ist zwar kein herausragender Charakter, aber angenehm sympathisch. Als Leser leidet man mit ihr, wenn sie vom Tod ihrer Freundin erfährt. Ihre Lage wird durch ihre Schwangerschaft zusätzlich belastet. So fürchtet man nicht nur, dass der Täter es auch auf sie abgesehen haben könnte, sondern ebenso um ihren Gesundheitszustand.

Darüber hinaus lernt man Alice nicht nur als Mörderjägerin kennen, sondern es werden auch Aspekte aus ihrem alltäglichen Leben mit eingeflochten. So muss sie sich mit den oft gegensätzlichen Ansichten ihrer Freundin Maggie auseinandersetzen, die ihr manches Mal weniger eine Stütze als vielmehr ein Ärgernis bedeutet. Auch ihre Ehe ist einer Belastungsprobe ausgesetzt, denn Ehemann Mike arbeitet fast rund um die Uhr. Dazu kommen die Probleme mit ihrem neuen Hauseigentümer, der sie dazu zwingt, sich unter Zeitdruck ein neues Heim suchen zu müssen.

Zu guter Letzt fühlt sich Alice auch, was ihr Verhältnis zur Polizei betrifft, hin- und hergerissen. Einerseits ist ihr die junge Ermittlerin Frannie, die sie per Zufall bereits im Vorfeld kennen lernte, mehr als sympathisch. Sie hofft, in ihr eine neue Freundin zu finden, muss aber feststellen, dass die Umstände kein normales Verhältnis zulassen.

|Schwächen im zweiten Teil|

Leider stellen sich vor allem in der zweiten Hälfte einige Schwächen ein. Zum einen wird bald klar, dass es nicht um einen perfiden Serienkiller geht, der Ritualmorde verübt. Im Gegenteil, die Spuren, die verfolgt werden, deuten auf ganz profane Gründe für den Mord hin. Die Täterfrage wird zwar erst kurz vor Schluss geklärt, aber die Spannung verpufft merklich. Auch wenn Serienmörder nichts Neues mehr sind, bringen sie doch meist ein unheimliches Flair mit sich, ein Katz-und-Maus-Spiel, eine Note des Unberechenbaren, das zusätzlich Angst einflößt. Stattdessen konzentrieren sich die Ermittler und Alice auf Personen, die ganz rationale Gründe verfolgen könnten, Lauren aus dem Weg zu räumen.

Die zweite Schwäche liegt im sehr abrupten Ende, das insgesamt gesehen auch nicht besonders glaubwürdig ist. Im Gegensatz zu guten Thrillern stellt sich hier keine Erleichterung beim Leser ein, wenn sich die Täterfrage klärt. Der Schluss bietet kein klug eingefädeltes Aha-Erlebnis, sondern eher eine Enttäuschung. Statt einer befriedigenden Auflösung erwartet uns eine Pointe, die zu bemüht wirkt, um sich angemessen aus der vorherigen Handlung zu ergeben. Zwar bleiben keine wichtigen Fragen offen, doch das Ende wird zu kurz abgehandelt und wirkt lieblos angefügt.

Noch verwirrender ist der kurze Epilog, der etwa zwei Jahre nach den Ereignissen spielt. Vermutlich soll er beim Leser Nachhaltigkeit bewirken, ruft aber tatsächlich mehr Verärgerung hervor, da die Ereignisse zu konstruiert sind.

_Als Fazit_ bleibt ein in der ersten Hälfte durchaus unterhaltsamer und spannender Thriller um einen Mord und ein entführtes Baby. In der zweiten Hälfte lässt die Spannung deutlich nach, dem Täterkreis und dem Motiv fehlt es an Brisanz. Auch das abrupte Ende und der konstruierte Epilog enttäuschen. Insgesamt ein durchschnittlicher Thriller, der thematisch vor allem Leserinnen anspricht.

_Die Autorin_ Kate Pepper wurde in Frankreich geboren und lebt heute mit ihrer Familie in New York. Nebenbei gibt sie Kurse in Kreativem Schreiben. Ihr Debütroman „5 Tage im Sommer“ erschien 2005.