Archiv der Kategorie: Belletristik

Goebel, Joey – Freaks

Bevor Joey Goebel für seinen Roman [„Vincent“ 1827 reichlich Applaus erntete, schrieb er bereits ein Drehbuch, das, umgeschrieben zum Roman „Freaks“, nun zu etwas verspäteter Ehre kommt. „Freaks“ ist ein Roman, der gleich mit dem ersten Satz bereits Punkte sammelt, steigt er doch mit einem der vermutlich besten Romananfänge der Literaturgeschichte in die Handlung ein: |“Leicht war es nicht, sechs Milliarden gebrochene Herzen auf einmal zu flicken, doch ich schaffte es.“| (S. 9)

Bei „Freaks“ ist der Name Programm. Die titelgebenden Freaks sind eine Band, zur der kaum ein Name besser passen dürfte als „The Freaks“. Eine bunter zusammengewürfelte Truppe dürfte man in noch keinem Probenraum der Welt gesehen haben.

Frontman und Sänger der Gruppe ist Luster, ein schwarzer Hobbyphilosoph und Möchtegern-Weltverbesserer. Aufgrund seiner schnellen Zunge und seines nie enden wollenden Redeschwalls sonderbaren Inhalts glauben die meisten Leute, er wäre durchgehend auf Drogen. Das mag auch schon deswegen naheliegen, weil seine Brüder stadtbekannte Dealer sind, hat mit der Realität aber nichts zu tun, denn Luster ist konsequent drogenfrei.

An den Drums sitzt die bildschöne, im Rollstuhl sitzende, 19jährige Aurora. Derzeit versucht sich die ehemalige Stripperin als Satanistin, was ihr permanentes Konfliktpotenzial in der ohnehin schon angekratzten Beziehung zu ihrem Vater, einem Pfarrer, liefert.

Gitarristin Opal zieht mit ihren 80 Jahren den Altersdurchschnitt der Band enorm nach oben. Sie will auf ihre alten Tage noch einmal richtig abrocken und fühlt sich eigentlich zu jung fürs Altersheim. Sie will noch mal richtig Spaß haben, ohne sich darum zu scheren, dass sie mit ihren Cowboystiefeln und dem Sex-Pistols-T-Shirt von den meisten Leuten ausgelacht wird.

Das krasse Gegenteil (zumindest dem Alter nach) ist Ember, die Bass spielt. Ember ist gerade einmal acht Jahre alt und damit kaum größer als ihre Bassgitarre. Auch Ember hat ein etwas gestörtes Verhältnis zu ihrer Umwelt, vor allem zu Eltern und Lehrern. Sie hasst alles und jeden, außer ihren Bandkollegen. Sie will alles sein, aber nicht süß.

Der fünfte im Bunde ist Ray, der Keyboarder. Ray ist ein irakischer Ex-Soldat, der sich nach Kentucky aufgemacht hat, um den amerikanischen Soldaten zu suchen, den er im ersten Golfkrieg verwundet hat. Ray will sich eigentlich nur entschuldigen, hat sich aber inzwischen so gut in Amerika eingelebt, dass er amerikanischer ist als so mancher Amerikaner.

Das Thema von „Freaks“ – eine kleine Band aus dem Mittleren Westen, die ihr Glück versucht – dürfte Joey Goebel aus persönlicher Erfahrung vertraut sein. Goebel, in Kentucky geboren, tourte früher mit seiner Punkrockband „The Mullets“ durch den Mittleren Westen.

Joey Goebel erzählt die Geschichte der Band aus ständig wechselnden Perspektiven. Jeder Absatz gibt in der Überschrift an, aus wessen Sicht er erzählt wird. Dabei werden auch vermeintliche Statisten zu Erzählern. Immer wieder lässt Goebel Außenstehende die Hauptfiguren beobachten – ein kleiner Kniff, um seine kuriosen Hauptfiguren auch immer wieder aus der Distanz betrachten zu können. Ihre Wirkung auf Außenstehende, ihr kurioser Eindruck, wenn sie zusammen einen Raum betreten, all das wird so besonders deutlich vermittelt.

Durch die ständigen perspektivischen Sprünge liegt dem Roman ein recht hohes Tempo zugrunde. Die Geschichte entwickelt sich mit einiger Dynamik und die perspektivischen Wechsel sorgen für eine gewisse Spannung. Teils bekommt man erst durch das Zusammensetzen der unterschiedlichen Beobachtungen und Gedanken ein vollständiges Bild der Geschehnisse, was den Reiz, der Geschichte weiter zu folgen, mit fortschreitender Seitenzahl erhöht.

Auf den ersten Blick mag „Freaks“ wie ein oberflächlicher Unterhaltungsroman erscheinen. Die Figuren wirken allesamt zu abgedreht, um realistisch zu erscheinen. Vielmehr polarisieren sie, stellen jeder für sich ein eigenes Extrem dar und erfordern auch beim Leser ein gewisses Maß an Toleranz. Wenn Goebel allerdings die Gedanken der unterschiedlichen Protagonisten schildert, dringt er tiefer in die Persönlichkeiten ein. Man kann zwar dennoch nicht gerade sagen, man würde in die Figuren eintauchen und mit ihnen fühlen können, dennoch macht Goebel ihre Motive und Gedanken größtenteils recht gut deutlich.

Das alles reicht verständlicherweise noch nicht für einen überragenden Roman, aber es gibt da noch die sprachliche Komponente, die Joey Goebel besonders auszeichnet. Auch sprachlich legt Goebel ein recht hohes Tempo vor. Er formuliert vor allem aber gewitzt und mit einer gewissen Ironie. Der Humor geht dabei gar nicht so sehr auf Kosten der Protagonisten, wie man mit Blick auf ihr Erscheinungsbild meinen möchte, sondern mehr auf Kosten ihrer Umwelt. Immer wieder kann man über komische Situationen und sonderbare Gespräche schmunzeln, die stets auch ein Stück weit den Geist der Zeit einfangen und die gesellschaftliche Situation portraitieren. Und darüber mag man den Protagonisten so manche Abgedrehtheit verzeihen.

Verglichen mit „Vincent“ wirkt „Freaks“ dennoch nicht ganz so ausgereift. Man merkt deutlich, dass „Freaks“ dem Ursprung nach ein etwas älteres Werk ist. Mit „Vincent“ hat Goebel sich schon erheblich weiterentwickelt. Mag manches an „Freaks“ noch etwas kindisch wirken, auch wenn Goebels Talent zwischendurch immer wieder zwischen den Zeilen hindurchfunkelt, so wirkt „Vincent“ eben schon ein ganzes Stück ausgegorener und zeigt wesentlich deutlicher als „Freaks“, dass Goebel ein ernstzunehmender und talentierter Autor ist, der großartige Ideen hat und diese sprachlich gelungen umsetzen kann.

Bleibt unterm Strich der Eindruck, dass „Freaks“ gegenüber „Vincent“ etwas schwächer daherkommt. Man merkt bei der Lektüre sehr schnell, dass es sich um ein früheres, nicht ganz so ausgereiftes Werk des Autors handelt. Dennoch weiß der Roman zu unterhalten. Die Figuren sind interessant, wenngleich ziemlich abgedreht, Goebels Sprache ist gewitzt und sein Erzählstil temporeich und voller spannungssteigernder Perspektivenwechsel. Alles in allem also durchaus gute Unterhaltung, obwohl man weiß, dass Goebel es eigentlich noch besser kann.

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Young-ha, Kim – Gottesspiel, Das

Warum wird eigentlich jedes zweite Buch, das von einem asiatischen Autor stammt, als „Skandalroman“ bezeichnet? Oder ist es sogar jedes Buch? Man weiß es nicht. Fakt ist aber, dass „Das Gottesspiel“ von Kim Young-ha laut dem |Spiegel| noch so eine Skandalschrift ist.

Dabei geht es inhaltlich noch nicht einmal um die verborgenen Sexgelüste einer spießigen Gesellschaft, sondern vielmehr um einen namenlosen Ich-Erzähler, dessen Beruf darin besteht, den Selbstmord anderer Menschen auf deren Wunsch zu inszenieren. Seine beruflichen Erlebnisse verarbeitet er dann in einem Roman, indem er erzählt, wie es dazu kam, dass sich diese Menschen umbrachten.

Im Buch werden die Fälle von der gelangweilten, jungen Seyour, die immer einen Lolli im Mund hat, und der Aktionskünstlerin Mimi erzählt. Obwohl scheinbar kein Zusammenhang herrscht, kommen zwei Brüder, nur C und K genannt, bei beiden Mädchen vor.

Allerdings erschließt sich dem Leser nicht wirklich, welche Rolle C und K eigentlich haben, und das, obwohl sie derart viel Raum einnehmen. Das ist sehr schade, denn es ist nicht die einzige brennende Frage, die offen bleibt, wenn man das Büchlein zuschlägt. Nun können offene Fragen natürlich auch als eine Art Stilmittel eingesetzt werden, aber da sich die Fragen zu Young-has Geschichte nicht mit einer Happy-End-Lappalie à la „Bekommt der Held die Heldin also doch noch?“ begnügen, sondern tief in der Geschichte wurzeln, stören sie erheblich. Was macht man als Leser denn mit einer Geschichte, die zwar sehr gut erzählt ist, die man aber inhaltlich nicht versteht, weil sie stellenweise so verworren ist?

Schuld an dieser Verwirrung ist vor allem Aufbau. Die Perspektiven wechseln schnell und es dauert sehr lange, bis man sich überhaupt in die Geschichte hineingefunden hat. Hinzukommt, dass zum Beispiel zu den Charakteren K und C kaum etwas erklärt wird. Wer sind sie? Ist einer davon identisch mit dem Ich-Erzähler? Und wieso nennt der eine das Mädchen Seymour und der andere Judith? Sind es verschiedene Mädchen? Und in welcher Reihenfolge läuft die Handlung überhaupt ab?

An den Perspektiven, die Young-ha benutzt, liegt es definitiv nicht, denn sie verdienen ein wirklich wohlwollendes Kopfnicken. Absolut untypisch asiatisch schreibt der junge Mann. Von der netten Oberflächlichkeit, die Bücher aus diesen Landen oft prägt, ist nichts zu spüren. Stattdessen eine philosophische, dreckig-authentische Tiefgründigkeit, die sehr tief unten in den Seelen der Protagonisten wühlt und deren Gedanken, Gefühle und Meinungen ungefiltert preisgibt. Das zeigt sich auch in den flapsig wirkenden, aber eigentlich direkt auf den Punkt gebrachten Dialogen und den sehr schönen Beschreibungen von Eigenheiten, die der Autor den treffend ausgearbeiteten Charakteren zuordnet. Ein gutes Beispiel dafür ist Judiths Lollifetisch.

|“Chupa Chups. Das ist Judiths Lieblingssorte. Wenn sie nicht raucht, hat sie häufig einen Chupa Chups im Mund, dieses runde Bonbon mit dem Stäbchen. Sie behält ihn sogar im Mund, wenn sie sich lieben. C fürchtet immer, sie könne ihm mit dem Stäbchen die Augen ausstechen. Das Stäbchen hat ihn übrigens tatsächlich einmal im linken Augen erwischt und er hatte Angst, blind zu werden. Selbst einige Tage nach dem Zwischenfall traute er sich noch nicht, wieder mit ihr zu schlafen.“| (Seite 38)

Die anderen Charaktere profitieren ebenfalls von Young-has akribischer Arbeit, die sich durch das ganze Buch zieht. An und für sich ist das nichts Schlechtes, aber der eine oder andere mag sich wahrscheinlich daran stören, dass das Buch allzu streng durchkomponiert wirkt.

Eine strenge Komposition ist dabei ja eigentlich nichts Schlimmes. Sie verhindert Längen und fordert Lesen mit Gehirn. „Das Gottesspiel“ meint es an einigen Stellen aber leider zu gut. Während die Charaktere und der Schreibstil wirklich ein großes Lob verdienen, wissen Inhalt und Aufbau nicht immer zu überzeugen. Erstens fehlt es dem Buch an klar abgegrenzten Strukturen und zweitens bleibt am Ende ein schales Gefühl zurück. Der Klappentext redet wie selbstverständlich von einem Ich-Erzähler, der Selbstmorde für Kunden arrangiert. Allerdings finden sich derer nur zwei in dem knapp 160-seitigen Buch. Der Rest sind Ausrisse aus dem Roman, den der Ich-Erzähler schreibt. Zwei dieser Selbstmorde bei großer Ankündigung sind zu wenige, um ein ganzes Buch auszumachen, aber zu viele, um nur einen kurzgeschichtenartigen Ausriss aus dem Leben einer Person darzustellen.

Kim Young-has Debüt ist folglich eine zwiespältige Sache. Auf der einen Seite ein interessanter, fesselnder Schreibstil mit sympathischen, gut ausgearbeiteten Charakteren sowie einem Umschiffen der typischen Asia-Oberflächlichkeit, auf der anderen Seite aber ein verwirrender Aufbau, und wer möchte ein Buch nur wegen des Schreibstils lesen? „Das Gottesspiel“ verspricht Potenzial und erklärt die Lobeshymnen, die über dieses Buch gesungen werden, zumindest zur Hälfte, aber der große Wurf ist dem Südkoreaner damit noch nicht gelungen.

Jones, Gail – Traum vom Sprechen, Der

Australische Literatur kommt einem in Europa bekanntermaßen eher selten zwischen die Finger. Nachdem aber nun vor kurzem schon Steven Carroll mit seinem Roman [„Die Kunst des Lokomotivführens“ 2853 Eindruck schinden konnte und dafür auch von Elke Heidenreich in ihrer Sendung „Lesen!“ gelobt wurde, steht mit Gail Jones eine weitere literarische Hoffnung Australiens in den Startlöchern.

Ihr Roman „Der Traum vom Sprechen“ stand zusammen mit Autoren wie Curtis Sittenfeld [(„Eine Klasse für sich“) 2772 und Zadie Smith (die letztendlich auch gewann) auf der Longlist des |Orange Prize| 2006. Ausreichend Vorschusslorbeeren, um mal einen näheren Blick auf die Autorin und ihr Werk zu riskieren.

„Der Traum vom Sprechen“ erzählt die Geschichte von Alice Black. Schon seit Kindheitstagen hegt Alice eine Faszination für Maschinen und Technik. Während ihre Schwester Norah das allseits beliebte Mädchen mit der künstlerischen Ader ist, verbringt Alice ihre Tage mit ihrem Vater – guckt mit ihm zusammen Football und lebt ihre Technikbegeisterung aus.

Die erwachsene Alice ist es aber, der Jones im weiteren Verlauf des Buches den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit schenkt. Alice hält sich im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Paris auf. Sie schreibt ein Buch über die Poetik der Moderne. Von ihrem Freund Stephen hat sie sich gerade getrennt, als sie auf einer Bahnfahrt einen älteren Herrn kennen lernt – Mr. Sakamoto.

Wie sich schon bald herausstellt, teilt Mr. Sakamoto die Begeisterung für moderne Technik, Erfindungen und Erfinder. Mr. Sakamoto ist ein Überlebender des Atombombenabwurfs auf Nagasaki, und obwohl beide Personen einen so unterschiedlichen Horizont haben, knüpfen sie schon bald die zarten Bande einer Freundschaft. Mr. Sakamoto lockt Alice aus ihrer selbstgewählten Isolation und füttert sie mit Anekdoten über diverse Erfinder, die ihr bei ihrer „Poetik der Moderne“ helfen.

„Der Traum vom Sprechen“ skizziert in erster Linie die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Alice und Mr. Sakamoto. Beide Lebenswege könnten unterschiedlicher kaum sein, und wie Jones diese zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten auf so behutsame Art zusammenschweißt, macht inhaltlich das Besondere an der Geschichte aus. Mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto öffnen sich für Alice ganz ungeahnte Möglichkeiten. Sie beginnt langsam, sich einem anderen Menschen zu öffnen, lernt endlich jemanden kennen, der ihr wirklich viel bedeutet und der ihr fernab der Heimat ein Gefühl von Zuhause gibt.

Vor dem ersten Aufeinandertreffen mit Mr. Sakamoto wirkt Alices Leben irgendwie zerstreut, fast so, wie sie selbst das Aufkeimen ihrer Technikbegeisterung schildert: |“Es gab keinen Anfang. Nur Fragmente. Nur Geschichten“| (S. 47). Dementsprechend wirkt auch Jones‘ Erzählweise sprunghaft und unstet und man tut sich etwas schwer damit, richtig mit der Handlung warm zu werden.

Mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto strömt erstmals auch mehr Ruhe in die Erzählweise und damit auch in Alices Leben ein. War die Geschichte im ersten Romandrittel auch eher weniger fesselnd, so gewinnt sie zunehmend an Fahrt, entwickelt einen gewissen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Ähnlich wie Alice erliegt auch der Leser der Faszination, die von einer Figur wie Mr. Sakamato ausgeht. Trotz all der traumatischen Erfahrungen aus Kindertagen, trotz all der schmerzhaften Verluste durch den Atombombenabwurf, wirkt Mr. Sakamoto ruhig und in sich gekehrt. Dazu beigetragen hat vor allem die Erfindung, die Mr. Sakamoto am meisten fasziniert und der er nun sein Leben gewidmet hat: Das Telefon.

Mr. Sakamoto schreibt eine Biographie über Alexander Graham Bell, den Erfinder des Telefons – der Erfindung, die es ihm ermöglicht hat, mit seinem eigenen Kummer fertig zu werden. Es war in den langen Telefonaten mit seinem Onkel Tadeo, dass er seinen Kummer erstmals einem Menschen anvertraut hat. Einfühlsam und geradezu diskret geht Jones mit Mr. Sakamotos unbeschreiblich traumatischen Erlebnissen um. Vieles lässt sie den Leser selbst erfühlen, ohne zu viele Worte machen zu müssen.

Überhaupt liegt ein großer Teil der Faszination des Romans auf sprachlicher Ebene. Jones‘ Sprache ist zwar durchaus eigenwillig, aber auch stets sehr akkurat und wohlakzentuiert. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, erzeugt lebhafte Bilder und greifbare Emotionen. Obwohl sie zu den Figuren eine gewisse Distanz bestehen lässt, sie leise beobachtend aus der Ferne betrachtet, schafft sie es, dem Leser ihre Figuren näher zu bringen. Ein Stück weit bleiben sie dabei rätselhaft, einen Teil ihrer Persönlichkeiten kann man auch nach vollendeter Lektüre noch nicht ausloten, dennoch schafft Jones es, dem Leser bestimmte Gefühle und persönliche Eindrücke plastisch zu vermitteln.

Sprachlich ist das Ganze auf teils durchaus etwas gehobenem Niveau verpackt. Manche Sätze sind von faszinierender Bildhaftigkeit, so dass man bewusst langsam lesen möchte, um sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen. So übt das Buch insgesamt betrachtet eine stille Faszination aus. „Der Traum vom Sprechen“ ist ein leisetretender Roman – intelligent geschrieben und mit Figuren (vor allem Mr. Sakamoto), die eine gewisse Faszination ausüben. Auch wenn die Geschichte weitestgehend eher handlungsarm ist (nacherzählbare Handlung gibt es eher wenig), so zeichnet Jones dennoch intensive Stimmungen, die in scheinbarem Widerspruch zur dennoch offensichtlichen Distanz zu den Figuren steht.

Bleibt unterm Strich ein Buch im Gedächtnis, das sich am ehesten als literarischen Kleinod titulieren lässt. „Der Traum vom Sprechen“ ist ein Roman, der sicherlich nicht gerade große Wellen schlagen wird, aber dennoch mit einer faszinierenden Sprache und einer deutlich wahrnehmbaren Kraft erzählt ist – einfühlsam und diskret zurückhaltend zugleich.

Mag Jones‘ sprunghafter Erzählstil anfangs noch etwas unsortiert wirken, so wird die Geschichte mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto zunehmend faszinierender. Wer die Muße hat, Figuren für sich wirken und sich bei der Lektüre von der feinakzentuierten Sprache tragen zu lassen, der wird den Figuren sicherlich einige Sympathien entgegenbringen und auch aus der Lektüre an sich einiges Positives mitnehmen.

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Parsons, Tony – Erzähl mir nichts von Wundern

Tony Parsons zählt neben Nick Hornby zu den wichtigsten Vertretern populärer Gegenwartsliteratur. Seine Karriere startete er als Musikkritiker. In „Erzähl mir nichts von Wundern“ zeigt er jedoch, dass er weitaus mehr kann als über Musik zu schreiben. Hier zeigt er eine so weibliche und gefühlvolle Seite, dass man fast meinen könnte, dass sich eine Frau hinter diesem Namen verbergen müsste. „Erzähl mir nichts von Wundern“ stieg auf Anhieb in die englischen Bestsellerlisten ein und eroberte dort Platz 1 – und das sicher nicht unverdient.

Cat, Jessica und das Nesthäkchen Megan sind noch Kinder, als ihre Mutter Olivia Jewell die Familie verlässt, um Karriere zu machen. Von einem Tag auf den anderen ist die Mutter aus dem Leben der drei Mädchen verschwunden und die drei werden fortan mehr oder minder gut von ihrem Vater und wechselnden Au-pair-Mädchen versorgt. Doch insgeheim ist es die älteste Tochter Cat, die nicht nur eine stetig wachsende Wut ihrer Mutter gegenüber hegt, sondern die auch stets für ihre Schwestern da ist und sich sogar selbst das Kochen beibringt, damit es nicht immer nur Fertiggerichte und Tiefkühlkost gibt.

Auch wenn man es kaum für möglich halten möchte, so meistern die drei Mädchen ihre Kindheit und Jugend doch beachtlich und wachsen zu selbstbewussten und hübschen Frauen heran. Cat allerdings hat die Nase gestrichen voll vom Familienleben, sie lebt ihr eigenes Leben, arbeitet in einem angesagten Restaurant und ist froh über ihren Freund, der seine Sterilisation bereits hinter sich hat. Jessica ist das genaue Gegenteil: Nachdem sie mit 16 ein Kind abtreiben musste, versucht sie nun verzweifelt, schwanger zu werden, bevor ihre biologische Uhr allzu laut zu ticken beginnt. Ihr liebender Ehemann Paulo unterstützt sie in diesem Vorhaben, auch wenn es bedeutet, dass er mit seiner Frau nur noch Sex nach der „Eieruhr“ hat und nach Hause zu eilen hat, wenn der Eisprung erfolgt ist. Der große Kinderwunsch Jessicas belastet die Ehe, doch Paulo liebt seine Frau über alles und will kein noch so großes Problem zwischen sie treten lassen.

Megan ist derweil im letzten Jahr Ärztin im Praktikum und steht ihrer Approbation näher denn je, als sie feststellen muss, dass sie schwanger ist. Nachdem sie ihren Langzeitfreund Will mit der Hand auf dem Po einer anderen Frau erwischt hat und dieser seine Schuld sogar eingesteht und seine Untreue darauf schiebt, dass er als Mann seinen Samen nun einmal weit streuen müsse, hat Megan einen One-Night-Stand mit dem australischen Tauchlehrer Kirk, von dem sie auch gleich schwanger wird.

„Erzähl mir nichts von Wundern“ erzählt die Geschichte von drei erwachsenen Frauen, die versuchen, ihre Kindheitstraumata abzulegen und eine eigene Familie zu gründen und vor allem, ihr Glück im Leben zu finden. Doch auf dem Weg dahin sind noch einige Hürden zu nehmen, außerdem hat Tony Parsons genug Irrwege eingebaut, die die drei Frauen zu meistern haben, am Ende aber ist es wohl der Leser, der am traurigsten ist, weil er nämlich Abschied nehmen muss von drei beachtlichen Frauen, mit denen man im Laufe der Erzählung Freundschaft geschlossen hat.

Tony Parsons erzählt uns hier von Wundern, auch wenn er im Buchtitel zum Gegenteil auffordert. In dieser Geschichte lernen wir die drei Schwestern Cat, Jessica und Megan Jewell kennen, die nach dem Auszug ihrer Mutter schon früh auf sich alleine angewiesen sind und dadurch zu einem eingeschworenen Team werden. Auch im Erwachsenenalter stehen die drei jungen Frauen sich nahe wie wohl wenige Geschwister, sie treffen sich regelmäßig und teilen all ihre Sorgen.

In seiner Charakterzeichnung beweist Tony Parsons ein beachtliches Fingerspitzengefühl; hier überzeugt er auf ganzer Linie und kreiert drei Charaktere, in die man sich beim Lesen stets einfühlen kann:

Cat ist die älteste der drei Geschwister, die bereits im zarten Alter von nur elf Jahren das Leben der drei Mädchen in die Hand nimmt, als Jessica noch sieben ist und Megan ein Kleinkind von nur drei Jahren. Cat wird schneller reif und erwachsen, als ihr lieb ist, allerdings entwickelt sie auch einen tiefen Hass auf ihre egoistische Mutter, die alleine ihr eigenes Wohl im Sinn hatte, als sie ihren Mann und die drei gemeinsamen Kinder sitzen gelassen hat. Im Erwachsenenalter ist Cat zwar eine glückliche und erfolgreiche Frau, der allein ihre Freiheit wichtig ist, doch tief in sich bemerkt Cat mit der Zeit, dass sie doch noch nicht alles hat zum Glück. Sie ist überzeugt davon, den richtigen Mann fürs Leben gefunden zu haben und sieht es als Bonus, dass dieser bereits seine Familienplanung abgeschlossen hat. Doch es braucht lange, bis Cat sich eingesteht, dass Freiheit ihr nicht das Wichtigste ist.

Jessica ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Cat, sie wirkt deutlich sensibler und unselbständiger als ihre große Schwester. Nachdem Cat in der gemeinsamen Kindheit immer für Jessica gesorgt hat, steht ihr nun ihr Mann Paulo zur Seite, der sie abgöttisch liebt und alles für seine Frau tun würde. Das erste richtige Unglück, das über Jessica einbricht, ist die ungewollte Kinderlosigkeit. Sie kennt ihren Zyklus in- und auswendig, sie misst ihre Temperatur und bestimmt gewissenhaft ihren Eisprung, um dann sogleich ihren Mann zu sich zu bestellen, um mit ihm Sex zu haben und um im Anschluss daran still liegen zu bleiben. Am Ende versuchen sie es mit künstlicher Befruchtung, bis Jessica plötzlich merkt, dass sie für diese Prozedur keine Kraft mehr hat. Sie gibt ihren großen Kinderwunsch auf, obwohl sie weiß, dass auch Paulo sich so sehr ein Baby wünscht.

Megan ist der Überflieger der drei Mädchen; sie geht ihren Weg und ist bislang problemlos durch ihr Studium und auch die weitere Zeit ihrer Arztausbildung gegangen. Megan möchte die Welt verändern und verbessern, sie möchte sich Zeit nehmen für ihre Patienten, auch wenn ihnen eigentlich nur fünf Minuten zugestanden werden sollten, doch dann macht Megan ihren ersten Fehler: Sie wird schwanger und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Als Megan beschließt, das Kind abzutreiben, sind es Jessica und Cat, die sie in die Klinik begleiten und ihr beistehen. Noch wissen die drei jungen Frauen allerdings nicht, wie sehr dieses Erlebnis ihr Leben verändern wird.

Tony Parsons zeichnet drei völlig unterschiedliche Charaktere, doch im Grunde genommen haben alle drei Frauen den gleichen Wunsch, sie haben in ihrer Kindheit Ähnliches durchgemacht und sind nun auf der Suche nach ihrer eigenen Familie. Diese drei authentischen Charaktere sind es, die den Reiz des Buches ausmachen. Cat, Jessica und Megan werden bei der Lektüre zu guten Freundinnen, wir stehen ihnen in allen Lebenslagen bei, wir kennen ihre Gefühle in- und auswendig und wir trauern bei allen Rückschlägen mit ihnen mit. Tony Parsons schafft es, drei Frauenfiguren zu erschaffen, die jede für sich zu überzeugen weiß und die jede für sich für einen anderen Typ Frau steht, sodass die meisten Leserinnen hier Anknüpfungspunkte finden werden. In allen Situationen bleiben die Frauen glaubwürdig, auch wenn Parsons sich zugegebenermaßen an manchen Stellen doch einiger Klischees bedient. Auch ist das Buch sicherlich nicht frei von Kitsch – insbesondere wenn man an das Buchende denkt -, doch sieht man Parsons dies alles nach, weil er uns einen so gefühlvollen Einblick in das Leben der drei Jewel-Frauen ermöglicht und uns dabei selbst zum Nachdenken animiert, dass man über derlei Nebensächlichkeiten gerne hinwegsieht.

Tony Parsons schreibt über Frauen, über unerfüllte Kinderwünsche, über Abtreibung, künstliche Befruchtung, Beziehungsprobleme und den Wunsch nach einem kleinen bisschen Glück, und jedes Thema schildert er eindrucksvoll und einfühlsam. Es ist erstaunlich, wie glaubwürdig er die Probleme, Wünsche und Gedanken seiner drei weiblichen Protagonistinnen schildern kann, da könnten sich durchaus einige Autorinnen eine Scheibe abschneiden.

„Erzähl mir nichts von Wundern“ ist ein wundervoller Roman über das Leben, über die Liebe, über die Familie und über geheime Sehnsüchte, es ist ein Buch, das zum Träumen einlädt, zum Nachdenken anregt und für wohlige Stimmung beim Lesen sorgt. Als ich das Buch am Ende zuklappte, hatte ich einen Kloß im Hals und feuchte Augen, weil „Erzähl mir nichts von Wundern“ mich so gefangen genommen hat, dieses Buch hat mich in eine andere Welt entführt und mir ganz erstaunliche Frauen vorgestellt, die versuchen, ihren Weg zu gehen. Leider dürfen wir als Leser nur einen Teil des Weges mit ihnen gehen, aber auch dies ist ein wirklicher Gewinn!

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Carroll, Steven – Kunst des Lokomotivführens, Die

Was hier dem Titel nach eher wie Fachlektüre für angehende Lokomotivführer klingt, ist in Wirklichkeit ein Roman, der sich um Dinge wie Liebe, Lebensträume und enttäuschte Hoffnungen dreht. Natürlich spielt auch die Kunst des Lokomotivführens eine Rolle – anders wäre der gleichnamige Titel schließlich kaum zu rechtfertigen – Lektüre für „Trainspotter“ und Modeleisenbahnfetischisten ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ aber dennoch nicht.

Die Geschichte spielt Anfang der fünfziger Jahre in einem Vorort von Melbourne. Es ist ein warmer Sommerabend, an dem George Bedser Nachbarn und Freunde in sein Haus einlädt. Anlass ist die Verlobung seiner Tochter Patsy. Auch Vic, Rita und ihr Sohn Michael machen sich auf zum Haus der Bedsers. Vic ist Lokomotivführer. Noch fährt er nur Güterzüge, aber er träumt vom „Big Wheel“, den großen Personenzügen, die nur die besten Lokführer fahren dürfen. Eine der Ikonen des „Big Wheel“ ist Paddy Ryan, Vics Lehrmeister, der zum Zeitpunkt, als Vic mit Frau und Sohn zur Party im Haus der Bedsers geht, gerade einen vollbesetzten Personenzug nach Sydney fährt.

Während Paddy den Zug geschmeidig über die Schienen nach Sydney gleiten lässt, taucht am Ende der Straße, ganz in der Nähe des Hauses der Bedsers, ein dunkler Wagen auf. Der Fahrer ist Patsys heimlicher Geliebter Jimmy, der Patsy ein letztes Mal sehen will, bevor er das Land verlässt. Als er endlich seinen Mut zusammenrafft und das Haus betritt, ist die Party bereits in vollem Gange. Etwa zeitgleich überfährt Lokomotivführer Paddy gerade zum zweiten Mal ein Haltesignal und steuert auf eine unausweichlich erscheinende Katastrophe zu. Doch Paddy ist nicht der Einzige, dessen Leben sich in dieser Nacht auf entscheidende Weise verändert …

Der Australier Steven Carroll legt mit „Die Kunst des Lokomotivführens“ bereits seinen vierten Roman vor, mit dem ihm in seiner Heimat der Durchbruch gelang. Das Buch bekam jede Menge guter Kritik und wurde für die wichtigsten Literaturpreise des Landes nominiert.

„Die Kunst des Lokomotivführens“ ist im Grunde eine Momentaufnahme. Die reine Handlung beschränkt sich im Wesentlichen auf einen einzigen Abend. Vic geht mit Frau und Sohn zur Party der Bedsers und der Großteil der Geschichte passiert auf dem Weg dorthin und während bzw. nach der Party. Carroll skizziert also keine weit gefasste Handlung, die die Entwicklung der Charaktere widerspiegelt, sondern zeigt im Augenblick einer Momentaufnahmen einen markanten Lebensausschnitt, der für alle Beteiligten auf die eine oder andere Art einen Einschnitt darstellt.

Immer wieder schlüpft Carroll dabei in die Köpfe seiner Protagonisten, skizziert ihre Gedanken, lässt auf Vergangenes zurückblicken und schaut hier und da auch mal in die Zukunft. Die Figuren sind damit der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Carroll stellt Verknüpfungen zwischen den Figuren dar, demonstriert, wie sich Schicksale überkreuzen und eine unbewusste Handlung eine Kette von Ereignissen hinter sich herziehen kann.

Carroll zeigt, wie die Ereignisse zusammenhängen, wie eine Sache eine andere bedingt und wie kleine Aktionen des einen das Leben des anderen verändern können. Was die Lektüre dabei faszinierend macht, sind die Portraits der Figuren, die Carroll abliefert. Obwohl der Leser die Figuren nur einen Augenblick lang begleitet, erfährt er dennoch sehr viel über sie. Carroll lässt den Leser tief in die Abgründe der unterschiedlichen Persönlichkeiten blicken. Er skizziert die entscheidenden Momente der verschiedenen Lebensläufe nach und lässt die Figuren damit sehr plastisch vor dem Auge des Lesers zum Leben erwachen.

Die Figuren machen den Roman aus, und es ist schon faszinierend, wie ein Roman, der augenscheinlich so wenig Handlung aufweist, dennoch auf eine gewisse Art auch zu fesseln weiß. Der Leser ahnt (bzw. weiß durch die Lektüre des Klappentextes), dass für die Figuren einschneidende Veränderungen ins Haus stehen. Man wartet gespannt ab, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt.

Was Carroll mit seinem Roman sehr menschlich und lebensecht inszeniert, wirkt wie ein Ausschnitt Lebensalltag. Er packt all die Emotionen und Gedanken, welche die Menschen tagein, tagaus beschäftigen, in seinen Roman. Was Carrolls Protagonisten beschäftigt, sind Liebe und Verlust, die großen Lebensträume und Hoffnungen, die irgendwann enttäuscht werden. Carroll zeigt, wie zerbrechlich Glück sein kann und wie sehr der Verlauf des Lebensweges von einem einzigen Augenblick abhängen kann. Auf diese Weise entwickelt der Roman mit zunehmender Seitenzahl eine beachtliche Tiefe.

Carroll packt einerseits sehr viel Leben in seinen Roman, hat aber andererseits ein sehr stilles und leisetretendes Werk abgeliefert. Die schicksalhaften Wendungen der Nacht kommen auf leisen Sohlen herangeschlichen, ohne mit einem Paukenschlag alles auf den Kopf zu stellen. Auch sprachlich ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ eher ein Buch der leisen Töne. Carroll formuliert einfach und ohne viel Effekthascherei – schlicht, aber nichtsdestotrotz mit einem gewissen Einfühlungsvermögen.

Wer Charakterstudien und Momentaufnahmen allerdings wenig abgewinnen kann, dem wird auch das Buch wenig Freunde machen. Auf der Handlungsebene passiert halt ausgesprochen wenig, Carroll bringt den Leser dazu, mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen zu achten, auf Persönlichkeiten und die Schicksalhaftigkeit des Augenblicks. Wer dafür kein Auge hat, der wird sich vermutlich langweilen.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Die Kunst des Lokomotivführens“ ein leiser Roman ist, der zunächst ganz unspektakulär daherkommt, aber in seinen Beobachtungen tief in die Charaktere eintaucht. Wem tiefgründig skizzierte Figuren wichtig sind, der wird dem Buch mit Sicherheit viel abgewinnen können. „Die Kunst des Lokomotivführens“ ist ein Roman, der zunächst ganz gemächlich in Fahrt kommt, sich mit zunehmender Seitenzahl aber stetig gewaltiger entfaltet und erst zum Ende hin die Kraft entblößt, die in ihm schlummert.

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François Lelord – Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück

Handlung

Hector hat auf den ersten Blick keinen Grund, unglücklich zu sein: Er hat als Psychiater einen festen Kundenstamm, eine gut funktionierende Beziehung mit seiner Freundin Clara und muss nicht am Hungertuch knabbern. Was seinen Beruf angeht, so ist er ein richtig guter Psychiater, denn er besitzt eine Gabe, die ihn von anderen Vertretern seiner Zunft unterscheidet: Er interessiert sich für seine Patienten.

Zwar meinte seine Mutter, dass er ruhig mehr für eine Sitzung verlangen könnte, aber die Leute kommen gerne zu ihm (oder vielleicht gerade deshalb). Doch komischerweise ist er mit sich selbst unzufrieden, denn er konnte seine Patienten nie glücklich machen. Zwar fehlt es den meisten materiell an nichts und sie haben auch alle durch die Bank weg einen guten Job, doch trotzdem (oder gerade deswegen) haben sie alle eines gemeinsam: Sie sind nicht glücklich.

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Emily Maguire – Zähme mich!

Auf jeder Schule gibt es sie: Die Schülerinnen, die heimlich für diesen einen niedlichen Referendar oder Lehrer schwärmen. Diese Konstellation hat die Australierin Emily Maguire genutzt, um daraus ein ganzes Buch zu entwickeln. Allerdings geht sie in „Zähme mich!“ einen ganzen Schritt weiter …

Sarah Clark ist vierzehn, als ihre erotische Beziehung zu Mr. Carr beginnt. Er ist ihr Englischlehrer und verheirateter Vater, sie ist eine kleines Mädchen, das sich schwer in seinen Lehrer verliebt und von Sex nicht genug kriegen kann. Zwei Jahre lang treffen sie sich jeden Nachmittag und Sarah erlebt die Wonnen der Liebe, während sie gleichzeitig eine Menge über Shakespeare lernt.

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Manon Spierenburg – Soap Fabrik

Die niederländische Autorin Manon Spierenburg kennt sich aus in der Welt der Daily Soaps. Einst gehörte Spierenburg zur Projektleitung der niederländischen Ausgabe von „Gute Zeiten schlechte Zeiten“ (kurz: GZSZ – Abkürzungen sind nämlich „in“), nun schreibt sie einen spritzigen Roman über ihre Erfahrungen im Daily-Soap-Business.

Unser Romanheld ist Job Duivenkater, der stark auf die dreißig zugeht und eigentlich lieber einen richtigen Roman schreiben will. Doch um sein Leben zu finanzieren, verdingt er sich als Soap-Autor und schreibt Szenen für die erfolgreichste niederländische Daily Soap – „Die Welt dreht sich weiter“-, die liebevoll kurz DWDSW genannt wird und etwas weniger liebevoll DWDD für „Die Welt dreht durch“. Die Arbeitsatmosphäre bei DWDD ist kurz gesagt katastrophal, hier will sich jeder profilieren, und wer einmal in die Projektleitung aufgestiegen ist, der tritt ordentlich nach unten und zeigt seinen einfachen Szenenschreiberlingen, wer hier der Chef ist.

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Domínguez, Carlos María – Papierhaus, Das

Die Liebe zu Büchern hat schon so manche Buchseite gefüllt. Immer wieder manifestieren Autoren ihre eigene Leseleidenschaft in einem Roman, der quasi als Huldigung an die Literatur zu verstehen ist. Manchmal werden richtige Schmöker daraus, wie [„Der Schatten des Windes“ 2184 von Carlos Ruiz Zafón.

Andere Autoren packen das Thema wiederum gänzlich anders an und erschaffen humoristische Fantasy, wie es Walter Moers mit [„Die Stadt der träumenden Bücher“ 2486 gelungen ist. Und wieder andere erschaffen auf weniger als hundert Seiten eine so schöne Hommage an das Lesen, dass man es bedauert, dass die Lektüre nicht länger als für einen verregneten Sonntagnachmittag reicht – so geschehen im Fall von Carlos María Domínguez und seiner Novelle „Das Papierhaus“.

Schon der Einstieg in die Geschichte ist gleichermaßen skurril wie liebenswürdig. Die Literaturdozentin Bluma Lennon kauft in einem Buchladen in London eine Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und ist an der ersten Straßenecke bereits so vertieft in die neue Lektüre, dass sie prompt von einem Auto überfahren wird und stirbt. Ihren Platz an der Uni nimmt fortan ihr Kollege ein. Der staunt nicht schlecht, als ihn nach einigen Tagen ein Päckchen erreicht, das an Bluma adressiert ist und eine von Zementstaub verunstaltete Ausgabe von Joseph Conrads Roman „Schattenlinie“ enthält.

Auf der ersten Seite des Romans offenbart eine Widmung von Bluma, dass sie das Buch einem gewissen Carlos geschenkt hat. Das weckt die Neugier des namenlosen Ich-Erzählers. Er macht sich auf die Suche nach Carlos und will herausfinden, welche Geschichte hinter dem Buch steckt.

Eine Spur führt ihn nach Buenos Aires, wo er den Buchliebhaber Delgado trifft, der Carlos früher kannte. Der erzählt ihm die Geschichte eines geradezu fanatischen Bücherfreundes. Carlos‘ Haus ist ein grandioses Bücherrefugium – immens in seinem Umfang und verzwickt in seiner Katalogisierung. Als der Katalog bei einem Brand in Flammen aufgeht, fasst Carlos einen merkwürdigen Entschluss …

„Das Papierhaus“ ist eine wunderschöne, geradezu poetische Huldigung an das Lesen. Alle Figuren in Domínguez‘ Geschichte haben eines gemeinsam – sie lieben Bücher, teils auf eine gar besessene, fanatische Art. Für alle Figuren ist diese Leidenschaft lebensbestimmend. Sie durchdringt alles und ist der eine Punkt, um den in der Lebensausrichtung alles kreist – bei den einen mehr, bei den anderen weniger.

Blumas kurzer Auftritt wird so schnell beendet, wie er begonnen hat. Aber auch für die übrigen Figuren dreht sich alles um Bücher. Für den Ich-Erzähler, weil es sein Beruf ist, für Delgado, weil es seine ganz private Leidenschaft ist. Delgado hat sich eine separate Bücherwohnung eingerichtet, in der er sich verkriecht, um sich ganz dem Schmökern hinzugeben.

Doch verglichen mit Carlos‘ Buchleidenschaft wirk Delgados Verhältnis zu Büchern fast noch gesund und normal. Carlos ist ein richtiger Bücherjunkie. Er geht keinem Beruf nach, hat sein ganzes Leben dem Lesen gewidmet, um tagein, tagaus nichts anderes zu tun als Bücher zu kaufen, zu katalogisieren und zu lesen. Als bekennender Bücherwurm mag man bei der Lektüre ein wenig neidisch auf Carlos‘ bibliophil so ausschweifenden Lebensstil sein, aber mit dem Neid ist es schnell vorbei, wenn man sieht, zu welch einem Menschen Carlos seine Leidenschaft gemacht hat – mysteriös, einsam und wunderlich.

Jemand, der wie ich Bücher auch stets schneller kauft, als er sie gelesen bekommt, kann sich Carlos‘ ausufernde Leidenschaft sehr schön als mahnendes Beispiel vor Augen führen, um seine ungezügelte Buchleidenschaft ein wenig zu bremsen und in vernünftigen Bahnen zu halten. Als mahnender Zeigefinger wird „Das Papierhaus“ somit definitiv einen besonderen Platz in meinem Bücherregal finden und mich hoffentlich vor den Folgen maßlosen Bücherkonsums behüten.

„Das Papierhaus“ ist |das| Buch für alle, die gerade wieder einmal über die Anschaffung eines neuen Bücherregals nachdenken oder wiederholt die Buchrücken absuchen, nach Titeln, die in die zweite Regalreihe verbannt werden können, um Platz für die letzten Neuanschaffungen zu machen. Wer gerne liest und Bücher liebt, der wird sich in irgendeiner der Figuren dieser Novelle ganz bestimmt wiederfinden.

Was die Lektüre obendrein liebenswert macht, ist Domínguez‘ Erzählstil. Leichtfüßig, aber auch mit einer gewissen Poesie in den Worten, erzählt er seine Geschichte, die sich mal tragisch entwickelt, mal ironisch. Schnell wickelt er den Leser um den kleinen Finger, zieht ihn tief in seine kleine Geschichte hinein und lässt ihn erst wieder los, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Domínguez weiß auf eine ganz unscheinbare Art zu fesseln, und spätestens wenn der Ich-Erzähler sich in Buenos Aires auf Spurensuche begibt und von einem Buchhändler allerhand sonderbare Auskünfte erhält, mag man das Buch nicht mehr beiseite legen.

Kurzum, mit „Das Papierhaus“ ist Carlos María Domínguez ein liebenswerter kleiner Schmöker geglückt, der die Liebe zu Büchern in eine schöne Geschichte kleidet. Hinreißend erzählt und mit einem Sinn fürs Skurrile, ist „Das Papierhaus“ fantastische Lektüre für jeden, der eine Leidenschaft fürs Lesen hegt.

|Ergänzend dazu: Unsere [Rezension 1555 der Hörbuchfassung.|

Cleave, Chris – Lieber Osama

„Lieber Osama“ – ein Titel, der provoziert und der nicht nur „nach den jüngsten Anschlägen auf die Londoner U-Bahn, von Furcht erregender Aktualität“ ist, wie es auf dem Klappentext heißt. Schließlich liegen die Beinaheanschläge auf britische Flugzeuge und die beiden Kofferbomben in Deutschland noch nicht besonders weit zurück, wodurch Chris Cleaves Roman noch mehr an Brisanz gewonnen hat.

In seinem Debütroman inszeniert Cleave einen islamistischen Anschlag während eines Fußballspiels zwischen Arsenal und Chelsea. Während die charmant-naive Ich-Erzählerin ein kleines Techtel-Mechtel mit ihrem Nachbarn, dem reichen und egoistischen Journalisten Japser Black, hat, kann sie im Fernsehen beobachten, wie ihr Mann und ihr vier Jahre und drei Monate alter Sohn in die Luft fliegen. Schockiert von den Bildern, zwingt sie Jasper, sie zum Tatort zu fahren, wo sie sich im zerstörten Arsenalfanblock auf die Suche nach ihren Liebsten macht. Doch alles, was sie findet, ist Mr. Rabbit, das Kuscheltier ihres Sohns.

Daraufhin fällt sie für drei Tage ins Koma und verbringt geraume Zeit in der Psychatrie, wo sie im Radio vernimmt, wie die Opferzahlen des 1. Mai täglich nach oben korrigiert werden. Sie erhält Besuch von Prinz William und kotzt ihm auf die Schuhe. Schließlich kommt auch Jasper Black zu Besuch, und nachdem sie ihn zuerst abweist, entwickelt sich so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn da nicht Petra wäre, Jaspers gefühlslose, karrieregeile Freundin, die nicht davor zurückschreckt, ihre Freunde auszuspielen, als sie erfährt, dass die Ich-Erzählerin, die im Übrigen in dem ganzen Buch nicht einmal beim Namen genannt wird, an sensible Informationen über den ersten Mai kommen kann

Chris Cleave‘s Roman ist ein wirklich erfrischendes Debüt. Woher kommt überhaupt dieser Titel?, fragt man sich mit berechtiger Gespanntheit, wenn man das erste Mal von diesem Buch hört. Die Antwort ist simpel. Die namenlose Ich-Erzählerin, die dem Leser durch ihre charmant-naive Schreibweise sehr sympathisch ist, addressiert die Geschichte direkt an Osama, dem sie die Schuld am Tod ihres Mannes und Sohns gibt. Immer wieder spricht sie unseren Lieblingsterroristen im Buch direkt an, fragt ihn, wie er gehandelt hätte oder ob er sich das vorstellen kann. Anders als erwartet, ermüdet sich dieser Witz nicht im Laufe des Buchs, weil Cleave ihn sparsam und an den richtigen Stellen einsetzt.
Überhaupt ist die ganze Geschichte von einem zynischen, aber unaufdringlichen Humor durchzogen, der oft sehr lakonisch daherkommt, was perfekt in die Geschichte und zur Hauptperson passt.

|“Dann zündeten deine Männer die Bomben. 6 von ihnen trugen Splitterbomben am Leib, die restlichen 5 Brandbomben. Nach Meinung der Experten war so was noch nie zuvor gemacht worden, es seien überhaupt die schrecklichsten Selbstmordbomben in der Geschichte der Menschheit gewesen. Zwar müssen die Bombenpakete unter den Arsenal-Trikots riesig gewesen sein, aber offenbar hat niemand was gesagt, außer vielleicht: Boah, guck dir mal den Fettsack an. Bierbäuche gibt‘s nämlich bei den Arsenal-Fans die Menge. Jetzt vielleicht nicht mehr ganz so viele.“| (Seite 72/73)

Cleave benutzt diesen feinen Humor auch, um Kritik am eigenen Land zu üben. Nach dem Attentat verwandelt sich England mehr und mehr in eine Hochsicherheitsfestung mit Ausgangssperre am Abend und Hubschrauberpatrouillen. Gleichzeitig geraten alle Moslems ins Visier der Ermittler, darunter auch der Hauptperson Lieblingskrankenschwester Mena.

|“Am nächsten Morgen tauchte zwar wie immer die Sonne auf, aber keine Mena. Stattdessen kam eine neue Schwester, eine Australierin. Blond und betont gut drauf. Wenn man sie sah, dachte man unweigerlich: 19-JÄHRIGES PARTY-GIRL SHARLENE BEI KLINIK-BUMS ERWISCHT.
– Hallo. Was ist denn mit Mena?
– Sie darf hier nicht mehr arbeiten, sagte die neue Krankenschwester.
– Wie bitte?
– Sie war doch Moslem, oder?, sagte die Neue. Sicherheitsrisiko. Seit Mitternacht sind alle Moslems beurlaubt. Endlich schnallen sie es in diesem Land. Also, ich will ja nichts sagen, meiner Meinung nach sind 99 % aller Moslems ganz okay, aber wenn du ein paar von ihnen nicht trauen kannst, kannst du keinem trauen, ist doch so, oder?“| (Seite 85/86)

Im Verlauf des Buchs entwickelt sich daraus ein beinahe utopisches Szenario, das zwar dank Überspitzung für Erheiterung sorgt, gleichzeitig aber zum Nachdenken anregt. Könnte es eines Tages wirklich so bei uns aussehen? Würde Elton John tatsächlich einen Song mit dem schönen Titel „England‘s heart is bleeding“ schreiben, der schließlich in jedem hippen Frisiersalon als Clubremix läuft? In diesem Zitat kann man zudem ein weiteres „Stilmittel“ erkennen, das im Buch immer wieder auftaucht. Der Autor streut des Öfteren diese Schlagzeilenüberschriften à la BILD ein, wodurch er die einzelnen Situationen sehr bissig auf den Punkt bringt.

Die Handlung an und für sich ist natürlich fiktiv, allerdings läuft es dem Leser an manchen Stellen kalt den Rücken hinunter, wie nahe derartige Szenarien sein können. Während sich der Anfang hauptsächlich mit dem Attentat und dem Klinikaufenthalt der Ich-Erzählerin beschäftigt, geht es später nur noch um ihr neues Leben und vor allem um die Beziehung zu Jasper Black und seiner Freundin sowie ihrem neuen Chef, einem hohen Tier bei Scotland Yard. Trotzdem schimmert das Terror-Thema immer wieder durch.

Inwiefern der Anschlag als Auslöser für die Folgehandlung gesehen werden kann, ist zweifelhaft. Ohne Frage können derartige Ereignisse das Leben eines Menschen sehr aus der Bahn werfen, doch an manchen Stellen geht der Autor einen Schritt zu weit und das Buch versinkt im wattigen Selbstfindungsjargon (allerdings immer mit unschlagbarem Humor). Manchmal ist die Geschichte ein wenig zu abgedreht, obwohl die meisten Zusammenhänge und Ereignisse sehr alltäglich wirken.

Doch das Über-die-Stränge-Schlagen sei Cleave vergeben. Schließlich hat er das Buch nicht mit dem Anspruch geschrieben, einen humorlosen Schinken zu veröffentlichen. Bissigkeit, Übertreibung und Überspitzung sind schließlich die ständigen Begleiter des Lesers, eingepackt in einen wundervollen, sehr eigenständigen Schreibstil mit einer sehr sympathischen Working-class-Heldin der Herzen. „Lieber Osama“ ist auf jeden Fall ein literarischer Leckerbissen 2006 und sei jedem ans Herzchen gelegt, der humorvolle Literatur mag und vor Zynismus keine Angst hat.

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Sittenfeld, Curtis – Eine Klasse für sich

|“Ich war nicht unbeteiligt, ich war nicht desinteressiert, Aspeth wollte mir ganz bestimmt nicht näherkommen, und ich war einer der uncoolsten Menschen, die ich kannte – alles, was ich tat, war, meine Mitschüler zu beobachten, mich über sie zu wundern, über ihre Unbekümmertheit zu staunen und an der gähnenden Kluft zwischen uns, an meiner elenden Verklemmtheit und totalen Unfähigkeit, mich locker zu machen, zu verzweifeln. Und mir nichts zu Herzen nehmen? Ich nahm mir alles zu Herzen – nicht nur die Reaktionen der anderen, ihre Gesten und ihren Tonfall, sondern auch Sinneseindrücke, den Geruch des Windes, die Deckenleuchten im Mathetrakt, die Lautstärke des Radios im Badezimmer, wenn ich mir die Zähne putzte.“|

|“Großartig! ‚Eine Klasse für sich‘ macht so süchtig wie M&Ms“| verkündet der |Boston Globe| und bringt es auf den Punkt: Curtis Sittenfelds Erstlingsroman wurde nicht nur von der |New York Times| zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2005 gekürt, dieses Buch erzählt auf hervorragende Weise die etwas andere Internatsgeschichte und macht dabei schon jetzt mehr als neugierig auf Sittenfelds zweiten Roman, der im nächsten Jahr im |Aufbau|-Verlag erscheinen wird.

_Eine nicht ganz alltägliche Internatsgeschichte_

Im vorliegenden Roman erzählt uns Lee Fiora, die mit 14 Jahren ihre Familie verlässt, um auf das Elite-Internat Ault zu gehen, ihre Geschichte. Obwohl Lees Vater ein einfacher Matrazenhändler aus der Provinz ist, hegt Lee schon einige Jahre vor ihrer Highschoolzeit den Wunsch, auf ein angesehenes Internat zu gehen, auf das auch reiche und erfolgreiche Eltern ihre Kinder schicken. Eigenhändig bewirbt Lee sich an verschiedenen Internaten und entscheidet sich schlussendlich für Ault, weil sie dort gleichzeitig ein Stipendium erhalten kann, das den Großteil ihrer Schulgebühren decken wird.

Angekommen in Ault, stellt Lee fest, dass es dort nicht so ist, wie die Hochglanzprospekte glauben machen wollen. Lee kämpft um ihre einst guten Noten und sehnt sich nach echten Freunden. Doch von Beginn an wird Lee Fiora zur Außenseiterin; man scheint es ihr anzusehen, dass ihre Eltern nicht im Geld schwimmen und ihr Vater eben nicht bei der Bank arbeitet. Je einsamer Lee wird, umso genauer beobachtet sie ihre Schulkameraden und umso größer wird ihr Wunsch, akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Als es eines Tages überraschungsfrei gibt, beschließt Lee spontan, in die Stadt zu fahren, um sich dort Ohrlöcher stechen zu lassen. Beim Stechen wird Lee ohnmächtig, findet sich allerdings kurz darauf in den Armen des bestaussehenden Mitschülers ihrer Jahrgangsstufe – Cross Sugarman – wieder, der sich liebevoll um Lee kümmert und sie abends auch zu einem Kinoabend mit seinen Freunden einlädt. Auf dem Rückweg legt Cross wie selbstverständlich im Taxi seinen Arm um Lee und streichelt ihre Haare. Lee schwebt im siebten Himmel, weiß jedoch nicht, dass es lange dauern wird, bis sie Cross wieder so nahe kommen wird.

Über eine Mitschülerin lernt Lee die hübsche Martha Porter kennen, die Lee ebenfalls für eine Außenseiterin hält. Lee und Martha werden beste Freundinnen und teilen sich fortan das Zimmer. Die beiden Mädchen werden praktisch untrennbar; als Martha jedoch zum Senior Prefect gewählt wird, bricht für Lee eine Welt zusammen, denn sie muss erkennen, dass sie doch alleine dasteht in ihrer Rolle als Außenseiterin. Doch damit nicht genug, warten noch weitere bittere Erkenntnisse auf Lee, die ihr weiteres Leben prägen werden…

_Lebensbeichte_

Curtis Sittenfeld ist mit „Eine Klasse für sich“ ein beachtliches Debüt gelungen, das von der ersten Seite an mitzureißen weiß. Das gesamte Buch ist aus Lee Fioras Sicht erzählt, die den Leser an all ihren Gedanken teilhaben lässt. Schon von Beginn an wird deutlich, mit welcher Traurigkeit und Sehnsucht Lee an ihre Highschoolzeit in Ault zurückdenkt. Vielleicht hat alles seinen Anfang genommen, als ein Mitschüler ein Referat über das gleiche Thema hält, auf das auch Lee sich vorbereitet hat. Ab dieser Stunde scheint alles schief zu gehen. Lees Noten werden schlechter und als Lee eine Diebin identifizieren kann, fühlt sie sich mitschuldig, als dieses Mädchen das Internat verlassen muss.

Von Anfang an kapselt Lee sich von ihren Mitschülern ab, sie verteilt Absagen, bis sie von niemandem mehr Einladungen zu Partys oder Ausflügen erhält. Lee gerät in einen Teufelskreis, und das nur deshalb, weil sie gedacht hatte, sie wäre nur dann erwünscht, wenn alle anderen in hysterische Begeisterung ausbrechen würden. So kommt es schließlich, dass Lee die meisten Gelegenheiten verpasst, um Freunde und Anerkennung zu finden. Stattdessen zieht sie sich immer mehr zurück, um ihre Mitschüler genau zu beobachten und zu analysieren. In der Zeit, in der Lee Fiora uns ihre Geschichte erzählt, hat sie ihre verpassten Gelegenheiten bereits erkannt, was dem ganzen Buch einen Hauch von Traurigkeit und Bitterkeit anhaften lässt, weil Lee darüber nachsinnt, wie ihr Leben in Ault hätte verlaufen können, wenn sie sich in manch einer Situation anders verhalten hätte.

In der Rückbetrachtung hat Lee bereits viele Situationen ausgemacht, in denen es nur eine Winzigkeit erfordert hätte, um ihrem Leben eine positive Wendung zu geben. Während uns Lee ihre Lebensgeschichte erzählt, weiß sie bereits, welchen Ausgang die Dinge in Ault für sie genommen haben, deswegen erhalten auch alle positiven Erlebnisse einen Hauch drohenden Unglücks. Schon als Cross seinen Arm um Lee legt und diese im siebten Himmel schwebt, kann man erahnen, dass die Beziehung zwischen Lee und Cross keinen guten Ausgang nehmen kann.

_Schreibweisen_

Mit unglaublich viel Liebe zum Detail, Fingerspitzengefühl und einem sehr feinen Gespür für Sorgen und Nöte von ganz gewöhnlichen Teenagern deckt Curtis Sittenfeld die kleinen und großen Dramen des Lebens an einer Eliteschule auf. Sittenfeld erzählt uns von Lee, die einfach nur akzeptiert werden möchte und um Anerkennung kämpft, von Dede, die sich verzweifelt an die beliebte Aspeth klammert, um vielleicht einen Teil der Aufmerksamkeit abzubekommen, und wir lernen die stille Sin-Jun kennen, die eines Tages völlig überraschend versucht, sich das Leben zu nehmen.

Curtis Sittenfeld beschreibt das Leben in Ault so lebendig, als wäre man selbst dabei. Stets dringt sie in die Tiefe, nie beobachtet sie die Menschen oberflächlich oder nachlässig. Sie versucht immer, uns die Handlungen und Gedanken der Figuren näher zu bringen und schafft dieses auf hervorragende Weise. Wir können die Mädchen und Jungen sehr gut verstehen, auch wenn sie eigentlich noch so widersinnig handeln mögen. Vor allem Lee wird beim Lesen zu einer guten Freundin. Immer ist sie bemüht, sich möglichst unauffällig zu benehmen, dabei wünscht sie sich so sehr echte Freunde. Ihre Wünsche und Gedanken sind so menschlich, nachvollziehbar und dabei aber auch so verzweifelt, dass man Lee Fiora am liebsten in den Arm nehmen und trösten möchte. Wie gut kann man selbst doch noch die Nöte eines Teenagers nachvollziehen, der um Freundschaft ringt und später vielleicht feststellen muss, dass in entscheidenden Situationen etwas schief gegangen sein muss. Zwischendurch würde man Lee gerne die richtigen Worte einsoufflieren, weil man ihr so sehr ihr kleines bisschen Glück wünscht, aber immer wieder muss man hilflos mit ansehen, dass Lee in ihr eigenes Unglück rennt und sich dabei selbst immer trauriger macht.

Curtis Sittenfeld verleiht in ihrem Debütroman all den Kindern und Jugendlichen eine Stimme, die um Anerkennung kämpfen, aber im Schulalltag – aus welchen Gründen auch immer – nicht bestehen können. Bei diesen Jugendlichen ist es nicht alleine die Pubertät, die für Kummer sorgt, sondern es ist die fehlende Akzeptanz und es sind die fehlenden Freunde. Im Nachhinein überrascht mich Sittenfelds Erfolg in den USA doch ein wenig, da sie Lees Unglück größtenteils an ihrem zu geringen sozialen Status festmacht, der sie an einer Eliteschule automatisch zu einer Außenseiterin werden lässt. Umso erfreulicher aber, dass ein so nachdenklich stimmender Roman seine verdiente Anerkennung erhält.

_Eine Elite unter den Büchern_

„Eine Klasse für sich“ ist nicht nur inhaltlich ein sehr schönes Leseerlebnis, Curtis Sittenfeld überzeugt auch mit ihrem flüssigen und angenehm lesbaren Schreibstil, der es ermöglicht, dass sich die Seiten praktisch von alleine lesen. Was das Buch aber in erster Linie zu einem absoluten Vergnügen macht, ist die gefühlvolle Schilderung Lee Fioras, von der man sich beim Zuklappen des Buches regelrecht verabschieden muss, weil sie einem so ans Herz gewachsen ist. Man freundet sich beim Lesen so sehr mit Lee an, dass man es nicht erwarten kann, endlich zu erfahren, was alles in Lees Schulzeit geschehen ist, das sie zu einem so traurigen Menschen gemacht hat. Curtis Sittenfeld hat mit ihrem Debütwerk einen beachtlichen und überaus lesenswerten Roman vorgelegt, dem man auch hier in Deutschland einen großen Verkaufserfolg wünscht – schwer vorstellbar, dass man von diesem Buch nicht tief berührt werden könnte.

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Sittenfeld, Curtis – Eine Klasse für sich

Mit reichlich Vorschusslorbeeren geht derzeit der Debütroman von Curtis Sittenfeld in Deutschland an den Start. Die |New York Times| kürte „Eine Klasse für sich“ als einen der fünf besten Romane des Jahres 2005. Dass Curtis Sittenfeld bei der |New York Times| aber einen Sympathiebonus haben dürfte, sollte man im gleichen Atemzug vielleicht auch erwähnen, denn Sittenfeld schreibt schon seit ihrem 16. Lebensjahr für diverse Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eben auch für die |New York Times|. Was bleibt also übrig von Curtis Sittenfelds Debüt, wenn man die rosarote Brille der |New York Times| einmal beiseite legt? Ist all der Rummel um die 29-jährige Autorin nur Hype oder steckt mehr dahinter?

Doch worum geht es bei „Eine Klasse für sich“ überhaupt? Der Roman erzählt die Geschichte der harten Highschool-Jahre der vierzehnjährigen Lee Fiora. Lee Fiora, durchschnittliche, amerikanische Mittelschicht, ist in ihrer Kleinstadt in Indiana eines der herausragenden Mädchen ihrer Klasse. Um so härter fällt ihre Ernüchterung aus, als sie mittels Stipendium an ein Ostküsten-Internat wechselt. Eine Welt wie in einer Hochglanzbroschüre: ehrwürdige Backsteingebäude, akkurat geschnittener Rasen, ordentliche, gut gekleidete Schüler, allesamt intelligent, privilegiert und größtenteils gut aussehend – alle außer Lee, wie es scheint.

Schon bald muss Lee begreifen, dass in Ault, dem Ziel ihrer Träume, die Uhren etwas anders ticken. Lee wird schnell zur Außenseiterin, die das Geschehen am Campus beobachtet, ohne sich als Teil davon fühlen zu können. Sie wird sich dessen bewusst, dass ihre Mitschüler so anders sind als sie, dass sie sich schwer tut, sich mit ihrer neuen Umgebung zu arrangieren. Sie schließt nur wenige Freundschaften, und jene, die sich mit Lee anfreunden, sind selbst Außenseiter. Lees Verhältnis zu Mitschülern wie zu Lehrern bleibt kompliziert und auch als Lee eine heimliche Affäre mit dem Schulschwarm Cross Sugarman beginnt, kommt Lee nicht aus ihrem schattenhaften Dasein heraus. Das geschieht erst, als sie einen folgenschweren Fehler begeht …

Sittenfeld beschreibt das bunte Treiben an der Highschool plastisch und lebhaft. Im Fokus all dieser Betrachtungen steht Lee mitsamt ihrem äußerst komplizierten Verhältnis zu ihren Mitschülern und letztlich auch zu sich selbst. Lee war als Vierzehnjährige von der Hochglanzbroschüre beeindruckt, die sie sich vor ihrer Bewerbung in Ault hat zuschicken lassen, und wollte Teil dieser schicken Hochglanzwelt werden.

Dass man seine Wurzeln nicht so einfach abstreifen kann, muss Lee schon bald begreifen. Aus dieser Erkenntnis zwischen versuchtem Anpassen und bewusstem Untertauchen in der Masse entwickelt Lee schon bald eine Strategie der absoluten Unauffälligkeit. Wie gut getarnt sie über den Campus schleicht, ist für den Leser in gewisser Weise schon erheiternd.

Dabei schmunzelt man eben nicht nur über Lees Verhalten, sondern besonders auch über die Beobachtungen, die sie in ihrer selbstgewählten Isolation macht. Lee hat das Treiben auf dem Campus stets genau im Blick. Sie studiert die ungeschriebenen Gesetze der zwischenmenschlichen Dynamik der Privatschule und sucht nebenbei nach ihrem eigenen Platz in dieser Welt – und letztlich auch im Leben.

„Eine Klasse für sich“ ist letztendlich eben auch ein Roman über das Erwachsenwerden. Sittenfeld beschreibt die Tücken der Pubertät und der ersten Liebe, beschreibt den schwierigen Weg vom Jugendlichen zum Erwachsenen und trifft dabei genau den passenden Ton. Der Roman wirkt auf gewisse Weise authentisch und glaubwürdig.

Lee wirkt als Figur außerordentlich plastisch und der Leser fühlt sich nah am Geschehen. Sie ist dabei ungleich sympathischer und wirkt wesentlich unverfälschter als Tom Wolfes Charlotte Simmons in dessen Roman [„Ich bin Charlotte Simmons“. 1883 Sittenfeld versetzt sich so gut in die Highschool-Jahre von Lee hinein, dass man schon fast automatisch nach biographischen Parallelen suchen mag. Wie Sittenfeld die Gedankenwelt ihrer Figuren beschreibt, das fühlt sich eben echt und ungekünstelt an, und genau das macht die Qualität des Romans aus.

Insgesamt betrachtet ist „Eine Klasse für sich“ wirklich unterhaltsame Lektüre. Sie beschreibt das Auf und Ab im Leben, wie es jeder kennt, sie ist mal erheiternd und mal nachdenklich oder gar traurig stimmend und so, wie die Geschichte und die Figuren sich entwickeln, ist es spannend, den weiteren Prozess zu verfolgen. Geschrieben ist der Roman auf eine herzerfrischende und lockere Art. Er lässt sich schnell runterlesen und ist dabei durchgängig unterhaltsam.

Bleibt unterm Strich die Erinnerung an ein Buch, das sich als durchaus lesenswerte Kost entpuppt. Sittenfeld beschreibt mit Herz und einem Augenzwinkern den Entwicklungsprozess ihrer Hauptfigur und weiß damit über die gesamte Romanlänge zu unterhalten. Sie zeigt auf plastische Art, wie es sich anfühlt, langsam erwachsen zu werden, und demonstriert dies anhand einer interessanten, lebensechten Hauptfigur.

Es ist also letztlich nicht alles Hype, was einem so an Lob über dieses Buch zu Ohren kommt, sondern entspricht in gewisser Weise durchaus den Tatsachen, und man kann „Eine Klasse für sich“ dem potenziell interessierten Leser durchaus ans Herz legen. „Eine Klasse für sich“ ist in der aktuellen Literatur zur Thematik dabei eine wesentlich bessere Wahl als Tom Wolfes vergleichbarer Roman „Ich bin Charlotte Simmons“, bei dem gerade auch die Hauptfigur eine gewisse Authentizität vermissen lässt.

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Mario Puzo – Der Pate

Wer wäre geeigneter – quasi als (selbsternanntes) Volkes schlechtes, literarisches Gewissen -, den heiligen Zorn des Blätterwaldes zu entfesseln? Richtig. Die Zeitung mit den vier großen Buchstaben. Okay, diese Idee hatte ursprünglich die |Süddeutsche Zeitung|, der |Springer|-Verlag hat also wie üblich ein erprobtes Erfolgsrezept nur nachgeäfft. In Zusammenarbeit mit dem nicht nur namentlich verwandt-verschwägerten Augsburger |Weltbild|-Verlag erschien die |BILD Bestseller-Bibliothek|. „Der Pate“ ist Band 1 und kostet (wie alle anderen Titel der Reihe auch) moderate 4,99 €.

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Pepper, Kate – 7 Minuten zu spät

Kate Pepper scheint es mit Zahlen zu haben. Nach ihrem Debüt „5 Tage im Sommer“ folgt ihr neues Buch, das den Titel „7 Minuten zu spät“ trägt. Etikettiert ist es als „Thriller“, doch inwiefern dieser Begriff zutrifft, werden wir ja noch sehen …

Wie im Titel angedeutet, kommt die mit Zwillingen schwangere Alice zu spät zum Treffen mit ihrer hochschwangeren Freundin Lauren. Doch Lauren ist nicht da und kommt auch nicht. Alice sucht zusammen mit ihren Freunden alle Krankenhäuser ab, in der Hoffnung, dass die Wehen vielleicht frühzeitig eingesetzt haben. Allerdings werden sie nicht fündig. Jedenfalls nicht in einem Krankenhaus, denn wenig später wird Lauren tot aus dem Gowanus-Kanal gezogen. Sie wurde erschossen und das Baby aus ihrem Bauch geschnitten. Es besteht also eine Möglichkeit, dass das Kind, die kleine Ivy, noch lebt. Alice, ihre Freunde und die Polizeibeamtin Frannie machen sich auf die Suche. Alice hat dabei nicht nur mit ihrer Schwangerschaft und einem übervorsichtigen Vater zu kämpfen, sondern auch mit ihrem Vermieter Julius Pollack, der die Wohnung der vierköpfigen Familie Halper gekündigt hat und auch vor Repressalien nicht zurückschreckt …

Thriller also. Nun ja. Dann muss wohl das neue Genre „Frauen-Thriller“ erfunden werden, denn um nichts anderes handelt es sich bei „7 Minuten zu spät“. Schuld daran ist Peppers Erzählstil und nicht etwa die Tatsache, dass die Protagonistinnen nicht nur weiblich, sondern dank Schwangerschaft sogar über-weiblich sind. Vielmehr bettet Pepper ihren Roman in dem Umfeld der „Mädchengespräche bei Latte Macchiatto“-Bücher ein, ohne dem weiblichen Geschlecht jetzt zu sehr auf die Füße treten zu wollen. Die Protagonisten sind liebende Familienmütter mit wenig Tiefgang und noch wenigeren schlechten Charaktermerkmalen, wenn selbige überhaupt erkennbar sind. Ihr Leben findet zum Großteil auf einer bonbonrosa Wattewolke statt und wird nur durch den Mord an ihrer Freundin überschattet. Natürlich trauern sie, jedoch können sie den Leser damit kaum berühren, zu banal wirkt ihre Trauer.

Ein wichtiges Merkmal von Thrillern ist die Spannung. Allerdings findet man davon nur sehr wenig in Kate Peppers Zweitling. Die Kriminalhandlung – die Suche nach Laurens Mörder und ihrem Baby – findet nur sehr am Rande statt. Zwar ist die Kriminalhandlung als Gedanke in Alices Kopf immer präsent, aber das macht noch lange keinen Thriller. Aktionstechnisch unternimmt Alice nämlich kaum etwas in diese Richtung – die Elemente der Geschichte, die Spannungspotenzial haben, werden also nur gestreift. Stattdessen hält sich die Autorin mit alltäglichen Kleinigkeiten auf, wie dem Geschäftsprinzip von Alices Schuhladen oder dem Zustand ihres Fruchtwassers. Ein weiterer Beweis für die Zugehörigkeit zur Frauenromankaste.

Zu der minimalen Spannung gesellen sich einige, an den Haaren herbeigezogene Szenen. Der Vermieter Julius Pollack zum Beispiel wirkt wie eine Karrikatur in einem sonst seriösen Buch. Während er auf der einen Seite seine Mieter triezt, hat er auf der anderen natürlich ein dunkles Geheimnis, das allerdings weniger dunkel als lächerlich wirkt.
Ebenso lächerlich ist die Auflösung der so genannten Kriminalhandlung. Ich habe selten etwas an den Haaren Herbeigezogeneres gelesen. Hier hängt fast jedes Rädchen im Getriebe. Die sehr unglaubwürdige Auflösung hinterlässt außerdem offene Fragen und kommt sehr überraschend, da vorher nur wenige Bröckchen an den Leser verfüttert wurden, die eine Spur zu diesem Ende gelegt hätten.

Der Schreibstil fügt sich nahtlos in die vorhergehende Kritik ein. Seicht und nicht besonders anspruchsvoll. „Mädchengespräche bei Caffè Latte“ eben. Keine Ich-Perspektive, sondern Alice in der dritten Person und immer schön weich ohne negative Gedanken oder gar Vulgärausdrücke. Bringt wenig Freude, tut aber auch nicht weh.

Bei „7 Minuten zu spät“ handelt es sich um ein kleines Schaf im Wolfspelz. Oder soll ich Wölfin sagen? Der so genannte Thriller entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Frauenlektüre mit thrillerähnlichen Elementen, Spannung ist kaum spürbar und insgesamt ist der Roman sehr oberflächlich. Und eben doch irgendwie ein bisschen wie ein Buch von Ildikó von Kürthy.

|Zuerst erschienen 2005 bei ONYX/Penguin, New York, unter dem Titel „Seven Minutes to Noon“
2006 als Taschenbuch bei Rowohlt
Übersetzt von Theda Krohm-Linke
348 Seiten|

Welsh, Louise – Kugeltrick, Der

Die preisgekrönte britische Autorin Louise Welsh veröffentlicht mit „Der Kugeltrick“ ihren nunmehr dritten Roman und wird damit voraussichtlich ihre Erfolgsgeschichte fortsetzen. Ihre Bücher wurden bislang in 17 Sprachen übersetzt und bereits ihr Debütroman „Dunkelkammer“ erhielt mehrere Preise. Dieses Mal begleiten wir den Illusionisten und Magier William Wilson auf seiner Tour durch Europa …

_London_: In der englischen Metropole London nimmt die Geschichte um den Zauberer William Wilson ihren Lauf, hier tritt er wieder einmal in einem abgehalfterten Theater im Vorprogramm einer „erotischen Tanzgruppe“ auf. Bei seinem denkwürdigen Auftritt in London trifft es ihn besonders hart, denn er spielt den Anheizer für zwei Striptease-Tänzerinnen, die auf dem Abschiedsabend eines Polizeibeamten für Stimmung sorgen sollen. Williams Auftritt läuft mäßig, er fasst sich kurz und hofft, noch unbescholten von der Bühne zu kommen, doch hinter der Bühne wartet ein weiterer Auftrag auf ihn: Er soll dem pensionierten Beamten einen Umschlag aus dessen Anzugsjacke entwenden, wofür ihm ein ordentlicher Batzen Geld winkt, der auf einen Schlag Williams Finanzkrise beenden könnte. So wundert es nicht weiter, dass ihm auch dieser Auftrag gelingt. Unbemerkt klaut er den besagten Umschlag und bringt ihn zu seinem Auftraggeber, doch dann geht plötzlich alles schief, die beiden werden bei der Übergabe gestört und William flieht mit dem ominösen Umschlag.

_Berlin_: William kennt nur einen Wunsch: weg aus England! Und dieser Wunsch wird ihm tatsächlich erfüllt, als ihm sein Agent ein Engagement in der deutschen Hauptstadt besorgen kann. Dort soll William Wilson im „Spinnenetz“ auftreten, einem schäbigen Theater, wenn auch einem mit einem ganz eigenen Charme. Dort angekommen, verliebt sich William Hals über Kopf in die Freundin eines eingebildeten Muskelprotzes und muss erkennen, dass er auch hier zusammen mit erotischen Tänzern auf der Bühne stehen soll. Schon Williams erster Auftritt beginnt katastrophal, seine Zuschauer sind gelangweilt und warten ungeduldig auf den nächsten Showact, bis William eine Assistentin aus dem Publikum holt und dabei Sylvie kennen lernt. Noch weiß William allerdings nicht, wie sehr diese Begegnung sein Leben verändern wird …

_Glasgow_: Hier treffen wir auf William nach all den Geschehnissen, er lebt auf der Straße und besäuft sich jeden Abend besinnungslos. Er ist verzweifelt und heruntergekommen. Eines Abends schläft er neben einem Penner unter einer Brücke ein und bemerkt dabei gar nicht, dass dieser Penner kurz zuvor brutal ermordet wurde. Als William unsanft von Polizeibeamten geweckt wird, ahnt er, dass ihm neues Unheil droht …

In diesen drei europäischen Schauplätzen hat Louise Welsh ihre Kriminalgeschichte rund um den Zauberer William Wilson angesiedelt. Die Geschichte springt häufig zwischen den einzelnen Handlungsorten und damit auch in der Zeit hin und her. Schnell merkt der Leser, dass die Geschichte in London ihren Anfang genommen hat und in Glasgow enden wird. Berlin schließlich stellt eine Zwischenstation dar, in der allerdings ebenfalls ereignisreiche Dinge geschehen. Zunächst lassen sich die Ereignisse nicht eindeutig in die richtige Reihenfolge bringen, was jedoch auch die Spannung unweigerlich ansteigen lässt, da der Leser noch nicht ahnen kann, welche Episode genau zu Williams Verfall beigetragen hat. Die erste Vermutung erweist sich deswegen erst einmal als falsch, wie der Leser sehr spät bemerken wird.

In eindrucksvollen und ergreifenden Worten schildert uns Louise Welsh einen Ich-Erzähler, der sich mehr oder eher weniger erfolgreich als Illusionist und Mentalist verdingt, dabei aber schonungslos zu verstehen gibt, dass er auch nicht zur oberen Liga der Zauberer gehört und eigentlich eher in den kleinen Zaubertricks und Kartenkunststückchen gut ist. Im Laufe der Geschichte erleben wir jedoch eine erstaunliche Wandlung mit, denn während William anfangs zwar arm und recht erfolglos auftritt, hat er in Glasgow bereits mit seinem Leben abgeschlossen und teilt dort lieber sein Dosenbier mit irgendwelchen Obdachlosen. In schonungslosen Beschreibungen wird uns dieser Verfall näher gebracht:

S. 149: |“Trotz aller Warnungen war Alkohol offenbar ein ziemlich langsamer Killer. Kein Vergleich zu einem Messer im Bauch oder einer Kugel im Kopf. […] In der Taille war ich schon ziemlich auseinandergegangen. Zwischen meinen Fingern war eine Schuppigkeit, die nachts mehr juckte. Meine Haut hatte die breiige Blässe von Häftlingen nach einem halben Jahr Knast. Kosmetikartikel wie Deodorant und Rasierwasser hatte ich aufgegeben, wie auch meine Kontaktlinsen. Die Brille machte mich gleich noch drei Jahre älter, obwohl sie für meine derzeitigen Verhältnisse fast einen Hauch zu modisch war. Ich überlegte, ob ich mir nicht eine neue besorgen sollte, eine, die nicht so deutlich signalisierte, dass ich ein Mann war, der bessere Zeiten gekannt hatte. Mein Haar war auch länger geworden. Manchmal kam es zwei Wochen am Stück nicht mit Shampoo in Berührung, und Festiger und Gel und den ganzen Kram brauchte ich nicht.“|

Auch in zahlreichen anderen Situationen beweist Louise Welsh ihr überragendes Erzähltalent und ihre genaue Beobachtungsgabe. Viele Kleinigkeiten schmücken ihre Erzählung aus, die uns bei den Geschehnissen ganz nah dabei sein lassen, weil uns selbst das winzigste Detail nicht vorenthalten wird. Insbesondere in der Darstellung des Protagonisten aus dem Kugeltrick geht Welsh schonungslos und mit viel Liebe zum Detail zu Werke. Der Leser kann ihn förmlich auf der Bühne stehen und zaubern sehen. Allerdings weckt er eher Mitleid als Sympathien, weil er einfach zu tolpatschig und ohne Aussicht auf Erfolg zu Werke geht.

Doch die wunderbaren Beschreibungen sind nicht das Einzige, was diesen Kriminalroman kennzeichnet, denn umrahmt wird die Erzählung durch eine mysteriöse Kriminalgeschichte, die mit dem Diebstahl des geheimnisvollen Umschlags beginnt. Zunächst passiert dieser Teil der Geschichte ganz nebenbei, William denkt gelegentlich an den Umschlag zurück, den er zur Aufbewahrung an seine Mutter geschickt und sie damit wahrscheinlich in große Gefahr gebracht hat. Doch mit fortschreitender Zeit beginnt William Nachforschungen anzustellen, er öffnet den Umschlag und fängt an, Fragen zu stellen und darauf Antworten zu suchen. Wir begleiten ihn also auch auf seinen Ermittlungen und kommen mit ihm gemeinsam der Lösung des Geheimnisses auf die Spur.

Was aber hat der Kugeltrick mit all dem zu tun? Dies ist wiederum eine weitere Episode, die Teil des Buches ist. Der Kugeltrick ist ein sehr gefährlicher Zaubertrick, den William zusammen mit seiner Assistentin Sylvie auf der Bühne vorführt. Er ist dabei um einiges schwieriger und riskanter als der berühmte Trick, in dem Sylvie vor den Augen der Zuschauer durchgeschnitten und mit Messern aufgeschlitzt wird. Welche Rolle aber genau der Kugeltrick spielt, der sich während der Lektüre immer weiter aus den Gedanken der Leser stiehlt, um dann am Ende ganz plötzlich wieder aufzutauchen, das muss wohl jeder selbst herausfinden.

Am Ende lässt sich festhalten, dass Louise Welsh mit „Der Kugeltrick“ ein eindrucksvoller, aber doch auch ganz anderer Kriminalroman gelungen ist. Es geht nicht so sehr um eine vertrackte Mordermittlung, als vielmehr um William Wilsons Spurensuche und Vergangenheitsbewältigung. Die Kriminalgeschichte kann hierbei allerdings nicht ganz so sehr überzeugen wie die ausgefeilten Beobachtungen und Beschreibungen der Autorin, die uns alle Situationen so bildlich vor Augen führen, als säßen wir selbst im Publikum. „Der Kugeltrick“ ist ein Roman für Buchfreunde, die keine Effekthascherei brauchen und die sich gerne mit ihren Protagonisten auch in ein schummeriges und schmuddeliges Milieu begeben, um dem Ich-Erzähler bei seinem persönlichen Verfall zuzusehen. Als Charakterstudie, die sich herrlich lesen lässt, funktioniert der vorliegende Roman sehr gut, mit Autoren wie Henning Mankell kann und will es Louise Welch jedoch nicht aufnehmen. Wer also lieber eine blutige Mordserie miterleben will, sollte auf den nächsten Schwedenkrimi warten, alle anderen Buchfreunde sind mit Louise Welsh jedoch hervorragend bedient.

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Ellis, Bret Easton – Glamorama

An Bret Easton Ellis scheiden sich gemeinhin die Geister. Für die einen ist er ein brillanter Satiriker, der ungeschönt und auf seine berühmt-berüchtigte knallharte Art die heutige Gesellschaft karikiert, während andere sein Werk abstoßend finden und die explizite Darstellung von Gewalt und Sex rügen. [„American Psycho“, 764 von vielen als Kultroman verehrt, stellt den unumstößlichen bisherigen Höhepunkt im Schaffen des Bret Easton Ellis dar. An diesem Werk wird alles gemessen, was Ellis davor und danach zu Papier brachte – und kann dem Vergleich meist nicht ganz standhalten.

„American Psycho“ ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Buch, das seinesgleichen sucht. Hat Ellis es erst einmal geschafft, den Leser mit seiner Erzählart in den Bann seiner höchst eigenwilligen Figuren zu ziehen, reißt er ihn mit, auf eine geradezu halsbrecherische Achterbahnfahrt, die man so schnell nicht wieder vergisst. Eine Leseerfahrung der besonderen Art, die man nicht so oft macht. Ganz besonders ans Herz gelegt sei dem potenziell interessierten Leser an dieser Stelle auch ausdrücklich die hervorragende Hörbuchfassung mit Moritz Bleibtreu. Aber genug von „American Psycho“. Das ist eine andere Geschichte.

„Glamorama“ ist Ellis‘ 1998er Werk, das das schwere Erbe von „American Psycho“ (erschienen 1991) anzutreten versucht. Im Zentrum von „Glamorama“ steht Victor Ward, „semi-prominentes Model, Nightlife-Profi und angehender Nachtclub-Besitzer“ in New York. Victor lebt mitten in der mode(über)bewussten, selbstverliebten und prominenzbesessenen Szene Manhattans und begründet seine eigene Prominenz und mediale Existenz eher darauf, dass er mit dem bekannten Supermodel Chloe Byrnes zusammenlebt.

Victor führt ein Leben wie jeder andere C-Prominente auch: Er kämpft jeden Tag um Geld und Aufmerksamkeit, versucht sich möglichst gut selbst zu inszenieren. Victor versucht, so gut es geht, mit der Hochglanzwelt Manhattans zu verschmelzen. Er mischt sich unter reale Celebrities (von denen es im Buch an jeder Ecke nur so wimmelt), verstrickt sich in Lügengeschichten und Affären und lebt ein Leben zwischen Gras und Xanax, zwischen Armani und Ralph Lauren.

Als sich mit dem Abend von Victors glamouröser Cluberöffnung die Ereignisse zu überschlagen beginnen, gibt es für ihn nur noch eine Chance: Er nimmt einen mysteriösen Auftrag an, der ihn nach London führt. Ehe Victor sich versieht, steckt er auch schon mittendrin in einem düsteren Sumpf aus Verbrechen und Gewalt – Victor scheint an eine Terrorgruppe geraten zu sein, deren Mitglieder unter dem Deckmantel ihrer Modeltätigkeit ihre Terrorakte verüben. Hotels werden gesprengt, Cafés fliegen in die Luft und schon bald muss Victor erkennen, dass er in der Falle sitzt und um sein eigenes Leben fürchten muss …

Mit „Glamorama“ dürfte Bret Easton Ellis, wie schon mit seinen vorangegangen Romanen, wieder seinen Ruf als Enfant terrible der amerikanischen Literaturszene bestätigen. „Glamorama“ ist ein Werk der krassen Gegensätze. Die hochglanzpolierte Welt Manhattans, die Oberflächlichkeit der Menschen und ihr Hang zur Selbstinszenierung bilden den krassen Gegenpol zu der terroristischen Gewalt, mit welcher der Leser vor allem im zweiten Buchteil konfrontiert wird.

Ellis‘ Roman macht eine krasse Kehrtwende. Präsentiert sich der Roman anfangs noch als Gesellschaftssatire, in der das realitätsfremde Leben der High Society aufs Korn genommen wird, so entwickelt sich der Roman mit Victors Übersetzen nach Europa im zweiten Buchteil zu einem knallharten Thriller. Als Leser muss man offen bleiben, darf sich Ellis‘ drastischen atmosphärischen Wechseln nicht verschließen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.

Die Gegensätzlichkeit der beiden unterschiedlichen Welten, durch die Victor Ward wandelt, ist dabei im Grunde nur ein scheinbarer Bruch. Ellis spielt mit literarischen Bildern und Puzzlestückchen, die sich durch den ganzen Roman ziehen und das Gefüge der unterschiedlichen Genreschichten zusammenhalten. Bestimmte Motive und Situationen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman.

Doch einen gewissen Bruch kann Ellis trotz dieser kleinen literarischen Spielereien dennoch nicht verschleiern. Der spielt sich allerdings auf einer etwas anderen Ebene ab. Ist der erste Teil des Romans im Grunde eine Geschichte ohne vorangetriebene Handlung, so weist der zweite Teil doch einen deutlich wahrnehmbaren Plot auf. Die erste Romanhälfte ist mehr eine Schilderung des Lebens des Ich-Erzählers Victor Ward, die in ihrer detailgetreuen Wiedergabe sämtlicher Details seines Tagesablaufs einen gewissen tagebuchartigen Charakter aufweist. Genau in diesem Stil hat Ellis schon mit „American Psycho“ brilliert. Dem zweiten Teil des Romans stülpt Ellis dann aber einen deutlich vernehmbaren Plot über. Er entwickelt eine komplexe Thrillerhandlung, die für den Leser eine echte Herausforderung ist.

Die gesamte zweite Romanhälfte entwickelt sich zunehmend sonderbarer und obskurer. Ellis treibt ein perfides Spiel mit dem Leser um Schein und Realität. Er bringt Elemente in die Handlung ein, die immer wieder die Sichtweise in Frage stellen. Was ist Realität, was ist Inszenierung? – Diese Frage durchzieht den zweiten Romanteil auf jeder Seite und auch zum Ende hin werden nicht alle sich ergebenden Fragen wirklich zufrieden stellend geklärt. Vor diesem Hintergrund wirkt die eingearbeitete Thrillerhandlung irgendwie sonderbar konstruiert und sie will sich nicht so ganz stimmig in das Gesamtbild einfügen.

Auch das Ende der Geschichte bleibt merkwürdig diffus. Es kommt einerseits unerwartet und bleibt dabei gleichermaßen rätselhaft. Rein intuitiv schlägt man glatt noch mal eine Seite weiter, um festzustellen, ob die Geschichte nicht vielleicht doch noch weitergeht, nur um dann mit einem Fragezeichen auf der Stirn festzustellen, das die Geschichte nicht so recht zu Ende geht, sondern mehr oder weniger einfach aufhört. Das ist nach über 800 Seiten dann doch etwas unbefriedigend.

Doch trotz dieser Schwächen kann auch „Glamorama“ wieder zeigen, womit Ellis am meisten glänzt: Es sind die Beschreibungen der illustren Welt der New Yorker High Society. Ellis würzt seine Detailtreue in den Schilderungen des Alltags der Promis und Semi-Promis mit einer großen Portion Ironie, die die Leere hinter den schicken Fassaden der Reichen und Schönen entlarvt. Ellis rechnet auf diese Weise mit den Auswüchsen der modernen Gesellschaft ab, hinterfragt ihr Streben nach Geld, Macht und Ruhm und ist dabei schonungslos direkt und ehrlich.

Der Leser hat in dieser Konsequenz einiges zu schlucken. Ellis‘ Schilderungen sind drastisch und teils durchaus schwerverdaulich. Sex und Gewalt werden bis ins letzte winzige Detail dargestellt, ohne etwas zu beschönigen, auszulassen oder zu verstellen. Jede neue Bombenexplosion lässt Ellis den Leser genauso in Zeitlupe mitverfolgen wie das Sterben der Opfer, und das erfordert mitunter schon mal starke Nerven und einen unempfindlichem Magen. Ellis ist eben nichts für allzu zart besaitete Gemüter.

Schon bei „American Psycho“ hat Ellis sich weitestgehend auf seine Hauptfigur konzentriert. Alles, was passiert, steht in direktem Bezug zu Pat Bateman, bei ihm läuft alles zusammen und von ihm geht alles aus. „Glamorama“ weist eine ähnliche Konzentration auf die Hauptfigur auf, dennoch hat man diesmal das Gefühl, dass andere Figuren etwas zu oberflächlich und diffus skizziert bleiben. Dadurch, dass Ellis die Handlungsebene im zweiten Romanteil ausbaut, müssten eigentlich gleichzeitig auch die übrigen agierenden Figuren etwas mehr Tiefe und Profil bekommen, aber genau diese Profilierung fehlt am Ende irgendwie.

Erstaunlich lieblos wirkt übrigens die 2006er Taschenbuchausgabe des |Heyne|-Verlags. Besonders im ersten Romandrittel stolpert man dermaßen oft über Satz- und Schreibfehler, dass die persönliche Fehlertoleranz auf eine harte Probe gestellt wird. Doch fast, als wäre der Lektor zwischendurch zum Optiker gegangen, bessert sich dies im Laufe des Buches. Zum Optiker gehen sollte vielleicht auch mal der Grafiker, der das Coverartwork entworfen hat, denn das sieht mit seiner quietschigen 3D-Schrift so aus, also hätte sich der Praktikant in der Kaffeepause heimlich am PC seines Chefs zu schaffen gemacht. Aber genug gelästert für heute …

Bleibt abschließend festzuhalten, dass „Glamorama“ nicht an die Wucht und Größe eines Romans wie „American Psycho“ heranreicht. Ellis‘ Skandalwerk bleibt eben immer noch unerreicht. „Glamorama“ ist vielschichtig, wirkt aber dennoch teilweise nicht ganz ausgewogen. Die Auflösung der Geschichte ist in gewissen Teilen unbefriedigend und der Roman bleibt somit am Ende auch ein Stück weit rätselhaft und undurchdringlich.

Fazit: „Glamorama“ kann Ellis‘ Ruf als erstklassigem Satiriker nichts anhaben, aber es ist dennoch absolut kein Meisterwerk und wird wohl niemals so richtig aus dem Schatten von „American Psycho“ heraustreten können. Es bleibt die Erinnerung an ein Werk, das mit der Bürde eines vorangegangenen „Kultromans“ deutlich spürbar zu kämpfen hat.

Millet, Catherine – sexuelle Leben der Catherine M., Das

Es scheint, als ob es modern sei, sein Sexualleben der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Bereits vor der „sizilianischen Lolita“ Melissa P. hat die französische Kunstkritikerin und Chefredakteurin einer Kunstzeitschrift Catherine Millet ihren Rückblick auf die wilden Jahre mit dem Titel „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ veröffentlicht.

Da ich das Buch im Kontext mit den Werken der kleinen Italienerin las, kam ich nicht umhin, beide zu vergleichen. Ist das gerecht? Schließlich bestehen beinahe vierzig Jahre Altersunterschied zwischen den beiden und dementsprechend gesetzter und weiser kann Madame Millet über ihre Eskapaden schreiben.

Was allerdings nicht zwangsläufig bedeuten soll, dass ihr Buch spannender ist. Inhaltlich hat es beinahe noch weniger zu erzählen als „Mit geschlossenen Augen“, wo wenigstens etwas Abwechslung vorkommt. Der Fokus von Catherine Millets Sexleben liegt hauptsächlich auf (analem) Verkehr in allen möglichen Varianten und Orten mit einer variierenden Anzahl von Männern und Frauen.
Glücklicherweise erzählt sie nicht chronologisch, sondern nach Themen geordnet, was immerhin ein wenig Abwechslung schafft. Außerdem erzählt sie mit einer angenehmen Distanz, die es ihr erlaubt, subjektiv zu werten und zu kommentieren. Es findet sehr viel Selbstreflexion statt, ohne selbstzerstörerisch oder unaufrichtig zu wirken. Im Gegenteil. Millet erzählt ohne Scham und Reue von ihrem früheren Sexualleben und wirkt trotz des expliziten Inhalts reif und selbstbewusst.

Dazu trägt sicherlich bei, dass Millet sich nicht auf die bloße Beschreibung der Szenen verlässt, sondern sie teilweise in einen allgemeineren Kontext setzt, mit der Meinung der Gesellschaft vergleicht oder gar eine kleine psychologische Selbstanalyse wagt. Wie gesagt, das trägt dazu bei, dass „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ sehr interessant wird, aber auch sehr sympatisch. Manchmal hat man eher das Gefühl, persönlich ein Interview mit der Autorin zu führen als eine Autobiografie zu lesen. Einige Stellen werden fast schon philosopisch, wenn sie zum Beispiel darüber redet, was Paarbeziehungen in ihren Augen ausmacht.

|“Aus diesen Notizen ziehe ich zwei Schlüsse. Erstens bringt ein jeder in seine Paarbeziehung seine eigene Begierde und seine Fantasien ein, und beide verbinden sie in gemeinsamen Angewohnheiten. Dabei verändern sie sich, passen sich einander an, je nach der von jedem Einzelnen erwarteten Konkretisierung übertreten sie die Grenze zwischen Traum und Realität, ohne an Intensität zu verlieren.“| (Seite 151)

Wie man sieht, erzählt Millet in einer geradlinigen, nüchternen Sprache, die weniger wie Prosa denn manchmal sogar wissenschaftlich wirkt. Das verstärkt das Gefühl der Distanz natürlich noch. An der Art, wie sie mit der Sprache umgeht, ohne dabei hochgestochen zu klingen, aber trotzdem ein hohes Niveau zu halten, erkennt man, dass sie sich durch ihre Arbeit als Chefredakteurin damit auskennt, den Leser zu unterhalten, ihn zu fordern, aber nicht zu überfordern. Ich empfand diesen Schreibstil als sehr gelungen, da er leicht verständlich, aber dennoch intellektuell ist.

Das Buch wurde bei seinem Erscheinen heiß diskutiert. Millet selbst gibt im Vorwort einen Einblick in die Diskussionen, die sie auslöste. Millet als „Schlampe“ oder „Nymphomanin“ (Seite 16) zu bezeichnen, kann ich nicht so ganz nachvollziehen, denn wer dermaßen distanziert über seine Erlebnisse schreibt, wirkt alles andere als vulgär, sondern vielmehr intelligent. Eben gerade die Selbstreflexion und die nüchterne Erzählweise bar aller reißerischen Beschreibungen lassen „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ eher zu einem akademischen Bericht als zu Pornografie werden.

Doch auch wenn ich das Buch in diesem Bezug in Schutz nehme – das tröstet nicht darüber weg, dass viele Wiederholungen und nur wenig konkreter Inhalt es stellenweise zu einem zähen Leseerlebnis werden lassen. Selbst der sympathische Schreibstil hilft da nicht immer. Trotzdem liest sich „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ wesentlich angenehmer als die Sexbeichte unserer kleinen „sizilianischen Lolita“ – und hat auch wesentlich mehr Seiten!

Edmondson, Elizabeth – Lady Helenas Geheimnis

|Lake District, Nordengland im Jahr 1936. Eigentlich wollte sich Alix nie wieder unter die Fuchtel ihrer herrischen Großmutter begeben, die ihr die Jugend zur Hölle gemacht hat. Doch nun ist bald Weihnachten, Alix‘ Herz wurde gerade gebrochen und London erscheint ihr täglich trister und unerträglicher. Als sie dann hört, dass im Norden die Seen zufrieren und man dort Schlittschuh laufen kann ist, gibt es kein Halten mehr. Alix beschließt heimzufahren – auch weil sie endlich das Rätsel um den Tod ihrer Mutter lösen will. Lady Helena kam ums Leben, als Alix acht Jahre alt war und seitdem darf ihr Name im ehrwürdigen Gemäuer von Wyncrag kaum mehr erwähnt werden. Zu Hause angekommen, stößt Alix wieder auf eine undurchdringliche Mauer des Schweigens. Alix ist enttäuscht. Nicht einmal ihr vergötterter Zwillingsbruder Edwin will ihr helfen – er ist viel zu sehr in die aus Wien geflohene Musikerin Lidia verliebt, um Augen und Ohren für ein fünfzehn Jahre altes Geheimnis zu haben. Gut, dass Alix wenigstens in dem eleganten Weltmann Hal, der auf dem benachbarten Landsitz zu Besuch ist, einen Verbündeten findet. Die beiden jungen Leute ahnen nicht, dass ihre Wahrheitssuche auch einige böse Geister der Vergangenheit heraufbeschwört und ihr harmloses Detektivspiel ungeahnte Folgen hat …|

_Die Autorin:_

Ihr wundervoll beschreibender Stil ist Elizabeth Edmondson in die Wiege gelegt, denn die Autorin kommt aus einer Schriftstellerfamilie. Und nicht nur das. Ihr Roman spielt vor den Kulissen der eigenen Kindheit, in der sie die Ferien im Haus ihrer Großeltern an den Seen von Westmoreland verbrachte. Durch die Geschichten ihres geliebten Großonkels und Schnappschüsse vom winterlichen Treiben auf den zugefrorenen Seen des Lake District wurde Elizabeth Edmondson zu »Lady Helenas Geheimnis« inspiriert. Sie lebt heute in Italien und England, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

_Die Übersetzerin:_

Elvira Willems, geboren 1961, studierte Germanistik und Komparatistik (M.A.). Sie ist als Lektorin, Übersetzerin, Sachbuch-Autorin und Krimi-Herausgeberin tätig.

_Rezension:_

Elizabeth Edmondson ist es mit „Lady Helenas Geheimnis“ gelungen, den schmalen Grat zwischen Unterhaltung und Familiensaga mit Lokalkolorit und Zeitgeschehen zu beschreiten. Auf über 550 Seiten schildert sie unterhaltend und kurzweilig die Famliengeschichten der Richardsons auf Wyncrag und der Grindleys auf Grindley Hall. Zwei Familien und Anwesen, die miteinander verstrickt sind. Dabei wird die Geschichte der Richardsons von dem dunklen Schatten der Vergangenheit überdeckt.

Die Handlung wird von interessanten und starken Frauen geprägt. Da ist Alix Richardson, die zwar beruflich erfolgreich ist, aber ihre innere Mitte noch nicht gefunden hat. Sie steht im „Clinch“ mit der eigentlich starken Frau des Clans: ihrer Großmutter, die auch der Grund dafür war, dass Alix einige Jahre nicht die Weihnachtstage im Kreise der Familie auf Wyncrag verbrachte. Dabei verspürt Alix längst Sehnsucht nach ihrem Zwillingsbruder Edwin und ihrer jüngeren Schwester Perdita sowie danach, ihrem Leben, das einer sinnlosen Abfolge von Partys und Nachtclub-Blasiertheit gleicht, den Rücken zu kehren und ihrem Wunsch nach Wärme und einfacher, aufrichtiger Freundschaft nachzugeben. Hinzu kommt, dass Alix die verführerische Sentimentalität der Feiertage verspürt, der sie dann auch nachgeht und nach Wyncrag reist. Dort findet sie alles unverändert vor: Ihre tyrannische Großmutter beherrscht immer noch das Familiengeschehen. Am schlimmsten trifft es Alix‘ kleine Schwester Perdita, die von der Großmutter ständig bekrittelt und gedemütigt wird. Einzig Alix‘ Großvater scheint sich in seiner ruhigen Art gegen seine herrische Frau zu behaupten.

Alix‘ Zwillingsbruder Edwin hingegen liebt Lidia, eine Wiener Emigrantin, die ihn nicht so recht „erhören“ will. Zu der Zeit ist Alix noch der Meinung: |Die Liebe ist die Hölle, man sehnt sich so danach, und wenn es dann schief läuft, gibt es nichts auf der Welt, was bitterer schmeckt.| Darüber hinaus verspürt sie Eifersucht, als sie von Edwins Liebe zu der schönen Wienerin erfährt, die sich für Alix‘ Empfinden zwischen die Geschwister drängt, die als Zwillinge eine besondere Nähe verbindet.

Das Geheimnis des Todes überschattet die Familie Richardson. Da ist Jack, Alix‘ verstorbener Onkel, dem der Ruf anhaftet, ein rücksichtsloser Nichtsnutz und Frauenheld, der sich auch schon mal mit Gewalt das nahm, wonach ihn gelüstete, gewesen zu sein. Ebenso Alix‘ zu Tode gekommene Eltern und jüngste Schwester. Besonders den Unfalltod ihrer Mutter, deren Schönheit immer noch in aller Mund ist, umgibt ein Mysterium, dem Alix endlich auf die Spur kommen will. Ein Vorhaben, das bei ihrer Großmutter auf harsche Ablehnung stößt und in Alix die Frage aufwirft, was Lady Richardson zu verbergen hat.

Alix begegnet nun auch Hal Grindley wieder, dem Wechselbag seiner Familie, der mehr ist, als er zu sein scheint. Als junger Mann war er unsterblich in Alix‘ Mutter verliebt. Nun steht er Alix gegenüber und verspürt ambivalente Gefühle in sich – wie auch sie. Beide schwankten zwischen Interesse und Ablehnung füreinander, wobei die Sympathie allmählich wächst. Doch Alix verhält sich zögerlich, da sie weiß, |dass es nicht simpel ist, sich zu verlieben und danach bis an das Lebensende glücklich miteinander zu leben|.

Auch Hal bemerkt in seiner Familie Zerrüttung. Der eine oder andere ist dort in einer unglücklichen Ehe gefangen, die nur die Angst vor dem sozialen Stigma zusammenhält. Einzig Hals pfiffige siebzigjährige und verwitwete Tante Daphne bringt Leben und frischen Wind in das starre von Kalkül durchzogene Gefüge der Grindleys. Sie lebt im Ausland und schwärmt (zu Recht): |“Ich lebe im Ausland. Um gelenkig zu bleiben gibt es nichts Besseres als Wärme und Sonnenschein. Das Licht ist das großartigste Geschenk des Südens.“| Darüber hinaus gibt sie offen zu, sich gerne in der Gesellschaft junger Männer aufzuhalten, weil diese sie daran erinnern, wozu das Leben da ist.

Eines der Nebenthemen des Romanes ist auch der Faschismus, dessen Anziehungskraft aus Deutschland nach England dringt, weil er den Hoffnungslosen Hoffnung bietet. Das Hauptaugenmerk hat die Autorin aber eindeutig auf die Charaktere gelegt, was ihr merklich gelungen ist.

So stehen über allem die ungeklärten Fragen, was es mit Jack Richardsons Tod auf sich hatte, wie es zu dem mysteriösen Unfalltod von Alix‘ Mutter und jüngerer Schwester und ihrem Vater kam und was es mit jenem mysteriösen Jago Roberts auf sich hat, der sich im Ort einquartiert. Die Antworten darauf sind überraschend und erschreckend zugleich!

_Fazit:_ Ein spannender, liebevoll detaillierter Unterhaltungsroman, der einen Einblick in die englische Gesellschaft 1936 bietet und den ich wärmstens empfehlen kann!

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P., Melissa – Dich lieben

Zwei Jahre hat sich Melissa P. Zeit gelassen, um den Nachfolger zu ihrem heiß diskutierten, erotischen Tagebuch [„Mit geschlossenen Augen“ 2733 zu schreiben. Nun ist es da und in Anbetracht des jungen Alters der Autorin – sie wird dieses Jahr einundzwanzig – stellt man sich die Frage, ob sich „Siziliens Lolita“ weiterentwickelt hat.

„Dich lieben“ ist nach eigenen Angaben ebenfalls autobiografisch, aber nicht in Tagebuchform. Stattdessen präsentieren sich die kurzen, abgehackten und dadurch zusammenhangslos wirkenden Kapitel als Briefe an ihre Mutter. Allerdings dauert es seine Zeit, bis man herausfindet, wer das Du im Buch überhaupt ist. Erst zur Hälfte wird der Mutter-Tochter-Bezug klar, was dem Buch nicht unbedingt gut tut. Zu verwirrend sind die kurzen Episteln, deren Inhalte keinerlei Konzept zu folgen scheinen.

Worum geht es überhaupt? Das lässt sich nicht so einfach erkennen. Im Großen und Ganzen wird die Beziehung von Melissa und Thomas beschrieben, die einen zerstörerischen Charakter annimmt, als Melissa eine SMS von einem Mädchen namens Viola auf Thomas Handy entdeckt. Sie beginnt sich Rachefantasien für das Mädchen auszudenken – aus Liebe zu Thomas – und geht so weit, dass sie Thomas verlassen muss, weil sie ihn so sehr liebt.

Und wieso sollte das Melissas Mutter interessieren? Gute Frage. Vielleicht, weil sie neben dem aktuellen Strang auch immer wieder Kindheitserlebnisse einwebt, die sie recht plastisch und schön zu beschreiben weiß. Allerdings klingen einige der Episoden wie eine pathetische Abrechnung mit der eigenen Kindheit.

Wer erwartet, dass Fräulein Paranello mal wieder aus dem Bettkästchen plaudern wird, liegt überraschendweise daneben. Ihre sexuellen Eskapaden hat sie zurückgefahren, stattdessen beschreibt sie hauptsächlich ihr düsteres Innenleben, erzählt Geschichtlein aus ihrer Kindheit und lässt alles andere außen vor. Das tut dem Buch nicht gerade gut, denn Melissas zähes Gefühlsleben, in dem es nur wenig Veränderung gibt, langweilt noch mehr als ihre jugendliche Nymphomanie von damals.

Was den bunten Ringelreigen aneinandergereihter Langeweile alias Briefe an eine Mutter noch schlimmer macht, ist das Ende. Hier beschreibt sich Melissa P. als ein Mädchen, das vor Liebe verrückt geworden ist und dazu benutzt sie märchenhafte Elemente wie zum Beispiel eine Libelle für das Gefühl der Eifersucht. Das Buch endet schließlich in einem abstrakten Ende, bei dem der Leser überhaupt nicht mehr durchblickt, was nun Wahrheit und was Traum ist. Ob die Autorin dadurch bezweckte, den Leser an ihrem leicht wahnsinnigen Ich teilhaben zu lassen? Nun gut. Das wäre eine Erklärung, allerdings sollten derartige Passagen trotzdem eine gewisse Struktur besitzen, die es dem Leser erlauben durchzublicken.

Der Inhalt ist folglich beinahe noch weniger gelungen als der Debütroman. In dem gebundenen Büchlein mit knapp 125 Seiten passiert so gut wie gar nichts. Das einzig Nette sind die Kindheitserinnerungen, die schön beschrieben werden und eine gute Identifikationsmöglichkeit bieten. Außerdem gibt es hier einige Momente, bei denen man sich denkt: Ja, das könnte ich auch so gesagt haben.

Der aktuelle Erzählstrang dagegen ist konfus, langweilig und alles andere als überzeugend. Melissas Gefühlsleben weist keine Struktur auf, kein Anfang, kein Ende, sondern ist nur ein gleichbleibender düsterer Sumpf negativer Gedanken. Es ist nicht so, als ob man nicht auch darüber schreiben könnte, allerdings haben das andere Leute schon besser gemacht.

Wie das? Na ja, vermutlich haben sie einfach einen angenehmeren Schreibstil verwendet. Man muss der Autorin zwar zugestehen, dass durchaus eine Steigerung stattgefunden hat, aber auch wenn sie an einigen Stellen wirklich sehr schön auf den Punkt kommt, ist das Gros der Seiten doch eher Reißwolfnahrung. Den mädchenhaften Tagebuchstil hat sie jedenfalls abgelegt. Stattdessen versteigt sie sich in einer erhabenen, teils schwülstigen Sprache, die von einem riesigen Haufen meist geschmackloser Metaphern beinahe erdrückt wird.

|“Meine Eierstöcke sind zwei in der Luft hängende Kichererbsen. Eine ist größer als die andere und hängt tiefer, da sich meine Regel ankündigt. Eine zähe rote Flüssigkeit wälzt sich darin wie in den Automaten mit Fruchtsaft. […] Das Herz. Das Herz klopft in seiner Nylonstrumpfhüle von der Art, wie sie sich Bankräuber übers Gesicht ziehen. Ein kleines Präservativ zum Schutz vor dem Leben.“| (Seite 29)

Melissa P. legt des Öfteren eine solche bemühte Pseudointellektualität an den Tag, dass man das Buch nur noch zuklappen möchte. Möglicherweise hat sie Potenzial. Man kann auf jeden Fall ein Gehirn und einen gewissen Wortschatz erahnen, allerdings ist auf weiten Strecken nicht viel davon zu spüren. Vielleicht wäre es besser gewesen, Madame Paranello noch eine Weile wie einen guten Wein reifen zu lassen anstatt ihr spärliches Talent unter Zuhilfenahme eines Skandals namens „Mit geschlossenen Augen“ zu verschleudern.

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P., Melissa – Mit geschlossenen Augen

Melissa P.s jugendliche Sexbeichte war ein Riesenskandal im Jahr 2003 in Italien. In Deutschland schlug das Buch zwar nicht ganz so große Wellen, aber trotzdem erlangte es einiges an Aufmerksamkeit.

Ist das ein Wunder bei diesem Inhalt? In einem Zeitraum von ihrem 14. bis zum 16. Lebensjahr erzählt die Ich-Erzählerin Melissa (es darf also spekuliert werden, wie viel wahr und wie viel Fiktion ist) von ihren sexuellen Eskapaden, die sich alle in einem Punkt treffen: Melissa verfällt auf der Suche nach echter Liebe immer wieder in das gleiche destruktive Muster, bei dem sie sich von Männern, die sie nur als Objekt sehen, ausnutzen und erniedrigen lässt. Alles fängt mit Daniele an, den sie auf einer Geburtstagsparty kennen lernt und in den sie sehr verliebt ist. Er nutzt das junge Mädchen allerdings aus. Als sie ihm sagt, dass sie mit ihm schlafen möchte, befiehlt er ihr zuerst, fünf Minuten vor seiner Wohnung zu warten, weil sie zu früh dran ist und er den Ton angibt, und schließlich entjungfert er sie, während ein Kumpel am Telefonhörer im Nebenzimmer darauf wartet, dass Daniele ihm Bericht erstattet.

Ansonsten erlebt Melissa immer wieder regelrechte Orgien. Sie schläft mit älteren Männern, die von ihr verlangen, sich als Domina zu verkleiden. Sie lässt sich von jedem Kerl ausnutzen, der ihr über den Weg läuft und ist fest davon überzeugt, das Herz eines Mannes nur dadurch gewinnen zu können, dass sie sich ihm körperlich hingibt…

Ist „Mit geschlossenen Augen“ wirklich der große literarische Wurf, als den manche Kritiker ihn bezeichnen? Nun, eine Schwalbe macht noch lange keinen Sommer. Gleiches gilt für einen expliziten Inhalt. Natürlich kann man in einer „Sex sells“-Kultur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn man davon erzählt, wie man einen Mann im zarten Alter von vierzehn Jahren oral befriedigt hat, aber wie viel Direktheit verträgt der Leser?

Melissa P.s Buch besteht hauptsächlich aus derartigen Szenen. Die anderen Gefühle, die ein fünfzehnjähriges Mädchen hat, werden kaum angeschnitten. So erfährt man zum Beispiel herzlich wenig über das Familienleben von Melissa oder von Freundinnen, von der Schule. Es dreht sich immer nur um ein Thema und abgesehen davon, dass einige Erlebnisse doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirken (wenn sie zum Beispiel einen notgeilen Familienvater im Dominakostüm gegenübertritt), fängt das doch irgendwann an zu langweilen. Das Buch hat zwar nur knapp 160 Seiten, aber nach einem uninteressanten Einstieg gelingt es der Autorin kaum, ansatzweise Spannung oder wenigstens Stimmung und Atmosphäre aufzubauen.

Das liegt vor allem daran, dass der Schreibstil von „Mit geschlossenen Augen“ die Nerven des Lesers ganz schön strapazieren kann. Und nein, das hängt nicht damit zusammen, dass Fräulein P. so vulgär schreibt, dass einem die Augen tränen. Im Gegenteil. Die sechzehnjährige Autorin stattet ihr fünfzehnjähriges, tagebuchschreibendes Ich mit einer dermaßen schwülstigen, altklugen Schreibweise aus, dass man sich teilweise in einen historischen Kitschroman versetzt fühlt:

|“Vor dem Spiegel stehend bewundere ich mich und bin entzückt von den Kurven, die zunehmend runder werden, von den immer harmonischer und sicherer geformten Muskeln, von dem Busen, der sich unter meinem T-Shirt abzuzeichen beginnt und mit jedem Schritt sanft wogt. Da meine Mutter zu Hause schon immer gern nackt herumgelaufen ist, bin ich mit dem weiblichen Körper von klein auf vertraut. Die Formen einer erwachsenen Frau waren für mich noch nie ein Geheimnis, doch ihr Allerheiligstes liegt in den Schamhaaren verborgen wie in einem undurchdringlichen Urwald und entzieht sich dem Blick.“| (Seite 9)

Mädchenhaft und gleichzeitig übertrieben poetisch-schwülstig und hochgestochen präsentiert sich die Italienerin mehr als einmal als Diana Gabaldon für Arme. Nun kann so etwas natürlich auch an der Übersetzung liegen, dann geht die Rüge an das deutsche Lektorat, jedoch kann ich mir nicht vorstellen, dass die bloße Übertragung in eine andere Sprache so viel Negatives bewirken kann.

Wobei man Melissa P. zugestehen muss, dass nicht alles schlecht ist. Manche Stellen in dem Buch offenbaren keine altkluge, sondern sehr gereifte, dem Alter jedoch immer noch entsprechende Persönlichkeit. Die eine oder andere Metapher versinkt nicht im Sumpf des Kitsches, sondern präsentiert sich schön rund und anschaulich, wie zum Beispiel auf Seite 67:

|“Danach legte er sich zu mir aufs Sofa, wir umarmten uns und schliefen ein, während Marylin [in diesem Fall ein T-Shirt mit der Hollywoodikone; Anmerkung der Rezensentin] ihr Auge an der kleinen Perle von Ernestos goldenem Top rieb.“|

Diese Silberstreifen am Horizont sind allerdings in der Unterzahl. Der Großteil des Buches setzt sich daher aus nicht immer glaubwürdigen Sexszenen, einem nicht alterskonformen, schwülstigen Schreibstil und einer eindeutig überschätzten Autorin zusammen, „Siziliens Lolita“, wie die Lobeshymne von „La Sicilia“ auf dem Buchrücken besagt.