Archiv der Kategorie: Belletristik

Nasaw, Jonathan – Blutdurst

Wenn man es mal genau betrachtet, dann ist Vampirismus eine Abhängigkeit wie jede andere auch: Als Vampir ist man ständig auf der Suche nach Stoff, und lässt man einmal eine Mahlzeit aus, muss man sofort mit schweren Entzugserscheinungen rechnen. Sämtliche Gedanken kreisen nur um die Beschaffung von Blut, es ist Lebenselixier und Fluch zugleich.

Diese Analogie ist nicht gerade eine neue Erkenntnis, schon Abel Ferrara hat ihr in dem Film mit dem bezeichnenden Titel „The Addiction“ ein Beispiel gesetzt. Doch jetzt buchstabiert Jonathan Nasaw in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Blutdurst“ das ganze Suchtpotenzial des Vampirs bis zur totalen Erschöpfung durch.

Die Grundidee ist eigentlich ganz sympathisch: Nach dem Beispiel der Anonymen Alkholiker trifft sich in San Francisco wöchentlich ein kleiner Haufen Vampire, um ihrer Droge Blut abzuschwören. Denn wenn sie auch eigentlich ganz normale Menschen sind, d. h. sich weder in Fledermäuse verwandeln können noch unsterblich sind, so besitzen sie doch ein außergewöhnliches Gen, das ihnen beim Genuss von Blut ein unglaubliches High verschafft. Alles ist auf Blut besser, schärfer, klarer und überhaupt erträglicher – wie das eben bei Drogen so ist. Am besten wirkt das Blut von Babys, und für einen Babyblutrausch würde ein Vampir so ziemlich alles riskieren.

Nick Santos, seines Zeichens abstinenter Vampir und Romanautor a. D., ist der Kopf von VA, den anonymen Vampiren von San Francisco. Er selbst hat die Zeit des exzessiven Blutrausches bereits hinter sich und ist nun ein fundamentalistischer Verfechter des nüchternen Lebensstils. Um anderen Vampiren die Vorteile des blutfreien Lebens nahe zu bringen, entführt er sie auch schon mal und zwingt sie zum kalten Entzug.

James Whistler, ebenfalls Mitglied von VA und Nicks Nemesis, sieht die ganze Sache etwas anders. Ihm geht nicht ganz auf, was so Verwerfliches daran sein soll, seinem (einverstandenen) Partner beim Sex ein paar Tropfen Blut abzuzapfen. Und so schnappt er sich den VA-Neuzugang Lourdes, füttert sie mit Blutbeuteln an, macht sie zu seiner Geliebten und beschließt, mit ihrer Hilfe VA zu sprengen. Nach und nach nehmen sie sich die Mitglieder der Gruppe vor und machen ihnen schmackhaft, doch rückfällig zu werden.

Was sonst noch passiert? Alles und nichts. Nick schwängert eine Pastorin, schreibt ein Buch über seine Welt auf Blut, Whistler führt Lourdes in die Vampirpraktiken auf einer obskuren Karibikinsel ein und schwängert sie nebenbei, es gibt eine kleine Fehde zwischen der Wicca-Hohepriesterin Selene und Nick, es wird viel über Süchte und Abstinenz philosophiert und dazwischen gibt es Sex, Sex und nochmal Sex. Ach, und ein bisschen Gewalt. Und Drogen eben.

„Blutdurst“ soll offensichtlich, zu einem gewissen Grade, eine Satire auf die Hochzeit der 12-Schritte-Programme in den USA sein. Vollkommen legitim, würde sich dieses Vorhaben nicht nach ungefähr 200 Seiten absolut totlaufen. Die Charaktere des Romans sammeln Süchte (und die dazugehörigen Selbsthilfegruppen) wie andere Leute Briefmarken, und irgendwann wird es für den Leser schwer, all dem pseudopsychologisch-verständnisvollen Gelaber über Co-Abhängigkeit und sonstigen Unfug mit irgendeinem Wohlwollen zu folgen. Das Leben dieser Figuren besteht nur aus Sex und Drogen, und so verführerisch das für den ein oder anderen auch klingen mag – ein fast 600 Seiten starker Roman lässt sich damit nicht unterhaltsam füllen.

Folglich mäandert die Handlung mehr schlecht als recht dahin und man kann sich nie ganz sicher sein, wo Nasaw denn nun eigentlich hinwill. Mal geht es um den schwulen Nick, der spontan die Freuden des Sexes mit einer ordentlich beleibten Frau entdeckt. Dann geht es um Whistlers schrulliges High-Society-Leben, das uns offensichtlich demonstrieren soll, dass Männer auf Blut sexy und erfolgreich sein können. Dann wieder geht es wahlweise um entführte Babys, Wicca-Rituale, Sexorgien und Gesprächstherapie. Eine Zeit lang nimmt man an, dass Selenes Rache an Nick der Knackpunkt der Handlung sei (er hatte ihr im Blutrausch einst fast die Kehle herausgerissen), doch dieser Konflikt wird in einem solchen Antiklimax aufgelöst, dass man sich fragt, warum Nasaw dieses Problem überhaupt eingeführt hat, nur um es dann so gelangweilt abzuarbeiten.

Nasaw zitiert kurz vorm Ende Tolstoi, offenbar um dem Leser zu verstehen zu geben, wie er „Blutdurst“ verstanden wissen will: „Eine Geschichte hinterlasse einen tieferen Eindruck, wenn sich unmöglich sagen lässt, auf wessen Seite der Autor steht.“ Da ist natürlich was dran, nur muss man als Autor dafür auch einen fesselnden Plot und überzeugende Charaktere liefern. Bei Nasaw ist man nie ganz sicher, ob nun die Süchtigen oder die 12-Schrittler auf der moralisch richtigen Seite stehen. Whistler als egoistischer Hedonist steht dem moralgebeutelten, aber durchaus auch mal korrupten Nick gegenüber. Doch letztendlich lässt sich Tolstois Motto hier nicht anwenden, sind dem Leser schlussendlich doch alle Charaktere und damit auch ihr Schicksal egal.

„Blutdurst“ ist ein Roman, der, um ein Vielfaches gekürzt, durchaus seine Momente hätte haben können. So aber verlieren sich satirische Spitzen und moralische Fragen in einem unüberschaubaren Wust aus Sexorgien und Psychosprech, die sich ewig wiederholen – wie das Leben auf Droge eben.

Ellis, Bret Easton – Lunar Park

Auf seiner aktuellen Homepage dupliziert sich Skandalautor Bret Easton Ellis selbst. Durch sein Gesicht verläuft ein Riss; links und rechts können zwei verschiedene Vita zu ein und derselben Person eingesehen werden. Schnell wird deutlich, dass eine der beiden nicht ganz der Realität entsprechen kann – die Frage lautet nur: Welche? Was hier auf einer visuellen Ebene dargestellt wird, spiegelt bereits die Struktur seines neuen Romans „Lunar Park“ wieder.

Erfolgreiche Autoren stecken in einem ähnlichen Dilemma wie erfolgreiche Bands: Werden diese von Album zu Album immer progressiver, verschrecken sie eventuell ihre alten Fans. Sind die Unterschiede zwischen den Alben hingegen marginal, ist schnell von „Selbstkopie“ und „Ideenlosigkeit“ die Rede. Auch Ellis hatte mit seinem Debütroman [„Unter Null“ 2026 Neuland betreten, aber sowohl Stil als auch Thematik (schöne, gelangweilte Yuppies, die sich mit Sex und Drogen über ihr sinnloses Leben hinwegtäuschen wollen) wiederholten sich auch in den Folgeromanen. Zwischen „American Psycho“ und „Glamorama“ schien zuletzt nur noch der Wechsel der Dekade eine Neuerung darzustellen. Schlecht ist dieser Roman beileibe nicht, aber eben auch nicht innovativ. Es stand also durchaus zu befürchten, dass auch Ellis‘ nächster Output ein „Unter Null vol. 6“ werden würde.

Zum Glück scheint Ellis diese Problematik selbst erkannt zu haben, denn sein neues Werk bricht völlig mit „Glamorama“ & Co. „Lunar Park“ ist indes nicht nur ein Roman, sondern auch eine fiktive Autobiographie mit realen Versatzstücken. Noch nie hat Ellis seinen Figuren ein derart komplexes Innenleben verliehen. Es ist zugleich der erste Roman von Ellis, welcher in der Vergangenheit erzählt wird. Bereits nach kurzer Lektüre wird deutlich: Diesmal geht es Ellis um echte Emotionen.

Der kalte Hass aus seinen früheren Werken scheint dabei einer gemütlichen Resignation gewichen zu sein: Starautor Bret Easton Ellis durchlebt, nachdem sein früher Ruhm ihn von seinem tyrannischen Vater emanzipiert hat, eine Sinnkrise. Die Oberflächlichkeit seiner Protagonisten spiegelt sich in seinem eigenen Lifestyle wider. Drogenexzesse, prestigeträchtige Bekanntschaften mit Prominenten und selbst die eigenen Lesereisen geben ihm nichts mehr. Da entsinnt er sich der attraktiven Schauspielerin Jayne, mit der er vor etlichen Jahren einen Sohn gezeugt hat. Damals hat er die Verantwortung nicht tragen wollen, aber nun sieht er in dieser Option einen Rettungsanker. (Spätestens hier gewinnt die Fiktion überhand, da Ellis im wirklichen Leben nie Vater wurde und zudem Männer zu bevorzugen scheint.)

Jayne verzeiht ihm, sie heiraten und besorgen sich ein Familienhaus in einem ruhigen Vorort. Ellis erhält eine Dozentenstelle bei einer Universität und versucht sich daran, seine Frau und seinen Sohn Robby kennen zu lernen. (Konflikte sind dabei natürlich vorprogrammiert.) Parallel dazu verdichten sich Anzeichen dafür, dass es im Haus und in Ellis näherer Umgebung spukt: Möbel verändern über Nacht ihre Position, Robbys Spielzeug „Terby“ scheint ein Eigenleben zu entwickeln, Kinder verschwinden in der Nachbarschaft und der PKW von Ellis` verstorbenem Vater taucht immer wieder auf.

Außerdem meint Ellis, seinen berüchtigtsten Protagonisten – Patrick Bateman – wirklich gesehen zu haben. Diese Figur ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Person Bret Easton Ellis. Wer „Lunar Park“ wirklich verstehen will, sollte daher mindestens [„American Psycho“ 764 zuvor gelesen haben. Patrick Bateman spiegelt nicht nur die seelischen Abgründe seines Schöpfers wider, er hat auch dafür gesorgt, dass Ellis mit extremen Anfeindungen (teilweise sogar Morddrohungen) konfrontiert wurde. In „Lunar Park“ zieht Ellis daher für alle, die „American Psycho“ nicht verstanden haben, Bilanz:

|“[Niemand] draußen in der wirklichen Welt war so verrückt und grausam wie diese Kunstfigur. Davon abgesehen war Patrick Bateman ein notorisch unglaubwürdiger Erzähler, und wenn man das Buch tatsächlich las, konnten einem durchaus Zweifel kommen, ob die geschilderten Verbrechen wirklich passiert waren. Es gab genügend Hinweise, dass sie nur in Batemans Phantasie existierten. Die Morde und Folterungen waren bloße Phantasien, in denen sich seine Wut und sein Zorn darüber entluden, wie das Leben in Amerika beschaffen war, in dem er sich trotz seines Wohlstands gefangen fühlte. Die Phantasien waren eine Flucht. Diese Idee lag dem Buch zugrunde.“| (S.190)

„Lunar Park“ ist ein literarisches Experiment. Einer seiner altbewährten Techniken bleibt Ellis jedoch treu: Der Vermischung verschiedener Realitäts- bzw. Fiktionsebenen. Nun erklärt er aber erstmals, was ihn dazu immer wieder motiviert:

|“Die physische Existenz eines Schriftstellers ist im Grunde eine statische, und um gegen diese Einschränkung anzukämpfen, müssen wir jeden Tag eine Gegenwelt und ein anderes Ich konstruieren.“| (S.227)

Das Schreiben ist für ihn also eine existenzielle Notwendigkeit. Der Plot des Romans tritt denn auch recht schnell in den Hintergrund. Das, was hier wirklich zählt, sind Bilder, die Gefühle transportieren. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, konnte auch im Nihilismus der früheren Romane stets ein ironisches Augenzwinkern entdecken. „Lunar Park“ geht aber über die reine Kritik des Zeitgeistes hinaus. Das Verwischen der Grenze zwischen Schriftsteller und Werk ist zwar in der Geschichte der Literatur kein wirkliches Novum, wird hier aber einer erfrischenden Neuinterpretation unterzogen:

|“Ich lebte in einem Film, in einem Roman, im Traum eines Idioten, den ein anderer schrieb, und ich war langsam erstaunt – überwältigt davon -, wie ich mich verfranst hatte.“| (S.291)

|“Der Schriftsteller fand mich unsympathisch, weil ich versuchte, nach einem vorgefassten Plan vorzugehen. […]
Der Schriftsteller verlangte nach Chaos, Geheimnis, Tod. Daraus bezog er seine Inspiration. […] Der Schriftsteller wollte, dass Patrick Bateman wieder in unser Leben trat. Der Schriftsteller hoffte, die schiere Entsetzlichkeit des Ganzen würde mich aus meiner Lethargie reißen.
Ich war an einem Punkt, wo ich bei allem, was der Schriftsteller wollte, einfach nur Schuldgefühle hatte.“| (S.321)

Einige Rezensenten haben angemerkt, der „Horror“-Anteil von Lunar Park sei nicht überzeugend, sondern eher unfreiwillig komisch. Damit haben sie zwar nicht Unrecht, aber diese Kritik geht am Thema vorbei. Ellis wechselt mit „Lunar Park“ keineswegs das Genre; er fügt seiner Palette lediglich ein paar neue Farben hinzu. Die „Hommage“ an Stephen King – das Element des Phantastischen – soll folgerichtig nicht nur unterhalten, sondern vor allem einen Einblick in die Psyche des Schriftstellers gewähren.
Stephen King selbst hat einmal in einem Interview angemerkt, Gespenster seien für ihn ein Symbol für ungelöste Probleme. Und siehe da: Das Thema „ungelöste Probleme zwischen Vater und Sohn“ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Handlung des Romans.

Die Antwort auf die Frage „Wer ist das Gespenst?“ scheint dabei zunächst offensichtlich: „Natürlich, es muss Ellis Senior sein!“ Nach und nach kommen aber Zweifel auf. Ist es vielleicht doch der Sohn von Ellis, welcher denselben Namen wie sein Großvater (Robert) trägt? Aber Robert Ellis Jr. ist fiktiv – also doch Bret selbst? Welcher Bret könnte es dann aber sein? Der Privatmensch? Der Schriftsteller? Der Schriftsteller in der Fiktion? Der fiktive Schriftsteller in der Fiktion des fiktiven Schriftstellers? Alle Figuren zusammen? Keine von ihnen?

Zuletzt kulminiert die Geschichte wieder – entgegen dem Vorsatz, mit dem Ellis sie eingeleitet hat – in eine endlos verschachtelte Satzkonstruktion. Der letzte Absatz jedoch gehört zu dem Schönsten und Ergreifendsten, was ich je gelesen habe. Bret Easton Ellis war bisher dafür bekannt, die Oberflächlichkeit als literarisches Stilmittel perfektioniert zu haben. Nun aber ist es ihm irgendwie gelungen, alle Bedeutungs- bzw. Fiktionsebenen (mitsamt der ihnen innewohnenden Sehnsucht) seines Gesamtwerkes in einem einzigen Begriff zu vereinen: Lunar Park.

Irving, John – Bis ich dich finde

Nach dem für Irvingsche Verhältnisse recht dünn geratenen Buch „Die vierte Hand“ ist Anfang des Jahres der elfte Roman des amerikanischen Erfolgsschriftstellers in deutscher Übersetzung erschienen. Zumindest äußerlich wird es seine Fangemeinde erfreuen, denn es ist mit 1140 Seiten mal wieder ein richtiger Wälzer geworden. Doch ist das Lesevergnügen ebenso groß, wie der Einband dies verheißt?

_Wovon es handelt_

Im Mittelpunkt des Romans steht die Geschichte des Schauspielers Jack Burns von seiner Geburt in den Sechzigern bis ins Jahr 2003.

Typisch für Irving, dass die Kindheit seines Helden weit mehr Raum einnimmt, als es üblicherweise der Fall ist, knapp die Hälfte des Romans beschäftigt sich mit Burns‘ Jugendjahren.

Mit ihrem vierjährigen Sohn und diversen Tätowierutensilien macht sich Jacks Mutter Alice auf eine ausgedehnte Europareise, um Jacks Vater und ihre Jugendliebe, den Kirchenorganisten Williams Burns, ausfindig zu machen. Alice ist Tätowiererin und heuert in nahezu allen Studios in europäischen Hafenstädten an: Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg, Helsinki. Denn William ist ein „Tintensüchtiger“, einer, der sich von Kopf bis Fuß tätowieren lässt, bis sein ganzer Körper wie ein einziges Notenblatt aussieht. Doch wo immer die beiden auch ankommen, heißt es, William sei bereits wieder abgereist. Die Suche bleibt erfolglos und die beiden kehren ins heimische Toronto zurück, wo Jack bald eingeschult werden soll und Alice sich als Tätowiererin niederlässt.

Die nächste Station in Jacks Leben ist die Mädchenschule St. Hilda, die seit kurzem auch Jungs aufnimmt, wenn auch nur sehr wenige. Er findet sich wieder in einem „Meer von Mädchen“ und dort ist er keineswegs so sicher, wie ihn seine Mutter glaubt. Schon nach kurzer Zeit findet er sich von einer Clique älterer Mädchen umringt, die seine sehr langsam erwachende Sexualität im Auge behalten. Seine kindliche Unschuld verliert Jack noch im Grundschulalter, ausgerechnet in einem Selbstverteidigungskurs an die kräftig gebaute Mrs. Machado. Doch auch seine viel ältere „Sandkastenfreundin“ Emma zeigt frühzeitig Interesse an Jacks Penis, macht ihn zum Hauptinteresse des Jungen in einem Alter, in dem er normalerweise noch keine allzu große Rolle spielt.

„Mr. Penis“ steht hier auf eine Weise im Mittelpunkt, die für den Leser die Grenzen des Erträglichen zuweilen überschreitet. Damit meine ich nicht Pornographie, davon ist Irving zum Glück meilenweit entfernt. Viel schockierender ist die Perspektive eines Kindes, welches nicht begreift, dass es sich um sexuellen Missbrauch handelt. Eine Perspektive, welche die widerstrebenden Gefühle dabei schildert, und zwar nicht nur die negativen. Natürlich entbehrt diese sehr tragische Situation auch nicht einer gewissen Komik, zum Beispiel dann, wenn die älteren Mädchen Jack nötigen, ein Mädchen mit Zahnspange zu küssen, was zu Verletzungen führt. Die liebenswert-schrullige Emma weist Jack daraufhin zurecht: „Was machst du da, Zuckerbär? […] Sie haben ihre Lippe mit vier Stichen genäht! Da haben wir ja einen ganzen Berg Hausaufgaben vor uns. Du kannst doch ein Mädchen nicht so küssen, als wäre es ein Steak!“
Zugleich macht Jack in St. Hilda erste zweifelhafte Erfahrungen mit Religiosität und wird von seiner verehrten Lehrerin Caroline als Schauspieler entdeckt – in Frauenrollen.

Dass Jacks Jugend und sein Eintritt ins Erwachsenenalter nicht eben komplikationslos verlaufen, ahnen wir schon. Aus dem „Meer von Mädchen“ gerade entstiegen, schickt ihn seine Mutter auf ein Jungeninternat, wo er Ringen lernt und ein paar andere Dinge fürs Leben; er vermisst jedoch dort gelegentlich „sein früheres Leben als missbrauchtes Kind“. Diese Sehnsucht nach sexuellen Aktivitäten dauert nicht lange an. Scheinbar magisch fühlen sich ältere Frauen von dem gut aussehenden Teenager angezogen – und umgekehrt. Zugleich tut sich der Junge schwer mit gleichaltrigen Mädchen – der in ihren Anfängen gescheiterten Beziehungen mit der geradezu perfekten Michele Maher jedenfalls trauert er noch lange hinterher.

Als junger Erwachsener und Student verfestigt sich Jacks nicht ganz platonische Freundschaft zur immer noch ziemlich eigenwilligen Emma. Jack feiert als Travestiestar erste Erfolge, während Emma als Romanschriftstellerin weitaus berühmter wird. Doch Emma stirbt früh, ebenso wie Jacks Mutter.

Nach dem Tod der beiden Menschen, die ihm am meisten bedeutet haben, macht sich Jack auf die Suche nach seiner Vergangenheit – und nicht zuletzt auf die Suche nach seinem Vater. Und stellt fest, dass seine Erinnerung nicht immer das war, wofür er sie gehalten hat, und dass seine Mutter daran nicht ganz unschuldig war – um es einmal milde auszudrücken und den eigentlichen Wendepunkt des Romans nicht vorwegzunehmen.

_Die Rose von Jericho_

Eine Rose von Jericho ist im Tätowierer-Jargon eine Rose, die erst bei genauem Hinsehen zwischen den Blütenblättern ihr Geheimnis offenbart: Eine weibliche Vulva, die nur demjenigen auffällt, der danach sucht. Jacks Mutter beherrscht diese Kunst geradezu perfekt, und obwohl Jack schon als kleiner Jack gelernt hat, wie eine Rose von Jericho aussieht, muss er später feststellen, dass jede Vulva einzigartig und nicht vergleichbar ist.

Auch die Geschichte dieses Romans birgt eine weitere Geschichte in sich, so wie eine Rose von Jericho. Die eine Seite der Geschichte kennt Jack in- und auswendig, aus seiner trügerischen Erinnerung und dem, was seine Mutter erzählt hat, seit er denken kann. Die andere Seite der Geschichte erfährt der erwachsene Jack, als er die Stationen seiner Europareise noch einmal abklappert. Dazwischen bleibt trotz der detailreichen Schilderung noch Platz für die eigene Phantasie des Lesers. Für Mutmaßungen und Spekulationen. Ganz klar, John Irving gehört zu den ganz großen zeitgenössischen Geschichtenerzählern und stellt hier seine Kunst erneut eindrucksvoll unter Beweis.

Ein paar Widerhaken hat das Buch trotzdem, vielleicht sogar ein paar Längen. Angeblich hofft ein wahrer Irving-Fan laut Verlagswerbung, das Buch möge niemals zu Ende gehen. Ich muss gestehen, manchmal habe ich das Gegenteil gehofft. Manchmal gerät das ausufernd Fabulierende eben doch einen Tick zu langatmig, stellenweise wiederholt er sich gar. Ganz abgesehen davon, dass die für seine Romane typische Kombination aus Sex, Ringen und Identitätssuche so manchem Irving-Leser ohnehin bekannt vorkommen dürfte.

Manchmal berührt sie einen einfach nicht genug, die Geschichte des Schauspielers, der darunter leidet, dass ihn eigentlich nichts so richtig berührt. Die eindrucksvollsten und auch witzigsten Szenen finden rund um die beiden Beerdigungen statt. Bei denen war ich voll und ganz im literarischen Irving-Taumel, war begeistert, lachte, weinte, fühlte mit. Witzig und berührend zugleich, wie die Rockerfreunde von Jacks Mutter Alice deren Beerdigung in der Kapelle der Mädchenschule durcheinander bringen. Außerdem ist es einfach eine tolle Idee, Jack dieselbe Geschichte gewissermaßen zweimal durchleben zu lassen. Genial, wie er im ersten Teil die Köder dafür auslegt, wir ihm auf den Leim gehen und schließlich … nein, das verrate ich natürlich nicht. Nur so viel: Dafür haben sich dann auch die seitenlangen … ähm … Ergüsse über Jacks Penis gelohnt.

Angeblich ist „Bis ich dich finde“ Irvings persönlichster Roman. Irving selbst hat seinen Vater nie kennen gelernt und als Erwachsener noch Kontakt zu seinen Halbgeschwistern aufgenommen. Somit ist die Vatersuche als Sinnsuche ein Thema, mit dem sich der Autor intensiv auseinander gesetzt haben wird. Kann sein, dass er in seiner literarischen Verarbeitung ein klein wenig zu sentimental wird.

Dennoch ist und bleibt Irving natürlich ein fantastischer Geschichtenerzähler, dem man gern und meistens atemlos lauscht. Immer wieder.

Taschenbuch ‏ : ‎ 1152 Seiten

Etteth, Shankar Ravi – Dorf der weißen Witwe, Das

Ein Diplomat der madagassischen Botschaft in Neu Delhi wurde in einem verschlossenen Zimmer mit einer nicht auffindbaren Waffe ermordet. Die Polizei schickt Anna Khan, die neue stellvertretende Kommandeurin, um den rätselhaften Mord zu lösen. In der Botschaft trifft Anna auf Jay Samorin, der von seinem Freund, dem madagassischen Botschafter, ebenfalls zur Klärung des Mordes gerufen wurde. Samorin ist Karikaturist im Ruhestand, der als selbsternannter Hobby-Profiler das Böse erforscht. Und auf mirakulöse Weise kann Samorin den Fall tatsächlich mit höchster Konzentration im Schnellverfahren lösen.

Bestanden zunächst einige Misstöne zwischen der Kommandeurin Khan und Samorin, entwickelt sich bald eine Liebesbeziehung zwischen den unterschiedlichen Ermittlern. Anna hat mehrere Jahren Polizeidienst in Kaschmir geleistet. Im Kampf gegen Terroristen, die ihren Ehemann ermordeten, hat sie dort im Einsatz 58 Menschen getötet. Als Top-Ermittlerin macht sie Karriere. Der feinsinnige Karikaturist Samorin, der ausgebildeter Kalari-Kämpfer ist und eine Fossa, eine seltene und überaus tödliche Wildkatze, als Haustier hält, hat sich vor einiger Zeit fast völlig aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Dennoch scheint die beiden mehr als die ‘Faszination am Bösen’ zu verbinden.

Während sich die Protagonisten näher kommen, lösen sie weitere, auf eigenwillige Art verstrickte Verbrechen um Leidenschaft, Untreue, Erpressung, Mord und Genmanipulation. Bei diesen Ermittlungen wird immer deutlicher, dass Samorin das Geheimnis seiner Kindheit lösen muss: den Mord an seiner Mutter, für den man seinen Vater erhängte. Und auch der berühmte Künstler Dhiren Das, den Samorin ebenfalls seit seiner Kindheit kennt, scheint bei all diesen Verbrechen eine seltsame Rolle zu spielen. Über allem schwebt das Böse, aber kann die Lösung aller Rätsel im Dorf der geächteten Witwen liegen?

Und kann derartiger Stoff funktionieren? Das moderne Delhi, mit seinen Bars, Ausstellungen und schillernden (Schwulen-)Szenen. Der Kaschmir-Konflikt, Kriege mit Pakistan, Terroristen. Zwei traumatisierte Protagonisten, die zu Superhelden stilisiert sehr menschlich agieren. Eine nymphomane Schwägerin, eine tödlich erkrankte Schwiegermutter, ein eitler Künstler, der Samorins alter ego zu sein scheint. Politik, Genmanipulation, Krishna. Indiens wechselvolle Geschichte voller Mythen und Legenden. Verstoßene Witwen in Brindaban, auf denen ein Fluch liegt und die man zur Prostitution zwingt.

Es schwant einem nichts Gutes. Und in der Tat wirkt „Das Dorf der weißen Witwe“, betrachtet man allein Handlung und Storyline, wie eine ungeschickt überladene Komposition. Aber Etteth spielt nicht nur mit allem, was zur Hand ist, mit allen Genres à la Bollywood-Kino, er karikiert und stilisiert nicht einfach, er zaubert auch auf mysteriöse, poetische Weise ein indisches Paradies voller Farben, Licht und Schatten, flirrender Hitze und Schwüle. Man hört, man riecht, man schmeckt ein Indien, das derart mit Exotika überladen scheint, dass es sich selbst entlarvt und doch als traumähnliche Vision erhalten bleibt. Vor allem die Kindheitserinnerungen Samorins sind von feinster poetischer Kraft, die in ihrer strahlenden Schönheit der Oberfläche gerade eben das Grausame darunter verbergen. So grandios und voller Zauber findet man selten Texte; wer z. B. die Romane der Hawaii-Trilogie von Susanna Moore kennt, kann sich eine Vorstellung von Etteths Sprachvirtuosität machen.

Als Krimi ist „Das Dorf der weißen Witwe“ jedoch besser nicht zu lesen, das könnte zu Enttäuschungen führen. Die Lösung des Diplomatenmordes ist eine Farce oder eine Parodie, und die vielen Wendungen des Romans verwirren zwar in ihrer Vielzahl, bleiben jedoch nie lange undurchschaubar, so dass sich wirkliche Spannung nicht einstellt.

Was bleibt ist Etteths Stil – von Licht und Schatten durchflutet, melancholisch schwebend, voll subtiler Details und prächtiger Schönheit. Bloß, was wollte Etteth sagen? Ich weiß es nicht. Aber das „Das Dorf der weißen Witwe“ könnte ein wahrer Bestseller sein, so kühn und intensiv wie Murakamis „Gefährliche Geliebte“. Vielleicht wollte der Autor, wie er es seinem Protagonisten Samorin in den Mund legt, ein Kritiker des Universums sein und hat sich dabei in seinem eigenen Text verzettelt. Das allerdings wohl nicht willkürlich, sondern eher mit reflektierter Methode, aber unergründlicher Absicht. Das ist schade, sollte aber nicht vom opulenten Lesegenuss abhalten!

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Kem Nunn – Giganten – Wo Legenden sterben

„Surf-Roman“ – so manch einen dürfte schon allein die Bezeichnung an sich mehr als abschrecken, malt man sich doch als unbedarfter Leser beim Klang dieses Begriffs in seiner Phantasie vermutlich Bilder von sonnengebräunten Mädels im Bikini und muskulösen Jungs mit Surfbrettern unterm Arm aus. Dazu ein sonnenbeschienener Strand irgendwo in Kalifornien, eine sanfte Briese und im Hintergrund leises Gedudel von den Beach Boys – fertig ist das Klischee. Und ehe man sich versieht, ist man auch schon ganz zielstrebig an all dem vorbeigerauscht, was den so genannten Surf-Roman „Giganten – Wo Legenden sterben“ von Kem Nunn ausmacht.

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Praxenthaler, Matthias – Horst der Held

Horst Gurk ist nicht gerade ein Name von heldenhafter Ausstrahlung. Jemand, der 1970 noch auf den Namen Horst getauft wird, dessen Eltern können nur der Gipfel deutschen Mittelschicht-Spießertums sein. Das Gefühl hat auch Horst Gurk, Protagonist und titelstiftender „Held“ von Matthias Praxenthalers Roman „Horst der Held“.

„Horst der Held“ ist kein neuer Roman. Praxenthaler veröffentlichte ihn erstmals 1998 im Selbstverlag, um ihn anschließend in den Straßen Münchens eigenhändig zu verkaufen. Laut eigenem Bekunden verkaufte er rund 1500 Exemplare und benutzt die übrigen ca. 5842 Exemplare seither als Bett, worauf es sich angeblich vorzüglich schläft.

Wie man sich bettet, so liest man (oder hieß das anders?) und so soll im nun Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob sich „Horst der Held“ als Lektüre gleichermaßen eignet wie zum Bettenbau.

Horst Gurk wird direkt in die wilden 70er hineingeboren – wobei selbige zugegebenermaßen in seinem Elternhaus alles andere als wild ausfallen. Horsts Vater ist Beamter im Postministerium, seine wehrte Gattin noch eine waschechte Hausfrau und das Häuschen im rheinischen Troisdorf eine Ausgeburt provinziellen Spießbürgertums und kleinbürgerlicher Mittelmäßigkeit.

Horst hat keine leichte Kindheit. Dank Segelohren, Zahnspange und Brille gibt er von der ersten Klasse an das perfekte Opfer diverser Schülerspäße ab. Horst wird zum Einzelgänger, was sich auch später auf dem Gymnasium nicht mehr ändern soll. Keine Freunde, keine Partys, kein erster Sex und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, nerven ihn seine Eltern mit ihrer Spießigkeit.

Erst mit 22 scheint sich das Blatt zu wenden. Horst, mittlerweile Maschinenbaustudent (aber selbstverständlich immer noch zu Hause wohnend), beschließt, seiner Jungfräulichkeit mit einem Puffbesuch ein feierliches Ende zu setzen. Und wie das Glück es so will, ist Horst der Zehntausendste Besucher des Troisdorfer Puffs und gewinnt zur Belohnung eine Reise nach Vietnam. Dieser Trip entpuppt sich als ungeahntes Abenteuer und verwandelt Horst schon bald darauf in einen wahrhaftigen Helden …

Schon die ersten Seiten offenbaren, dass „Horst der Held“ absolut erheiternde Lektüre ist. Praxenthaler skizziert Horsts Kindheits- und Jugendjahre und bestraft den armen Horst mit jeder Facette deutschen Spießbürgertums. Die Eltern sind langweilig, religiös und ein harter Brocken für jemanden, der zu Zeiten aufwächst, in denen Coolness ein stetig bedeutender werdender Faktor ist. Horsts Eltern sind all das, was man sich an gebündelter Spießigkeit überhaupt vorstellen kann.

Man bekommt als Leser viel zu Lachen. Praxenthaler formuliert gewitzt und kurzweilig und weiß schon mit so mancher Formulierungsart zu erheitern. Sein Humor ist ein sehr direkter und so konfrontiert er den Leser geradeheraus mit der Lachhaftigkeit seiner Figuren und dem Humor, welcher der langweiligen Alltäglichkeit ihres Daseins innewohnt.

Freunde des feinsinnigeren Humors werden Praxenthalers Roman aber vermutlich nicht über die ganze Länge als besonders erheiternd empfinden. Es ist schon recht derbe, was der Autor teilweise an Humor auspackt, und als dann schon nach wenigen Seiten der Troisdorfer Schlachter seiner Frau in einem alkoholgeschwängerten Wutanfall eine Brust mit dem Schlachtermesser abschneidet, bekommt man einen Vorgeschmack darauf, wie derbe Praxenthaler wirklich werden kann.

Praxenthaler wandelt mit seinem Humor eng an der Grenze des guten Geschmacks, und so versammelt sein Roman zum Schreien komische Momente neben überzogenen und derben Witzen, über die wohl so mancher streiten mag, ob das alles noch wirklich lustig ist. Wandelt er anfangs noch leichtfüßig durch die Kapitel, so wird der Humor mit zunehmender Derbheit auch schwerfälliger. Die unelegante Art, mit der Praxenthaler sich Horsts Eltern vom Hals schafft, wirkt genauso wenig komisch wie das völlig überzeichnete Finale.

Was so herzerfrischend lustig und locker anfängt, wird mit zunehmender Seitenzahl brachialer und unlustiger. Mangelnden Realismus sollte man einem Roman dieser Art sicherlich nicht ankreiden, um sich nicht gänzlich mit humorlosen Moralisten in eine Reihe zu stellen, dennoch kommt man nicht umhin, zu kritisieren, dass Praxenthalers Humor anfangs, als er es noch schafft, die Spießbürgerlichkeit der deutschen Provinz zu karikieren, wesentlich lustiger und bodenständiger ist. Je abgedrehter sich aber die Handlung entwickelt, desto weniger vermag der Humor zu belustigen.

Ansonsten ist „Horst der Held“ ein Roman, der außer knapp 200 Seiten humoristischer Abhandlung nicht viel zu bieten hat. Entweder man kann über Praxenthalers Humor lachen und amüsiert sich köstlich oder man liest ungeduldig weiter bis zum Ende, um herauszufinden wie tief das Humorniveau wohl noch sinken mag. Immerhin ist man nicht so leicht geneigt, die Lektüre abzubrechen, denn Praxenthaler schreibt so locker drauflos, dass man als Leser absolut keine Mühe hat zu folgen. Und so bleibt „Horst der Held“ letztendlich unterhaltsame Lektüre, aber eben auch nicht immer unbedingt lustig.

Bleibt als Fazit festzuhalten, dass Praxenthaler in „Horst der Held“ einige absolut irrsinnig komische Momente zu Papier gebracht hat. Streckenweise macht der Roman wirklich Vergnügen, aber je mehr Praxenthaler in die Schiene des derben, geschmacklosen Humors abrutscht, desto unlustiger wird er leider auch. „Horst der Held“ ruft also gemischte Gefühle wach und bleibt als durchaus locker-flockige Lektüre im Gedächtnis, die aber ihr humoristisches Potenzial der ersten Kapitel im weiteren Verlauf leider verspielt.

Website des Autors:
[www.praxvalley.de]http://www.praxvalley.de/

Monika Wunderlich (Hrsg.) – Eiszeit – drinnen und draußen. 24 böse Dezembergeschichten

Dezember steht nicht nur für Frost, Schnee, Kindheit, Freude, Weihnachten, Advent, Geschenke, Nikolaus, Christkind …

Dezember steht auch für EISZEIT – und viel öfter, als wir es wahrhaben wollen, bleibt die Kälte nicht nur draußen, wir finden sie auch drinnen – in den Stuben, den Herzen, den Gedanken, den Erinnerungen …

Eine unabhängige Jury hat aus der Vielzahl der Einsendungen Texte folgender Autoren für die Anthologie in der VIRPRIV-Reihe DUNKLE STUNDEN ausgesucht:

Monika Wunderlich (Hrsg.) – Eiszeit – drinnen und draußen. 24 böse Dezembergeschichten weiterlesen

Niemi, Mikael – Populärmusik aus Vittula

|Tjus lätmi isamatö råckönråll mjosik!| – So in etwa klingt es, bzw. sieht es in schriftlicher Form aus, wenn ein Junge aus einem der abgelegensten Winkel Schwedens, genaugenommen irgendwo aus dem Nichts zwischen Schweden und Finnland, einen Beatles-Song nachsingt, ohne Englisch zu können. Charmant, nicht wahr? Nicht minder charmant ist das Buch, in dem man die Kindheits- und Jungendgeschichte eben dieses Jungen nachlesen kann: „Populärmusik aus Vittula“. Eine Chronik der ersten musikalischen Gehversuche, der ersten ernüchternden Alkoholerlebnisse und des ersten Sex.

Pajala ist ein nichts sagendes Kaff in einer nichts sagenden Gegend Schwedens, dem Tornedal. Hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben. Die Einheimischen reden Schwedisch oder Finnisch bzw. ein Kauderwelsch, das unter dem Namen Tornedalfinnisch läuft. In Pajala arbeiten die Menschen hart und auch die im Tornedal verbreitete religiöse Bewegung des Laestadianismus macht mit ihrer übertriebenen Strenge und Lustfeindlichkeit das Leben nicht unbedingt angenehmer. Wenn da nicht der Alkohol wäre, die ständige Versuchung, die auch in Pajala, das sich dem über Finnland nach Russland verlaufenden „Wodka-Gürtel“ zugehörig fühlt, locken würde.

In diesem Umfeld wachsen Matti und sein nicht sonderlich redseliger Freund Niila auf. Und das mitten in den wilden 60ern, von denen man im äußersten Norden Schwedens logischerweise wenig mitbekommt – bis zu dem Tag, an dem Niilas Großmutter beerdigt wird und seine beiden Cousins aus Amerika mit einer Beatles-Single als Gastgeschenk für Niila anreisen. Die beiden Jungs sind völlig aus dem Häuschen und gründen kurzerhand selbst eine Band. Im Keller von Mattis Eltern zimmern sie sich aus Sperrholz so etwas ähnliches wie eine Gitarre zusammen und träumen fortan ihren Traum vom Leben: Rock ’n‘ Roll Music bzw. Roskn Roll Musis …

Niemi erzählt einzelne Episoden aus Mattis Kinder- und Jugendzeit in Pajala, bzw. dem im Volksmund Vittulajänkka (zu deutsch in etwa: „Fotzenmoor“) genannten Ortsteil von Pajala. Er pickt sich einzelne Begebenheiten heraus, die besonders erzählenswert erscheinen, so dass die Kapitel theoretisch vielleicht auch als Kurzgeschichten für sich stehen könnten. Dennoch gibt es Überleitungen, Niemi stellt Zusammenhänge her und baut die Kapitel aufeinander auf, so dass daraus am Ende ein zusammenhängender Roman entsteht.

Und das hat er offenbar so gut gemacht, dass er von seinem Werk in Schweden 700.000 Exemplare verkauft und den bedeutendsten Literaturpreis des Landes eingeheimst hat. Und auch die |Brigitte| hat sich von so viel Euphorie anstecken lassen und beurteilt „Populärmusik aus Vittula“ als |“Das großartigste Buch des Jahres – und auch des letzten und des kommenden Jahres dazu.“| Auch wenn ich mich nicht dem Urteil der Brigitte anschließen will (mit Superlativen sollte man schließlich sorgsam umgehen), kann ich nicht leugnen, dass mir das Buch sehr gut gefallen hat. Niemis Roman hat so eine skurrile, charmante, warmherzige und kauzige Art, dass man sich dem Charme der Geschichte kaum entziehen kann.

Begeistern kann Niemi dabei schon gleich im Prolog mit seinem etwas schrägen Humor, der auch im weiteren Verlauf des Buches immer wieder durchschimmert. Er setzt gekonnte Pointen, die so witzig sind und teilweise vor Einfallsreichtum strotzen, dass den Leser immer wieder das Lachen oder Schmunzeln überkommt. „Populärmusik aus Vittula“ ist dabei gar kein durch und durch komischer Roman, sondern eher tragikkomisch. Niemi kann trotz seiner amüsanten Erzählweise auch sehr ernst sein, wenn er das Leben der Menschen in Pajala schildert, so dass einem manchmal das Schmunzeln zu gefrieren droht.

Die Geschichten, die Niemi aus Mattis Kindheit erzählt, drehen sich dabei einerseits um Land und Leute, andererseits um Musik und die Zeit der Pubertät. Der Leser beobachtet, wie Matti und Niila langsam halbwegs erwachsen werden. Beide erscheinen dabei eher als Antihelden. Ihre spielerischen ersten Versuche, eine Band zu gründen, ihr erster Auftritt vor der versammelten Klasse, der noch als Playback abläuft, all das wirkt eher peinlich als mutig. Grundsätzlich scheint ihr musikalisches Interesse ohnehin in einem unvereinbaren Widerspruch zum Lebenswandel der Tornedalbewohner zu stehen. Hier kommt es vor allem darauf an, als Mann körperliche Arbeit zu leisten, wen interessiert da schon dieses mädchenhafte Rumgeklimper?

Matti und Niila stammen beide aus eher schwierigen familiären Verhältnissen, so dass die Musik für sie die Möglichkeit zum Ausbruch ist. Sie ist ihre Art der Rebellion, auch wenn die beiden sich das wohl nicht ausgemalt hatten, als sie zum ersten Mal im Keller von Mattis Vater mit der Sperrholzgitarre Elvis-Posen imitiert haben.

Was die beiden in den folgenden Jahren erleben, ist durchaus schon einen Roman wert, der einerseits locker-flockig skurrile Geschichten mit viel Witz erzählt, andererseits aber auch einige düstere und tragische Momente enthält. Niemi bewegt sich oft auf einem sehr schmalen Grat zwischen Tragik und Komik. Sein Humor bekommt dadurch eine schwarzhumorige Note, und tragische Momente verlieren trotz der leichtfüßigen Erzählart nichts von ihrer Dramatik.

Vereinzelt hat Niemi dabei sogar schon einen Hang zum Surrealen. Einzelne Kapitel spielen mehr in der Phantasie als in der Realität und mögen im ersten Moment nicht so recht in das Buch passen. Schlägt man es dann am Ende zu, kann man aber dennoch sehr zufrieden sein. Es ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild, in das auch Niemis scheinbar verrückte Phantastereien wieder ganz gut hineinpassen.

Wenn Übersetzung und Lektorierung etwas sorgfältiger gemacht worden wären, wäre das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich rundum ein Genuss. So bleibt leider ein etwas fader Beigeschmack zurück. Nicht nur, dass die deutsche Ausgabe teilweise haarsträubende Rechtschreib- und Grammatikfehler aufweist und sich hier und da etwas holprig liest, auch die Übersetzung an sich bietet Anlass zur Kritik. Niemi verwendet viele schwedische und tornedalfinnische Ausdrücke, die teilweise einfach so unübersetzt und unerklärt stehen gelassen werden. Welcher durchschnittlich sprachbegabte Deutsche kann schon etwas mit Begriffen wie „ummikko“, „meän kieli“ oder „ulosveisu“ anfangen? Wenn man solche Ausdrücke schon nicht übersetzt, weil sie evtl. im Deutschen nicht entsprechend existieren, wäre es dann unmenschlich zu erwarten, dass sie in einem Glossar erklärt werden? Wohl kaum.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Niemi einfach den richtigen Ton trifft. Er zaubert dem Leser ein Lächeln aufs Gesicht und rührt ihn, er stimmt ihn nachdenklich und lässt ihn lauthals loslachen. Er kreiert ein wunderbares Wechselbad der Gefühle, das auch nach der Lektüre im Gedächtnis haften bleibt. Wer schöne Geschichten mit komischen Käuzen an merkwürdigen Orten mag, der wird an diesem Buch seine Freude haben. Wer obendrein Mattis und Niilas Musikbegeisterung teilt, muss dieses Buch eigentlich lieben.

Mason, Richard – unsichtbare Vierte, Die

Bereits sein erster Roman „Der Liebesbeweis“, den Richard Mason mit gerade achtzehn Jahren verfasste, überzeugte Kritiker und Leser von der erzählerischen Virtuosität des Jungautors. Und tatsächlich erzählt Mason so kraftvoll und dabei so feinsinnig und federleicht, dass man seine Bücher – einmal begonnen – nur äußerst ungern aus der Hand legt.

„Die unsichtbare Vierte“ brilliert durch unendlich viele kleine Szenen, die sich vielversprechend wie schimmernde Perlen aneinander reihen. Szenen, die sich dann jedoch leider nicht gänzlich zur strahlenden Kette, zum überzeugenden Ganzen zusammenfügen wollen.

Denn auch wenn Richard Mason sich fünf Jahre Zeit genommen hat, um „Die unsichtbare Vierte“ zu komponieren – fünf Jahre übrigens, die er als Albtraum voller Selbstzweifel beschreibt -, verführt der Roman vorwiegend durch sein kunstvolles Arrangement, das mit Sprache, mit Zeitebenen sowie den Perspektiven seiner Figuren, drei unterschiedlichen Stimmen, gewandt zu jonglieren weiß.

In vier große Kapitel unterteilt Mason die Handlung. In ICH lernt der Leser zunächst die drei Protagonisten kennen: Julian, den etwas blassen Lehrer; Jake, den süchtigen, einst gefeierten inzwischen jedoch konzeptlosen Konzept-Künstler, und Adrienne, die Tochter aus mondäner New Yorker Gesellschaft, die einen erfolgreichen, viel älteren Filmproduzenten geheiratet hat. So unterschiedlich sich ihr Leben gestaltet hat, verbindet sie doch ein tragisches Ereignis, das mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt. Denn alle drei fühlen sich in gewisser Weise für den Tod von Maggie – der unsichtbaren Vierten – verantwortlich.

In den Kapiteln DAMALS und WIR lässt Mason seine Figuren aus ihrer Jugend erzählen. Die Wege der vier kreuzten sich endgültig in Oxford, wo sich ihr Schicksal auf dramatische Weise für immer miteinander verknüpfte. In WIR nimmt der Roman die Züge des im englischsprachigen Raum sehr beliebten College-Mystery an, weshalb man „Die unsichtbare Vierte“ wohl des Öfteren mit Donna Tartts Weltbestseller „Die geheime Geschichte“ verglichen hat. In dem letzten Teil, HEUTE, treffen Julian, Jake und Adrienne nach über einem Jahrzehnt wieder zusammen – und erneut nimmt ihr Treffen einen schrecklichen Ausgang.

Ein US (WIR – so der Originaltitel) hat es letztlich niemals gegeben. Eigentlich war Maggie, Julians Schwester, die mit ihrem ungestüm charmanten wie dominanten Charakter Jake zu ihrem Liebhaber und Adrienne zu einer ihrer Freundinnen machte, das Bindeglied dieses tragisch endenden Quartetts.

„Die unsichtbare Vierte“ bezaubert – wie gesagt – durch Masons Geschick, mit Sprache wunderbare Atmosphäre und elegante, anekdotenhafte Szenen zu schaffen. Als Geschichte jedoch überzeugt „Die unsichtbare Vierte“ nicht gänzlich. Unzählige Zufälle lassen teilweise Zweifel an dem Plot aufkommen. Und auch die Figuren bleiben eher blass, ihre Motive und Beziehungen nicht immer nachvollziehbar – Was z. B. treibt Adrienne in Julians Arme und über Monate in sein Bett? Da klingen auch die ein oder andere philosophisch moralische Betrachtung und Hobbes zitiertes Weltbild zu kurz und zu unmotiviert an, um dem Text ernsthaft mehr Tiefe zu verleihen. Tragisch ist die Geschichte in vielfacher Hinsicht. Vor allem, da die drastisch grausamen, aber doch letztlich banalen College-Streiche, die Maggie inszeniert, um Gerechtigkeit herbeizuführen, für alle Beteiligten ein so schlimmes Ende nehmen. „Der kurze, reizvolle Augenblick, in dem aus einem Spiel das Leben wird – und dann der Tod.“ Wobei jedoch eigentlich die Unfähigkeit der Figuren zur Kommunikation das tragischste Moment der gesamten Geschichte ist.

„Die unsichtbare Vierte“ ist ein tragisch schöner, virtuos erzählter Roman, der jedoch an Logiklücken und der zu zahmen Umsetzung eines extremen Charakters kränkelt. Hätte Mason auf das Nachbeben, das die übrig gebliebenen drei Figuren noch Jahre später erschüttert, verzichten wollen, wäre der Roman vielleicht ein spannender Krimi aus der Sparte College-Mystery geworden. Mason jedoch zielt auf die erzählte Gegenwart ab, um die Auswirkungen von Maggies Tod zu verdeutlichen. „Die unsichtbare Vierte“ ist spannend, aber trotz Todesfällen nur bedingt als Krimi zu lesen. Denn Mason konzentriert sich nicht explizit auf Spannung und Thrill, sondern verlässt sich ganz auf seine Figuren. Ob diese Konstellation den Leser letztlich in den Bann zieht, muss jeder selbst entscheiden, so wie der Autor sich das vorstellt: ‚Ich möchte, dass die Leser bewegt sind, aber ich möchte auch, dass jeder Leser den Text auf seine eigene Weise erfährt.‘

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Henrike Wöbking – Auf Eis

Frauen und Eishockey – das passt so gut zusammen wie saure Gurken mit Sahne, möchte man zumindest meinen. Doch Henrike Wöbkings aktuelles Buch beweist das Gegenteil. Wöbking legt mit „Auf Eis“ ihren inzwischen zweiten Roman vor und schafft es, ein Frauenbuch zu schreiben, ohne auf die typischen Klischees zurückzugreifen. Zwar stehen auch hier wieder Männer im Mittelpunkt, doch spielen diese nicht deshalb eine Rolle, weil sie verdammt gut aussehen, sondern weil sie gute Eishockeyspieler sind.

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Ruiz Zafón, Carlos – Schatten des Windes, Der

Joschka Fischer ist nicht unbedingt derjenige, den man fragen würde, welches Buch man lesen sollte. Der ehemalige Außenminister mag für vieles bekannt sein, aber sicherlich nicht unbedingt wegen seiner Literaturtipps. Dennoch ist es schon ein wenig ermutigend und ansteckend, wenn man im Klappentext zu „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón seine Empfehlung liest: |“Sie werden alles liegen lassen und die Nacht durch lesen!“| Das entpuppte sich zumindest in meinem Fall als Empfehlung prophetischen Charakters, denn gerade im letzten Drittel des Buches war ich doch sehr geneigt, der Müdigkeit mittels erhöhter Espressoration den Garaus zu machen, um das Buch so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Da hat es sich doch mal gelohnt, Herrn Fischer zu glauben …

„Der Schatten des Windes“ ist auf den ersten Blick ein recht unspektakuläres Buch. Die Handlung klingt nach gehobener Belletristik für die intellektuelle Oberschicht und weniger nach einem Roman zum Verschlingen. Die Geschichte spielt zur Zeit Francos in Barcelona. Der junge Daniel Sempere besucht zusammen mit seinem Vater, dem Buchhändler, den geheimnisvollen „Friedhof der Vergessenen Bücher“. Noch ahnt Daniel nicht, wie sehr dieser Besuch sein weiteres Leben verändern wird. Von all den Büchern, die dort in den Regalen ihr trostloses, staubiges Dasein fristen, darf Daniel sich eins aussuchen. Er entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“ von einem Autor namens Julián Carax.

Daniel ist fasziniert von dem Roman und liest ihn wieder und wieder. Weil er gerne mehr von Julián Carax lesen würde, macht Daniel sich mit Hilfe seines Vater auf die Suche nach Carax‘ literarischen Spuren. Doch keiner weiß so recht, wo Carax lebt und ob er nicht schon längst tot ist. Daniel gerät in den Bann dieser sonderbaren Figur und trägt hier und da immer neue Bruchstücke einer faszinierenden Biographie zusammen.

Daniels Suche nach der mysteriösen Gestalt Julián Carax entwickelt sich immer mehr zu einem Spiel, dessen Regeln der Junge nicht zu durchschauen vermag. Merkwürdige Personen tauchen auf, legen falsche Fährten, versuchen zu vertuschen und stoßen gar Drohungen aus. Daniels Leben entwickelt sich dabei zunehmend analog zu „Der Schatten des Windes“, und ehe er sich versieht, steckt er schon mittendrin in der Handlung seines Lieblingsromans – im Kern einer Geschichte, die einem Strudel gleich ihre Protagonisten einem düsteren, furchtbaren Schicksal entgegentreibt …

Es stimmt schon, die Handlung mutet etwas sonderbar an, wenn man zum ersten Mal mit dem Klappentext konfrontiert wird. Ein Roman über einen Roman. Dass es dabei spannend zugeht und das Buch den Leser zum Ende hin so sehr in Beschlag nimmt, dass er sich kaum von den Seiten zu lösen vermag, möchte man auf den ersten Blick kaum glauben. Aber genau so ist es. Ruiz Zafón versteht es, den Leser auf eine Reise mitzunehmen, ihn aus seinem Alltag zu entführen und mitten in einen Plot zu ziehen, von dem der Leser absolut nicht ahnt, in welche Richtung er sich entwickeln mag.

Mit „Der Schatten des Windes“ ergeht es dem Leser genau so, wie es Daniel bei der Lektüre von Carax‘ Roman ergeht: |“Je weiter ich in der Lektüre kam, desto mehr erinnerte mich die Erzählweise an eine dieser russischen Puppen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrer selbst in sich bergen. […] Unter dem gelben Licht der Tischlampe tauchte ich in eine Welt von Bildern und Gefühlen, wie ich sie nie zuvor kennen gelernt hatte. […] Seite um Seite ließ ich mich vom Zauber der Geschichte und ihrer Welt einhüllen …“| (S. 12/13)

Auch Ruiz Zafóns Erzählweise erinnert an eine russische Puppe. Schicht um Schicht offenbart er dem Leser weitere Facetten seiner Geschichte, die sich mit jedem Kapitel weiter verschachtelt und den Leser gefangen nimmt. Seine Geschichte spielt sich dabei auf zwei Ebenen ab. Zum einen wird Daniels Suche nach Julián Carax beschrieben, zum anderen erhält der Leser immer wieder neue Einblicke, wie Carax‘ Leben seinerzeit verlaufen ist. Beide Erzählebenen laufen nebeneinander her und werden mit der Zeit immer mehr zu einem Ganzen verknüpft.

Ruiz Zafóns Verknüpfung der beiden Erzählebenen gelingt dabei ausgesprochen gut. Er schafft es, zwischen beiden Ebenen eine tiefe Bindung herzustellen, klärt die Zusammenhänge schlüssig auf und lässt es dabei nicht an dramatischen Überschneidungen mangeln.

„Der Schatten des Windes“ ist ein Roman, der sich diverser Zutaten bedient und gerade auch durch seine ausgewogene Mischung zu glänzen weiß. Ein bisschen Hommage an die Literatur, eine ordentliche Prise Liebesgeschichte, ein wenig politische Brisanz, die der zeitliche Kontext der Herrschaft Francos in sich birgt, ein guter Schuss Kriminalgeschichte, abgeschmeckt mit einem Hauch klassischem Schauerroman. Das mag nach einem heillosen Mischmasch klingen, ist in der Ausführung aber dann doch angenehm ausbalanciert. Gerade auch aufgrund dieser vielfältigen Zutaten dürfte Ruiz Zafón eine recht breite Leserschaft ansprechen. Irgendwo findet hier jeder genau die Komponente, die er besonders schätzt.

Zu einem besonderen Genuss wird „Der Schatten des Windes“ auch aufgrund Ruiz Zafóns sprachlichen Geschicks. Der Mann versteht es, mit Worten umzugehen, bedient sich einer sehr lebhaften und bilderreichen Sprache und sorgt so dafür, dass sich der Leser in den Roman und die Figuren richtiggehend hineinfühlen kann. „Der Schatten des Windes“ ist wahres Kopfkino und ein Hochgenuss für jeden, der die Gabe besitzt, in einem Roman sprichwörtlich zu versinken.

Ruiz Zafón versteht sich nicht nur auf plastische Bilder, sondern auch auf eine ausgefeilte Figurenzeichnung. Seine Figuren sind vielgestaltig und wirken, obwohl sie tendenziell eher plakativ schwarzweiß gezeichnet sind, nicht eindimensional. Man bekommt einen sehr plastischen Eindruck der Handelnden, wobei mir besonders eine Figur ans Herz gewachsen ist: der vom mittellosen Bettler zum „bibliophilen Berater“ von Sempere Senior aufgestiegene Fermín. Eine Figur mit großem Herzen, überragender Intelligenz und einem losen Mundwerk, das ihm so manchen Ärger einhandelt, aber den Leser immer wieder zum Schmunzeln bringt. Ruiz Zafón schafft Figuren, die man schnell in sein Herz schließt und an die man gerne zurückdenkt.

Ruiz Zafón fein geschliffene Ausdrucksweise thront über all dem und rundet die Raffiniertheit des Romans gelungen ab. Ein wenig poetisch wirkt sein Satzbau manchmal, geradezu melodisch und melancholisch. Das Barcelona, das Ruiz Zafón vor dem Auge des Leser skizziert, hat feine Nuancen, wird aber von vielen düsteren Tönen bestimmt. Die Zeit Francos hinterlässt einen bedrückenden Eindruck, dem der Autor mit dem Charme und Witz einer Figur wie Fermín einen schönen Gegenpol entgegenstellt.

So ziemlich alle Emotionen spiegeln sich in den Zeilen wider, und wenn Ruiz Zafón dann zum großen Finale ansetzt, darf auch schon mal die eine oder andere Träne weggeblinzelt werden. „Der Schatten des Windes“ ist ein Roman, der auf wunderbare Art und Weise nicht nur Gefühle beschreibt, sondern auch weckt. Dem einen mag das ein wenig kitschig erscheinen, den anderen reißt es dafür richtig mit. Wer sich noch vorbehaltlos auf eine Geschichte einlassen kann, wer einer Geschichte voller Phantasie, Melancholie, Witz und Dramatik offen gegenübersteht, der wird seine Freude an diesem Buch haben und für den könnte die Lektüre ein wahrer Hochgenuss sein.

Und, um zum Ende hin noch einmal Daniel Sempere höchstselbst zu Wort kommen zu lassen: |“Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägen einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wie viel wir lernen oder vergessen.“| In meinem Fall ist dieser Platz zwar schon belegt, aber „Der Schatten des Windes“ kommt immerhin schon recht nah daran …

Gerald Axelrod / Liane Angelico – Die Nacht des Blutmondes

Wer kennt dieses Gefühl nicht? Man betrachtet mit relativ emotionslosem Interesse ein historisches Gebäude, und plötzlich, von einem bestimmten Standpunkt aus, ergibt sich ein majestätischer Eindruck. Oder man spaziert unter einem alten Gewölbe entlang und verspürt unerwartet etwas Unheimliches. Und die Standbilder der Helden, Heiligen und Dämonen scheinen irgendwie zu leben.

Die Bilder

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Lindquist, Mark – Carnival Desires

Mark Lindquist ist hierzulande noch ein recht unbeschriebenes Blatt. In Amerika dagegen ist er weitaus bekannter. Bret Easton Ellis bekennt, dass Lindquist sein Lieblingsautor ist, und so wie Ellis auch, wurde Lindquist Ende der 80er und zu Beginn der 90er zum so genannten |“literarischen Brat Pack“| gezählt. Zum |“Brat Pack“| zusammengefasst wurden seinerzeit Autoren, die mit ihrem postmodernen Prosastil die Literaturkritik in wahre Verzückung versetzten. Neben Ellis und Lindquist zählte auch noch Jay McInerney dazu.

Lindquist tauchte als Romanautor zuerst 1987 mit „Sad Movies“ auf der Bildfläche auf. 1990 folgte der 2005 nun endlich auch auf Deutsch bei German Publishing veröffentlichte Titel „Carnival Desires“. Nach zehnjähriger kreativer Pause folgte 2000 dann „Never Mind Nirvana“. Der vierte Roman scheint in Arbeit zu sein.

Lindquists Biographie ist recht ungewöhnlich und dient ihm immer wieder als Inspirationsquelle für seine eindeutig autobiographisch gefärbten Romanfiguren. Bis Anfang der 90er schrieb Lindquist Drehbücher für große Hollywood-Studios. 1991 folgte dann ein radikaler Schnitt. Lindquist zog sich völlig zurück, studierte Jura und arbeitet heute als stellvertretender Staatsanwalt in Seattle.

Lindquist ist jemand, der hinter die Kulissen Hollywoods geschaut hat, und diese Erfahrungen und Eindrücke sind Teil seiner Romane. Seine Hauptfiguren arbeiten bei Filmgesellschaften, sind Schauspieler, Regisseure und Drehbuchautoren, wie Lindquist selbst. Nur bei „Never Mind Nirvana“ kommt die Hauptfigur aus einer anderen Ecke und ist – welch eine Überraschung – Staatsanwalt in Seattle.

Ausgangspunkt von „Carnival Desires“ ist Tim, der im Roman selbst aber keine allzu lebendige Rolle mehr einnimmt. Kein Wunder, denn Tim, der als Schauspieler tätig war, hat sich an Heiligabend erschossen – aus Langeweile. An Silvester kommen Tims Freunde zusammen, denken zurück an ihre gemeinsamen Jahre und grübeln über die Zukunft. Tims Freunde sind allesamt Endzwanziger und Teil von Hollywoods Film- und Partyszene. Tims Tod lässt sie einen Moment inne halten und über ihr Leben, ihre Träume und Ziele nachgrübeln.

Und so kommt es, wie es an Silvester zwangsläufig kommen muss: Es werden gute Vorsätze fürs neue Jahr gefasst. Der Drehbuchautor Bick will sich zur Ruhe setzen, in den Norden ziehen und ein religiöseres Leben führen, der Regisseur Oscar will eine Freundin finden, Mona will endlich einen Job ergattern, Schauspielerin Libby will eine Sprechrolle an Land ziehen und das Schauspielerpaar Merri und Willie will endlich erwachsen werden, was für Willie bedeutet, Merri zuliebe den Drogen entsagen zu müssen. Joys Vorsatz ist es, einen Vorsatz zu finden.

Ein paar Monate später wollen die Freunde sich wieder treffen und über Erfolg und Misserfolg ihrer Vorsätze urteilen. Die einen vergessen ihre Vorsätze so schnell, wie sie sie gefasst haben, andere arbeiten darauf zu, sie zu erfüllen und wiederum andere enden in einer absoluten Katastrophe …

„Carnival Desires“ ist ein Roman, der auf den ersten Blick einfach nur locker-flockige Lektüre zu sein scheint. Knappe Dialoge, gepfefferte Wortwechsel mit Witz und Ironie und eine Handlung, die mehr oder weniger daraus besteht, in Momentaufnahmen die unterschiedlichen Figuren der Geschichte zu beleuchten und zu Wort kommen zu lassen. Leichtgängige Unterhaltung über das schräge Leben in Hollywood.

Doch das würde dem Roman nicht ganz gerecht werden. Lindquists Roman hat zweifelsohne seine witzigen Momente, die vor allem im Partygeplänkel der Hauptfiguren und den flotten Wortwechseln durchschimmern, aber das ist eben noch längst nicht alles, was diesen Roman ausmacht.

Lindquist weiß, wovon er spricht. Die Hauptfigur Bick könnte er selbst sein. Die biographischen Parallelen sind offensichtlich. Lindquist hat durch diese Nähe zu seiner eigenen Biographie Charaktere erschaffen, die (gemessen an ihrer Umgebung) überraschend menschlich und real wirken. Man kann sich erstaunlich gut in sie hineinversetzen.

Lindquist versetzt seine Hauptfiguren in alltägliche Situationen und lässt seine Figuren ganz natürlich darin agieren. Bei einem Roman, der in einer realitäts-vakuumverpackten Welt wie Hollywood spielt, mag das ein wenig verwundern, aber es verleiht dem Roman eine besondere Note. Natürlich gibt es auch abgedrehte Figuren, wie den Schauspieler Willie, der alles, was er macht, gleich bis zum Exzess durchlebt, aber auch hinter seiner überdrehten, zugedröhnten Fassade schlummert ein überraschend menschlicher Kern. Bei Lindquist bietet fast jede Figur ihre eigenen Identifikationspunkte.

Jeder ist auf der Suche nach seinem persönlichen Glück. Jeder versucht auf seine individuelle Art, sich selbst zu verwirklichen, insofern ist Lindquists Blick hinter die Hollywood-Gesichter ein durch und durch menschlicher. Jeder hat irgendeinen wunden Punkt, jeder einen schwarzen Fleck auf der Seele und muss mit seinen eigenen Problemen fertig werden; und wie es scheint, ist es kaum irgendwo schwieriger glücklich zu werden als in Hollywood. Der Wert echter Freundschaft ist dabei unermesslich und genau das müssen auch die Figuren in Lindquists Roman erkennen.

Gewürzt wird „Carnival Desires“ durch Lindquists gewitzte und intelligente Art. Er schreibt in einem recht schlichten Stil, verschachtelt sich nicht im Satzbau, sondern bringt seine Aussagen zielsicher auf den Punkt. Ein großer Teil des Romans besteht aus Dialogen und so ist Lindquists Art, seine Ideen und Gedanken zu vermitteln, eine sehr direkte. Seitenhiebe auf Hollywood gibt es da natürlich in Hülle und Fülle, aber auch kritische Töne über die Funktionsweise und Machtstrukturen der Traumfabrik.

Alles in allem ist „Carnival Desires“ in all seiner Einfachheit überraschend vielschichtig. Lindquist treibt die Geschichte mit viel Schwung voran, erzählt direkt und gewitzt, mal nachdenklich, mal humorvoll und stets sehr menschlich. Wer mal einen halbwegs realistischen Blick hinter die Kulissen Hollywoods werfen will, der ist mit diesem Roman gut bedient und bekommt gleichzeitig noch ein unterhaltsames Werk zeitgenössischer Literatur in die Finger.

Lindquist hat eine ganz eigentümliche Mischung aus Witz und Melancholie, die durchaus Lust darauf macht, auch mal zu seinen beiden anderen Romanen „Sad Movies“ und „Never Mind Nirvana“ zu greifen. Freunden von Douglas Coupland und Konsorten sehr ans Herz zu legen.

Joseph Gangemi – Inamorata

Das geschieht:

Im Dezember des Jahres 1923 glaubt Martin Finch, mittelloser Psychologie-Student an der US-Renommieruniversität Harvard im US-Staat Massachusetts, das große Los gezogen zu haben: Der berühmte Professor William McLaughlin heuert ihn als Assistenten an. Finch soll ihn bei seinem Bemühen unterstützen, die parapsychischen Fähigkeiten spiritistischer Medien zu überprüfen. Bisher entlarvte der Gelehrte nur Taschenspieler und Betrüger; ein leibhaftiger Geist ist ihm niemals begegnet.

So bleibt es auch, denn Finch entpuppt sich als findiger Detektiv, der falsche Geisterbeschwörer mit klugen Tricks bloßstellt. Als McLaughlin nach einem Unfall ausfällt, bietet Finch an, ihn zu vertreten. Sein Chef willigt ein, weil der aktuelle Fall ihm sehr am Herzen liegt: Der berühmte Schriftsteller und Hobby-Spiritist Sir Arthur Conan Doyle hat McLaughlin auf ein bemerkenswertes Medium in Philadelphia aufmerksam gemacht. Die junge Mina Crawley, Gattin eines deutlich älteren Chirurgen, gehört zur High Society ihrer Heimatstadt. Lange hatte sie Bitten um ein Treffen zurückgewiesen, bis sie jetzt endlich einwilligte. Joseph Gangemi – Inamorata weiterlesen

Joe R. Lansdale – Sturmwarnung

Das geschieht:

Galveston, eine Stadt an der Ostküste der USA: An einem Septembertag steht „Lil‘ Arthur“ John Johnson vor der härtesten Herausforderung seines 22-jährigen Lebens. Der talentierte Nachwuchsboxer hat den Champion des örtlichen Boxclubs besiegt und den Meistertitel gewonnen – an sich ein sportliches Ereignis, doch Johnson ist schwarz, und der Gegner war weiß. Im Texas des Jahres 1900 gilt dieser Sieg als ungeheuerliche Niederlage der „überlegenen weißen Rasse“, die es unbedingt zu tilgen gilt. Ronald Beems, Präsident des „Sporting Clubs“, muss sich vor seinen rassistischen weißen Clubmitgliedern ‚rehabilitieren‘. Dafür gilt es den verhassten Johnson, der seine Krone behalten will und sogar vom sportlichen Aufstieg träumt, nicht nur zu besiegen sondern zu vernichten.

Beems meint das buchstäblich: Er heuert den brutalen Schläger John McBride an, der Johnson im Ring totschlagen soll. Die Polizei ist geschmiert, sie wird den illegalen ‚Kampf‘, der ohne Boxhandschuhe, d. h. mit den blanken Fäusten und ohne Regeln auszutragen ist, nicht verhindern. Johnson ist sich der Tatsache durchaus bewusst, dass man ihn nicht boxen, sondern sterben sehen will. Ehrgeiz und Stolz verbieten ihm vom Fight zurückzutreten.

Die gesamte Gemeinde fiebert dem öffentlichen Ende des „Niggers“ entgegen. Darüber entgeht den Bürgern, dass sich über der Küste zum Golf von Mexiko Schlimmes zusammenbraut. Das Barometer fällt, der Wasserpegel steigt. Doch man bleibt unbesorgt, denn diese Vorzeichen wollen zu einem Sturm noch nicht passen. Also werden keinerlei Maßnahmen getroffen. Aber man fühlt sich zu sicher. Während McBride und Johnson zum Kampf auf Leben und Tod antreten, nähert sich über dem Meer der Sturm des Jahrhunderts, der die Stadt und die meisten ihrer Bewohner auslöschen wird …

Boxkampf als Rassenkampf

Historische Eckpfeiler stützen das Handlungsgerüst dieses Kurzromans. Da ist primär die Rassendiskriminierung in den Südstaaten der USA um 1900. Die Zeit der Sklaverei liegt gerade dreieinhalb Jahrzehnte zurück, bis zur (zumindest gesetzlichen) Gleichstellung von Schwarz und Weiß wird noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen. Die meisten Schwarzen stehen sich eher schlechter als die ehemaligen Sklaven. Seit sie nicht mehr als „bewegliches Gut“ gelten, das zum Zwecke der optimalen Arbeitsausnutzung ‚geschont‘ werden muss, betrachtet sie die weiße Mehrheit auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrenten und gesellschaftlich als Bedrohung.

Gleichzeitig wächst eine neue schwarze Generation heran, die sich wie Arthur John Johnson nicht mehr mit der Rolle des bescheidenen, ausgebeuteten Tagelöhners und Arbeiters begnügen will, sondern mehr vom Leben fordert – für die weißen Rassisten, die keinesfalls von ihrer Macht und ihren wirtschaftlichen Privilegien auf Kosten der Schwarzen lassen wollen, eine unerträgliche Herausforderung. So ist das Zusammenleben der Rassen geprägt von Misstrauen und latenter Gewalt, die immer wieder offen ausbricht; die Leidtragenden sind fast ausschließlich von schwarzer Hautfarbe.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der Kampf zwischen McBride und Johnson eine ganz neue Dimension. Der sportliche Aspekt ist Nebensache. Tatsächlich steht hier „Weiß“ gegen „Schwarz“ im Ring; Sieg oder Niederlage stützen oder stürzen Weltbilder. Verstärkt wird die Konfrontationssituation durch die besondere Variante des Boxkampfs, die in Galveston gewählt wird. Während in der offiziellen Welt des Sports schon seit 1867 die „Regeln für das Boxen mit Handschuhen“ des Marquess von Queensberry gelten, zieht eine brutalisierte Zuschauerminderheit den ‚ehrlichen‘ Kampf mit blanken Fäusten und ohne Regeln vor. Da dabei der Boxer schwer verletzt oder getötet werden kann, ist diese Art des Boxens verboten. Deshalb müssen solche Kämpfe illegal organisiert und heimlich ausgefochten werden.

Der Sturm des Jahrhunderts

Nicht grundlos spielt in diesem Roman das Wettergeschehen eine wichtige Rolle. Schon mehrfach fielen Hurrikans und Wasserwände über die Südostküsten der USA her, versenkten wie New Orleans ganze Großstädte, richteten Milliardenschäden an und kosteten Menschenleben. So war es auch im Jahre 1900, als ein Sturm unerhörten Ausmaßes Kurs auf Galveston nahm und die Stadt dem Erdboden gleichmachte. So absolut war die Zerstörung, dass niemals festgestellt werden konnte, ob nun 6000 oder 12000 Menschen der Katastrophe zum Opfer fielen. „Isaacs Sturm“ nannte der Schriftsteller Erik Larson sein bereits klassisches Buch über das Desaster von Galveston, das durch den Meteorologen Isaac Cline mitverschuldet wurde, der die Vorzeichen falsch deutete und auf dessen Fachwort man sich verließ, bis es zu spät war.

In dieser Geschichte geht es wie gesagt um mehr als einen Boxkampf. Autor Lansdale präsentiert uns eine Parabel: So wie Galveston und seine Bürger untergehen, weil sie ihrer Probleme nicht Herr werden können und den großen Sturm unbeachtet lassen, so kann es der Gesellschaft insgesamt ergehen, wenn sich die ethnischen, religiösen oder anderweitig differenzierten Gruppen nicht zusammenraufen. Insofern ist Lansdales Galveston ein Symbol und eine Ankündigung dessen, was im gerade angebrochenen 20. Jahrhundert folgen wird. Die Last der Vergangenheit wird zur Hypothek auf die Zukunft, die nie wirklich beginnen kann, solange die Beems auf dieser Erde das Sagen haben.

Lansdale-typisch kommt diese Lektion ganz und gar nicht trocken daher. Drastischer als er vermag kaum jemand eine brutalisierte, verkommene, erbarmungslose Welt in Szene zu setzen. Seine Protagonisten sind verroht, ihr Handeln und Denken beschreibt Lansdale ohne Rücksicht auf feinfühlige Leser. Sex oder Gewalt, Sex und Gewalt; in der schwülen Ruhe vor dem Sturm brodelt es in Galveston wie in einem Dampfkochtopf. Dass Lansdale diese Sprache bewusst als Stilmittel einsetzt, verraten jene Kapitel, in denen er den Sturm und sein Toben beschreibt. Hier schöpft er aus einem völlig anderen Wortschatz, schafft eindrucksvolle Stimmungsbilder, weiß die unwirkliche Apokalypse sicht- und spürbar zu machen.

Der große Gleichmacher

Die Welt ist schlecht und weil dem so ist, wird sie von entsprechenden Menschen bevölkert. Zumindest auf Galveston trifft dies zu. Keine der Hauptfiguren ist wirklich sympathisch. Auch John Johnson, der doch prädestiniert wäre für die Rolle des schwarzen Helden, der die Bande sprengt, die seine finsteren Zeitgenossen ihm übergeworfen haben, ist vor allem ein ganz normaler Mensch, der seinen eigenen Vorteil im Auge hat. Zwar denkt er auch an seine Familie doch als diese auf seine Hilfe angewiesen ist, lässt er sie im Stich, um seinem Stolz zu frönen.

Leicht macht es Lansdale seinen Lesern auch nicht mit den ‚Bösen‘. McBride ist ein egoistischer Mistkerl, der alle negativen menschlichen Eigenschaften in seiner Person vereinigt. Dennoch er ist kein Dummkopf, und ein großer Teil seiner Rücksichtslosigkeit basiert auf dem genauen Wissen um die gesellschaftlichen Realitäten seiner Epoche. Auch McBride wird niemals zur geachteten Oberschicht gehören. Seine momentane Prominenz verdankt er einzig seinen Fäusten. Deshalb kostet er die Privilegien, die ihm geboten werden, nach Herzenslust aus und verachtet jene, die sie ihm bieten.

McBride verprügelt seine Sparringspartner, seine Ringgegner, seinen Auftraggeber Beems. Er scheint nur an sich zu denken, doch als der Leser ihn richtig hasst, sieht man ihn plötzlich mit Johnson ein Baby aus den Trümmern von Galveston retten: Seinen Kontrahenten im Ring hasst McBride nicht; ihn zu verprügeln war nur ein Job. Der hat durch den großen Sturm sein Ende gefunden, also gibt es für McBride keinen Grund mehr, sich mit Johnson zu schlagen.

Somit ist der eigentliche Schurke der Rassist Ronald Beems? Lansdale foppt uns auch hier: Beems ist vor allem ein Schwächling, der panisch seine unterdrückte Homosexualität gleichzeitig zu leben und zu verbergen trachtet. Vordergründig hasst er Johnson, gleichzeitig begehrt er ihn. Trotz seiner Position in der Gesellschaft von Galveston ist Beems wie Johnson ein Gefangener, dem schriftlich fixierte und unausgesprochene Gesetze und Regeln ein selbst gestaltetes Leben versagen.

Eine ganze Anzahl von Nebenfiguren lässt Lansdale neben dem Dreieck Johnson – McBride – Beems auftreten. Sie bilden einen Querschnitt durch die Bevölkerung von Galveston. Knapp skizziert der Verfasser Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Sie stehen stellvertretend für die vielen Opfer, die der Hurrikan von 1900 forderte. Der Sturm macht keinen Unterschied zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Menschen; sie sterben ohne Unterschied oder überleben durch manchmal absurde Zufälle. Dieser Verzicht auf ein Schwarz-Weiß-Schema, das die Figuren allzu vieler Romane oder Filme in zwei Gruppen teilt, komplettiert die erfreulich lange Liste positiver Argumente, die sich für eine Lektüre von „Sturmwarnung“ anführen lassen.

Anmerkung

„Sturmwarnung“ basiert auf die zum Roman erweiterte Novelle „Der große Knall“, die 1997 Douglas E. Winters große Anthologie „Millennium“ (dt. „Offenbarungen“) einleitete, die sich literarisch mit den großen Veränderungen des 20. Jahrhunderts beschäftigte.

Autor

Joe Richard Harold Lansdale wurde 1951 in Gladewater im US-Staat Texas geboren. Als Autor trat Lansdale ab 1972 in Erscheinung. Gemeinsam mit seiner Mutter veröffentlichte er einen Artikel, der viel Anerkennung fand und preisgekrönt wurde. Mitte der 1970er Jahre begann er sich der Kurzgeschichte zu widmen. Auch hier stellte sich der Erfolg bald ein. Lansdale wurde ein Meister der kurzen, knappen Form. In rasantem Tempo, mit einer unbändigen Freude am Genre-Mix und am Auf-die-Spitze-Treiben (dem „Mojo-Storytelling“) legte er Story um Story vor.

Texas, sein Heimatstaat, war und ist die Quelle seiner Inspiration – ein weites Land mit einer farbigen Geschichte, erfüllt von Mythen und Legenden. Lansdale ist fasziniert davon und lässt die reale mit der imaginären Welt immer wieder in Kontakt treten. In seinen Geschichten ersteht der Wilde Westen wieder neu. Allerdings kann es durchaus geschehen, dass dessen Bewohner Besuch vom Teufel und seinen Spießgesellen bekommen. Es könnten auch Außerirdische landen.

Nach zwei Lansdale-Kurzgeschichten entstanden Kurzfilme („Drive-In Date“, „The Job“). Kultstatus erreichte Don Coscarellis Verfilmung (2002) der Story „Bubba Ho-tep“: Ein alter Elvis Presley und ein farbiger John F. Kennedy jagen eine mordlustige Dämonen-Mumie. Lansdale schrieb außerdem Drehbücher für diverse Folgen der Serien „Batman: The Animated Series“ und „Superman: The Animated Series“.

Der private Joe R. Lonsdale lebt mit seiner Frau Karen und den Kindern heute in Nacogdoches, gelegen selbstverständlich in Texas. Er schreibt fleißig weiter und gibt ebenso fleißig Kurzgeschichtensammlungen heraus. Außerdem gehören Lansdale einige Kampfsportschulen, in denen diverse Künste der Selbstverteidigung gelehrt werden.

Homepage von Joe Lansdale

Paperback: 166 Seiten
Originaltitel: The Big Blow (New York: Subterranean Press 2000)
Übersetzung: Hannes Riffel
Cover und Innenillustrationen: Marcus Rössler

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)

Brigitte Blobel – Mörderherz

Daniel Panetta, 52 Jahre alt, verheiratet und Leiter der öffentlichen Bibliothek in Washington, leidet seit mehreren Jahren an immer stärker werdenden Herzbeschwerden. Eines Tages eröffnet ihm sein Arzt Professor Grady, dass seine einzige Chance in einer Herztransplantation liegt. Ohne ein neues Organ hat er vermutlich kein Jahr mehr zu leben. Panettas Name kommt auf die Empfängerliste und ein banges Warten beginnt. Sein Allgemeinzustand verschlechter sich immer weiter, seine Arbeit hat er bereits aufgeben müssen, die Ehe mit seiner attraktiven und erfolgreichen Frau Martha leidet.

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Zsuzsa Bánk – Heißester Sommer. Erzählungen

Im Jahr 2002 wurde Zsuzsa Bánks Debütroman [„Der Schwimmer“ 2054 zum Überraschungserfolg des damaligen Buchherbstes. Die sensibel erzählte Geschichte, von der Kritik mit zahlreichen Preisen bedacht, bleibt vor allem durch Bánks einfühlsame Sprache im Gedächtnis. Ihr melancholischer und wehmütiger Erzählfluss geht direkt ins Herz, nistet sich dort ein, brütet und lässt den Leser nicht mehr los. Zsuzsa Bánk fesselt mit dem Nicht-Gesagtem, dem Angedeuteten, dem vage Umschriebenen und schafft damit eine unwirkliche Atmosphäre, die schimmert wie der Asphalt einer sonnenbeschienenen Straße.

Bei einem so kraftvollen und überzeugenden Erstling erwartet der Leser viel vom nächsten Buch. Doch statt eines zweitens Romans hat die Autorin nun einen schmalen Band mit zwölf Erzählungen veröffentlicht. Erzählungen, die über Jahre hinweg entstanden sind, beispielsweise während ihrer Lesereise für „Der Schwimmer“.

Schon auf den ersten Seiten, ja nach den ersten Sätzen, ist sie wieder da: diese ganz spezielle Stimmung, die nur Bánk so zu evozieren vermag. Es ist ein gefühliges Schweben, eine schwere Melancholie, die den Leser mehr einhüllt als die Figuren der Erzählungen. Die sind zumeist viel zu sehr in ihrem Leben gefangen, um Muße zur Reflektion zu haben. Da sind zwei Freundinnen, die jährlich eine Bekannte in einer Anstalt besuchen, das Wiedersehen zwischen alten Bekannten oder das Zerbrechen einer Beziehung. Alle der zwölf Geschichten, mit Ausnahme der abschließenden „Delphine“, kreisen als Variation um ein Thema. Es geht um den Abschied, um die Vergänglichkeit von Freundschaften, Liebschaften, Beziehungen. Es geht um das Zerbrechen von Dingen, die man für ewig und wichtig gehalten hat.

Doch nichts ist von Dauer in dieser Sprachwelt von Zsuzsa Bánk, die wie ein Wirbel zwischenmenschliche Beziehungen in den Abgrund reißt. Die Zeiten ändern sich, Menschen und Umstände ändern sich. Und manchmal ist es einfach unmöglich, an Gefühlen und Zuständen festzuhalten, wie verzweifelt man es auch immer versucht. Menschen leben sich auseinander; sie schlagen unterschiedliche Lebenswege ein, doch dies verträgt sich kaum mit dem Wunsch nach Stetigkeit.

Bánks Geschichten leben von dem, was sie verschweigt oder nur andeutet. Beziehungen zwischen den Figuren werden fast nie deutlich benannt, nur skizziert. Doch gerade dadurch gewinnen sie in der Vorstellung des Lesers an Gewicht und Lebendigkeit. Ihre Darstellung ist minimalistisch und doch punktgenau – rein sprachlich ein Genuss.

„Heißester Sommer“ hat jedoch ein Problem: Die Erzählungen lesen sich wie zwölf Variationen auf ein Thema, wieder und wieder hält Bánk den Finger in die Wunde menschlicher Empfindung. Allerdings verschwimmen die Geschichten ab einem gewissen Punkt, all die Frauennamen werden zu einem Pool kaum unterscheidbarer Protagonistinnen. Es ist schwer, die einzelnen Erzählungen in Erinnerung zu behalten, da sie thematisch jeweils so ähnlich liegen und bewusst beim Leser ähnliche Gefühle und Reaktionen hervorrufen sollen. Das ermüdet auf Dauer. Es ist daher sicherlich wie auch schon beim „Schwimmer“ zu empfehlen, den Erzählband in kleinen Dosen zu genießen, all die Schwermütigkeit könnte ansonsten zu Überfütterung führen.

Diese thematische Eigenheit des Buches beeinflusst jedoch nicht dessen stilistische Brillanz. Eindringlich ist Bánks Sprache, reduziert auf das Wesentliche, und so gelingt es ihr auch, ganze Lebenswege in Geschichten anzudeuten, die zwanzig Seiten kaum überschreiten. Ihre Erzählweise zieht den Leser sprichwörtlich in einen Bann, in einen Strudel aus Worten und Bedeutungen, die entknüpft und verdaut werden wollen. Zsuzsa Bánk ist nichts für den Strand, auch nicht für die Bahn. Ihre Gesellschaft ist etwas, das bewusst genossen und nicht in Eile konsumiert werden sollte.

Mit „Der Schwimmer“ war ihr vor drei Jahren der große Wurf gelungen. „Heißester Sommer“ ist ein solider Nachfolger, sprachlich fehlerlos, doch thematisch keineswegs so fesselnd wie ihr Roman. Der Erzählband ist eher das dauernde Schwingen einer Stimmung denn eine Sammlung von Erzählungen im klassischen Sinne. Wer nach frischer Wortgewalt von Zsuzsa Bánk lechzt, dem wird „Heißester Sommer“ ein treuer Gefährte sein. Wer Zsuzsa Bánk bisher noch nicht kennt, sei doch lieber an ihr Romandebüt verwiesen.

Amila, Jean – Mond über Omaha

Jean Amila (1910-1995) war nach dem bekannten Léo Malet der zweite französischsprachige Autor der legendären Série Noire. Nach seinem vielbeachteten Debüt 1942 präsentierte ihn |Gallimard| 1950 zunächst unter dem Pseudonym John Amila. Es folgte ein Spitzenkrimi nach dem anderen. „Mond über Omaha“ zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Könnens.

_Story_

Normandie, Juni 1944: Die Allierten landen an der französischen Küste in Omaha Beach. In einer brutalen Schlacht, in der die US-Verantwortlichen ihre Soldaten als menschliche Zielscheiben in den Krieg schicken, entscheidet sich auch das Schicksal der beiden Infanteristen Reilly und Hutchins. Während der eine mitten in der Schlacht von den verteidigenden Deutschen scheinbar tödlich getroffen wird, wendet sich Hutchins auf eigene Faust zur Flucht und gerät in einen Hinterhalt.

Zwanzig Jahre später an gleicher Stelle: Reilly hat als Einziger seiner Abteilung den Krieg überlebt und lebt zusammen mit seiner viel jüngeren Frau Claudine als Friedhofswärter in Omaha Beach. Der Sergeant erachtet es als seine Pflicht, seinen ehemaligen Kameraden bis an sein Lebensende seine Ehre zu erweisen, ganz entgegen der Vorstellung seiner Frau, der das Leben auf dem riesigen Soldatenfriedhof mittlerweile völlig gegen den Strich geht.

Eines Tages stirbt der alte Misthändler und Betrüger Delois an den Folgen einer Krankheit. Reilly konnte den Mann nie besonders leiden, doch auch nach seinem Tod verfolgt ihn sein Einfluss noch. Als nämlich die beiden Söhne Georges und Fernand, die bislang nichts voneinander wussten, am Todestag vor Ort erscheinen und sich folglich über das Erbe streiten, stellt Fernand die Existenz eines Bruders in Frage. Nach und nach wird klar, dass Georges tatsächlich kein leiblicher Sohn des alten Delois gewesen ist und sich damals eine Geburtsurkunde von ihm hat fälschen lassen, um nicht als Deserteur der Allierten vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Bei einem Besuch auf dem von Reilly geführten Friedhof entdeckt Georges das Kreuz desjenigen Mannes, der er vor knapp zwanzig Jahren mal gewesen ist und der seitdem für tot erklärt wurde – Hutchins!

Reilly, der gerade selber vom rechten Weg abgekommen ist, weil ihn seine Frau verlassen hat, erkennt den ehemaligen Kameraden auf Anhieb, klagt desen Verhalten aber nicht an. Weil sie beide vom alten Delois betrogen worden waren, tüfteln sie einen Plan aus, damit Georges das Erbe des Verstorbenen alleine antreten kann, um so das Schmiergeld, das seine Frau jahrelang gezahlt hat, wieder zurückzuerlangen. Doch je weiter die Erpressung gedeiht, desto tiefer dringt Georges alias Hutchins wieder in seine Vergangenheit ein und ist nach all der Zeit endlich bereit, seine Tarnung abzuwerfen und sich von den Fesseln der Unsicherheit zu befreien …

_Meine Meinung_

Jean Amilas Erzählung beruht in erster Linie auf Kontrasten – Kontrasten in Bezug auf die unterschiedlichen Charaktere und ihre Lebenseinstellung, aber auch Kontraste hinsichtlich der Art und Weise, wie die Beteiligten mit ihrem Schicksal umzugehen pflegen.

Am schlimmsten hat es dabei den desertierten Hutchins getroffen. Nach seiner Flucht hat er bei der jungen Janine Zuflucht gefunden, an ihrer Seite ein neues Leben angefangen, eine Familie aufgebaut und seine Vergangenheit als Veteran völlig abstreifen können. Der einzige Wermutstropfen: das Geld, das Janine seither zahlt, um Georges‘ falsche Identität zu schützen. Doch mit dem Tod von Delois bricht eine alte Routine im Leben der beiden. Janines finanzielle Obhut und damit auch ihr Einfluss auf ihren Ehemann verschwindet, und als sich für ihn die Möglichkeit ergibt, die unbewusst verborgene Pein, die ihn seit dem Krieg begleitet, zu bekämpfen, nutzt er diese Gelegenheit – ganz zum Unmut seiner Gattin, deren Rolle als Beschützerin plötzlich überflüssig wird und die auf einmal in Georges nicht mehr den liebevollen, starken Mann sieht, sondern den Verräter, der Schwäche ausstrahlt.

Der genau entgegengesetzte Fall tut sich in der Beziehung von Reilly und seiner Ehefrau Claudine auf. Reilly will sein Leben lang die Rolle des Ehrenmannes behalten und merkt dabei gar nicht, wie sehr er sich von Claudine entfremdet. Im Gegenteil: Er glaubt, dass er ebenso stolz auf seine Verdienste ist, die schließlich alles sind, was sein Leben ausmacht. Claudine sehnt sich nach Freiheit und einem Leben, das nicht unmittelbar mit dem Tod und dem Krieg verbunden ist. Es scheint wie ein Schicksalsschlag, dass sich ausgerechnet Hutchins und die Frau von dessen altem Vorgesetzten begegnen und sich in ihrer kurzen Zusammenkunft so sehr zueinander hingezogen fühlen, aber damit habe ich vielleicht schon zu viel verraten …

„Mond über Omaha“ ist alles andere als ein typischer Krimi, auch wenn die bekannten Motive wie Erpressung, Betrug und die Flucht vor der Vergangenheit eine bedeutende Rolle spielen. Der Autor geht stattdessen auf das Innenleben der beiden verbliebenen Soldaten und deren Familie ein und beschreibt die konträren Entwicklungen. Während Hutchins sich bereits im Krieg von seiner Rolle hat befreien können, aber dennoch nicht mit dem Dasein als Deserteur leben kann, gelingt es Reilly nicht, sich von seiner Berufung zu lösen, auch wenn sein ganzes Umfeld darunter leidet. Erst als sich die beiden wiederbegegnen, lernen sie, einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen, der jedoch nicht milder ist als das, womit sie zwanzig Jahre lang gelebt haben.

Eine sehr bewegende Geschichte hat Amila da verfasst; die Schicksale der beiden Kriegsgeschädigten gehen unter die Haut und stehen in gewisser Weise auch sinnbildlich für so viele Seelen, die nach dem Krieg nicht mehr zur inneren Ruhe gekommen sind und seitdem auch von den Eindrücken verfolgt werden, die der Krieg hinterlassen hat. Besonders deutlich wird dies im Unverständnis der beiden Frauen, die viel zu spät einsehen, dass ihre Männer nicht die einzigen Begleiter sind, mit denen sie ihr Leben verbringen können. Auch die Schlacht, die sie geschlagen haben, wurde ‚mitgeheiratet‘, doch das realisieren sie erst in dem Moment, in dem die vergangenen Geschehnisse wieder an die Oberfläche drängen.

Kurz und prägnant hat Amila den Kern der Geschichte auf den Punkt gebracht, doch die Eindrücke, die er damit vermittelt hat, währen noch über diesen Roman hinaus. Die Grausamkeit der Nachkriegszeit und das ruhelose Leben ehemaliger Soldaten – der Autor hat es ziemlich direkt und beklemmend dargestellt, und genau das macht dieses Buch so lesenswert. Die Originalfassung von „Mond über Omaha“ ist nun schon über 40 Jahre alt; die darin erzeugte Dramaturgie ergreift uns aber auch noch heute. Sehr empfehlenswert!

http://www.conte-verlag.de/

Bánk, Zsuzsa – Schwimmer, Der

Ungarn, 1956: Auch Ungarn wurde nach 1945 dem Ostblock angegliedert. Sowjetische Truppen besetzten das Land und der Große Bruder in Moskau nahm fortan die Geschicke des Landes in die Hand. Es folgte eine der radikalsten Bodenreformen nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der 35 Prozent der Bodenfläche des Landes verteilt wurden. Moskau versuchte, die eigenen Methoden auch in Ungarn anzuwenden: Landwirtschaft und Wirtschaft wurden nach dem sowjetischen Modell umstrukturiert, doch die Planwirtschaft versagte. Der damalige Staatschef Rákosi, ein Stalinist, fiel nach Stalins Tod 1953 in Moskau in Ungnade. Er wurde durch Nagy ersetzt – ein Fehler, denn Nagy setzte sich für den Reformkommunismus ein: Freilassung der Internierten, Abschaffung der Zwangsmaßnahmen, ja sogar die Ermächtigung zur Auflösung der Kolchosen. Natürlich konnte er sich mit dieser Politik nicht lange halten. 1955 erlangte Rákosi wieder die Oberhand und übernahm das Amt. Mit dem Tauwetter in Polen setzten auch in Ungarn 1956 Unruhen ein. Drei Jahre nach Stalins Tod machten sich Schriftsteller, Journalisten und Künstler öffentlich Luft und protestierten zunächst gegen Spielplanänderungen und Zensur. Im Oktober schlossen sich dann auch die Studenten an und formulierten ihren Traum von einem zwar kommunistischen, jedoch unabhängigen und neutralen Ungarn. Der Stein kam ins Rollen: Der Aufstand griff aufs Land über, der Machtapparat brach zusammen und Nagy erschien wieder auf dem Spielfeld. Zu diesem Zeitpunkt allerdings beschloss Moskau bereits, in das Geschehen einzugreifen und hielt Ungarn mit Versprechungen hin, bis sie ihre Truppen geordnet hatten. Am 4.11.1956 war es dann so weit. Sowjetischen Truppen stürmten Budapest und schlugen den Aufstand nieder. Der kurze Traum von einem unabhängigen und demokratischen Ungarn war ausgeträumt. Doch flüchteten in der kurzen Zeit der Unruhen mehr als 19000 Ungarn in den Westen.

All das wird in Zsuzsa Bánks Debütroman „Der Schwimmer“ nicht erzählt. Vor dieser sehr politischen Kulisse spielt ihr absolut unpolitischer Roman. Die Ereignisse aus dem Jahr 1956 schwingen im Hintergrund mit, offen thematisiert werden sie jedoch nicht. Zu Beginn des Romans befinden wir uns in eben jenem Jahr 1956. Die kleine Kata lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf. Ganz plötzlich, ganz unerwartet brechen diese politischen Ereignisse auf einer sehr persönlichen Ebene in Katas Lebenswelt ein. Ihre Mutter gehört zu jenen 19000 Menschen, die während des Aufstands in den Westen geflohen sind. Ihr Vater und damit auch Kata erfahren all dies nur aus zweiter Hand. Auf einmal ist die Mutter weg, unerreichbar fern und alles, was von ihr bleibt, ist kurze Zeit später ein kleiner verschlüsselter Gruß über das Radio Freies Europa. In einen Zug gestiegen sei sie, einfach so, mit ihrer Freundin Vali. Nichts habe sie bei sich gehabt und erst in der Mitte des Buches erfährt der Leser, dass sie bis zum letzten Dorf in Ungarn gefahren sind, um von dort zu Fuß und bei Nacht über die grüne Grenze zu laufen. Ein Führer hat sich ihnen angeboten und Katas Mutter bezahlte ihn mit ihrem Ehering.

Nicht nur Katas Leben bringt dieser unerwartete Verlust durcheinander. Auch ihr Vater scheint aus der Bahn geworfen. Seit seine Frau verschwunden ist, verfolgt er kein Ziel, scheint keine Träume zu haben, keine Ansprüche an die Zukunft. Nur manchmal, da „taucht er ab“, wie Kata und ihr Bruder Isti das nennen. Er liegt einfach auf dem Sofa und starrt an die Decke. Tagelang, manchmal sogar für Wochen. Er schleppt seine beiden Kinder zunächst nach Budapest, dann in einen kleinen Ort, dann an den Balaton, wo sie länger bleiben. Als sie dort wegmüssen, geht es wieder an einen namenslosen Ort – immer kommen sie bei Verwandten unter und nie scheint sich in ihrem Leben etwas zu verändern. Kata und Isti gehen nicht zur Schule. Ihr Vater hat fast nie einen Job. Zeit spielt keine Rolle, Geld spielt keine Rolle – es geht nur darum, weiterzuexistieren.

Damit hat „Der Schwimmer“ auch nicht wirklich eine erzählbare Handlung. Vielmehr erschließt sich das Buch durch Personen, denen Kata begegnet, durch Figuren, die in einzelnen Kapiteln näher beleuchtet werden. Die Ich-Erzählerin Kata beschreibt nicht aus der Zeit heraus, aber trotzdem mit kindlicher Wahrnehmung. Sie beobachtet, nimmt wahr, schaut hin und hört genau zu. Was aus ihren Zeilen durchschimmert, ist eine unterschwellige Verzweiflung aller Beteiligten, die Gewissheit, dass nichts vorwärtsgeht. Die Melancholie ergreift alle: Den Vater, wenn er „taucht“, Kata, wenn sie vor dem Radio wacht, in der Hoffnung, noch einen Gruß ihrer Mutter abzufangen. Und auch Isti, der nur glücklich ist, wenn er im See schwimmen kann; immer nur schwimmen.

Zsusza Bánk ist selbst die Tochter von ungarischen Eltern, die nach Deutschland ausgewandert sind. 1965 wurde sie in Frankfurt/Main geboren und lebt auch noch heute dort. Sie studierte Publizistik, Politik und Literatur und „Der Schwimmer“ ist ihr Debütroman, der gleich mit mehreren Preisen, z. B. dem „Aspekte“-Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Und das zu Recht. Bánks poetische Sprache ist so dicht und fesselnd, dass man pro Tag nur ein oder zwei Kapitel genießen sollte. „Der Schwimmer“ ist auf keinen Fall ein Buch, das dadurch gewinnt, dass man es in einer Tour liest. Es ist leise, aber es bleibt im Gedächtnis. Es macht schwermütig, ist aber nicht erdrückend.

„Der Schwimmer“ ist ein uneingeschränkt empfehlenswertes Debüt. Wenn man auf die leisen Töne Wert legt, wenn man nicht unbedingt eine fesselnde Handlung braucht, sondern sich mit den faszinierenden Gedanken eines kleinen Mädchens zufrieden geben möchte, dann sollte man dem Buch seine Aufmerksamkeit schenken.

Crueger, Hardy – Glashaus

„Glashaus“ ist so ein Buch, das man sehr genau und konzentriert verfolgen sollte. Klar, das ist die Voraussetzung für jedes Buch, aber beim aktuellen Werk von Hardy Crueger kann sich schon das kurze Überfliegen einiger Zeilen für den weiteren Verlauf als verheerend herausstellen, denn wirklich jeder Satz enthält hier wichtige Details, mit denen sich das schwer konsumierbare Puzzle schließlich Stück für Stück zusammensetzen lässt – oder eben nicht …

_Story_

In einem Wald wird ein zehnjähriges Mädchen tot aufgefunden. Bei den Ermittlungen forscht das LKA auch im |Glashaus|, einer Fördereinrichtung für Künstler, nach. Doch weder der dort lebende Schriftsteller Markus Holz noch die bildende Künstlerin Chantal Hartmann können der Kripo weiterhelfen. Diese bewohnen erst seit kurzem gemeinsam dieses Haus und sollen dort sechs Monate lang ausharren. Das Kunstprojekt, das von staatlicher Seite gefördert wird, soll für die beiden auch wieder eine Art Eingliederungshilfe sein, denn sie kämpfen seit einiger Zeit mit den Dämonen der Vergangenheit. Chantal hat längere Zeit in der Psychatrie verbracht, um dort einige Todesfälle in ihrer Familie zu verarbeiten. Ihr Zustand ist nach wie vor kritisch, und wäre da nicht ihre Lebensgefährtin Dagmar, die sie händeringend unterstützt, wäre ein Rückfall in alte, enorm depressive Verhaltensmuster kaum zu vermeiden.

Bei Markus sieht die Sache erst einmal anders aus. Nach außen hin versucht er, sich nicht genau in die Karten schauen zu lassen und gibt den freundlichen, bodenständigen Mitmenschen ab. Erst nach und nach stellt sich heraus, dass auch er noch hart mit seiner Vergangenheit zu kämpfen hat. Statt sich bewusst mit seinen Kindheitstraumata auseinanderzusetzen, wählt er den Weg der Verdrängung. Gerade der Konflikt mit seinem noch lebenden Vater scheint ihn zu belasten, doch nach außen hin will er sich davon zunächst nichts anmerken lassen.

Das Zusammenleben der beiden wird allerdings auch immer konfliktreicher. Chantal begegnet eines Tages einem behinderten Menschen, und dieses für sie erschreckende Ereignis wirft sie völlig aus der Bahn. Als dann auch noch Dagmar verschwindet, droht die Situation zu eskalieren. Halt findet sie nur noch bei der Katze Roland, ihrer Ersatzliebe. Doch diese wird kurze Zeit später ermordet und raubt ihr schließlich den letzten verbliebenen Mut.

Währenddessen entwickelt Markus mehr und mehr schizophrene Züge. Er fühlt sich als Versager und kann diesen Zustand nur noch überbrücken, indem er in der Rolle des „Champs“ einen Gegenpart entwickelt, der die negativen Gedanken für kurze Zeit verdrängen kann. Aber der „Champ“ hat auch seine Schwächen, und mit der Zeit bekommt diese Figur ein immer größeres Eigenleben, das auch viele Erinnerungen an die Vergangenheit Markus‘ nach oben bringt. Und außerdem war da ja noch das tote Mädchen …

_Meine Meinung_

Was Hardy Crueger sich hier in dieser verhältnismäßig kurzen Geschichte ausgedacht hat, ist schon allerhand. Der Autor wirft einen sehr tief gehenden Blick auf zwei Menschen, die zeit ihres Lebens als Aussteiger gelebt haben und im normalen Zustand für die Gesellschaft gar nicht tragbar gewesen wäre. Im „Glashaus“ versuchen sie einen neuen Anfang, um aus der Entfaltung ihrer Talente neuen Lebensmut zu schöpfen. Sie müssen jedoch feststellen, dass sie sich ihrer Vergangenheit nach wie vor stellen müssen und die neue Chance schließlich nicht auf die Schnelle die erhoffte Abkopplung der Dämonen aus dem ‚alten‘ Leben bringt.

Die Art und Weise, wie Crueger die beide Hauptfiguren beschreibt, ist allerdings sehr krass. Markus und Chantal sind nicht nur einfach zwei Menschen mit seelischen Problemen, nein, es sind Menschen, die völlig am Ende sind. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Ansichten und Lebenseinstellungen gibt es zwischen ihnen haufenweise Parallelen, doch auch wenn diese prinzipiell auf der Hand liegen, werden sie uns erst später genauer bewusst. Crueger beschreibt sie nämlich auf eine gänzlich unterschiedliche Weise, so dass man zunächst einmal darauf schaut, wer überhaupt hinter diesen obskuren Figuren steckt, bzw mit welchen Mitteln sie ihre Misere bekämpfen. Die hierbei entstehende, erschreckende Darstellung ist allerdings nicht einfach zu verkraften. Wenn Chantal immer weiter in ihre Depressionen abrutscht, weil sich ihr direktes Umfeld erneut auf tragische Weise verabschiedet hat, oder wenn Markus den „Champ“ mit all seinen Eigenschaften wiederbelebt, geht das unter die Haut und ist gleichzeitig sehr beängstigend. Teilweise fragt man sich da schon, was Crueger geritten hat, eine so derbe und zum Ende hin immer brutaler werdende Geschichte zu erzählen.

Doch eigentlich ist es letztendlich auch vorrangig diese Brutalität, die eine ungeheure Faszination ausübt. Die Brutalität der Charakterisierung zweier unberechenbarer Figuren, die Brutalität der Umstände, die von diesen beiden Menschen Besitz ergreifen, und schließlich eine Brutalität, die ich jetzt hier nicht näher beschreiben möchte – das ist nämlich die Auflösung der Geschichte – die sich auf den letzten Seiten derart heftig entwickelt, dass ich jetzt schon zu behaupten vermag, dass viele Menschen sich damit schwer tun wedren, dieses Buch bis zum Ende zu lesen, weil man manches gegebenenfalls nicht verkraften kann.

Andererseits: Sobald sich die transparente Hülle des Glashauses einmal offenbart hat, will man das Schicksal von Markus und Chantal bis zum Schluss verfolgen, komme was wolle. Meine Intention ist es nur, davor zu warnen, dass die Angelegenheit sehr hart und in der Art der Darstellung auch brutal ist. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass sich „Glashaus“ als Lektüre voll und ganz gelohnt hat und ich im Nachhinein noch sehr lange über das Buch und den Inhalt nachgedacht habe. Denn mal ehrlich: Wie viele Menschen kämpfen in unserer Gesellschaft ebenfalls gegen solche Dämonen wie Markus und Chantal und finden ihren einzigen Schutz durch die Fassade der Wände, die im Glashaus nicht gegeben sind? Ich will’s gar nicht wissen, doch trotzdem lässt der Gedanke mich nicht los … Nicht nur hierin hat Hardy Crueger also definitiv sein Ziel erreicht und die Gemüter bewegt!