Archiv der Kategorie: Belletristik

P., Melissa – Dich lieben

Zwei Jahre hat sich Melissa P. Zeit gelassen, um den Nachfolger zu ihrem heiß diskutierten, erotischen Tagebuch [„Mit geschlossenen Augen“ 2733 zu schreiben. Nun ist es da und in Anbetracht des jungen Alters der Autorin – sie wird dieses Jahr einundzwanzig – stellt man sich die Frage, ob sich „Siziliens Lolita“ weiterentwickelt hat.

„Dich lieben“ ist nach eigenen Angaben ebenfalls autobiografisch, aber nicht in Tagebuchform. Stattdessen präsentieren sich die kurzen, abgehackten und dadurch zusammenhangslos wirkenden Kapitel als Briefe an ihre Mutter. Allerdings dauert es seine Zeit, bis man herausfindet, wer das Du im Buch überhaupt ist. Erst zur Hälfte wird der Mutter-Tochter-Bezug klar, was dem Buch nicht unbedingt gut tut. Zu verwirrend sind die kurzen Episteln, deren Inhalte keinerlei Konzept zu folgen scheinen.

Worum geht es überhaupt? Das lässt sich nicht so einfach erkennen. Im Großen und Ganzen wird die Beziehung von Melissa und Thomas beschrieben, die einen zerstörerischen Charakter annimmt, als Melissa eine SMS von einem Mädchen namens Viola auf Thomas Handy entdeckt. Sie beginnt sich Rachefantasien für das Mädchen auszudenken – aus Liebe zu Thomas – und geht so weit, dass sie Thomas verlassen muss, weil sie ihn so sehr liebt.

Und wieso sollte das Melissas Mutter interessieren? Gute Frage. Vielleicht, weil sie neben dem aktuellen Strang auch immer wieder Kindheitserlebnisse einwebt, die sie recht plastisch und schön zu beschreiben weiß. Allerdings klingen einige der Episoden wie eine pathetische Abrechnung mit der eigenen Kindheit.

Wer erwartet, dass Fräulein Paranello mal wieder aus dem Bettkästchen plaudern wird, liegt überraschendweise daneben. Ihre sexuellen Eskapaden hat sie zurückgefahren, stattdessen beschreibt sie hauptsächlich ihr düsteres Innenleben, erzählt Geschichtlein aus ihrer Kindheit und lässt alles andere außen vor. Das tut dem Buch nicht gerade gut, denn Melissas zähes Gefühlsleben, in dem es nur wenig Veränderung gibt, langweilt noch mehr als ihre jugendliche Nymphomanie von damals.

Was den bunten Ringelreigen aneinandergereihter Langeweile alias Briefe an eine Mutter noch schlimmer macht, ist das Ende. Hier beschreibt sich Melissa P. als ein Mädchen, das vor Liebe verrückt geworden ist und dazu benutzt sie märchenhafte Elemente wie zum Beispiel eine Libelle für das Gefühl der Eifersucht. Das Buch endet schließlich in einem abstrakten Ende, bei dem der Leser überhaupt nicht mehr durchblickt, was nun Wahrheit und was Traum ist. Ob die Autorin dadurch bezweckte, den Leser an ihrem leicht wahnsinnigen Ich teilhaben zu lassen? Nun gut. Das wäre eine Erklärung, allerdings sollten derartige Passagen trotzdem eine gewisse Struktur besitzen, die es dem Leser erlauben durchzublicken.

Der Inhalt ist folglich beinahe noch weniger gelungen als der Debütroman. In dem gebundenen Büchlein mit knapp 125 Seiten passiert so gut wie gar nichts. Das einzig Nette sind die Kindheitserinnerungen, die schön beschrieben werden und eine gute Identifikationsmöglichkeit bieten. Außerdem gibt es hier einige Momente, bei denen man sich denkt: Ja, das könnte ich auch so gesagt haben.

Der aktuelle Erzählstrang dagegen ist konfus, langweilig und alles andere als überzeugend. Melissas Gefühlsleben weist keine Struktur auf, kein Anfang, kein Ende, sondern ist nur ein gleichbleibender düsterer Sumpf negativer Gedanken. Es ist nicht so, als ob man nicht auch darüber schreiben könnte, allerdings haben das andere Leute schon besser gemacht.

Wie das? Na ja, vermutlich haben sie einfach einen angenehmeren Schreibstil verwendet. Man muss der Autorin zwar zugestehen, dass durchaus eine Steigerung stattgefunden hat, aber auch wenn sie an einigen Stellen wirklich sehr schön auf den Punkt kommt, ist das Gros der Seiten doch eher Reißwolfnahrung. Den mädchenhaften Tagebuchstil hat sie jedenfalls abgelegt. Stattdessen versteigt sie sich in einer erhabenen, teils schwülstigen Sprache, die von einem riesigen Haufen meist geschmackloser Metaphern beinahe erdrückt wird.

|“Meine Eierstöcke sind zwei in der Luft hängende Kichererbsen. Eine ist größer als die andere und hängt tiefer, da sich meine Regel ankündigt. Eine zähe rote Flüssigkeit wälzt sich darin wie in den Automaten mit Fruchtsaft. […] Das Herz. Das Herz klopft in seiner Nylonstrumpfhüle von der Art, wie sie sich Bankräuber übers Gesicht ziehen. Ein kleines Präservativ zum Schutz vor dem Leben.“| (Seite 29)

Melissa P. legt des Öfteren eine solche bemühte Pseudointellektualität an den Tag, dass man das Buch nur noch zuklappen möchte. Möglicherweise hat sie Potenzial. Man kann auf jeden Fall ein Gehirn und einen gewissen Wortschatz erahnen, allerdings ist auf weiten Strecken nicht viel davon zu spüren. Vielleicht wäre es besser gewesen, Madame Paranello noch eine Weile wie einen guten Wein reifen zu lassen anstatt ihr spärliches Talent unter Zuhilfenahme eines Skandals namens „Mit geschlossenen Augen“ zu verschleudern.

http://www.rowohlt.de

P., Melissa – Mit geschlossenen Augen

Melissa P.s jugendliche Sexbeichte war ein Riesenskandal im Jahr 2003 in Italien. In Deutschland schlug das Buch zwar nicht ganz so große Wellen, aber trotzdem erlangte es einiges an Aufmerksamkeit.

Ist das ein Wunder bei diesem Inhalt? In einem Zeitraum von ihrem 14. bis zum 16. Lebensjahr erzählt die Ich-Erzählerin Melissa (es darf also spekuliert werden, wie viel wahr und wie viel Fiktion ist) von ihren sexuellen Eskapaden, die sich alle in einem Punkt treffen: Melissa verfällt auf der Suche nach echter Liebe immer wieder in das gleiche destruktive Muster, bei dem sie sich von Männern, die sie nur als Objekt sehen, ausnutzen und erniedrigen lässt. Alles fängt mit Daniele an, den sie auf einer Geburtstagsparty kennen lernt und in den sie sehr verliebt ist. Er nutzt das junge Mädchen allerdings aus. Als sie ihm sagt, dass sie mit ihm schlafen möchte, befiehlt er ihr zuerst, fünf Minuten vor seiner Wohnung zu warten, weil sie zu früh dran ist und er den Ton angibt, und schließlich entjungfert er sie, während ein Kumpel am Telefonhörer im Nebenzimmer darauf wartet, dass Daniele ihm Bericht erstattet.

Ansonsten erlebt Melissa immer wieder regelrechte Orgien. Sie schläft mit älteren Männern, die von ihr verlangen, sich als Domina zu verkleiden. Sie lässt sich von jedem Kerl ausnutzen, der ihr über den Weg läuft und ist fest davon überzeugt, das Herz eines Mannes nur dadurch gewinnen zu können, dass sie sich ihm körperlich hingibt…

Ist „Mit geschlossenen Augen“ wirklich der große literarische Wurf, als den manche Kritiker ihn bezeichnen? Nun, eine Schwalbe macht noch lange keinen Sommer. Gleiches gilt für einen expliziten Inhalt. Natürlich kann man in einer „Sex sells“-Kultur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn man davon erzählt, wie man einen Mann im zarten Alter von vierzehn Jahren oral befriedigt hat, aber wie viel Direktheit verträgt der Leser?

Melissa P.s Buch besteht hauptsächlich aus derartigen Szenen. Die anderen Gefühle, die ein fünfzehnjähriges Mädchen hat, werden kaum angeschnitten. So erfährt man zum Beispiel herzlich wenig über das Familienleben von Melissa oder von Freundinnen, von der Schule. Es dreht sich immer nur um ein Thema und abgesehen davon, dass einige Erlebnisse doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirken (wenn sie zum Beispiel einen notgeilen Familienvater im Dominakostüm gegenübertritt), fängt das doch irgendwann an zu langweilen. Das Buch hat zwar nur knapp 160 Seiten, aber nach einem uninteressanten Einstieg gelingt es der Autorin kaum, ansatzweise Spannung oder wenigstens Stimmung und Atmosphäre aufzubauen.

Das liegt vor allem daran, dass der Schreibstil von „Mit geschlossenen Augen“ die Nerven des Lesers ganz schön strapazieren kann. Und nein, das hängt nicht damit zusammen, dass Fräulein P. so vulgär schreibt, dass einem die Augen tränen. Im Gegenteil. Die sechzehnjährige Autorin stattet ihr fünfzehnjähriges, tagebuchschreibendes Ich mit einer dermaßen schwülstigen, altklugen Schreibweise aus, dass man sich teilweise in einen historischen Kitschroman versetzt fühlt:

|“Vor dem Spiegel stehend bewundere ich mich und bin entzückt von den Kurven, die zunehmend runder werden, von den immer harmonischer und sicherer geformten Muskeln, von dem Busen, der sich unter meinem T-Shirt abzuzeichen beginnt und mit jedem Schritt sanft wogt. Da meine Mutter zu Hause schon immer gern nackt herumgelaufen ist, bin ich mit dem weiblichen Körper von klein auf vertraut. Die Formen einer erwachsenen Frau waren für mich noch nie ein Geheimnis, doch ihr Allerheiligstes liegt in den Schamhaaren verborgen wie in einem undurchdringlichen Urwald und entzieht sich dem Blick.“| (Seite 9)

Mädchenhaft und gleichzeitig übertrieben poetisch-schwülstig und hochgestochen präsentiert sich die Italienerin mehr als einmal als Diana Gabaldon für Arme. Nun kann so etwas natürlich auch an der Übersetzung liegen, dann geht die Rüge an das deutsche Lektorat, jedoch kann ich mir nicht vorstellen, dass die bloße Übertragung in eine andere Sprache so viel Negatives bewirken kann.

Wobei man Melissa P. zugestehen muss, dass nicht alles schlecht ist. Manche Stellen in dem Buch offenbaren keine altkluge, sondern sehr gereifte, dem Alter jedoch immer noch entsprechende Persönlichkeit. Die eine oder andere Metapher versinkt nicht im Sumpf des Kitsches, sondern präsentiert sich schön rund und anschaulich, wie zum Beispiel auf Seite 67:

|“Danach legte er sich zu mir aufs Sofa, wir umarmten uns und schliefen ein, während Marylin [in diesem Fall ein T-Shirt mit der Hollywoodikone; Anmerkung der Rezensentin] ihr Auge an der kleinen Perle von Ernestos goldenem Top rieb.“|

Diese Silberstreifen am Horizont sind allerdings in der Unterzahl. Der Großteil des Buches setzt sich daher aus nicht immer glaubwürdigen Sexszenen, einem nicht alterskonformen, schwülstigen Schreibstil und einer eindeutig überschätzten Autorin zusammen, „Siziliens Lolita“, wie die Lobeshymne von „La Sicilia“ auf dem Buchrücken besagt.

Ruff, Matt – Ich und die anderen

Matt Ruff ist im Prinzip in sehr unberechenbarer Autor. Seine Bücher sind kurios und phantasievoll und zuweilen überraschend. Für den Leser ist ein neuer Matt-Ruff-Roman stets gleichermaßen ein neues Lesevergnügen wie eine Herausforderung. Ruff lässt sich ganz einfach nicht auf ein Schema festlegen. Seine Romane sind ein Wechselbad der Gefühle. Er vermischt verschiedene Genres wie kein anderer und komponiert aus Belletristik, Fantasy und Science-Fiction seine ganz individuellen Romankreationen.

Mochte man ihn auf das Einbinden von Elementen aus Sci-Fi und Fantasy nach seinen ersten beiden Werken „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ schon festlegen (obwohl beide Werke dennoch sehr unterschiedlich sind), so dürfte er seine Leserschaft mit seinem aktuellen Werk „Ich und die anderen“ aufs Neue überraschen. Auf den ersten Blick ein untypischer Ruff, entpuppt er sich erst bei genauerer Lektüre als randvoll mit typisch Ruffschen Romanelementen, allen voran seine herausragende und souveräne Erzählweise.

„Ich und die anderen“ hat ein für sich gesehen eher ungewöhnliches Thema. Es geht um Menschen, die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leiden. Andrew Gage hat sich mit seinen diversen Persönlichkeiten mittlerweile sehr gut arrangiert. Mit Hilfe einer engagierten Psychologin hat er es geschafft, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zu diesem Zweck hat er sich kraft seiner Gedanken ein imaginäres Haus erbaut, das nun alle Seelen seiner Persönlichkeit beherbergt. Sein Leben verläuft erstaunlich geregelt ab. Die Ordnung im Haus folgt festen Regeln, nach denen jeder Seele ein wohldosiertes Maß an „Körperzeit“ zugestanden wird.

Auf diese Weise kann Andrew das Leben ohne größere Probleme meistern. Glück für ihn, dass er einen Job in der Virtual-Reality-Firma von Julie Sivik gefunden hat. Sie weiß um seine Persönlichkeitsstörung und hat ihn genau deswegen eingestellt. Wer sonst sollte wohl besser etwas von Virtual Reality verstehen als ein Multipler, dessen ganzes Leben einem Außenstehenden wie Virtual Reality vorkommen muss?

Julie und Andrew werden darüber hinaus Freunde und genau deswegen kann Andrew Julies Bitte kaum abschlagen, sich um seine neue Kollegin Penny Driver zu kümmern. Penny ist ebenfalls multipel – nur, dass sie es selbst noch nicht weiß. Und so wird Penny regelmäßig von Blackouts geplagt, die immer dann eintreten, wenn eine ihrer anderen Seelen die Kontrolle über den Körper übernimmt. Andrew soll sich des Problems annehmen und Penny helfen, ihre Persönlichkeitsstörung in den Griff zu bekommen.

Andrew sträubt sich zunächst, weiß er doch aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, eine multiple Persönlichkeitsstörung zu meistern, nimmt sich schließlich aber doch der Angelegenheit an. Doch schon bald droht die Sache aus dem Ruder zu laufen. Andrews seelisches Gleichgewicht ist fragiler, als er selbst glaubt, und so bringt Pennys Persönlichkeitsstörung nicht nur ihr eigenes Leben gehörig durcheinander, sondern auch das von Andrew …

Man mag das Thema der multiplen Persönlichkeitsstörung auf den ersten Blick für ein eher schwieriges halten, und so erstaunt es auch, mit welcher Leichtigkeit Matt Ruff das Ganze anpackt. Er schafft es auf sehr plastische und nachvollziehbare Weise, die Problematik zu verdeutlichen. Er entblättert bis ins Detail, was sich in Andrews Kopf abspielt, und macht es dem Leser begreiflich. Man kann sich das Haus in Andrews Kopf und das Nebeneinander der unterschiedlichen Seelen, die stets um Aufmerksamkeit und Körperzeit buhlen, wunderbar vorstellen. Auch das Durcheinander unterschiedlicher Persönlichkeiten in Pennys Kopf wird gut deutlich, wenngleich es dort verständlicherweise wesentlich chaotischer zugeht.

Multiple Persönlichkeitsstörungen sind eine komplexe Angelegenheit. Matt Ruff verdeutlicht neben den Konsequenzen auch die Art und Weise, wie sie im Falle von Andrew und Penny entstanden sind. Sie funktionieren als eine Art Schutzmechanismus. Beide Protagonisten blicken auf traumatische Kindheitserinnerungen zurück, die als Ursache ihrer Störung anzusehen sind. Beide müssen sich im Laufe des Romans zu den Wurzeln ihrer eigentlichen Persönlichkeit vorarbeiten und sich damit auch den früheren traumatischen Ereignissen stellen.

Die Komplexität dieser Kernproblematik überträgt sich dabei auch auf den Roman selbst. Er ist enorm vielschichtig und bietet ein Wechselbad der Gefühle. Ruff bringt Kurioses und Dramatisches, Tragisches und Komisches gekonnt unter einen Hut. Sensibel fühlt er sich in seine Protagonisten hinein, macht die drückende Last ihrer Erfahrungen genauso fühlbar wie die irritierende Art der Persönlichkeitswechsel im Körper der Figuren. Das wirkt alles zugleich urkomisch und irrsinnig tragisch. Er verpackt einen ernsten und zutiefst tragischen Hintergrund in einer leichtfüßig erzählten Geschichte, die dadurch umso eindringlicher auf den Leser wirkt.

Was weiterhin eine enorme Leistung des Autors ist, ist der Erzählstil. „Ich und die anderen“ ist eine auf den ersten Blick eher unspektakuläre Geschichte. Zwei verstörte junge Menschen auf der Suche nach sich selbst – so könnte man das Romangeschehen kurz und knapp auf den Punkt bringen. An nacherzählbarer Handlung oder gar ganz konkret greifbarer Spannung hat der Roman nicht viel vorzuweisen. Bei einem 715-seitigen Werk mag man da glatt einen langweiligen Schinken erwarten, der sich wie Kaugummi schier endlos in die Länge zieht.

Doch wer das glaubt, der hat eben die Rechnung ohne Matt Ruff gemacht. Hat man sich erst einmal gedanklich auf die Welt von „Ich und die anderen“ eingelassen, lässt sie einen nicht mehr los. Ruff fesselt auf eine ganz eigentümliche und unterschwellige, geradezu kuriose Art. Eine ähnliche Erfahrung ist mir aus der mittlerweile schon einige Jahre zurückliegenden Lektüre von „Fool on the Hill“ im Gedächtnis. Auch da galt es erst einmal, sich in das Buch hineinzufinden. Ist man erst einmal drin, ist man aber derart gefesselt, dass man am liebsten alles andere stehen und liegen lassen möchte.

Ruff fesselt eben auf eine ganz besondere Art, die sich schwer erklären lässt. Auch bei „Ich und die anderen“ fällt es schwer, den Grund für den fesselnden Charakter der Lektüre auf den Punkt zu bringen. Fakt ist einfach, dass Ruff eine enorm plastische Art zu erzählen hat. Man sieht die Figuren förmlich vor sich und erlebt das reinste Kopfkino. So wird dann eben auch Lektüre unterhaltsam, die ganz nüchtern betrachtet nur wenig Spannung zu enthalten scheint.

Die Figuren sind eine weitere Stärke des Romans. Auf den ersten Blick wirken sie allesamt ein wenig entrückt – unrealistisch, möchte man schimpfen – aber Matt Ruff stellt sie mit so viel Liebe und Warmherzigkeit dar, dass man sie mit der Zeit ins Herz zu schließen beginnt. Jeder ist auf seine ganz individuelle Art sonderbar, jeder hat seine verrückten Seiten, und so mag man manches Mal auch den Realismus bezweifeln (auf welcher wirtschaftlichen Basis eine Firma wie die von Julie Sivik überhaupt existieren kann, bleibt beispielsweise etwas diffus), aber das sind alles Dinge, die im Laufe des Romans zunehmend unwichtiger werden und die man zunehmend unwichtiger nimmt.

Am Ende glänzt Ruff eben ganz durch seine brillante Erzählweise, die er mit so mancher Überraschung garniert, und die Interaktion seiner Protagonisten. Hinter seinem lockeren Erzählstil und seinem Sinn für Kurioses verbirgt sich eine Tiefe, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Man blickt zurück auf ein Buch, bei dem man auch am Ende noch nicht so ganz begreifen kann, warum es einen so gefesselt hat. Matt Ruff bleibt eben auch mit seinem dritten Buch immer noch etwas rätselhaft und sonderbar, aber das ist nur ein Grund mehr, ihn zu lieben …

http://www.dtv.de

Ying, Hong – Pfau weint, Der

Hong Yings „Der Pfau weint“ verbindet die Schicksale von drei Frauen verschiedener Generationen untereinander und taucht dabei tief in die Geschichte des Landes ein.

Die Wissenschaftlerin Liu Cui ist mit Li verheiratet, welcher Direktor des großen Jangtsestaudammprojekts ist und den sie so gut wie nie sieht. Eines Tages schickt er ihr ein Geschenk. Ein teures Parfüm, obwohl er ihr noch nie Geschenke geschickt hat. Sie versteht nicht, was das soll, doch ihre praktische Mutter hat sofort eine Lösung parat: Das Geschenk ist eine Herausforderung, um zu sehen, ob Liu immer noch eine Frau ist, die sich für ihren Mann interessiert. Ihre Mutter drängt sie, zum Jangtse zu fahren und Li zu besuchen, doch als sie dort ankommt, muss sie die bittere Erkenntnis akzeptieren, dass ihr Mann sie betrügt.

Sie hält es nicht länger an diesem Ort aus und fährt stattdessen zum Kreis Liang, wo sie geboren wurde. Aufgewachsen ist sie allerdings in der Stadt und die Umstände ihrer Geburt kennt sie nicht. Auf Bitte ihrer Mutter besucht sie deren alte Freundin Tante Chen, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Doch während Lius Mutter das dankbare Leben der Pekinger Mittelschicht führt, schlägt sich Tante Chen mit Armut herum. Liu ist geschockt, in welchen Zuständen die Freundin ihrer Mutter lebt, doch als Tante Chen beginnt, aus der gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen, ist Liu noch geschockter.

Denn plötzlich wandelt sich das Bild, das sie von ihrem Vater, der damals Präfekt des Kreises war, hat, und gleichzeitig geschehen Dinge im Kreis Liang, die zudem den Glauben an ihren Ehemann erschüttern. Der Kreis Liang liegt nämlich in dem Bereich, der in ein paar Monaten von den Fluten des Jangtse verschlungen werden wird, doch die Dorfbewohner sind alles andere als einverstanden damit …

Das Verbinden von Geschichte und Neuzeit durch das tragische Schicksal eines kleinen Menschen, der zu jung ist, um die Begleitumstände zu verstehen, ist sicherlich nichts Neues. Allerdings gibt es eine lange Liste von Autoren, die es besser gemacht haben als Hong Ying.

Es beginnt schon damit, dass der Grund, warum Liu an den Stausee fährt, an den Haaren herbeigezogen ist. Mir erschließt sich, um ehrlich zu sein, nicht, wie ein Parfüm ein Hinweis darauf sein kann, dass der Ehemann fremdgeht. Der Roman baut also auf sehr unsicherem Gelände auf.

Was folgt, ist auch nicht gerade mit Spannung geschwängert. Abgesehen davon, dass es dem Buch an Emotionalität fehlt und es leblos wirkt, ist die Handlung an vielen Stellen sehr fade. Es kommt selten Spannung auf, einige Elemente sind nicht nachvollziehbar und die Absicht, die hinter der Geschichte steckt, nämlich die Schicksale dreier Frauen im Kreis Liang literarisch darzustellen, ist kaum erkennbar.

Die bereits erwähnte Leblosigkeit findet man nicht nur in der Handlung. Auch die Personen selbst wirken blutleer und scheinen keine wirklichen Gefühle zu besitzen. Liu Cui präsentiert sich als prüde Ehefrau, die nur wenige Interessen hat und deren Wut auf ihren Mann wirkt wie Wattebauschwerfen. Hong Ying gelingt es nicht, den Protagonisten authentische Ecken und Kanten zu verpassen. Selbst Tante Chen, von der man denken könnte, sie wäre nach all den Jahren von der Armut gezeichnet, wirkt merkwürdig oberflächlich. Ähnliches gilt für Liu Cuis Mutter, die Dritte im Bunde, deren aktive Rolle allerdings sehr klein gehalten ist.

Der Schreibstil Yings erinnert an den typisch asiatischen Prototyp: Glatt und uninteressant. Sie benutzt ein gehobeneres Vokabular, das sie manchmal in umständliche Satzbauten einbettet. Metaphern wie „Der Himmel war plötzlich bleich wie die Augen eines toten Fisches.“ (Seite 89) oder „Das Fenster war wie bestickt mit Millionen Wasserperlen …“ (Seite 44) wirken sich nicht gerade positiv aufs Gesamtbild aus, ebensowenig wie die teilweise sehr üppigen Beschreibungen.

„Der Pfau weint“ ist zwar handwerklich perfekt ausgearbeitet, wie sich in dem sauberen Schreibstil zeigt, aber genau das ist das Problem. Ein steriler Schreibstil ist nicht besonders gut geeignet, um Gefühle beim Leser hervorzurufen und auch nicht gerade das beste Fundament, um eine Geschichte spannend herüberzubringen. Da es in diesem Fall aber nichts Spannendes herüberzubringen gibt, kann man dieses Argument unter den Tisch fallen lassen.

http://www.aufbauverlag.de

Kürthy, Ildikó von – Höhenrausch

|“Mann, bin ich einsam. Sonntagabende sind meiner Empfindung nach für uns Alleinstehende aber auch immer besonders schwer zu bewältigen. Da bleibt man traditionellerweise zu Hause, kocht Nudeln, guckt ‚Tatort‘ und geht, von Sabine Christiansen vergrault, zeitig zu Bett. Der Sonntagabend ist ein ‚Wir-Abend‘. Und ich bin kein Wir mehr. Der Scheißkerl hat mich mit Sabine Christiansen allein gelassen.“|

Wieder einmal spricht Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy ihren weiblichen Leserinnen aus der Seele mit ihrem neuen Roman „Höhenrausch“, in dem sie sich erneut dem Singleleben jenseits der 30 widmet, das ich zwar nicht aus eigener Erfahrung kenne, aber nun bereits mehrfach dank von Kürthy miterlebt und mitgefühlt habe.

Linda Schumann ist 35, von Beruf Übersetzerin und frisch verlassen, nachdem sie im Auto ihres nunmehr Exfreundes – dessen Name man nicht mehr nennen darf und der deswegen „Draco“ (angelehnt an „Harry Potter“) getauft wurde – verräterische Fußspuren an der Fensterscheibe entdeckt hat. Kurzerhand tauscht Linda mit dem unbekannten Andreas aus Berlin die Wohnungen, da beide einen Neuanfang wagen wollen. Linda meldet sich bei einer Dating-Agentur an und bekommt auch tatsächlich schnell ein Date vermittelt. Dort stellt sie allerdings fest, dass sie fälschlicherweise mit dem schwulen Erdal aus Hamburg verkuppelt werden soll, der eigentlich Sexgott27 treffen wollte. Obwohl die beiden sich auf Anhieb unsympathisch sind, entwickelt sich dennoch eine Freundschaft aus dieser Zufallsbegegnung, nachdem Erdal Linda durch Antäuschung eines schweren Asthmaanfalls aus einer grausigen und nebligen Theatervorstellung errettet hat.

So kommuniziert Linda per Mail mit dem unbekannten Andreas, der nun ihre Wohnung in Jülich übernommen hat und ihr alle ihre Plüschtiere zuschickt, damit sie sich in Berlin nicht mehr so einsam fühlt, außerdem telefoniert Linda regelmäßig mit ihrer Freundin Silke und natürlich kommen die „Frauenabende“ mit Erdal hinzu. Als unvermittelt Lindas gut aussehender, aber verheirateter, neuer Nachbar Johann vor der Tür steht, ist die Not groß, denn Linda hat sich Hals über Kopf in den attraktiven Mittvierziger verliebt.

Zwischen den beiden entwickelt sich eine Affäre, die natürlich in allen Einzelheiten mit diversen Menschen ausdiskutiert und aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert werden muss, und obwohl Linda immer cool und unbeteiligt wirkt, möchte sie Johann ganz für sich gewinnen – bis sie plötzlich seiner Ehefrau gegenübersteht und sie leider äußerst nett findet …

In wunderbarer und erfrischender Weise deckt Ildikó von Kürthy wieder einmal sämtliche weiblichen und auch einige männlichen Macken auf und schmückt sie durch viele sympathische Episoden aus. Und wieder einmal ist es nicht so sehr die Geschichte an sich, die unterhält oder überzeugt, sondern es sind die kleinen Dinge am Rande. Während Linda uns ihre Geschichte erzählt, ihre Probleme durchkaut und ihre geheimsten Gefühle offenbart, kommen ihr immer wieder neue Dinge in den Kopf, die sie vom eigentlichen Thema zwar ablenken, aber doch sehr viel über Linda und ihren Charakter aussagen. Diese abschweifenden Episoden und auch die herrlichen Metaphern sind es, die das vorliegende Buch wieder einmal zu einem herzerfrischenden Lesegenuss machen.

Ildikó von Kürthy beschreibt Dinge, die zwar jeder Frau schon einmal aufgefallen sein dürften, die aber nur die wenigsten Frauen in Worte fassen, Ildikó von Kürthy verleiht diesen Gedanken ihre Stimme und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Insbesondere der oft unverstandene weibliche Schuh-Tick wird hier messerscharf analysiert und dürfte nun auch jedem Mann einsichtig werden:

|“Aber irgendwann kommt in Beziehungen die Zeit der so genannten gemütlichen Abende. Dann machst du den Abwasch nicht mehr nackt und nur mit zwölf Zentimetern Absatz unter dir. Und du bist nicht länger bereit, dieses unermessliche Leid in Kauf zu nehmen, das bereits die Schritte zum Klo auf High Heels auslösen – und das für einen Mann, von dem du ja bereits weißt, dass er dich liebt. […] Eine Frau sollte nur dann Absätze von mehr als elf Zentimetern Höhe tragen, wenn sie Single ist und das nicht bleiben möchte. Oder frisch verliebt ist und das bleiben möchte. Oder den Abend definitiv größtenteils im Liegen verbringen wird.“| (S. 112/113)

Beschreibungen wie diese sind es, die mich immer wieder zu Ildikó von Kürthys Büchern greifen lassen, weil sie so herrlich überzogen sind, im Kern aber doch ziemlich nah an der Wahrheit bleiben. Natürlich sind viele Situationen überzogen und auch die Charaktere nicht wirklich alltäglich, aber genau das ist es, was den Reiz des Buches ausmacht.

Apropos Charaktere: Ildikó von Kürthy schafft es immer wieder, eine sympathische Frauenfigur zu kreieren, die jeder Leserin ans Herz wachsen dürfte. Von Kürthys Ich-Erzählerin steckt stets in der Krise, stets hat sie gerade Liebeskummer und jammert sich im Laufe des Buches ein wenig aus, dabei wird die Ich-Erzählerin – in diesem Fall Linda Schumann – aber nie nervig wie manchmal Becky Bloomwood bei Sophie Kinsella, die sich so naiv und dämlich gibt, dass man sie auch mit viel Geduld nur schlecht ertragen kann. Ganz anders bei Linda Schumann; sie hat genug Macken und macht auch einige Fehler, aber wenn sie zum Beispiel über ihre fehlenden Flirttechniken berichtet, muss man sie einfach gern haben:

|“Ich kann gut Englisch, und ich kann gut kochen. Ich kann gut Briefe schreiben, und wenn es sein muss, kann ich sogar gut auf Kohlenhydrate verzichten. Was ich definitiv nicht kann, ist gut rechnen, elegant auf hohen Schuhen gehen und ergebnisorientiert flirten.“| (S. 84)

In vielen Passagen findet frau sich wieder, aber auch der männliche Leser dürfte neben dem Schuhproblem noch weitere Mysterien aufgedeckt und erklärt bekommen, sodass Ildikó von Kürthy nicht ausschließlich für Frauen schreibt – wie beispielsweise auch das Zitat von Harald Schmidt auf dem Buchrücken beweist: |“Liebe! Romantik! Ein supertolles Buch!“|. Dennoch dürfte der weibliche Teil der Bevölkerung zugegebenermaßen wohl den weitaus größeren Teil der Leser(innen)schaft ausmachen.

Besonders optisch ist das Buch ein Hochgenuss, die verschiedenen Elemente wie die Telefonate mit Silke oder die E-Mails zwischen Linda und Andreas sind in verschiedenen Schriftarten gesetzt und somit leicht erkennbar. Auch sind erneut zahlreiche Bilder eingebaut, die stets zu den beschriebenen Situationen passen, sei es die DVD-Box zu „24“, wenn Linda darüber sinniert, wie lässig Jack Bauer sein aufklappbares Handy ans Ohr halten und „Mr. President, we do have a situation here“ sagen kann oder sei es die Plüschtierparade, wenn Linda über die Anschaffung neuer Kuscheltiere für die neue Berliner Wohnung nachdenkt.

Unter dem Strich ist Ildikó von Kürthy erneut ein überzeugender Roman gelungen, der vielen Frauen aus der Seele sprechen dürfte, der allerdings wie schon zuvor „Blaue Wunder“ nicht an ihre beiden Klassiker „Mondscheintarif“ und „Freizeichen“ heranreichen kann. Bei „Höhenrausch“ ist es die Rahmengeschichte, die nicht wirklich überzeugen kann, die betrogene Mittdreißigerin im Liebeskummer reicht für eine etwa 250-seitige Erzählung eigentlich nicht ganz aus. Die vielen Episoden am Rande sorgen allerdings erfolgreich dafür, dass das Buch trotzdem unterhaltsam ist und eine Menge Spaß bereitet. So werden die Fans von Ildikó von Kürthy das Buch durchaus zufrieden zuklappen, auch wenn die Autorin bereits zwei- bis dreimal bewiesen hat, dass sie es noch deutlich besser kann. Für unbeschwerte sommerliche Nachmittags- und Abendstunden auf dem Balkon ist „Höhenrausch“ aber in jedem Fall genau die richtige Lektüre.

Felixa, Magdalena – Fremde, Die

Berlin, Berlin … Magdalena Felixa hat ein Buch geschrieben, in dem die Stadt eine Nebenrolle spielt und das sich wie ein modernes Großstadtmärchen liest – nur ohne den Kitsch und den Prinzessinnentüllquatsch.

Die Ich-Erzählerin ist dem Leser ganz nahe – schließlich breitet sie ihr Leben vor ihm aus – und doch wieder so entfernt. Das Ich in diesem Buch nennt noch nicht mal ihren Namen, sagt wenig über ihr Äußeres, zeigt kaum Gefühle und doch ist es das Beste, was diesem Buch passieren konnte. Selena, Hanna, Mimi oder Alice – um nur einige ihrer Namen zu nennen – ist immer auf der Flucht. Ihre Heimat liegt irgendwo im Osten und sie hält sich illegal in Berlin auf. Sie schlägt sich mit kleinen Jobs herum, wohnt bei einer der vielen Freunde, die sie kennt und die es zumeist nicht besser haben als sie selbst. Sie ist eine Schattenexistenz, die sofort weghuscht, wenn ein Lichtstrahl auf sie gerichtet wird.

Genau das passiert, als plötzlich zwei Männer auftauchen, die sie nach einem ehemaligen Chef von ihr befragen und nicht gerade zimperlich mit ihr umgehen. Doch es kommt noch schlimmer, denn die Polizei ist ebenfalls auf den Fersen von Roman, dem ehemaligen Chef. Immer wieder wird sie von ihren Verfolgern aufgespürt, doch schließlich bietet sich ihr eine Chance, um für immer aus der Stadt zu fliehen …

Magdalena Felixa hat ein großartiges kleines Buch geschrieben. Nüchtern und doch intensiv. Leuchtend, obwohl es im Halbdunkeln der Illegalität spielt. Ein Kleinod in den dreckigen Straßen Berlins. Ihre namenlose Hauptperson setzt sie nach dem Prinzip „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ ein. Der Leser erfährt wenig von ihr oder von ihrer Vergangenheit, sondern begleitet sie eine Weile durch ihr beschwerliches Leben, ohne dass sie ihn dabei zu nahe heranlassen würde. Distanz ist das Zauberwort, welches das ganze Buch zu tragen scheint und obwohl es Schlimmes erahnen lässt, ein sehr geschickter Schachzug ist, denn diese Distanz verleiht der Hauptperson eine tragische Seriösität, die einem eine Gänsehaut auf den Rücken zaubert.

Diese Distanz, diese Bodenständigkeit, die Selena oder wie auch immer umgibt, schlägt sich auch im Schreibstil nieder, der sehr graziös und gleichzeitig trocken ist. Felixa braucht nur wenige Worte und eine Hand voll kurzer, einfacher Sätze, um in dem knapp 200 Seiten umfassenden Buch ein eigenes kleines Universum zu schaffen. Anders als man vielleicht vermutet, bedarf sie dafür keiner Gossensprache, sondern greift auf ein leicht verständliches, poetisches Deutsch zurück. Die Dichte von Metaphern und wunderschönen Beschreibungen ist hoch. Trotzdem drängen sie sich dem Leser niemals auf.

|“Um den Platz herum, wo einst die Grenze war, ist es seltsam still. Ich liebe die stummen Baustellen, die nachts mit offenen Augen schlafen, wie ich es tue.“| (Seite 5)

Der ganze Roman ist sehr unaufdringlich, distanziert eben, was sich schon bei den kurzen Kapiteln mit den teilweise sehr poetischen Titeln zeigt. Sie sind episodenhaft, wie herausgerissen aus dem Großstadtleben. Sie demonstrieren die Rastlosigkeit der Fremden, die überall und nirgendwo zu sein scheint.

|“Meine Freunde sind Neger, Kanaken, Schwule, Fliehende, Fremde. So wie ich. Ich mag Menschen, für die ich austauschbar bin, die nicht heucheln, verliebt zu sein. Ich sehe lieber ihre Begierden, als in ihre Seelen zu blicken. Ich will keine Fragen stellen. Ich mag, wen sie um mich herum sind und mir aus ihrem Leben erzählen. Ich selbst bleibe lieber unsichtbar, ziehe es vor, daß man sich nicht an mich erinnert. Das Zuhören ist keine tugendhafte Eigenschaft meines Charakters. Es ist ganz eigennützig. Das Stakkato beruhigt micht. Ich schließe die Augen und höre zu. Hunderte Geschichten vom verpaßten Glück. Berlin, Stadt der Entzauberten.“| (Seite 6)

Magdalena Felixa hat mit „Die Fremde“ ein beachtliches Buch geschaffen. Ein kleines, trauriges Großstadtmärchen mit einer wundervollen Hauptperson und einer klaren, poetischen Sprache, welche die Stimmung, die das Buch durchzieht, direkt auf den Punkt bringt. Bravo!

http://www.aufbauverlag.de

Jonathan Coe – Das Haus des Schlafes

Ein Buch über den Schlaf – für so manch einen klingt das sicherlich nach Lektüre zum Einschlafen. Doch wer glaubt, „Das Haus des Schlafes“ vom britischen Autor Jonathan Coe sei lediglich ein Mittel, welches das Herabsenken der Augenlider beschleunigt, der liegt falsch. Coes Roman ist kein Schlafmittel, ganz im Gegenteil, seine raffinierte Figurenverknüpfung und seine ausgeklügelte Erzählweise wirken hellwach …

„Das Haus des Schlafes“ ist eine vielschichtige Geschichte, die auf zwei unterschiedlichen Handlungsebenen abläuft. Beide Ebenen spielen am gleichen Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten im Abstand von ca. zwölf Jahren. Ort der Geschehnisse ist Ashdown, ein altes viktorianische Schloss an der englischen Küste. Früher war das pittoreske Gebäude ein Studentenwohnheim, wurde inzwischen aber zu einer Klinik für Patienten mit Schlafstörungen umfunktioniert.

Jonathan Coe – Das Haus des Schlafes weiterlesen

Hammesfahr, Petra – Am Anfang sind sie noch Kinder

Petra Hammesfahr, die Grand Dame der deutschen Literaturszene, veröffentlichte im März ihren neuen Roman „Am Anfang sind sie noch Kinder“, der zu Zeiten von Hartz IV eine starke Brisanz hat.

Protagonistin in dem Buch ist, wie bei Hammesfahr üblich, eine starke Frau. Kathi Lenzen, eine Mittvierzigerin, hat das Leben übel mitgespielt. Sowohl ihr Mann als auch ihr siebzehnjähriger Sohn sind Opfer von Autounfällen geworden und die Firma ihres Mannes, ihre Einnahmequelle, ist beinahe pleite gegangen nach dessen Tod. Doch die resolute Kathi hat sich nicht unterkriegen lassen, und auch wenn die seelischen Narben bis heute nicht verheilt sind, schafft sie es, die Kulisse aufrechtzuerhalten.

Doch diese bröckelt, als sie eines Tages einen sechzehnjährigen, verwahrlosten Jungen im Supermarkt beim Klauen beobachtet. Sie überlegt hin und her, ob sie ihn darauf ansprechen soll, aber stattdessen folgt sie ihm am Ende und findet heraus, dass er alleine in einem leer stehenden Haus kampiert. Sie wendet sich an das Jugendamt, doch der Schuss geht nach hinten los, denn der engagierte Sozialarbeiter Dr. T. Engelbrecht bringt sie dazu, den Jungen, der sich Breaker nennt, für eine Weile bei sich aufzunehmen. Den Sinn dieses „Experiments“ erklärt er so, dass der zurückgezogene Streuner einmal sehen soll, wie das Leben auch sein kann. Kathi lässt sich breitschlagen, obwohl sie spürt, dass ihr diese Entscheidung noch sehr weh tun wird. Schließlich liegt der Tod ihres Sohnes erst zwanzig Monate zurück und sie ist beileibe nicht bereit, mit einem „Asi“ umzugehen …

An manchen Stellen klingt „Am Anfang sind sie noch Kinder“ wie Deutschlands gefürchtete Sozialbücher. Mitleidige Monologe über das Leben der Unterschicht sollen wohl die Augen für das Elend öffnen, gehen aber aufgrund ihrer Pathetik eher auf die Nerven. Manche Stellen klingen wie an den Haaren herbeigezogen und in das Korsett der eigentlich gar nicht so schlechten Geschichte gezwängt. Stellenweise lesen sich Absätze wie aus dem Propagandakatalog für Missstände in der deutschen Jugendarbeit, das bedeutet: trocken, einseitig und „sozialarbeitermäßig“. Hat das wirklich sein müssen? Anstatt dieses Anliegen durch Monologe Engelbrechts zum Ausdruck zu bringen, wäre es vermutlich wesentlich taktvoller gewesen, die angeprangerten Missstände mehr oder weniger unkommentiert in die Geschichte einfließen zu lassen.

Ich muss sagen, dass mir ein Hammesfahr ohne Krimi-/Thrillerelemente besser gefällt als mit. Das Buch hat nur wenig Spannung und beruht hauptsächlich auf der schwierigen, da distanzierten Beziehung zwischen Kathi und Breaker, die die beiden Perspektiven bilden. Breakers ist dabei sehr gut gelungen, wie ich finde. Gedanken und Gefühle eines Jungen, der in einer Dreizimmerwohnung mit dem versoffenen Vater und drei Geschwistern aufgewachsen ist, werden sehr authentisch dargestellt. Ihr nüchterner Schreibstil, der manchmal beinahe sachlich wirkt, so wenig Gefühl steckt in ihm, passt wie die Faust aufs Auge – bei Breaker.

Kathis Perspektive dagegen hat sicherlich auch ihre sonnigen Seiten, aber gerade in der Anfangsphase des „Experiments“ gibt es einige hölzerne Dialoge, wenn sie Breaker erklärt, wie der Hase läuft. Sie klingt aufgrund des Schreibstils dabei sehr kühl, sehr unberührt und dadurch grausam unauthentisch. In diesen Moment wird „Am Anfang sind sie noch Kinder“ tatsächlich zu einem der gefürchteten Sozialbücher, auch wenn es sich ansonsten ganz gut durchschlägt. Traurig, dass Hammesfahr hier nicht die Kurve kriegt.

Insgesamt weist der Schreibstil einige Mängel auf. Die akribischen Erläuterungen von Handlungen und Ereignissen mögen ein gutes Gesamtbild schaffen, doch an einigen Stellen ziehen sie die Lektüre einfach nur furchtbar in die Länge. Außerdem sind einige der Genauigkeiten wirklich unnötig. Wenn Kathi Kuchen kauft, interessiert es weniger, um welche Sorte es sich genau handelt, ob mit oder ohne Streusel und wo er gekauft wurde und wie Kathis Meinung über diese Bäckerei ist. Irritierend ist die Tatsache, dass Personen, selbst die Hauptpersonen, also jene, die dem Leser eigentlich ans Herz wachsen sollten, immer sehr distanziert mit ihrem Vor- und Nachnamen genannt werden. Besonders bei einem Sechzehnjährigen wirkt das merkwürdig „abweisend“.

Überhaupt macht Hammesfahr es uns sehr schwer, Zugang zu den Personen zu finden. Es fehlt den Charakteren an Tiefe. Erinnerungen und Gefühle, ein wichtiger Faktor, werden zwar nicht ausgeklammert, aber sie wirken immer merkwürdig kühl und sachlich, so als ob sie nicht zu der entsprechenden Person gehören würden. Bei Breaker weniger, bei Kathi mehr tritt dieses Manko zu Tage und ist schuld, dass am Ende der Lektüre ein unbefriedigendes Gefühl zurückbleibt.

Die Handlung an und für sich weist nur einen sehr dünnen Strang auf, der zudem sehr vorhersehbar ist. Allerdings schadet das dem Buch nicht, denn das Minimum an Handlung lässt genug Platz für die Entwicklung der Beziehung zwischen Kathi und Breaker. Was mich allerdings stört, ist das Ende, das wirklich überflüssig ist – aber nun gut. Es ist die Entscheidung der Autorin, wann und wo sie die Geschichte enden lässt.

Jedoch ist es die Entscheidung des Lesers, was er davon hält. Ich finde, dass „Am Anfang sind sie noch Kinder“ in der Summe immer noch zu den besseren Büchern von Petra Hammesfahr gehört. Sie überrascht mit einem ausgesprochen guten Händchen für den Problemjugendlichen Breaker, auf der anderen Seite konstruiert sie aber eine Frau, die aufgrund ihrer Distanziertheit und der fehlenden Tiefe sehr oberflächlich und austauschbar wirkt. In einem Buch, das hauptsächlich auf der Beziehung zwischen den Protagonisten aufbaut, ist das nicht wirklich gelungen. Den Schreibstil hat sie leider auch beibehalten, der aufgrund seiner kühlen Sachlichkeit und der akribischen Genauigkeit eine große Schlucht zwischen Leser und Protagonisten entstehen lässt. Trotzdem lässt sich das Buch flüssig lesen und die Lektüre macht an einigen Stellen sogar Spaß.

Saunders, Kate – Es soll Liebe sein

Mit ihrem aktuellen Roman „Es soll Liebe sein“ präsentiert uns Kate Saunders eine Geschichte, die vielleicht nicht sonderlich innovativ klingt, die aber dennoch für einige herrlich unbeschwerte und unterhaltsame Lesestunden sorgt. Cassie, die sowohl in der Karriere wie auch in ihrem Liebesleben ehrgeizig und konsequent ist, erhält einen nicht ganz alltäglichen Auftrag: Ihre „Ziehmutter“ Phoebe bittet sie nämlich, Frauen für ihre beiden Söhne zu finden; doch damit nicht genug verlangt sie außerdem, dass es wirklich Liebe sein soll. Phoebe, die bereits ihren Mann verloren hat, erfährt, dass sie selbst nicht mehr lange zu leben hat und möchte daher ihre beiden arbeitslosen, aber gutmütigen Söhne gut versorgt wissen. Doch ganz so einfach ist Cassies Aufgabe nicht, denn obwohl sie einige hübsche und erfolgreiche Single-Freundinnen hat, möchte sie ihnen ungern die beiden faulenzenden Muttersöhnchen Ben und Fritz aufschwatzen, die sie selbst für zwar sehr liebenswürdig, aber auch für schwer vermittelbar hält. So ist wirklich Not an der Frau.

Cassie beschließt, die beiden zu Verkuppelnden einzuweihen, um sie gleichzeitig um ihre Mithilfe zu bitten. Als Erstes wären da die beiden momentanen Gespielinnen der beiden Junggesellen loszuwerden, damit die Bühne frei ist für zwei von Cassies Freundinnen. Doch damit nicht genug, sollen die beiden sich auch endlich um einen Job kümmern, denn Ben versucht sich weiterhin als erfolgloser Konzertpianist, der zu sensibel für eine richtige Karriere ist, während Fritz seine abgeschlossene Ausbildung als Arzt weggeschmissen hat, um sich als ziemlich mieser Schauspieler zu verdingen.

Sobald diese Voraussetzungen erfüllt sind, können auch schon die ersten Kandidatinnen auf den Plan treten, doch merkt Cassie schnell, dass wahre Gefühle nicht zu erzwingen sind und Bens und Fritzens schmuddelige Wohnung sämtliche aufblühende Gefühle im Keim erstickt. So flüchtet die erste aussichtsreiche Heiratskandidatin schnell angesichts des Wohnchaos‘ der beiden Brüder. Nun ist guter Rat teuer, zumal Cassie ahnt, dass es mit ihrer eigenen Beziehung auch nicht zum Besten steht. Obwohl sie alles für ihren Matthew macht, jede Kulturveranstaltung brav (und vermeintlich interessiert!) besucht, gewissenhaft ihre Wohnung putzt und versucht, ihm alles Recht zu machen, kommt es zum großen Knall, als Cassies Wohnungsdecke einstürzt und Matthews teure Aktentasche samt seiner hochwichtigen Dokumente unter sich begräbt.

Klingt ein wenig abstrus und ziemlich vorhersehbar, oder? Und das ist es an vielen Stellen auch, nichtsdestotrotz liest frau jede Zeile gerne und oftmals mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Geschichte reißt einen von Anfang an mit und rührt einen immer wieder. Cassies Liebe zu Phoebe und ihren nutzlosen Söhnen ist praktisch grenzenlos, haben Phoebe und ihr Mann Jimmy doch die Rolle von Cassies Ersatzeltern übernommen. Nach Jimmys frühem Tod wirkt die schwere Krankheit der sympathischen Phoebe umso tragischer und ihre Sorge um ihre beiden Söhne bewegt sehr, auch wenn die lustigen Situationen im Buch klar überwiegen.

Insbesondere die Charaktere gefallen gut. Da wäre zum Ersten Cassie, aus deren Sicht das gesamte Buch geschrieben ist. Cassie ist im Beruf erfolgreich, privat verbiegt sie sich für ihren „Elch-gesichtigen“ Freund allerdings fürchterlich, bis es nicht mehr weitergeht und sie erkennen muss, dass Matthew es nicht sonderlich ehrlich mit ihr meint. Noch kann Cassie nicht ahnen, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gibt, der vielleicht besser zu ihr passt, der aber notorisch untreu und sexbesessen ist und nur Augen für andere Frauen zu haben scheint. Cassie mit ihren liebenswerten Macken wird für die weibliche Leserschaft zur Identifikationsfigur, da man manche ihrer Eigenarten auch ganz gut von sich selbst kennt. Außerdem ist sie natürlich die Sympathieträgerin schlechthin. Spätestens, wenn Cassie aus Versehen in ausgelatschten Turnschuhen zu ihrem schicken Armani-Kleid zu einer Party fährt, dürften die Lesersympathien klar verteilt sein.

Aber auch die beiden chaotischen und doch so liebenswerten Brüder, die im Laufe der Zeit eine erstaunliche Wandlung vollführen, tragen sehr zum Erfolg des Buches bei. Man könnte sich glatt in einen der Brüder verlieben, sodass man ihnen von Herzen wünscht, dass sie tatsächlich ihre große Liebe finden, wo sie bereits ihren Vater verloren haben und auch ihre Mutter bald sterben muss. Besonders Fritz wirkt umso tragischer, muss er doch trotz seines abgeschlossenen Medizinstudiums hilflos mit ansehen, wie die Medizin seinen Eltern nicht helfen kann.

Die Story an sich ist dabei fast schon nebensächlich, zumal sie fast durchweg sehr durchschaubar ist und man spätestens auf der Hälfte des Buches merken wird, welche Liebeskonstellationen sich am Ende ergeben werden. So überrascht das Happy-End für fast alle Beteiligten schlussendlich kaum noch, selbst wenn es von Phoebes tragischem Tod getrübt wird.

Sprachlich ist das Buch nicht so spritzig wie zum Beispiel bei Maria Beaumont, Sophie Kinsella oder auch Helen Fielding, bei denen man aus dem Schmunzeln kaum herauskommt, dennoch ist „Es soll Liebe sein“ eine richtig wohltuende Lektüre, gaukelt sie einem doch die schöne heile Welt vor. So wirkt dieses Buch erfrischend wie ein leichter Sommerregen und wird sein weibliches Publikum sicherlich zufrieden stellen, auch wenn es natürlich kein literarisches Meisterwerk ist. Aber eines ist sicher: Bei diesem Roman ist der Name Programm, sodass es sich definitiv lohnt, sich von Kate Saunders in diese Traumwelt entführen zu lassen.

http://www.krueger-verlag.de

Didier van Cauwelaert – Das Evangelium nach Jimmy

Man stelle sich vor, jemand würde heutzutage auf die Idee kommen, einen Menschen zu klonen. Nicht einfach irgendeinen Menschen, sondern eine Schlüsselfigur der Geschichte, die auch heute noch polarisiert. Nicht Napoleon oder Stalin, Hitler schon gar nicht – nein, Jesus! Nicht nur nach wissenschaftlichen Kriterien für uns absolut unvorstellbar, sondern auch ethisch höchst zweifelhaft. In Didier van Cauwelaerts Roman „Das Evangelium nach Jimmy“ wird dieses geradezu gruselige Szenario Realität und liefert die Kulisse für eine unterhaltsame, bitterböse Satire.

Jimmy Wood ist 32 Jahre alt und repariert die Swimmingpools der Gutbetuchten von Connecticut. Er glaubte stets, ein Waise zu sein, bis ihn drei Abgesandte des Weißen Hauses eines Besseren belehren. Eines Tages stehen ein Arzt, ein Priester und ein Jurist bei ihm auf der Matte und überbringen ihm eine Nachricht, die Jimmys Leben Kopf stehen lässt: Jimmy ist ein Klon von Jesus, der mit Hilfe von Blutproben aus dem Turiner Grabtuch hergestellt wurde.

Jimmy braucht eine Weile, bis er diese Neuigkeit verdaut hat, denn das ist wahrlich ein schwerer Brocken. Doch zur Muße bleibt ihm wenig Zeit, denn das Weiße Haus hat Großes vor. Eine ganze Heerschar von Stylisten, Psychologen, Geistlichen und Ernährungsberatern steht bereit, um Jimmy auf seine zukünftige Rolle als Messias vorzubereiten. Jimmy lässt sich schließlich darauf ein und beginnt langsam an sich zu glauben.

Jimmy vollbringt seine ersten Wunder und legt damit seine letzten Zweifel am messianischen Blut in seinen Adern ab. Er sorgt für eine wundersame Donutvermehrung, gibt einem Blinden das Augenlicht zurück und lässt gar einen Toten auferstehen. Doch je mehr Jimmy in seine Rolle als Reinkarnation des Messias hineinwächst, desto mehr gerät die Sache auch außer Kontrolle. Sein Auftritt im Vatikan wird zum Fiasko, seine Wunderheilung in Lourdes endet hochdramatisch und sein Auftritt in der Show eines Fernsehpfarrers sorgt für den medialen Höhepunkt, an dessen Ende alle nur noch eins wollen: Jimmy ans Kreuz schlagen.

Mein Eindruck

Schon der Inhalt offenbart, dass Didier van Cauwelaert einen absolut respektlosen und bitterbösen Roman abgeliefert hat – eine Satire, von der Menschen mit allzu empfindlichen religiösen Gefühlen wohl besser die Finger lassen sollten, um nicht ganz aus ihrem religiösen Gleichgewicht gebracht zu werden.

Doch „Das Evangelium nach Jimmy“ ist nicht einfach eine Religionssatire. Vielmehr liefert van Cauwelaert eine hervorragende Gesellschaftssatire ab. Es geht viel mehr um das, was die moderne Gesellschaft aus dem neuen Messias macht, als um seine Figur an sich. Natürlich bleibt Jimmy als Reinkarnation des Messias Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, doch geht es van Cauwelaert eben offensichtlich besonders auch um die Reaktionen, die sein Auftreten hervorruft. Und dabei scheint sich am Ende die Geschichte zu wiederholen – nur eben diesmal mit Internetabstimmung und Liveübertragung im TV.

Welche Auswüchse dieses Höllenspektakel hat, ist fantastisch anzusehen. So manches Grinsen huscht einem bei der Lektüre über das Gesicht, und so manches mal möchte man lauthals loslachen. Van Cauwelaert beginnt seine Geschichte in der Gegenwart, in der Ära Bush, der ganz nebenbei auf diese Weise auch noch sein Fett wegbekommt. Der zukünftige Präsident (ein schwuler Republikaner, man mag es kaum für möglich halten) setzt aber selbst auf eine Figur wie Bush noch einen drauf.

Van Cauwelaerts Buch dürfte so manchen stockkonservativen Amerikaner an den Rand des Herzinfarkts treiben, aber die gehören wohl ohnehin nicht zur Zielgruppe. Inszenierte schon DBC Pierre in [„Jesus von Texas“ 1336 ein haarsträubendes, abgedrehtes Medienspektakel, so setzt van Cauwelaert dem noch die Krone auf, indem er das Ganze in einen religiösen Kontext einbindet. Er wandelt dabei sicherlich an der Schmerzgrenze, aber ich denke, darüber ist sich der Autor im Klaren. Im Prinzip löst er die Sache zum Ende hin aber so gut auf, dass der Plot in sich stimmig ist und der anstößige, religiöse Kern der Geschichte in einem etwas anderen Licht erscheint.

Was man kaum für möglich halten mag, ist, dass die Kirche bei van Cauwelaert eigentlich gar nicht so schlecht davonkommt, wie man in Anbetracht der Thematik meinen möchte. Das Hauptaugenmerk der Kritik liegt eher auf skrupellosen Wissenschaftlern und der medialen Ausschlachtung, die mit Jimmy als zentraler Figur inszeniert wird. Jimmy wird eigentlich nicht gefragt, sondern einfach zu einer Rolle gedrängt, der er sich zu fügen hat.

Und so fällt auch der Blick auf die Figur des Jimmy wesentlich menschlicher aus als der Rest des Romans. Van Cauwelaert gibt Jimmy Raum für seine Selbstzweifel, lässt ihn an seiner Berufung zweifeln und verzweifeln. Jimmy bleibt trotz all der Inszenierung rund um seine Person ein Mensch, und diese Differenzierung zwischen knallharter Satire und einem persönlichen, menschlichen Blick auf die Hauptfigur gelingt van Cauwelaert ganz gut.

Van Cauwelaerts Stil liest sich dabei gleichermaßen locker wie unterhaltsam. Er formuliert gewitzt, mit einem Blick für skurrile Details und einem humorvoll-ironischen Unterton. Er schafft es, die Geschichte mit einer Prise Spannung auszustatten und bleibt bei allem Spaß und aller Satire auch immer noch menschlich.

Fazit: Wer Lust auf eine herrlich respektlose Satire hat und auch schon Spaß an Romanen wie „Jesus von Texas“ hatte, auf dessen Wellenlänge dürfte auch der Franzose Didier van Cauwelaert mit seinem Roman „Das Evangelium nach Jimmy“ liegen – respektlos, bitterböse, absolut fantastisch und schön zu lesen.

Gebunden: 406 Seiten
ISBN-13: 9783352007330

https://www.aufbau-verlage.de/ruetten-loening

Wang, Annie – Peking Girls

Zeit, über den Tellerrand zu schauen. Und nein, ich erwähne an dieser Stelle nicht die WM. Es ist auch so mal an der Zeit, sich anderen Kulturen zu widmen.

Wieso nicht mal ein wenig in China reinschnuppern? Schließlich bekommt dieses Land auf dem Buchmarkt herzlich wenig Beachtung, dafür, dass dort so viele unserer täglichen Bedarfsgüter hergestellt werden. Annie Wang möchte das mit ihren „Peking Girls“ ändern und konzentriert sich dabei auf die Upper-Class im heutigen China, das nach der Lektüre dieses Buches noch weit oberflächlicher und materialistischer scheint als die Vereinigten Staaten.

Wir erleben das Peking der Neuzeit dabei durch die Augen von Niuniu, einer Heimkehrerin, die es nach ihrem Studium in Amerika zurück zu ihren Wurzeln zieht. Der eigentliche Grund für ihren Umzug ist allerdings ihre zerbrochene Beziehung zu einem chinesischstämmigen Amerikaner, was jedoch im Buch kaum eine Bedeutung hat.

Überhaupt sollte man sich bei der Lektüre nicht auf eine großartige Handlung freuen. Annie Wang, die Kolumnen für die China Morning Post schrieb, verzichtet beinahe vollständig auf einen wirklichen Plot und skizziert anhand von kurzen Episoden mit zumeist amüsanter Pointe eine Gesellschaft, in der es wichtig ist, das teuerste Auto zu fahren und die richtigen Schönheits-OPs zu haben. Die Betrachtung durch Niunius westlich gefärbte Brille ist ein geschickter Schachzug, denn natürlich lässt sie es sich nicht nehmen, die Situationen zu kommentieren oder anhand einer subjektiven Darstellung ins Lächerliche zu ziehen.

Aus diesem Zweck hat Wang ihrer Protagonistin, die als Journalistin arbeitet, einen Freundeskreis zur Verfügung gestellt, der alle Bereiche abdeckt. Beibei ist Geschäftsleiterin einer erfolgreichen Staragentur und nimmt sich, obwohl verheiratet, regelmäßig jüngere Liebhaber; Lulu hat eine unglückliche Beziehung zu einem bindungsunwilligen Mann, der heimlich verheiratet ist; die in England aufgewachsene CC fühlt sich in China ebenfalls nicht wohl und hat außerdem einen Mann, der fremdgeht. Das scheint in China nichts Unnatürliches zu sein, denn anscheinend geht jeder fremd bis auf Niunius Freundin Mimi, die sich als Anwältin für sozial Benachteiligte einsetzt und eine Traumehe führt. Sie ist so etwas wie der positive Gegenpol zu all den Verheirateten, die untreu sind, den Zicken, den Machtgeilen, die immer auf die richtigen Beziehungen setzen, Leuten wie Beibei, die versuchen, ihre Stars mit möglichst vielen Intrigen an die Spitze zu bringen … Desweiteren erfahren wir, wie China zum Westen steht, wie man in China am besten überlebt und inwiefern sich die westliche und die moderne chinesische Kultur unterscheiden und wie paradox das teilweise ist.

Wenn es etwas gibt, das den Kauf von „Peking Girls“ wirklich rechtfertigt, dann ist es das pralle Wissen, das Frau Wang in ihrem „Roman“ unterbringt. Sie schafft es auf eine leicht amüsante, aber nur selten wirklich humorvolle Art, ihre Episoden herüberzubringen, und arbeitet die relevanten Fakten punktgenau heraus. Sie braucht dazu nur wenige sprachliche Mittel. Ihr ich-perspektivischer Schreibstil erinnert zum Teil an Tagebucheinträge. Er ist knapp und prägnant und verzichtet auf schmückendes Beiwerk. Zumeist reichen wenige erläuternde Sätze und die leider sehr gestelzt klingenden Dialoge, um das sehr umfassende Bild eines Landes im Umbruch zu vermitteln. Die Sprache ist sehr klar, sehr sauber und vor allem sehr harmlos. Wer erwartet, dass Annie Wang Tabus bricht wie ihre chinesische Kollegin Wei Hui, deren drastischer Roman „Shanghai Baby“ in ihrer Heimat verboten wurde, wird enttäuscht. Die Ankündigung auf dem Klappentext, „Maos Enkelinnen zwischen Sex, Konfuzius und Prada“, erfüllt sich nicht. Das Wort „Sex“ wird so gut wie nie in den Mund genommen, höchstens anhand von schwammigen Beschreibungen umrissen. Auch die Sprache ist frei von Kraftausdrücken und dreckig geht es in diesem Buch erst recht nicht zu.

Die einzelnen Episoden sind sehr kurz und zumeist unspektakulär. Gleiches gilt für die so genannte Handlung. Erst am Ende geht es weniger um Alltagsdinge als um Niunius Leben, was dann schon etwas enttäuschend ist, wenn das Buch als Roman vermarktet wird.

Mit diesem Manko geht einher, dass die Personen, allen voran die Protagonistin und Ich-Erzählerin, sehr austauschbar und oberflächlich wirken. Wirkliche Gefühle spielen kaum eine Rolle und die wenigen Charaktermerkmale, die aufgezeigt werden, bleiben normalerweise in einem sehr trivialen Rahmen. Dadurch wirkt Annie Wangs Debüt noch mehr wie eine Ansammlung kleiner Episoden aus dem Alltagsleben Pekings denn wie ein Roman, der nicht nur die Äußerlichkeiten einer Kultur, sondern auch die „Innerlichkeiten“ darstellt, also die Art, wie die dort lebenden Menschen mit den Äußerlichkeiten umgehen oder wie sie in ihren Gefühlen und Gedanken dadurch geprägt werden.

Wer Insiderwissen über das moderne Peking erwerben möchte statt einer tief gehenden Romanhandlung und wer sich damit zufrieden gibt, mit meist zusammenhangslosen Episoden mit wenig literarischer Güte, dafür aber mit einer gewissen, unterschwelligen Amüsiertheit serviert zu bekommen, möge zugreifen. Liebhaber von Romanen mit wirklichen Geschichten sollten allerdings lieber die Finger von „Peking Girls“ lassen, denn ihre Wünsche können in diesem Buch nicht befriedigt werden.

http://www.aufbau-verlag.de

Kornbichler, Sabine – Im Angesicht der Schuld

Helen Gaspary führt ein glückliches Leben: Die Ehe mit ihrem Mann Gregor, einem erfolgreichen Anwalt, ist harmonisch, die einjährige Tochter Jana ist ihr Sonnenschein, sie besitzt gute Freunde und geht einem interessanten Job nach. Eines Tages bricht ihr Leben von einer Minute auf die andere zusammen, als Gregor bei einem Sturz vom Balkon seiner Kanzlei ums Leben kommt. Die Polizei geht zunächst von Selbstmord aus, doch auch ein Fremdverschulden kann nicht völlig ausgeschlossen werden. Nichts deutete im Vorfeld darauf hin, dass Gregor sich umbringen wollte. Wie jeden Morgen hat er das Haus verlassen, ging seiner Arbeit nach, machte einen unauffällgen Eindruck, schien keine Sorgen zu haben. Da ein Unfall ausgeschlossen wird, ist Helen fest davon überzeugt, dass es sich um Mord handeln muss.

Kurz darauf erfährt die junge Witwe, dass Gregor ein großes Geheimnis vor ihr verbarg. Vor einem Jahr war er in einen Autounfall verwickelt, bei dem ein kleines Kind ums Leben kam. Gregor wurde zwar von jeder Schuld freigesprochen, doch er hat den Vorfall seiner Frau nie erzählt. Für die Polizei und Freunde kommen Schuldgefühle als mögliches Suizid-Motiv in Frage. Helen wird immer unsicherer, wie gut sie ihren Mann tatsächlich gekannt hat. Es stellt sich heraus, dass sowohl seine Familie als auch ihre gemeinsamen Freunde Anette und Joost über den Unfall Bescheid wusste. Helen sollte wegen früherer Depressionen geschont werden.

Immer weitere Rätsel um Gregors Tod tauchen auf und Helen weiß bald nicht mehr, wem sie glauben soll: Wer war der letzte Anrufer, mit dem sich Gregor kurz vor seinem Tod treffen wollte? Warum verschwieg Anette ihrer Freundin ein Telefonat mit ihm? Was verband Gregor mit Franka Thelen, der Freundin der Mutter des verstorbenen Kindes, die er regelmäßig traf? Selbstmord oder Mord, wie kam er ums Leben? Entgegen dem Rat ihrer Angehörigen überlässt Helen die Ermittlungen nicht allein der Polizei, sondern forscht in Gregors Vergangenheit nach Hinweisen, was zu seinem Tod geführt haben könnte …

Sabine Kornbichler steht im Ruf, eine Frauenromanautorin zu sein. Sicher steht auch in diesem Werk eine weibliche Protagonistin im Mittelpunkt, doch im Gegensatz zu anderen Büchern wie „Annas Entscheidung“ geht es hier nicht nur um den Alltag einer Frau, sondern um die Einbettung in eine Kriminalhandlung – eine Tendenz, die insgesamt sehr gut gelungen ist.

|Glaubwürdige Protagonistin|

Hauptanteil an der positiven Umsetzung hat die Darstellung der Ich-Erzählerin, deren Schicksal den Leser mitzureißen und zu berühren vermag. Helen Gaspary ist zu Beginn des Romans eine glückliche junge Frau, die kein außergewöhnliches, aber ein harmonisches Leben führt. Von einer Sekunde auf die andere bricht die heile Welt zusammen, als sie vom Tod ihres Mannes erfährt. Vorbei ist das Ehe- und Familienglück, zurück bleibt ein Scherbenhaufen, unter dem sich die geschockte Frau am liebsten begraben würde. Als wäre der Tod nicht schon hart genug zu ertragen, muss Helen nun auch noch auf dunkle Geheimnisse ihres Mannes stoßen, auf einen tödlichen Unfall, auf fremde Namen, auf eine verborgene Vergangenheit. Auch im befreundeten Ehepaar Anette und Joost findet Helen keinen Halt, vielmehr offenbaren sich auch hier verheimlichte Verstrickungen, die die junge Witwe zunächst nicht einordnen kann. In letzter Not klammert sie sich an ihre Tochter, für die sie stark sein muss, und an den unbändigen Willen, das Rätsel um Gregors Tod zu klären. Dieser Spagat zwischen Drama und Krimi ist erfreulich gut gelungen. Die trauernde Helen ist eine durch und durch glaubwürdige Figur, die sich der Situation angemessene Schwächen erlaubt. Tagelang verweigert sie das Essen, weint sich in den Schlaf, führt im Geiste Gespräche mit ihrem verstorbenen Mann, lässt stundenlang die Vergangenheit Revue passieren. Als zaghafte Lichtblicke erweisen sich die Nachbarin, die das Witwenschicksal mit Helen teilt, und natürlich ihre kleine Tochter, die ihrer Mutter immer wieder ein Lächeln abringt.

Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass Helen nicht, wie es sicher nahe gelegen hätte, zur Privatdetektivin in eigener Sache mutiert. Hauptsächlich ist und bleibt sie die verzweifelte Witwe, die sich nicht mit einem Selbstmord ihres Mannes abfinden will. Sie liefert der Polizei Hinweise und geht diversen Spuren nach, wird aber stets von Zweifeln und Unsicherheiten geplagt. Ebenso kommt die finale Aufklärung von professioneller Seite, wenn auch mit Helens Unterstützung.

|Breite Auswahl an Verdächtigen|

Krimifreunde kommen beim Lesen auf ihre Kosten, denn bis kurz vor Schluss scheint völlig offen zu sein, warum Gregor gestorben ist. Es mangelt nicht an Verdächtigen, sowohl im Freundeskreis als auch bei völlig Fremden. Da sind die Unklarheiten, was Anette und Joost kurz vor seinem Tod mit ihm zu klären hatten, was sie Helen offenbar verschweigen wollen. Da ist Franka Thelen, die unvermittelt auftaucht und sich als nähere Bekanntschaft des Verstorbenen entpuppt. Da ist die Mutter des Unfall-Kindes, die Gregor seine Beteiligung daran nie verziehen hat. Und da sind drei Namen, auf die Helen während ihrer Nachforschungen stößt, mit denen sich Gregor unmittelbar vor seinem Tod befasst haben muss. Die Verdachtsmomente schwanken, sowohl bei Helen als auch beim Leser. Immer undurchsichtiger wird das Netz aus Verstrickungen und Verwicklungen, aus Motiven und Entlastungen, so dass Helen bald kaum mehr weiß, wem sie trauen darf und wem nicht. Auch die Frage, ob es nun Suizid oder Mord war, steht lange Zeit unbeantwortet im Raum.

|Kleine Mankos|

Eine leichte Schwäche steckt in der Nebenfigur Nelli, einer jungen, bildhübschen Frau mit Sangestalent, die bei des Gasparys als Putzhilfe arbeitet und mit den Jahren ein fast freundschaftliches Verhältnis zu ihnen aufgebaut hat. Durch die Handlung zieht sich, beinah wie ein „Running Gag“, Helens beständige Ermahnung, dass Nelli ihre Intelligenz für eine brauchbare Ausbildung verwenden solle, was nach einiger Zeit nicht nur Nelli, sondern auch den Leser nervt. Dazu kommt, dass Nellis Charakter von frechen Bemerkungen und einer eher tendenziell burschikosen Freundlichkeit geprägt ist, was wohl für Auflockerungen sorgen soll – tatsächlich aber wirkt angesichts der dramatisch-spannenden Ereignisse Nellis Art eher wie ein ernüchternder Holzhammer, einfach fehl am Platz.

Ein weiteres, wenn auch nicht gravierendes Manko liegt in den Rückblicken, der Übersichtlichkeit halber kursiv gestaltet. Helens schweift in den Wochen nach Gregors Tod immer wieder in die Vergangenheit und erinnert sich an ihr Kennenlernen. Die ersten Jahre ihrer Bekanntschaft sind zwar aufschlussreich, aber doch zu verkitscht und klischeehaft geraten, da Gregor bereits jahrelang in Helen verliebt war, ohne dass sie seine Gefühle auch nur ahnte und er geduldig sogar ihre erste Heirat miterlebte, um auf seine eigene Chance zu warten. Dieses Verhältnis vom treu wartetenden Gregor und der naiven Helen, die fünf Jahre lang seine Liebe nicht bemerkte, erinnert zu sehr an übertriebene Hollywoodschnulzen, um realistisch zu wirken. Auch sind die Rückblicke, die sich oft über mehrere Seiten ziehen, zu lang geraten, um sich ideal in die Handlung zu integrieren, zumal sie nicht viel zu deren Fortschreiten beitragen.

Der letzte Kritikpunkt betrifft das Ende, wo sich das Rätsel um Gregors Tod endlich löst. Leider spielt dabei der Zufall eine große Rolle. Unbeabsichtigt macht Helen mit Nellis Hilfe einen Fund, der sich als heiße Spur entpuppt, die in kürzester Zeit eine Reihe offener Fragen beantwortet. Der Leser wie auch Helen werden anschließend vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne selber die Möglichkeit zu haben, die Hintergründe durch Knobeln zu erschließen. Das enttäuscht vor allem deshalb, weil der Roman bis dato durch Spannung und immer neue Entwicklungen geprägt ist, die man in ihrem Entstehungsstadium mitverfolgen konnte. Der Schluss bringt daher einen Verpuffungseffekt mit sich, trotz der enthaltenen überraschenden Wende.

Positiv ist wiederum der sehr angenehme Stil, der ohne große Schnörkel, immer leicht verständlich und übersichtlich dafür sorgt, dass sich die knapp 400 Seiten in einem Rutsch weglesen lassen. Abgesehen von den Rückblenden in Helens und Gregors Vergangenheit lässt die Autorin keine Abschweifungen zu.

_Als Fazit_ bleibt ein sehr lesenswerter Roman über einen ungeklärten Todesfall und die Suche nach der Wahrheit. Sabine Kornbichler gelingt hiermit eine überzeugende Mischung aus Familiendrama und Krimi mit einer sympathischen Protagonistin, vielen Verdächtigen und spannenden Entwicklungen, verpackt in einen flüssigen Stil. Nur kleine Schwächen schmälern das Gesamtbild, unter anderem die kitschigen Rückblenden und eine Zufallsentdeckung am Schluss.

_Die Autorin_ Sabine Kornbichler wurde 1957 in Wiebaden geboren. Sie studierte zunächst VWL und arbeitete als Texterin und PR-Beraterin. Seit 1998 lebt sie als freie Autorin in Düsseldorf. Ihr Werk umfasst Romane und Kurzgeschichten. Weitere Bücher von ihr sind: „Majas Buch“, „Klaras Haus“, „Steine und Rosen“, „Vergleichsweise wundervoll“ und „Annas Entscheidung“.

Sabine Kornbichler – Annas Entscheidung

Anna, Anfang dreißig und geschieden, verliert ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz. Die junge Frau zieht sich fast völlig von ihrer Umwelt zurück. Bei der Wohnungsauflösung in Bayern lernt sie durch Zufall den Mediziner Steffen kennen. Steffen verarztet nicht nur ihren verstauchten Knöchel, sondern lädt sie auch zum Essen ein. Er macht keinen Hehl aus seinem deutlichen Interesse an Anna. Anna wiederum fühlt sich bei dem sensiblen Mann geborgen, möchte aber derzeit keine Beziehung eingehen. So kehrt jeder zurück in seine Heimat, Anna nach Hamburg, Steffen nach Düsseldorf. Die weiteren Monate bleiben die beiden in telefonischem Kontakt miteinander. Hartnäckig wirbt Steffen weiter um Anna, bis sie sich schließlich auf eine Beziehung mit ihm einlässt.

Sabine Kornbichler – Annas Entscheidung weiterlesen

Peper, Rascha / Ecke, Andreas – Visions of Hanna

Ein Verlag, dessen Programm sich hauptsächlich mit dem Meer in all seinen Formen beschäftigt? Das klingt auf den ersten Blick wie ein Tummelplatz für Seemannsgarn, doch „Visions of Hanna“ von der Niederländerin Rascha Peper ist weit davon entfernt.

An und für sich spielt das Meer in dem Roman auch nur eine Nebenrolle. Die „Hauptrolle“ kommt der lebenslustigen Mittdreißigerin Hanna zu, die vor zwei Jahren bei einem Schiffsunfall ums Leben kam. Seitdem liegt ihre Leiche in dem gesunkenen Schiff auf dem Meeresboden vor der marokkanischen Küste.
Währenddessen geht das Leben weiter, wenn auch in veränderter Form. Gerard, der in Hanna seine Traumfrau sah, lebt in New York, wo er als Strömungsforscher arbeitet. Er kann Hanna einfach nicht vergessen.

Robin dagegen, der Gerard Hanna ausgespannt hat, kann nicht damit leben, dass sie dort auf dem Meeresboden liegt, obwohl sie sich vor diesem verhängnisvollen Urlaub getrennt hatten. Er stellt eine Expedition auf die Beine, die nach dem Wrack und Hannas Leiche tauchen will.

Hannas Nichte, die fünfzehnjährige Emma, die gerade mitten in der Pubertät und den damit verbundenen Hormonverwirrungen steckt, verehrt ihre Tante auf eine gewisse Art und Weise und möchte Robin bei der Bergung ihrer Leiche behilflich sein. Sie gibt ihm Geld und dabei ihr Herz. Sie verliebt sich in den über zwanzig Jahre älteren Mann, doch obwohl er sich auch zu ihr hingezogen fühlt, lässt er es nicht zu, dass sie ihn verführt. Lange leidet sie an diesem Schmerz, doch dann drängt sich ihr Klassenkamerad Sai Kho in ihr Leben …

Der pensionierte Schneider Alphons LeCoultre, Hannas Vater, der neben seiner Tochter auch seine Frau zu beklagen hat, verbringt seine alten Tage damit, an die Toten zu denken und einen letzten Anzug für den Ministerialbeamten van Waardenburg zu schneidern, der zufällig der Konkurrent seines Schwiegersohns ist.

Herr van Waardenburg kennt Hanna überhaupt nicht. Er hat genug mit seiner heimlichen Obsession zu kämpfen, in fremde Häuser einzusteigen und sich dort an der Unterwäsche der Hausdame zu vergnügen.
Und dann wären da noch die blauen Gummientchen, die Gerard ins Meer hat setzen lassen, um die Strömungen zu erforschen …

Und was hat das jetzt mit Hanna zu tun?, fragt man sich. Zu Recht. Der Klappentext offeriert eigentlich eine sehr interessante Konstellation. Eine tote Frau, die trotz ihrer Abwesenheit immer noch Einfluss auf Menschen hat, die ihr nahe stehen. Schön und gut. In gewissem Sinne stimmt das auch, aber der einzige wirkliche Einfluss, den sie hat, ist der auf Robin, der sie unbedingt bergen möchte und außerdem mit ihrer Nichte zu kämpfen hat. Der gewissenhafte Gerard verschwendet zwar den einen oder anderen Gedanken an seine Ex, doch im Großen und Ganzen wird hauptsächlich von seinem Leben in New York erzählt, bei dem ein großer Wassertank auf dem Dach seines Hauses eine wichtige Rolle spielt. Nicht besonders interessant, wie auch die meisten anderen Perspektiven.

Aber was ist denn das Besondere an Hanna? Eine weitere Frage, bei der es mich wundert, dass sie nur so unbefriedigend beantwort wird. Da der Frau eine derartige Wichtigkeit zugewiesen wird, verstehe ich nicht, dass ihr Wesen, ihre Art nur sehr vage umrissen wird. Nirgends ist von einem besonderen Charisma oder Ähnlichem die Rede. Im Gegenteil scheint sie eine normale Mittdreißigerin zu sein. Manchmal vielleicht ein bisschen wankelmütig, was ihre Liebschaften angeht, aber ansonsten eine normale Frau.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Roman keinen linearen Plot hat. Er erzählt vielmehr Abschnitte aus dem Leben der oben genannten Protagonisten, die nur selten wirklich aufregend sind. Oft werden Tätigkeiten wie Robins Taucherei oder LeCoultres Schneiderei bis ins kleinste Detail beschrieben, was zwar eine gute Recherche beweist, aber unnötig in die Länge zieht. Mit der Zeit gewinnt die Geschichte stellenweise, zum Beispiel bei den Verwicklungen zwischen Emma und Robin, an Fahrt, kommt jedoch nicht besonders weit.

Man muss Frau Peper anrechnen, dass sie ihre Figuren authentisch zeichnet. Besonders die fünfzehnjährige Emma ist sehr beeindruckend, weil sie die Pubertät wirklich gut verkörpert. Auch die anderen Personen haben ihren Reiz, auch wenn es hin und wieder an Ecken und Kanten fehlt. Von Hanna wollen wir jetzt gar nicht reden. Wenn ein Buch schon keine ordentliche Handlung hat, sollten wenigstens die Figuren überzeugen, doch auch hier kann Peper nicht wirklich gewinnen. Authentisch ja, aber trotzdem nicht herausragend.

Der Schreibstil reißt auch nicht vom Hocker. Alltägliche, nüchterne Sprache ohne großartige Ausarbeitung trifft auf teilweise sehr komplexe Satzbauten, die das Lesen nicht immer einfach machen. Verbunden mit der bereits erwähnten Langatmigkeit entwickelt sich der Stil zu einem lähmenden Gift für das gesamte Buch, das sicherlich auch seine guten Seiten hat. Einige der Perspektiven, besonders die von Emma und Robin, sind durchaus interessant zu lesen, weil in ihnen etwas passiert. Gerards Gedanken zu Gummienten können dagegen nicht mithalten und so ist „Visions of Hanna“ ein durchwachsenes Buch.

Durchwachsen deshalb, weil es Spannung, schön gezeichnete Personen und flüssig lesbaren Schreibstil auf zu unterschiedlichen Ebenen serviert. Zwischen der Perspektive eines Gerards und der einer Emma liegen einfach Welten. Auf der einen Seite der vierzigjährige Langweiler, der sich mit Gummienten und Vermietern herumschlagen muss, auf der anderen der Teenager, der erste sexuelle Erfahrungen sammelt. Ich gehe so weit, Frau Peper zu empfehlen, doch mal ein Jugendbuch zu schreiben, denn mit Emma hat sie mein Herz gewonnen. Vielleicht kann ich die Seiten mit den langweiligen Perspektiven einfach herausreißen. Sie haben schließlich keine Bedeutung für die so gut wie nicht vorhandene Handlung.

http://www.marebuch.de/

Goldberg, Myla – Buchstabenprinzessin, Die

Eliza Naumann ist eine mittelmäßige Schülerin. Unscheinbar schwimmt sie im Mittelfeld, bringt mittelmäßige Noten mit nach Hause und ist mittelmäßig interessiert, so dass selbst ihr Vater Saul kaum mehr darauf hoffen möchte, dass Eliza vielleicht etwas Besonderes sein könnte. Sie scheint so ganz anders als ihr älterer Bruder Aaron zu sein, dem schon von Anbeginn seiner Schullaufbahn die Begabtenförderung zuteil wurde. Für Saul ist Eliza damit eine Enttäuschung. Das ändert sich, als Eliza den Buchstabierwettbewerb an ihrer Schule gewinnt und zur Regionalausscheidung fahren darf.

Als sie auch den Regionalwettbewerb für sich entscheiden kann, steigt sie in der Gunst des Vaters, sieht der Rabbi und Kabbala-Forscher in dem jungen Buchstabiertalent doch seine Hoffnungen genährt, dass er endlich eine Gemeinsamkeit gefunden hat, die er mit seiner Tochter teilen kann. Beide teilen schließlich ihre Buchstaben-Faszination und so vertiefen Vater und Tochter sich fortan in die Geheimnisse des Buchstabierens und rücken dabei auch den Geheimnissen der Kabbala immer näher – sehr zum Leidwesen von Aaron, der sich in der Gunst des Vaters zurückgesetzt fühlt.

Das gemeinschaftliche Gitarrengeklimper von Vater und Sohn verschwindet im Ehrgeiz der Vorbereitungen auf den Nationalen Buchstabierwettbewerb völlig aus Sauls Zeitplan und damit auch Aaron fast unmerklich aus dem Leben seines Vaters. Galt er sonst in der Synagoge als Vorzeige-Jude, orientiert Aaron sich fortan an anderen religiösen Weltbildern, auf der Suche nach einem tieferen Sinn für sein Leben. Ehe Saul überhaupt etwas von der Veränderung bemerkt, hat Aaron sich auch schon einer Sekte zugewandt.

Doch Aaron ist nicht der Einzige, der sich unmerklich aus dem Familienleben der Naumanns herauszulösen beginnt. Auch Sauls Ehefrau Miriam, die als Rechtsanwältin arbeitet, entgleitet immer mehr in ihr verborgenes Dasein fernab der Familie, bis sie schließlich an ihrem geheimen Doppelleben zu zerbrechen droht. Ohne dass Saul es hätte kommen sehen, steht er eines Tages vor den Trümmern dessen, was einmal eine vorbildliche Familie war …

Myla Goldberg spinnt in ihrem Debütroman „Die Buchstabenprinzessin“ ein Familiendrama, welches das kaum spürbare, stetige Auseinanderbrechen familiärer Strukturen thematisiert. Die Naumanns sind eine Familie, in der jeder freizügig seinen eigenen Interessen nachgeht. Der Vater verrammelt sich stundenlang im Arbeitszimmer über seinen Schriften und will auf keinen Fall gestört werden, so dass er kaum mitbekommt, dass seine Tochter einen Buchstabierwettbewerb gewonnen hat, während die Mutter sich in ihrem Job verkriecht und selten pünktlichen zum Abendessen zu Hause ist.

In gewisser Hinsicht sind die Naumanns eine moderne Familie. Saul kümmert sich um Abendessen und Schulsorgen, während Miriam den Großteil des Unterhalts bestreitet. Souverän, weltgewandt und in gewisser Weise lässig wirkt das Familienleben der Naumanns. Die Eltern gehen selbstbewusst ihre Wege, nur die Kinder hadern noch mit den Tücken von Kindheit und Pubertät.

Doch wie labil das auf den ersten Blick noch so robuste familiäre Gefüge ist, zeigt Myla Goldberg innerhalb recht weniger Romanseiten. Elizas Triumph bei den Buchstabierwettbewerben bringt das empfindliche, eingespielte Gleichgeweicht zwischen den Familienmitgliedern aus der Balance. Saul widmet seine volle Aufmerksamkeit nur noch seiner Tochter und die Konsequenzen sind fatal. Goldberg zeigt, wie leicht zwischenmenschliche Beziehungen vor die Hunde gehen können, sobald sie einmal aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Die Art, wie Goldberg dem Leser ihre familiäre Beziehungsstudie serviert, ist im Großen und Ganzen wirklich gelungen. Sie macht die Charaktere greifbar und begreifbar. Wie ein Puzzle fügt sich im Laufe der Zeit das Bild einer Familie zusammen, in der die Erwachsenen immer mehr mit sich selbst als mit den anderen beschäftigt sind. Skizzenhaft entwickelt die Autorin ihre Figuren, streut Rückblenden in das Geschehen ein und springt zwischen den einzelnen Familienmitgliedern hin und her. Die Erzählung bekommt auf die Art einen erfrischenden episodenhaften Charakter.

Verhaltensweisen und Gedanken der Protagonisten werden dabei größtenteils durchaus begreiflich. Lediglich Miriam bleibt dem Leser irgendwie fremd. Sie ist eine ausgesprochen sonderbare Personen und der Plot rund um ihre Geschichte wirkt etwas überzogen und unglaubwürdig. Man wird nicht so recht warm mit ihr und auch wenn Goldberg am Ende sämtliche Facetten ihres Familiengemäldes freilegt, bleibt Miriam ein verschwommener Punkt des Bildes, der den Gesamteindruck etwas trübt.

Sprachlich macht Goldberg dagegen wieder einiges an Boden gut. Sie formuliert treffsicher und immer wieder auch mit einer gewissen Prise Witz. Sie versteht sich auf bildhafte Beschreibungen und skizziert vor dem Auge des Lesers ein recht lebhaftes Bild von Protagonisten und Handlung. So entpuppt sich „Die Buchstabenprinzessin“ als durchaus unterhaltsame Lektüre, mit einem nicht zu leugnenden sprachlichen Pepp.

Als zusätzliche Würze enthält der Roman obendrein einen kleinen Einblick in das Leben jüdischer Familien in Amerika. Goldberg schildert den Familienalltag auch unter dem Augenmerk des jüdischen Glaubens, was einen durchaus interessanten Nebenaspekt des Romans ausmacht.

Für Cineasten ist übrigens interessant zu wissen, dass „Bee Season“, wie das Buch im amerikanischen Original heißt, im letzten Jahr in Hollywood verfilmt wurde und in den US-Kinos auch schon lief. Dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein, wann auch der deutsche Kinogänger Richard Gere in der Rolle des Saul dabei beobachten darf, wie um ihn herum seine Familie zerfällt, während er mit seiner Tochter |Aquädukt| buchstabiert.

Bleibt als Fazit festzuhalten, dass Myla Goldberg mit „Die Buchstabenprinzessin“ ein durchaus interessantes Debüt geglückt ist. Sie skizziert ein Familiendrama mit lebhaften Figuren, von denen lediglich Miriam einen faden Beigeschmack zurücklässt. Ansonsten überzeugt Goldberg durch ihre lockere Art zu erzählen und ihre fein geschliffene Sprache, die das Buch zu durchaus unterhaltsamer Lektüre macht.

http://www.rowohlt.de

Shriver, Lionel – Wir müssen über Kevin reden

Auch wenn es dafür keinen aktuellen Anlass gibt, veröffentlichte der |List|-Verlag im Februar das Buch „Wir müssen über Kevin reden“, welches das Thema Schulmassaker aus einer ungewöhnlichen Perspektive behandelt.

Eva ist das, was man eine emanzipierte Frau nennt. Sie hat ihren eigenen Verlag für Reiseführer aufgemacht, der Marktführer ist, sie hat einen liebenden Mann und ein gutes Leben. Nur eins scheint ihr zu fehlen: ein Kind. Ihr gesamter Freundeskreis ist von der Krankheit Schwangerschaft befallen, und obwohl ihnen das kinderlose Leben sehr bekommt, bekniet sie Franklin, etwas daran zu ändern.

Schnitt. Sechzehn Jahre später setzt sich Eva am Anfang des Buches an den Schreibtisch und schreibt einen Brief an Franklin, in dem sie berichtet, wie ihr Leben jetzt aussieht. Dass sie als normale Angestellte in einem Reisebüro arbeitet, dass sie Angst hat, in den örtlichen Supermarkt zu gehen, dass Mary Woolford sie angezeigt hat.

Diesem Brief folgen viele weitere, in denen sie ihrem Mann die Missverständisse der letzten sechzehn Jahre gesteht und dem Leser Fragezeichen in die Augen zaubert. Immer wieder lässt sie durchschimmern, dass an einem „Donnerstag“ etwas Ungeheuerliches passiert ist, an dem ihr Sohn Kevin schuld war.

Kevin – wie der Titel des Buchs schon sagt, spielt der Junge die Hauptrolle. Kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag hat er in seiner Schule in Gladstone mehrere Mitschüler erschossen und sitzt deshalb nun im Jugendgefängnis. Wie immer in solchen Fällen versucht man die Schuld bei den Eltern zu suchen – auch bei Eva, die sich daraufhin vor Gericht rechtfertigen muss.

Doch in ihren Briefen rechtfertigt sie sich letztlich vor sich selbst und offenbart Dinge, die sie vor Gericht nicht hat laut werden lassen dürfen. Dinge wie zum Beispiel Kevins sonderbares Verhalten, das schon bei seiner Geburt beginnt, als er sich weigert, von seiner Mutter gestillt zu werden. Die Abneigung gegen Eva nimmt nicht ab und entwickelt sich mit der Zeit zu Hass. Kevin stellt sich dümmer an, als er ist, doch Franklin übersieht diese Tatsache und nimmt ihn ständig in Schutz, wenn Eva sich darüber beschwert, dass er ihr Arbeitszimmer zerstört hat, oder ihn verdächtigt, Schuld daran zu sein, dass ihre Tochter Celia ein Auge verliert.

Mit der Zeit offenbart sie ein Familienleben, das auf den ersten Blick zwar ganz normal scheint, auf den zweiten aber höchst ungewöhnlich ist. Sie sucht nach Gründen, wie es zu diesem Massaker kommen konnte und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Aufrichtig gegenüber sich selbst und einer schmerzenden Wahrheit erzählt sie Franklin ihre Sicht der letzten sechzehn Jahre.

Evas Monolog geht über 560 Seiten und dafür schafft es die Autorin ausgesprochen gut, den Leser bei der Stange zu halten. Besonders später, wenn man sich dem Massaker nähert und Eva aufhört, jede Erinnerung doppelt und dreifach auszuwalzen, kommt sogar etwas Spannung auf. Die Länge ist das wohl größte Manko von „Wir müssen über Kevin reden“. Normalerweise freut sich ein Buchwurm natürlich über viele Seiten, doch wenn sie sich stellenweise derart in die Länge ziehen, kann er drauf verzichten.

Hierbei fällt außerdem noch Shrivers ausschmückender Schreibstil ins Gewicht. Sie schreibt sehr persönlich aus der Ich-Perspektive in einer guten, klaren Sprache, die jeder versteht und die ein flüssiges Lesen ermöglicht. Allerdings werden Längen noch länger, wenn sie mit viel Ausschweifung und Schmuck versehen sind. Unnötige Details und ein Übermaß an Metaphern, die nicht immer glatt eingebunden sind, trüben das Vergnügen.

Denn davon abgesehen, kann sich Lionel Shrivers Roman durchaus sehen lassen. Die Metaphern stören nicht immer, sondern unterstreichen die interessante Handlung an den meisten Stellen. Die häufige Benutzung der indirekten Rede bringt Vitalität und Farbe ins Geschehen.

Der einzige Kritikpunkt, den ich noch anzubringen habe, bezieht sich auf die Thematik des Buchs. Leider habe ich das Gefühl gehabt, dass die Autorin es sich mit den Schuldzuweisungen etwas zu leicht macht. Richtig gelesen. Wir reden hier über die Autorin, denn schließlich ist sie es, die die Charaktere kreiert, und mit der Darstellungsweise von Kevin bin ich nicht einverstanden. Die Behauptung, dass ein Kind von Geburt an nur Böses im Schilde führen kann, ist mir etwas zu plakativ, zu schwarzweiß gezeichnet. Böses Baby wird zu bösem Killer – das klingt etwas zu sehr nach der amerikanischen Feindbildmafia! Doch nun gut. Es liegt wohl bei jedem Leser selbst, was er darüber denkt. Mich hat diese simple Erklärung für ein Blutbad aber sehr enttäuscht und außerdem verärgert, weil sie es sich ein bisschen zu einfach macht.

Gerade bei einem derart sensiblen Thema kann ich deshalb bei der Bewertung nicht einfach darüber hinwegsehen. Zusammen mit den Längen und dem ab und an zu ausschmückenden Schreibstil ist „Wir müssen über Kevin reden“ trotz der ganzen Lobeshmynen nur ein durchschnittliches Buch in meinen Augen. Thematik und Perspektive sind durchaus interessant, aber der Umgang damit missfällt. Schade.

Boyden, Joseph – lange Weg, Der

Eine alte Indianerin holt einen jungen Mann in der Stadt am Bahnhof ab. Er ist ihr Neffe. Und er ist am Ende! Auf dem Weg zurück in die Wildnis, in der sie zu Hause sind, spürt sie, wie sie ihn immer mehr verliert. Um seine Seele zurückzuhalten, erzählt sie ihm von der Vergangenheit, während er selbst gefangen ist in seinen eigenen schrecklichen Erinnerungen, von denen er sich nicht lösen kann…

„Der lange Weg“ erzählt eigentlich zwei Geschichten, die parallel nebeneinander herlaufen und sich gelegentlich berühren.
Die eine ist die von Niska. Sie beginnt in ihrer Jugend, erzählt von ihrem Vater, dem Schamanen des Stammes, von den Weißen und ihrer Stadt, die immer mehr das Leben der Indianer bestimmen und die alte Kultur untergraben; von ihren Erfahrungen mit der Nonnenschule der Weißen und ihrer Flucht zurück in die Wildnis; von ihrer kurzen Beziehung zu einem französischen Trapper; von Verrat, Rache und dem Kampf ums Überleben. Und sie erzählt von Xavier, ihrem Neffen; von seiner Kindheit unter ihrer Obhut, von seiner Jugend und von seinem Freund Elijah …
Die andere ist die von Xavier. Von seiner Reise in die Stadt, von der Ausbildung zum Soldaten, der Schiffsreise nach Europa, der Front. Und von der Beziehung zu seinem Freund Elijah, der sich in der Fremde immer mehr verändert, bis er vom Freund zum Feind zu werden droht.

Elijah ist einer von den Menschen, denen jeder gern imponieren und mit denen jeder gern befreundet sein möchte. Er redet gern, viel und gewandt, er lächelt und scherzt. Das macht ihn beliebt. Gelegentlich aber zeigt sich auch die Neigung, seinem Freund Xavier Streiche zu spielen, und die sind nicht unbedingt sehr nett. Auch in anderer Hinsicht nimmt er es nicht immer so genau; so klaut er zum Beispiel einer der Nonnen das Gewehr, ehe er die Schule verlässt. Die anderen Männer ihrer Einheit wissen nichs von diesem etwas unangenehmen Charakterzug. Sie bewundern Elijah und verehren ihn als Helden, und Elijah genießt das. Dass sein Freund Xavier dieselbe Arbeit tut, denselben Mut beweist und nebenbei noch der bessere Schütze ist, fällt dabei völlig unter den Tisch.

Xavier dagegen ist eher schüchtern und extrem schweigsam, was unter anderem auch daher rührt, dass er zu Anfang so gut wie kein Englisch spricht. Er kennt Elijah seit seiner Kindheit. Deshalb, und weil Elijah ihm als Einzigem alles erzählt, was er tut, bleibt ihm auch die Veränderung nicht verborgen, die mit seinem Freund vorgeht. Je länger sie an der Front sind, desto mehr Gefallen findet Elijah am Töten. Während alle anderen sich nichts mehr wünschen, als diesem verdammten Krieg zu entkommen, kann Elijah, so scheint es, kaum genug davon kriegen und wird immer wagemutiger, fordert das Schicksal geradezu heraus. Xavier fühlt sich in seiner Nähe immer unwohler, ja, er fürchtet sich vor ihm. Und er fühlt sich zurückgesetzt, weil Elijah sämtliche Lorbeeren für sich allein einheimst.

Während Elijah in der Vernichtungsmaschinerie des Krieges aufgeht und seinen Lebenszweck im Töten findet, fühlt Xavier sich abgestoßen. Er kann die Denkweise und das Tun der Weißen nicht begreifen, geschweige denn es mit seinem eigenen Denken und seinen Wünschen in Einklang bringen. Er hasst das, was er tut und was er nicht tut, und fühlt sich schuldig. Mit der Entfremdung von Elijah verliert er seinen letzten Ankerpunkt im Leben. Er sucht halt in der Tradition seines Volkes, doch in diesem fernen Land kann er die Geister nicht erreichen. Auf sich allein gestellt muss er eine Entscheidung treffen …

Die zerstörerische Wucht dieses Krieges, der die Unmenschlichkeit auf ein bis dahin nicht dagewesenes Maß gesteigert hat, zeigt sich in diesem Buch auf vielerlei Weise. Es scheint nur noch Schmerz und Tod zu geben. Alles andere geht zu Bruch: Liebe, Freundschaft, der Glaube an das Gute; menschliche Körper und menschliche Seelen.
Joseph Boyden geht nicht ins Detail, aber das ist auch gar nicht nötig. Die nüchternen Tatsachen allein sind erschütternd genug. Spätestens nach der Lektüre dieses Buches weiß der Leser, warum man einen solchen Ort Schlachtfeld nennt. Schlacht kommt von schlachten! Erstaunlich, dass es Soldaten gab, die den Krieg überlebten, ohne morphiumsüchtig oder wahnsinnig zu werden!
Xavier berichtet sachlich, fast trocken, was sie tun und was passiert. Gelegentlich erwähnt er, dass er nachts nicht schlafen kann. Fast könnte man glauben, dass es ihn nicht wirklich berührt. Nur in Niskas Worten wird deutlich, dass Xavier nicht nur körperlich, sondern vor allem seelisch verwundet ist. Das Grauen um ihn her, seine eigenen Taten, das alles sucht ihn in seinen Fieberträumen heim, verfolgt ihn bis in die Wildnis. Wie soll er mit solchen Erinnerungen weiterleben?

Niska weiß, dass etwas an ihm frisst. Ihr ist klar, dass es nicht allein die körperlichen Schmerzen sind, die ihn im Schlaf wimmern und schreien lassen. Als Schamanin hat sie Visionen dieses Krieges gesehen, doch sie kann das, was sie sieht, nicht begreifen, weil es ihrer eigenen Welt so fremd ist. Alles, was sie tun kann, ist ihre eigene Welt dagegen zu halten: die Stille der Natur, die Bäume, den Fluss, die Tiere, den Himmel, die Sonne; Erinnerungen an die eisige Kälte des Winters, an tiefen Schnee und nagenden Hunger, aber auch an eine erfolgreiche Jagd, an das Überwinden der eigenen Angst. Letztlich aber gibt es nur eines, was Xavier am Leben erhalten kann: die Aussöhnung mit sich selbst! Xavier muss sich den Geistern seiner Erinnerungen stellen …

Selten wurde die Sinnlosigkeit des Krieges in einer Erzählung deutlicher als in dieser Gegenüberstellung zweier verschiedener Kulturen. Auch der Sieg schützt die Soldaten nicht davor, als haltlose, am Boden zerstörte Wracks nach Hause zu kommen, ebenso unfähig, in ihr altes Leben zurückzukehren wie sich ein neues aufzubauen. Jeder Soldat zahlt im Krieg mit seinem Leben, auf irgendeine Weise. Es ist unmöglich, unversehrt zu bleiben und als jener zurückzukehren, als der man aufgebrochen ist.
Selten auch wurde irgendwo deutlicher, dass die endgültige Beendigung eines solchen Exzesses nur durch Vergebung möglich ist. Selbst, wenn die Waffen längst schweigen und die Haut vernarbt ist, ist der Krieg noch nicht vorbei. Erst wenn der Kampf gegen die eigenen Erinnerungen, gegen Hass, Trauer und Schuldgefühle gewonnen wurde, ist Frieden!

Mit anderen Worten: dieses Buch ist keine leichte Lektüre! Das gilt nicht nur für den Inhalt. Die Handlung pendelt zwischen der Gegenwart, in der Niska mit Xavier den Fluss hinunterpaddelt, zwischen Niskas Vergangenheit und Xaviers Erinnerungen. Während Niskas Erinnerungen in der Vergangenheitsform erzählt werden, stehen Xaviers in der Gegenwartsform, wie die übrige Handlung auch. Der Autor unterstützt den Leser lediglich dadurch, dass der Erzählerwechsel zwischen Niska und Xavier mit den Kapitelenden zusammenfällt, und fordert damit vom Leser Konzentration. Die Sprache ist dafür eher schlicht und direkt.

„Der lange Weg“ ist zu Recht ein Bestseller geworden! Es zeigt nicht nur den ersten Weltkrieg aus einer ungewohnten Perspektive – ich wusste weder, dass Kanada sich am ersten Weltkrieg beteiligt hat, noch, dass indianische Soldaten an der Front waren – sondern beinhaltet viele verschiedene Facetten, von der Chronik einer zerbrechenden Freundschaft über die charakterliche Entartung eines Einzelnen bis zum unüberwindbaren Widerspruch zwischen der technischen Lebensart der Weißen und der natürlichen der Indianer, ohne dass dabei Letztere romantisch verklärt oder idealisiert wird. Es bietet nicht unbedingt das, was man gemeinhin als spannend bezeichnet, aber es fesselt den Leser, fordert ihn, sowohl geistig als auch seelisch, und lässt ihn betroffen und schweigend zurück, aber nicht ohne Hoffnungsschimmer.
Prädikat: sehr wertvoll.

Joseph Boyden ist gebürtiger Kanadier indianischer Abstammung und lebt in New Orleans. „Der lange Weg“ ist sein erster Roman. Inspiration dafür war der indianische Kundschafter und Scharfschütze Pegahmagabow, späterer Häuptling der Wasauksing. „Der lange Weg“ wurde nominiert für den Governor General’s Award for Fiction 2005.

http://www.knaus-verlag.de

Tokarczuk, Olga – Letzte Geschichten

Drei Geschichten erzählt Olga Tokarzuk in ihrem neuen Roman. Drei letzte Geschichten – Geschichten vom Tod, vom Sterben, vom davor, danach und währenddessen. Mit ihrer einfühlsamen Sprache lässt sie den Tod zurück in unser Leben; einen Exilanten, der so gern tabuisiert oder schlicht verdrängt wird.

Im ersten Teil des Romans, „Das reine Land“, kommt die Reiseführerin Ida vom rechten Weg ab. Sie ist auf dem Weg zum Haus ihrer Kindheit. Jahre zuvor hatte sie es nach dem Tod ihrer Eltern verkauft, doch nun ist sie in der Nähe und verspürt plötzlich so etwas wie Neugier, Nostalgie, Heimweh gar. Der geliehene Wagen kommt jedoch im Schneegestöber von der Straße ab und verwandelt sich in einen Haufen teuren Schrott. Ida bleibt unverletzt und sucht bei einem Rentnerehepaar Unterschlupf, bis sie die Polizei und die Besitzerin des Wagens informieren kann.

Doch etwas hält sie bei dem gastfreundlichen Ehepaar. Die Tage verstreichen, ohne dass sie die nötigen Telefonanrufe getätigt hätte. Wie in einer Luftblase lebt sie plötzlich dahin, neben der Zeit schwebend, während ihr Leben innehält und abwartet. Statt sich fortzubewegen, weiterzumachen, verfällt Ida in Stillstand. Oder ist das vielleicht nur ein Irrglaube?

Denn auch wenn das alte Ehepaar scheinbar von den Wirren der äußeren Realität unberührt bleibt, so helfen sie doch bedüftigen Kreaturen auf den Weg. Sie sind Reiseführer anderer Art, nehmen todkranke Haustiere bei sich auf und lassen sie sterben: in ihrem eigenen Tempo. Die beiden Alten stehen an der Tür zwischen Leben und Tod, sie bereiten dem Sterben einen Ort und eine Zeit. Und Ida, die Großstädterin, nimmt für ein paar Tage teil an diesem Prozess.

Im zweiten Teil, „Parka“, ist es Idas Mutter, deren Umgang mit dem Tod wir beobachten. Wir befinden uns in einem einsamen Haus in den Bergen. Im Sommer kommt unter Umständen mal die Post und regelmäßig wird auf Vorrat eingekauft. Doch im Winter ist das alte Ehepaar eingeschneit – selbst der Fernseher zeigt nur Schneeflocken. Petro, über 90, stirbt in diesem Winter, und da seine Frau keine Möglichkeit hat, das Dorf zu verständigen, schiebt sie Petros Bett (mitsamt Petro selbstverständlich) schließlich auf die Veranda. Das Leben geht weiter wie bisher. Sie fragt Petro um Rat, beschwert sich über sein Schweigen, rasiert seine Bartstoppeln und schneidet die Fingernägel. Sie lebt mit der Leiche, und schlussendlich scheint es kaum einen Unterschied zu machen, ob Petro nun tot oder lebendig ist. Der tote Ehemann auf der Veranda ist ein Anlass zur Reflektion und Erinnerung und wir erfahren von dem tiefen Keil, den die Repatriierung zwischen die beiden getrieben hat. Aus der Ukraine sind sie gekommen, damals nach dem Zweiten Weltkrieg. Paraskewia kann in Polen keine Wurzeln schlagen, doch die ehemalige Heimat in der Ukraine bleibt ihr ebenfalls verschlossen. Tokarczuk beschreibt hier ein herausgerissenes Leben, einen abgesägten Baum.

Und dann ist da im letzten Teil „Der Magier“ Maja, Idas Tochter. Mit ihrem Sohn bereist sie eine asiatische Insel. Sie arbeitet, sagt sie. Maja schreibt nämlich Reiseführer. In der tropischen Hitze liegt sie da, während Insekten sie plagen und die Geräusche des Dschungels ihr den Schlaf rauben. Ein Buch aus der Heimat verschafft ihr Linderung, es beschreibt die Stadt im Norden, mit ihrer balsamischen Kühle und all den bekannten kleinen Dingen, die einem sagen, man ist zu Haus.

Und doch ist Maja losgelöst, eine treibende Seele in dieser globalisierten Welt. Sie ist überall, doch nirgends zu Hause. Während Maja in der Schwermut versinkt, die Tokarczuk so liebevoll über ihr Südseeparadies legt, freundet sich ihr Sohn mit einem todkranken Magier an. Der bringt dem Jungen ein paar Taschenspielertricks bei (darunter die klassische zersägte Jungfrau) und vollführt am Ende das größte magische Kunststück überhaupt: Er stirbt.

In einem Interview sagte Tokarczuk einmal, sie schreibe in Bildern. Als Autorin übersetze sie Bilder in Wörter. Diese sensible Herangehensweise an Sprache und die damit verbundene Verknüpfung von innerer mit äußerer Welt machen Tokarzcuks Erzählungen so lesenswert. Ob sie einen schreienden Affen an Majas Fenster beschreibt oder Paraskewias Umsiedlung nach Polen: Als Leser wird man nie das Gefühl los, dass selbst der kleinste Nebensatz, das nebensächlichste Bild noch auf größere Zusammenhänge verweisen kann. Träume sind für Tokarzcuk eine wichtige Inspiration, und wie im Traum kann auch in ihren Geschichten jede Kleinigkeit eine tiefere Bedeutung haben. Vor allem aber wirken diese kraftvollen und doch so leisen Bilder intuitiv auf den Leser. Ihre suggestive Sprache bohrt sich geradezu in die Erinnerung, setzt sich fest und erstrahlt irgendwann zu voller Blüte. Selbst wenn die Handlung stagniert (eigentlich „passiert“ kaum etwas in „Letzte Geschichten“), treibt die Sprache selbst den Leser immer weiter voran, tiefer in das Herz der Finsternis, hinein in die Erinnerungen, Ängste und enttäuschten Hoffnungen seiner Protagonisten.

Wie immer zeichnet Esther Kinsky für die Übersetzung verantwortlich, die seit Jahren Tokarczuk meisterlich ins Deutsche überträgt. Man muss nicht unbedingt ein Fan polnischer Literatur sein, um Tokarczuk zu mögen. Was sie beschreibt, ist universell. Es sind immer Menschen, die zwar lose in der polnischen Geschichte verankert sind. Doch letztendlich ist ihre Welt die unsere. Ihre Probleme sind die unsrigen.

Wer auf sprachliche Meisterschaft Wert legt und statt eines Glases Wein lieber einmal einen sorgfätig komponierten Roman genießen möchte, der ist bei Olga Tokarczuk immer gut aufgehoben. „Letzte Geschichten“ macht da keine Ausnahme.

http://www.dva.de/

Santiago Roncagliolo – Vorsicht

„Vorsicht“ ist der zweite Roman des jungen peruanischen Autors Santiago Roncagliolo und mit ebensolcher Vorsicht auch zu genießen. Spitzfindig wird auf dem Buchrücken bereits die Frage gestellt, ob Roncagliolo in diesem Buch die Geschichte einer normalen Familie erzählt, doch kann man wohl nur hoffen, dass dem nicht so ist …

Auf nur 184 Seiten erzählt Santiago Roncagliolo die Geschichte einer nicht ganz alltäglichen peruanischen Familie, die kurz vor dem Auseinanderbrechen scheint. Im ersten Kapitel stirbt in Anwesenheit des kleinen Sergio seine Oma und von nun an sieht der kleine Mann vermeintlich Gespenster. Was sich jedoch wirklich hinter diesen ominösen Gespenstern verbirgt, erfahren wir erst später im Laufe der Erzählung. Opapa leidet offensichtlich an Alzheimer, denn den Tod seiner Frau vergisst er schnell wieder, stattdessen erinnert er sich an seine letzte Gelegenheit zu einem Seitensprung, die bereits einige Jahre zurückliegt und die durch ein kaputtes Leitungsrohr erfolgreich zunichte gemacht wurde. Doch Opapa möchte sein Liebesglück noch nicht aufgeben. Als er herausfindet, dass seine ehemalige Liebe Doris in ein Seniorenheim zieht, quartiert er sich dort gegen den Willen seiner Familie und der Heimleitung ein.

Santiago Roncagliolo – Vorsicht weiterlesen

King, Owen – wahre Präsident von Amerika, Der

Mit dem Namen |King| lassen sich Bücher gut verkaufen. Das belegt auch die aktuelle Platzierung von Stephen Kings neuem Roman [„Puls“ 2383 in den Bestsellerlisten. Doch im Schatten des |“großen King“| geht derzeit noch ein |“kleiner King“| auf dem deutschen Buchmarkt an den Start: Owen King. Und dieser kleine King ist tatsächlich ein Ableger des großen King – weniger literarisch, dafür umso mehr biologisch. Der Spruch „ganz der Vater“ lässt sich hier übrigens nicht anwenden, es sei denn, man meint den Umstand des Schreibens an sich und nicht das Geschriebene. Vater und Sohn dürften auf gänzlich unterschiedliche Zielgruppen abzielen und so verwundert es auch nicht, dass um das Debüt von King junior auch kein allzu großes Brimborium gemacht wird.

Owen King dürfte mit seinem Debüt „Der wahre Präsident von Amerika“ vor allem die Freunde zeitgenössischer amerikanischer Autoren wie Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen, Matthew Sharpe, etc. ansprechen. Ein wenig schräge Figuren, eine augenzwinkernde Erzählweise, gespickt mit liebevollen Details, und eine Geschichte, die im Grunde doch ganz alltäglich zu sein scheint – das macht den Lesegenuss von „Der wahre Präsident von Amerika“ aus.

Mag man dem Äußeren nach zunächst einmal einen Roman erwarten, so entpuppt sich das Buch bei näherer Betrachtung als Band mit fünf Erzählungen. „Der wahre Präsident von Amerika“ stellt den Auftakt dar und nimmt zwei Drittel des Buches ein. Daran schließen sich vier kürzere Erzählungen an. Die Gemeinsamkeit aller Erzählungen ist, dass sie Ausschnitte aus dem ganz normalen amerikanischen Alltag zeigen – zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und anhand unterschiedlicher Figuren.

_Der wahre Präsident von Amerika_

George ist fünfzehn und der einzige Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Wir schreiben das Jahr 2000 und Georges Großvater, ein alter Gewerkschafter, ärgert sich maßlos über den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahl. In seinen Augen ist der Wahlausgang Betrug (womit er ja nicht so ganz falsch liegt) und er tut seinen Unmut kund, indem er in seinem Vorgarten Al Gore auf einem übergroßen Plakat zum wahren Präsidenten Amerikas erklärt. Als ein Unbekannter das Plakat beschmiert, entbrennt ein regelrechter Kleinkrieg, in den auch George hineingezogen wird.

Doch das ist nicht Georges einziges Problem. Sein Hauptkriegsschauplatz ist vielmehr das Haus, in dem George mit seiner Mutter bei deren Verlobten Dr. Vic wohnt. Dr. Vic ist nun wirklich nicht die Sorte Mann, die George sich als seinen zukünftigen Stiefvater vorstellen möchte, und so tut er sein Möglichstes, um die bevorstehende Heirat der beiden zu verhindern. Doch als George sein Ziel erreicht zu haben scheint und eigentlich allen Grund hätte zu triumphieren, kommt es alles ganz anders als erwartet …

„Der wahre Präsident von Amerika“ zeigt zum einen, wie George versucht, seinen Platz im Leben zu finden. Er weiß nicht so recht, wo er hingehört, und ist das Nomadenleben, das er dank wechselnder Liebhaber seiner Mutter führen musste, satt. Doch als sich George die Chance bietet, sesshaft zu werden und endlich ein richtiges Familienleben ansteuern zu können, ist ihm das auch wieder nicht recht. George ist jemand, der enge Bindungen und tiefer gehende Kontakte scheut und sich auf diese Weise den Verantwortungen des Erwachsenenlebens entzieht.

Doch George macht im Laufe der Geschichte einen Reifungsprozess durch. King skizziert den Moment in Georges Leben, in dem er beginnt, erwachsen zu werden und zu reifen, und diese Veränderung demonstriert er ganz glaubwürdig. King staffiert seine Geschichte mit einer Reihe skurriler Figuren aus, die gewissermaßen das Salz in der Suppe sind. King zeigt die Menschen, wie sie sind, mit ihren Ecken und Kanten. Georges Großvater Henry und sein Nachbar Gil sorgen dabei mit ihren Schrullen immer wieder für Heiterkeit. Liebevoll beschreibt King die Figuren, aber auch ohne die Realität auszusperren oder zu beschönigen. Da wird im Schlaf gesabbert und die alten Herrschaften dürfen ihre von Inkontinenz geplagte Blase auch schon mal auf dem Gehsteg entleeren. Alles ohne dass man das Gefühl hat, der Autor würde sich über seine Protagonisten lustig machen. Feinfühlig versetzt King sich in seine Figuren und kehrt ihre komischen wie auch ihre tragischen Seiten hervor.

Letztendlich skizziert King anhand seiner Figuren ein Stück des heutigen Amerikas. So wie er sich einen Wendepunkt in Georges Leben herausgegriffen hat, thematisiert er auch einen Wendepunkt der amerikanischen Geschichte – den „Putsch“ der Konservativen, die sich in einem denkwürdigen historischen Prozess ins Weiße Haus geschlichen haben, obwohl Gegenkandidat Al Gore eigentlich mehr Stimmen hatte.

Henry will sich damit nicht einfach abfinden und rebelliert in seinem Vorgarten gegen diese Art der Machtergreifung. King zeigt ein Stück weit auch die Zerrissenheit, in der das Land politisch steckt, die Gegensätzlichkeiten der unterschiedlichen Seiten und die Gleichgültigkeit, mit der ein Volk einen Putsch hingenommen hat, nur weil man ihn als rechtmäßigen Wahlausgang verkauft hat. Und so dokumentiert King das heutige Amerika eben auf zwei Ebenen, der großen, politischen und der kleinen, persönlichen. Der Erzählung fügt das einen reizvollen Aspekt zu.

King ist ein Autor, der genau beobachten kann, der sich auf treffende Formulierungen versteht und den Leser durch seine punktgenaue und wohlakzentuierte Erzählweise das heutige Amerika begreifen lässt. Und das ist stets unterhaltsam und hat eine gewisse Klasse. Er versteht es, Gefühle zu vermitteln, würzt seine Erzählung mit Tragik und Humor, so dass die Lektüre eine durchaus lohnenswerte Erfahrung ist.

_Das Weitere_

In den folgenden vier Erzählungen beleuchtet King weitere Aspekte der amerikanischen Alltagswelt. Er portraitiert Menschen, teils in ganz alltäglichen Situationen, teils darin, wie sie markante Punkte ihres Lebens meistern. In _“Eiskalte Tiere“_ erzählt der Autor von einem reisenden Zahnarzt, der irgendwo in der amerikanischen Einöde praktiziert. Zwei Trapper begleiten ihn durch einen Schneesturm auf einen Berg, wo die hochschwangere Frau des einen Trappers auf eine dringend notwendige Zahnbehandlung wartet. Der Zahnarzt ist ein gebrochener Mann, der vor den Trümmern seines Lebens steht und für den der Trip in die verschneite Wildnis zu einer ganz besonderen Erfahrung wird.

In _“Wunder“_ erzählt King die Geschichte des Baseballspielers Eckstein, der in den Dreißigerjahren für die Coney Island Wonders spielt. Eckstein interessiert sich eigentlich nur für Baseball und Kino und dort besonders für Filmvorführerin Lilian. Doch die will so recht nichts mehr von ihm wissen, seit er sie „versehentlich“ geschwängert hat. Eckstein bemüht sich um eine Lösung des Problems.

_“Schlange“_ erzählt von einem Nachmittag im Einkaufszentrum. Der Jugendliche Frank, Kind geschiedener Eltern, wird dort von seinem Vater abgesetzt, damit beide den Nachmittag nach ihren ganz eigenen Vorstellungen verbringen können. Im Einkaufszentrum trifft Frank einen Kerl in Bikerklamotten, der dort mit einer Boa Constrictor posiert. Die beiden kommen ins Gespräch und der alte Hippie hat eine interessante Geschichte zu erzählen, die Frank nicht mehr loslässt.

In der abschließenden Erzählung _“Meine zweite Frau“_ erzählt King die Geschichte eines Mannes, der mit seinem Bruder eine Reise nach Florida unternimmt. Keine gewöhnliche Reise, denn der Bruder will in Florida das Auto eines Mannes kaufen, der gerade hingerichtet werden soll – für Taten, bei den denen das Auto gewissermaßen als Mordwaffe diente. Während also der Bruder in Florida seinen Autokauf tätigt, hofft die Hauptfigur selbst, endlich ein wenig abschalten zu können, nachdem seine Frau ihn verlassen hat.

Auch die vier angeschlossenen Erzählungen vereinen Skurriles mit Alltäglichem in sich. Herausragend ist besonders „Wunder“. Die Welt von Coney Island in den Dreißigerjahren ist ein faszinierender Mikrokosmos, den auch Sarah Hall in [„Der Elektrische Michelangelo“ 1808 schon so wunderbar beschrieben hat. Auch bei King kommt die Skurrilität und Verschrobenheit dieser Insel sehr schön zum Tragen. Der Handlungsbogen ist hier wunderbar geformt und die Geschichte findet einen sehr schön akzentuierten Ausgang.

Auch „Meine zweite Frau“ wirkt in Erzählverlauf und Komposition durchaus stimmig. King verwebt hier wieder auf wohldosierte Art Verrücktes mit Alltäglichem und schafft es damit, das heutige Amerika zu karikieren. Bei den übrigen zwei Erzählungen bleiben dagegen eher gemischte Gefühle zurück. Die geschilderten Begebenheiten sind interessant genug, um den Leser bei Laune zu halten, aber die Schlusspointe lässt den Leser etwas in der Luft hängen. Den uneingeschränkt wohlwollenden Eindruck, den noch „Der wahre Präsident von Amerika“ hinterlassen hat, trüben sie dadurch leider ein wenig, auch wenn unterm Strich immer noch ein positives Gesamturteil dabei herauskommt.

So kann man als Fazit festhalten, dass Owen King durchaus ein talentierter Schreiber ist. Er formuliert treffsicher, kreuzt auf wohlakzentuierte Art und Weise Skurriles mit Alltäglichem, beweist ein großes Herz für seine Figuren und zeichnet sich durch eine genaue Beobachtungsgabe aus. Alles in allem hat er ein wirklich vielversprechendes Debüt abgeliefert. Auch wenn von den weiteren Erzählungen nicht alle restlos überzeugen können, so ist das Gros der Geschichten wirklich sehr lesenswert.

http://www.ruetten-und-loening.de/