Archiv der Kategorie: Belletristik

Ellis, Bret Easton – Unter Null

„Less Than Zero“ ist Bret Easton Ellis‘ makaberer Abgesang auf eine von ihren resignierten, desillusionierten und verantwortungslosen Eltern im Stich gelassene, zutiefst verunsicherte Generation, welcher (außer den materiellen) keinerlei Werte vermittelt wurden, und deren Angehörige ihre von Auflösung bedrohte Psyche vor allem durch das Überfrieren der eigenen Gefühlswelt zu stabilisieren suchen.

Ellis [(„American Psycho“) 764 beschreibt hier Menschen, die ihren blassen Charakter hinter Sonnenstudiobräune verbergen, die an dem Versuch scheitern, sich durch |lifestyle| eine Persönlichkeit zu erschaffen, die ihren Porsche nicht für irgendeine Abtreibung in Zahlung geben wollen, die bedeutungslosen Sex haben, weil ihnen die einzig denkbare Gemeinsamkeit der Konsum von Drogen ist, die einander nichts weiter bedeuten als Statisten in einer Szene, die nur deshalb nicht als inzestuös zu bezeichnen ist, weil es in diesen Kreisen überhaupt keine Familiarität mehr gibt.

Gesichtslos, geschichtslos, austauschbar, drogenvernebelt und im jeweiligen Augenblick gefangen, irren sie umher, von Party zu Party, von Rausch zu Rausch, von Film zu Film, gesichtslos, geschichtslos, gefangen, und noch einmal von vorn. Der Erzähler, Clay, ist selbst ein Paradebeispiel dieser Szene: orientierungslos und willenlos dahindriftend, angeödet, zugedröhnt, beziehungsunfähig, rastlos, vor sich selbst und seinesgleichen in eine übersteigerte Konsumwelt flüchtend; so tauchen einzelne Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend – als aus dem Kontext der eigentlichen Erzählung losgelöste Flashbacks – nur sporadisch auf, blubbern durch die sonst so glatte Oberfläche nach oben, um sogleich wieder im allgemeinen Nebel zu versinken, noch bevor Clay einen klaren Gedanken fassen kann; da schimmert nur kurzfristig so etwas wie eine diffuse Sehnsucht auf, die ihm jedoch nie so richtig bewusst wird, denn vorher schon steht das nächste zerstreuende Event an.

Gar nicht mal nüchtern, wohl aber völlig gleichgültig ist der Stil, in welchem Clay sich und seine Umgebung wahrnimmt und unkommentiert an den Leser weiterreicht, so wie überhaupt von den Figuren dieser Erzählung fast alles nur durchgereicht wird: Autos, Drogen, Geld, Kleidung, Musik, und Mitmenschen; mitgenommen, ausgelutscht, weggeworfen.

„Less Than Zero“, so der Originaltitel, zeichnet ein deprimierendes Bild von L.A. und seinen Einwohnern, auch wohl ein überzeichnetes Bild; und doch entbehrt diese Erzählung nicht einer gewissen Authentizität und Ernsthaftigkeit. So vollzieht Ellis mit nahezu schlafwandlerischer Sicherheit eine literarische Gratwanderung: Einem ausgewogenen Arrangement sowie der flüssigen Verknüpfung einzelner Episoden ist es zu verdanken, dass die kaum vorhandene Story in der Balance bleibt (ohne etwa in beliebige Schwatzhaftigkeit abzugleiten), während die von Entfremdung wie von Distanz geprägte, gänzlich unprätentiöse, obgleich geschliffene Sprache sie gegenüber der Darstellung eines dekadenten und pervertierten Lebensstils in den Hintergrund treten lässt. So erhebt sich die Erzählung über die in ihr vorgeführte Oberflächlichkeit.

Ein amerikanischer Albtraum.

Melo, Patricia – Schwarzer Walzer

_Die Autorin_

Patricia Melo, geboren 1962 in Sao Paulo, arbeitet als Drehbuchautorin und Schriftstellerin und ist eine der bekanntesten Autorinnen ihres Landes. Mit dem Kriminalroman „O Matador“, für den sie 1998 den Deutschen Krimipreis erhielt, und der Gesellschaftssatire „Wer lügt, gewinnt“ gelang ihr der internationale Durchbruch. Ihre Romane wurden u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Niederländische und Chinesische übersetzt. Der |Spiegel| nannte sie „eine begnadete Sprachhexe“ und lobt ihre Scharfzüngigkeit. „Schwarzer Walzer“ ist nach „Inferno“ ihr fünfter Roman. Patricia Melo lebt mit ihrer Tochter in Sao Paulo.

_Inhalt_

„Schwarzer Walzer“ ist alles andere als ein gewöhnlicher Roman. Die Autorin erzählt die Geschichte eines alternden Dirigenten, dessen Lebensumstände kaum besser sein könnten. In seinem Beruf wird er trotz seiner schwierigen Art respektiert, in der Presse ist er als musikalisches Genie verschrien, und auch auf privater Ebene könnte es ihm mit seiner neuen Herzdame, der dreizig Jahre jüngeren Marie, kaum besser gehen. Aber nach der Hochzeit erkennt sich dieser Mann kaum wieder. Er zweifelt an der Aufrrichtigkeit seiner neuen Gattin und beauftragt seine Dienerin damit, ihr nachzuspionieren. Fest davon überzeugt, dass Marie ihn mit einem anderen Mann betrügt, verfolgt er jeden ihrer Schritte, wühlt in ihren Zeitschriften herum und klammert sich an jeden noch so kleinen Strohhalm, weil er glaubt, hier den Beweis für eine Affäre gefunden zu haben. Doch immer wieder stellt sich heraus, dass er mit seiner Vermutung falsch liegt, denn Marie liebt ihn und würde ihn nie betrügen. Mehrmals verlässt sie ihren Ehemann, weil sie seine ständige Eifersucht und seinen Besitzanspruch nicht mehr ertragen kann, doch die dadurch entstehende Hassliebe bringt sie immer wieder von Neuem zusammen, und ihre sexuelle Begierde und die damit verbundene Phantasie steigt von Mal zu Mal. Eines Tages jedoch hält es Marie in der konfusen Welt des verstörten Dirigenten nicht mehr aus. Endgültig packt sie ihre Koffer und verschwindet, doch der zusehends zermürbte alte Mann lässt von seiner Verfolgung nicht mehr ab und reist um die halbe Welt, nur um sich seine Behauptung, Marie schlafe mit einem anderen Mann, irgendwie bestätigen zu lassen – ohne Erfolg …

_Meine Meinung_

Die Art und Weise, wie Patricia Melo den Hauptcharakter dieses Buches beschreibt, ist schon fast abschreckend. Nicht dass der Dirigent jemals bodenständig gewesen wäre – seit eh und je führt er ein sehr extravagantes Dasein – doch durch die zunehmenden Zwänge, die sich nicht nur in seiner Herrschsucht und seinen zunehmenden Besitzansprüchen äußern, verliert er vollkommen die Kontrolle über sich selbst und sucht immer wieder nach neuen Sicherheiten, um nicht vollkommen den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hat die schönste Frau, die tollste Reputation als Musiker, unbeschränkte Möglichkeiten wegen seines verdienten Reichtums, und, und, und – aber all das beunruhigt ihn mehr, als dass es ihn zufrieden stellt, denn je mehr er besitzt, desto größer wird die Angst, es auch wieder zu verlieren. Marie, seine neue Frau, bekommt dies am deutlichsten zu spüren. Jeder Mann in ihrer Nähe ist eine potenzielle Gefahr und ein Grund für einen erneuten Streit, jeder angestrichene Artikel über ihre Heimat Israel birgt irgendeine Gefahr, auch wenn sich der Mann das genaue Ausmaß gar nicht erklären kann, aber auch jede Minute, in der er seine Frau aus den Augen und somit auch die totale Kontrolle über sie verloren hat, wird zur unendlichen Tortur, die mit den wildesten Gedanken und den größten Ängsten verbunden ist.

Nach und nach bricht seine Psyche zusammen, und je mehr er und Marie sich auseinanderleben, desto größer sind die Eskalationen, denen er sich hingibt. Und dennoch verzeiht seine Frau ihm immer und immer wieder. Er selber nennt dies ein Spiel, das ein wichtiger Teil ihrer Beziehung ist, wird sich aber der Tragweite seiner zwanghaften Persönlichkeit gar nicht bewusst. So kommt es, wie es kommen muss: Marie zieht aus, und mit einem Schlag besitzt er sie nicht mehr. Er kann sie nicht mehr lenken, sie nicht mehr beaufsichtigen, und vor allem nicht mehr mit ihr schlafen. Das zerreißt ihn schließlich endgültig und erweitert das Phänomen seiner Zwänge um neue Eigenschaften, die ihn letztendlich vollkommen zerstören und ihm auch den letzten Halt nehmen, den er in seinem ohnehin schon chaotischen Leben noch hatte.

Der Autorin ist es sehr gut gelungen, die Abgründe im Inneren des Protagonisten zu ergründen. Sie erzählt die Geschichte aus seiner Sicht und nimmt von Beginn an auch seine abstruse Denkweise auf. So findet sie in der Person des Dirigenten auch stets Rechtfertigungen für sein unlogisches Verhalten, legt dann aber im nächsten Augenblick auch wieder den Schalter um und schildert die Furcht, die mit dem vermuteten Verlust seines Besitzes verbunden ist, kehrt also im ständigen Wechsel zum seelischen Chaos zurück. Bemerkenswert ist dabei die realitätsnahe Härte, die sich durch den Roman zieht. Der Mann hat zum ersten Mal in seinem Leben die echte Liebe entdeckt, und das ist der vornehmliche Unterschied zu seiner ersten Ehe mit Teresa. Aus diesem Grund zeigt er auch keine Gefühle gegenüber seiner Tochter Eduarda und lässt sie – während ihre Mutter mit dem neuen Lebenspartner in die Vereinigten Staaten aufbricht – fast verwahrlosen. Erst als sie eines Nachts nicht nach Hause zurückkehrt, macht er sich, ebenfalls zum ersten Mal, richtig Sorgen, muss dann aber verbittert zur Kenntnis nehmen, dass Eduarda bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Diese dramatische Geschichte, und vor allem die Art und Weise, wie sie von Patricia Melo beschrieben wird, geht zutiefst unter die Haut und übertrifft das Drama zwischen ihm und Marie sogar fast noch.

Die Autorin hat aber keine Fakten ausgelassen und beschreibt die zwanghafte Persönlichkeit genau so, wie sie – nun, ja – im Buche steht. Die Eigenschaften, die er nämlich bei anderen hasst, sind seine eigenen. So verurteilt er seine Frau, die wie angedeutet Jüdin ist, wegen ihrer Herkunft und verurteilt die grausamen Verbrechen an der Menschlichkeit, die in Israel tagtäglich geschehen. Bei seiner Reise in das Land wird er in seiner Meinung nur bestätigt und beschreibt seine Erfahrungen mit einem Sarkasmus, der seinesgleichen sucht. Außerdem schläft er fortwährend mit anderen Frauen und betrügt seine Gattin mehrfach, beschuldigt sie aber gleichzeitig auch, dass sie eine Ehebrecherin wäre. Die eigenen Schandtaten werden abgewertet und die gar nicht geschehenen der Anderen angeklagt. Diese Ungleichung zieht sich als roter Faden durch den Roman und charakterisiert das Denken des psychischen Wracks.

Am Ende frage ich mich, wie Melo dazu gekommen ist, in die Rolle eines solch widerwärtigen Misanthrops zu schlüpfen. Doch gleichzeitig bewundere ich auch die nüchterne Erzählweise, die tabulose Sprache und die durchgängige Lebensnähe, in der die Handlung (?) sich abspielt. Was sich auf diesen 270 Seiten abspielt, ist gleichermaßen krank, verrückt, ekelhaft, provokativ, faszinierend und genial. Und gerade die letztgenannte Eigenschaft sollte man sich merken, denn was ich schlussendlich sagen möchte, ist, dass „Schwarzer Walzer“ ein Meisterwerk ist, für das ich der Autorin meine größte Bewunderung aussprechen möchte, und das zu lesen sich in jeglicher Hinsicht lohnt.

Apperry, Yann – zufällige Leben des Homer Idlewilde, Das

Kuriose, liebenswerte, naive Verlierertypen mit Heldenmut müssen sich stets mit einem messen: Forrest Gump. Auch Homer Idlewilde wird sich wohl bei manchem Leser damit vergleichen lassen müssen. Parallelen gibt es sicherlich, dennoch ist Homer Idlewilde kein zweiter Forrest Gump. Auch er ist ein reichlich naiver Typ, der sich zum Helden mausert, dennoch trennt ihn einiges von Forrest Gump. Er macht zwar auch einen eher kindlichen Eindruck, entzieht sich dem Erwachsenwerden aber nicht durch sein geistiges Niveau, sondern eher durch seinen Hang zu Streichen und kleineren Sabotageakten. Homer ist eine kauzige, aber ebenso liebenswürdige Vagabundenfigur, deren Schicksal vielleicht nicht so rührend ist wie das von Forrest Gump, dessen Geschichte aber dennoch zu unterhalten weiß und zu Herzen geht. Wer will auch schon einen zweiten Forrest Gump …

Homer Idlewilde, Findelkind und Waisenjunge, wächst in Farrago, im Norden Kaliforniens auf. Schon in jungen Jahren zieht er vagabundierend übers Land, um sich dem Zwang der Schulpflicht zu entziehen. Nachdem er seinem schulpflichtigen Alter entronnen ist, zieht es ihn zurück in seine Heimat Farrago. Es ist Anfang der Siebzigerjahre, ob es das Jahr 1971 oder vielleicht 1973 ist, weiß Homer genauso wenig, wie den Tag, an dem er geboren wurde. Homer vertreibt sich die Zeit mit Träumereien und Gelegenheitsjobs. Er vertändelt seine Zeit auf dem Schrottplatz bei seinem Freund Duke, bei dem Taugenichts Elijah, der schon seit 15 Jahren eine Schmiede eröffnen will, oder im Lebensmittelladen seines Freundes Fausto.

Eines Nachts, als Fausto ihm erzählt, wie es ihn nach Farrago verschlagen hat, und Homer staunend feststellt, dass Fausto das hat, was er selbst nicht hat, nämlich eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, tut sich auch für Homer eine neue Perspektive auf. Eine Sternschnuppe fällt vom Himmel und Homer wünscht sich ein Schicksal, eine eigene Geschichte, die ihn aus der Bedeutungslosigkeit seines Daseins heraushebt. Und noch bevor Homer begreift, was überhaupt vor sich geht, nehmen die Dinge ihren Lauf. Homers Schicksal entwickelt sich …

Mit „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ hat der Franzose Yann Apperry einen sympathischen Roman abgeliefert. Es ist sein zweiter Roman, nachdem er, erschreckt durch den Medienrummel um seinen Debütroman, aus Frankreich in die USA geflohen und dort zwei Jahre vagabundierend durch die Lande gezogen ist. Ein bisschen Homer scheint also auch in Yann Apperry zu schlummern.

Mit viel Herz erzählt er die Geschichte seiner Hauptfiguren, die allesamt ein wenig schräge Vögel sind. Homer und Duke, zwei Vagabunden, die zusammen auf dem Schrottplatz über das Leben philosophieren; Elijah, der von seiner Schmiede träumt, aber geistig nicht ganz auf der Höhe ist; Fausto, der ein trauriges Dasein im Lebensmittelladen von Farrago fristet, obwohl er eigentlich mehr aus seinem Leben machen könnte. Und dann wäre da noch Ophelia, die im Puff von Farrago arbeitet und Homers heimliche Geliebte ist und ihn vor die größte Herausforderung seines Lebens stellt.

Homer ist sympathisch und schlitzohrig zugleich. Vom Sheriff wird er ständig wegen irgendwelcher kleineren Delikte gesucht, gleichzeitig aber auch wegen seiner Ortskenntnisse in den Wäldern um Farrago geschätzt. Im Grunde ist Homer ein außerordentlich naiver Kerl, mit einer ausgeprägten kindlichen Ader, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Ein Träumer, der sich durchs Leben treiben lässt – zumindest bis zu jenem denkwürdigen Sternschnuppenwunsch. Von diesem Moment an nimmt Homers Leben eine Wendung. Für ihn beginnt eine Odyssee, in deren Kern die Suche nach dem Sinn des Lebens steht. Homer erlebt gleichsam Komisches wie Tragisches, und das Schicksal nimmt schneller seinen Lauf, als Homer es begreifen kann, doch am Ende scheint er begriffen zu haben, worum es im Leben geht und wie er seinem eigenen Leben einen Sinn geben kann.

Rund um die Figur des Homer erzählt Yann Apperry allerhand kuriose, komische und tragische Geschichten über das Leben in Farrago. Er erzählt frei von der Leber weg einfach drauflos, in einem schlichten, aber auch durchaus zu Herzen gehenden Stil. Genau das ist es, was diesen Roman lesenswert macht. Es ist Lektüre, die Spaß macht, sich durch einen sehr feinsinnigen Humor auszeichnet und den Leser einzunehmen versteht.

Man mag dem Autor vorhalten, dass seine Figuren allesamt zu schräg sind, um wirklich realistisch zu erscheinen und wirklich rühren zu können, doch Apperry verpackt seine Geschichte sprachlich so schön, dass man gerne darüber hinwegsehen mag. „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ hat seine rührenden Momente, die der Leser nicht vergessen wird, auch wenn der Plot mit Blick auf Homers heldenhafte Taten ein wenig zurechtgebogen erscheinen mag.

Ein wenig steht die Geschichte eben auch im Zeichen jener Magie, die mit dem ausgesprochenen Wunsch beim Anblick der fallenden Sternschnuppe verbunden ist. Da kann man eine etwas fantastisch anmutenden Entwicklung des Plots durchaus verzeihen, da sie sicherlich auch genau so beabsichtigt ist. Damit mag sich mancher Leser mehr anfreunden können und mancher eben weniger.

Ganz zufällig stolpert Homer in Situationen, die ihn als Held erscheinen lassen, ohne dass er viel dazu beitragen muss. Er mäandert ein wenig orientierungslos durch sein Schicksal, aber er lernt, das Beste daraus zu machen, und schafft es obendrein, sich der Verantwortung zu stellen, mit der er konfrontiert wird. So zufällig wie Homer in die verschiedensten Situationen stolpert, so stetig reift er heran und entwickelt sich. Es ist kein plötzliches Erwachsenwerden, sondern ein zunächst zaghaftes Sichausliefern gegenüber dem Leben mit allen Schikanen. Und dabei muss eben auch ein Homer Idlewilde erkennen, was es ist, das das Lebens lebenswert macht.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Yann Apperry sich wirklich aufs Geschichtenerzählen versteht. Recht unspektakulär mag sein zweiter Roman „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ erscheinen, unaufregend und ein wenig zu fantastisch. Aber dahinter verbirgt sich ein wahres Kleinod, das manchmal rührend, manchmal tragisch und manchmal gar komisch ist.

Apperry hat einen feinsinnigen Humor, mit dem er seine Erzählung zu würzen versteht. Wer offen für eine leise, etwas fantastisch anmutende Geschichte mit liebevoll skizzierten, aber gleichermaßen schrägen Figuren ist, der wird an „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ sicherlich seine Freude haben.

Ishiguro, Kazuo – Alles, was wir geben mussten

Kazuo Ishiguro hat mit „Was vom Tage übrigblieb“ einen Weltbestseller abgeliefert, der nicht nur mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt sondern obendrein mit dem |Booker Prize| ausgezeichnet wurde. Erneut auf die Long List für den |Booker Prize| 2005 hat Ishiguro, der in Nagasaki geboren wurde und seit 1960 in London lebt, es mit seinem neuesten Roman geschafft. „Alles, was wir geben mussten“ heißt das Werk und wird nicht umsonst von Kritikern und Presse gleichermaßen vollmundig gelobt.

„Alles, was wir geben mussten“ ist auf den ersten Blick eine ganz gewöhnliche Internatsgeschichte. Doch der Schein trügt. Die Kinder sind keine gewöhnlichen Kinder, auch wenn man ihnen das nicht ansieht. Sie spielen Fußball, gehen jeden Tag zum Unterricht und erleben genau wie andere Kinder die Tücken der Pubertät. Und doch ist das Internat Hailsham etwas ganz anderes, als man auf den ersten Blick denken mag. Die Lehrer werden hier Aufseher genannt und den Kindern, die allesamt keine Eltern haben, wird schon von früh auf bewusst gemacht, dass sie etwas Besonderes sind. Sie sollen später „spenden“ und „betreuen“. Darauf soll Hailsham sie vorbereiten, doch was die Kinder sich darunter vorzustellen haben, sagt ihnen keiner so recht.

In Hailsham wachsen auch Kathy, die die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt, und ihre besten Freunde Ruth und Tommy auf. Sie wachsen gut behütet auf, bleiben aber nicht nur in Hailsham, sondern auch später von der Außenwelt größtenteils abgeschnitten. Kathy hat eine ebenso ungewöhnliche wie auch erschütternde Lebensgeschichte zu erzählen, als sie mit einunddreißig auf ihre Jugendjahre zurückblickt …

„Alles, was wir geben mussten“ ist ein Roman, der es in sich hat. Auf den ersten Blick noch ein harmloses Stück Jugend- und Internatsgeschichte, entpuppt sich der Roman mit fortschreitender Seitenzahl zunehmend als moralischer Abgrund. Ishiguro greift einen Themenkomplex auf, der gerade in ethischer Hinsicht viele Fragen aufwirft. Man ahnt es schon beim Lesen der Inhaltsbeschreibung. Die Kinder in Hailsham sind keine normalen Waisenkinder. Und schon nach wenigen Kapiteln erlangt man zunehmende Gewissheit. Sie sind Klone, erschaffen, um als lebende Ersatzteillager für die Medizin zu dienen. Die Kinder wissen um ihr Schicksal und wissen es gleichzeitig nicht.

Ihre ganze Jugend dient dazu, sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Das lernen die Kinder schon früh. Ob sie sich aber der Tragweite des Ganzen bewusst sind und ob sie wirklich begreifen, wer und was sie sind, das darf natürlich bezweifelt werden. Sie ahnen es vielleicht, aber damit umzugehen, sich der Konsequenzen bewusst zu werden, das zeigt ihnen niemand. Ihr Leben ist streng vorgezeichnet. Weil sie wertvoll und wichtig sind, werden sie entsprechend sorgsam behütet.

Entsprechend seines Themas ist „Alles, was wir geben mussten“ ein Roman, der den Leser intensiv beschäftigt. Lebhaft skizziert Ishiguro seine Figuren, und gerade weil der Leser anfangs noch genauso ahnungslos ist wie die Kinder, gerade weil die grausame Realität erst dann komplett entblättert wird, wenn man die Protagonisten schon längst in sein Herz geschlossen hat, trifft einen ihr Schicksal besonders hart. Man lernt sie als Kinder kennen, ist nicht in der Lage, sie nicht als vollwertige Menschen zu sehen und ist dann zutiefst getroffen von dem, was ihnen bevorsteht, wenn sie erwachsen sind. Gerade die Ahnungslosigkeit, mit der die Kinder ihrem Schicksal entgegentreiben, lässt die bittere Realität umso härter erscheinen.

„Alles, was wir geben mussten“ ist ein Lehrstück in Sachen Fremdbestimmtheit. Durch die stetige Einflussnahme von Beginn an treten die Kinder schicksalsergeben ihrer Zukunft entgegen. Aufbegehren gibt es nur im Kleinen, im Großen fügen sie sich alle in das ihnen aufgezwungene Schema. Und so wirft der Roman auf sehr vielschichtige Weise moralische Fragen auf. Die ethische Frage nach einer Rechtfertigung des Klonens ist dabei nur ein Aspekt, wenngleich sicherlich der wichtigste. Ishiguro vermag sich dieser Frage aber durch seinen feinfühligen Umgang mit den Figuren von verschiedenen Seiten zu nähern. Vor allem die persönliche Ebene ist dabei wichtig. Er betrachtet die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder vor dem Hintergrund dieser Problematik und zeigt, wie sie um die Unbeschwertheit ihrer Kindertage betrogen werden, um einem höheren Zweck zu dienen.

Die wissenschaftliche und technologische Komponente tritt dabei in den Hintergrund. Ishiguro konzentriert sich voll und ganz auf die Figuren und als Gegenpol dazu auf die Gesellschaft. Was dabei besonders beeindruckt, ist, wie realistisch Ishiguro das Thema angeht. So, wie er es schildert, von der gesellschaftlichen Komponente und von moralischer Seite her, wäre es durchaus vorstellbar. Nichts wirkt überzeichnet. Alles erscheint so, wie man es sich in der Realität tatsächlich vorstellen könnte.

Und so zeichnet sich „Alle, was wir geben mussten“ eben auch dadurch aus, dass das Buch vom moralischen und ethischen Standpunkt aus gerade deswegen so viel Stoff zum Nachdenken liefert, weil Ishiguro es in einen so leicht vorstellbaren gesellschaftlichen Rahmen steckt. Im Kleinen wie im Großen, in den Figuren wie auch in den äußeren Rahmenbedingungen wirkt alles bis ins Mark im Rahmen des theoretisch Möglichen und das macht die Angelegenheit dann auch ein bisschen unheimlich.

So fiebert der Leser mit den Figuren, ohne dass Ishiguro sich irgendwelcher Effekthascherei bedienen müsste. Das Gefühlsleben der Protagonisten, ihre Sicht der Welt und ihr langsames Begreifen dessen, was da vor sich geht, sind für sich genommen fesselnd und aufwühlend genug. „Alles, was wir geben mussten“ ist Lektüre, die zu Herzen geht, zum Nachdenken anregt und ganz hervorragend als Diskussionsgrundlage dient.

Sprachlich ist Ishiguros Werk faszinierend schlicht gestrickt. Er bedient sich einer recht einfachen Sprache und erzählt aus Sicht der Kathy, als würde sie in ihrer Erinnerung kramen, die sie nach und nach vor dem Leser ausbreitet. Den Kern seiner Thematik fasst Ishiguro geradezu mit Samthandschuhen an. Einschlägige Fachbegriffe tauchen kaum auf. Nur selten ist vom Klonen direkt die Rede. Die Sprache, die die Kinder in Hailsham lernen, verschleiert die Dinge und steht damit im harten Kontrast zur Wirklichkeit. Der Leser als derjenige, der die Hintergründe erahnt, weiß auch so genug Bescheid, und der Moment, an dem auch für die Protagonisten die Fassade bröckelt, wirkt dadurch besonders hart.

Zusammenfassend kann man „Alles, was wir geben mussten“ wirklich nur jedem ans Herz legen. Ein Roman ohne unnötige Effekthascherei, der sich ganz auf seine Protagonisten konzentriert und dabei so schwerwiegende moralische und ethische Fragen aufwirft, dass man noch eine ganze Weile daran zu knabbern hat. Ein wenig verstörend, aber auch schön erzählt Ishiguro eine ungewöhnliche Jugendgeschichte. Erschreckend, nachdenklich stimmend und zutiefst berührend. Ein leiser, aber gleichzeitig immens kraftvoller Roman, der im Gedächtnis haften bleibt.

Schulze, Ursula (Hrsg. / Übs.) – Nibelungenlied, Das. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe

Als ich etwa zehn Jahre alt war, bekam ich eine Hörspielkassette mit der Sagengeschichte über Siegfried und Hagen geschenkt, und seither lässt mich die gewaltige Geschichte von den Nibelungen nicht mehr los. Ich habe das Nibelungenlied immer wieder in verschiedenen Ausgaben gelesen, auf Mittelhochdeutsch, in neuhochdeutschen Übertragungen und als Prosa-Nacherzählungen. Und so habe ich mich besonders gefreut, als die Neuübersetzung der Verlage |Patmos| und |Artemis & Winkler| hereinflatterte.

Zur Geschichte braucht man wohl nichts mehr zu sagen. Für die zwei oder drei Leser, die sie noch nicht kennen, ganz kurz der Inhalt: Der junge König Siegfried von Xanten erwirbt die Freundschaft König Gunthers von Burgund und hilft ihm mit einer List, Brünhild zur Frau zu gewinnen. Dafür darf er Gunthers schöne Schwester Kriemhild heiraten. Eifersüchteleien der Frauen und das Misstrauen von Gunthers Lehnsmann Hagen gegen den reichen und starken Siegfried lassen Gunther und seine Brüder Hagens Plan zustimmen, ihn zu töten und später seinen sagenhaften Goldhort der rachegierigen Witwe Kriemhild zu nehmen. Als Jahre später der mächtige Hunnenkönig Etzel um Kriemhilds Hand anhält, sieht sie ihre Chance zur Vergeltung gekommen. Als Etzels Frau lädt sie den burgundischen Hofstaat nach Etzelburg ein, wo sie gnadenlos Rache nimmt, bis sie zuletzt mit ihrem großen Widersacher Hagen stirbt.

Das um 1200 entstandene, deutsche Nibelungenlied beruht teilweise auf alten germanischen Sagenstoffen sowie Erzählungen aus der Völkerwanderungszeit, deren Motive auch auf Island in einigen eddischen Liedern und in Norwegen in der Thidrekssaga bearbeitet wurden. Hinzu kamen jüngere Motive in einem mittelalterlich-ritterlichen Gewand. Unter den zahlreichen Abschriften des Nibelungenlieds liegen drei mehr oder weniger vollständige vor, von denen die Handschrift C die älteste und umfangreichste ist. Sie ist auch als Hohenems-Laßbergische, als Donaueschinger oder nach ihren heutigen Aufbewahrungsort als Karlsruher Handschrift bekannt.

Die vorliegende Ausgabe enthält die Handschrift C, vermehrt um einige Strophen aus der Handschrift A, im mittelhochdeutschen Original und in der neuhochdeutschen Neuübertragung von Ursula Schulze. Im aufgeschlagenen Buch stehen sich dabei die mittelhochdeutsche Strophe links und die neuhochdeutsche Strophe rechts gegenüber. Frau Schulze hat das Epos strophenweise in Prosa übersetzt. Natürlich geht der Zauber dieses großen Epos etwas verloren, wenn es in Prosa wiedergegeben ist. Doch diese Art der Übertragung erhält ihre Berechtigung in der Zusammenschau mit dem mittelhochdeutschen Originaltext. Strophe für Strophe wird der Inhalt in einer inhaltlich genauen Übersetzung, aber mit heute leichter verständlichen Formulierungen wiedergegeben, wodurch die Lektüre des Originals erleichtert wird. Der Schwerpunkt liegt also auf der genauen Wiedergabe des Erzählten. Ich hatte das Nibelungenlied zwar schon mal auf Mittelhochdeutsch gelesen, aber mir sind durch Frau Schulzes Übersetzung einige mittelhochdeutsche Verbformen klarer geworden.

Ein Beispiel dafür, wie die Übertragung manchmal durch eine Entfernung vom direkten Wortlaut der Bedeutung des Textes näher kommt, soll anhand der Strophe 15 gezeigt werden. Wenn Frau Ute zu Kriemhild sagt: „soltu immer hercenliche // zer werlde werden vro“, so übersetzt Ursula Schulze „solltest du jemals im Leben von Herzen glücklich werden“. „zer werlde“ ist hier mit „im Leben“ anstatt mit dem wörtlichen „in der Welt“ viel treffender wiedergegeben. Teilweise ist die Annäherung an die heutige Sprache auch leicht übertrieben: Jemanden „heimsuchen“ ist heute sicher nicht mehr Alltagssprache, wird aber immer noch verstanden und wäre damit vielleicht die bessere Übertragung von „suochen“ gewesen als das etwas nüchterne „angreifen“ (4. Aventiure). Solche Kleinigkeiten mindern aber nicht den guten Gesamteindruck dieser Begleitübersetzung.

Lobenswert sind die auch Erläuterungen im Anhang zur Textedition des mittelhochdeutschen Originals und zu den Grundsätzen der Übertragung ins Neuhochdeutsche. Hier wird der interessierte Leser wirklich ernst genommen. Der Anhang enthält weiterhin Beiträge zur Entstehung und Rezeption des Nibelungenlieds, ein Sachwortregister und eine Inhaltsangabe, die sowohl Inhalt als auch Formulierung des Textes kommentiert. Dass häufiger auf das germanische und das mittelalterliche deutsche Recht verwiesen wird, beweist die Kenntnis der Herausgeberin, denn das Nibelungenlied ist nicht vollständig ohne einige grundlegende Rechtsbegriffe zu verstehen. Zu erwähnen ist auch die Landkarte des südlichen Deutschland (S. 844f), in welche die wichtigen Orte der Geschichte und insbesondere der Zug von Worms nach Etzelburg eingetragen sind.

Diese Ausgabe ist vor allem denjenigen zu empfehlen, die das Nibelungenlied einmal im Original lesen wollen, aber Verständnisprobleme befürchten. Diese Leser können sich nun an den mittelhochdeutschen Text heranwagen (Tipp: Laut lesen! Die deutsche Sprache hat sich mehr in der geschriebenen als in der gesprochenen Form geändert.), und bei Unklarheiten steht ihnen parallel die Übersetzung in heutigem Deutsch zur Verfügung. Das Buch ist weiterhin für den Schulunterricht geeignet, weil die Übertragung in ihrer einfachen Sprache auch für junge Leser verständlich sein dürfte. Ein Leistungskurs Deutsch könnte damit an eine ältere Sprachstufe des Deutschen herangeführt werden.

Und überhaupt, diese Geschichte mit ihrer großartigen Erzählung, ihrer ständigen Steigerung der Spannung, der genauen Zeichnung der Charaktere mit ihren Entwicklungen und der unterschwelligen Anwesenheit heidnisch-naturwüchsiger Züge, besonders bei Hagen und Brünhild, unter der christlich-mittelalterlichen Oberfläche sollte jeder mal gelesen haben.

Weiterführend:

[wikipedia]http://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied
[Nibelungen-Festspiele Worms 2005]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=50
[Nibelungen-Museum Worms]http://www.nibelungen-museum.de/
[Nibelungen-Edition 1: Siegfried 1160

Hoffman, Alice – Flusskönig, Der

Es gibt Bücher, die passen in keine Schublade. Sie lassen sich nicht einem bestimmten Genre zuordnen, sie passen nicht so recht in bekannte Strickmuster und entziehen sich so der unkomplizierten Kategorisierung. Solche Bücher haben es oft schwer. Viele wissen nicht so recht etwas mit ihnen anzufangen und werten das Fehlen genretypischer, schubladengerechter Merkmale als Ziellosigkeit des Autors. Ein Urteil, das sicherlich manch einer auch auf die Schnelle über den „Flusskönig“ von Alice Hoffman fällen mag – und damit vermutlich genauso recht hat wie jener, der das Gegenteil behauptet.

Die Mischung, die Alice Hoffman in „Der Flusskönig“ auffährt, hat es dementsprechend in sich. Ein bisschen Kriminalgeschichte, ein bisschen Liebesgeschichte, alles im Rahmen einer dörflich-biederen Naturidylle in Neuengland, eine Prise Übersinnliches, abgeschmeckt mit einem Hauch Kitsch und garniert mit einer blumigen, bildhaften Sprache. Das ist – etwas vereinfacht – die Rezeptur, aus der Alice Hoffman ihr ganz eigenes Süppchen kocht, und so eigenwillig, wie die Rezeptur anmutet, so unterschiedliche Reaktionen ruft sie sicherlich auch an den Geschmacksnerven der Leser hervor. So ganz eindeutig mag mein Urteil da auch nicht ausfallen, denn irgendetwas stimmt hier und da mit den Zutaten nicht so ganz. Ein leicht fahler Nachgeschmack bleibt auf jeden Fall zurück.

Dabei fängt die Geschichte so klassisch und zeitlos an, dass man zunächst gar nicht weiß, in welchem Jahrhundert sie spielt. Erst durch die Erwähnung von Mountainbikes, E-Mails, etc. merkt man, dass die Geschichte tatsächlich heute spielt – was allerdings nicht ganz glaubwürdig erscheinen mag. Ort des Geschehens ist die Haddan School, ein renommiertes, altehrwürdiges Internat in Neuengland, auf das seit jeher die verwöhnten Kinder gut betuchter Familien geschickt werden. Das erscheint vor dem Hintergrund, dass die Haddan School eine teilweise abrissreife Bruchbude voller Ungeziefer ist, als ein etwas merkwürdiger Widerspruch (gerade in der heutigen Zeit), aber machen wir uns darum einfach keine weiteren Gedanken. Der Widerspruch bleibt ohnehin ungeklärt im Raum stehen und wird nicht die einzige Fragwürdigkeit des Romans bleiben.

Die Haddan School liegt etwas außerhalb des Ortes Haddan, am Ufer des gleichnamigen Flusses. Die Dorfbewohner sind nie mit der Schule und ihrem elitären Drang nach Abgrenzung warm geworden und halten sich daher misstrauisch von ihr fern. Man ignoriert sich größtenteils gegenseitig, und da, wo zwangsläufige Berührungspunkte entstehen, hält man sich bedeckt.

Es ist Spätsommer in Haddan, das neue Schuljahr steht vor der Tür und so reisen die Schüler aus ihrer teils fernen Heimat nach Neuengland. Zu ihnen zählen auch Carlin Leander, die bildhübsche, talentierte Schwimmerin, und der gleichaltrige Eigenbrödler August Pierce. Beide zählen zu den Neuankömmlingen und haben ein hartes Schuljahr vor sich, in dem sie sich ihren Platz in der Schülergemeinschaft und den Respekt der Mitschüler erkämpfen müssen. Carlin findet über das Schwimmteam recht leicht Anschluss, während August ein Außenseiter bleibt und nicht bereit zu sein scheint, sich den geltenden Spielregeln unterzuordnen. Seine einzige Bezugsperson ist Carlin, und trotz vieler widriger Umstände entsteht zwischen den beiden eine Art Freundschaft.

Doch es gibt Probleme. August kommt an der neuen Schule offenbar noch schlechter klar als an der alten, und als eines Morgens Augusts Leiche aus dem Fluss gezogen wird, ist man an der Schule nur allzu gerne dazu bereit, den Tod als Selbstmord abzutun. Auch Abel Grey, der ortsansässige Polizist, kommt mit seinen Ermittlung nicht so recht voran. Offenbar haben sowohl seine Kollegen als auch die Schulleitung keine Interesse daran, die Umstände des Todes näher zu beleuchten. So macht Abel sich auf eigene Faust an die Ermittlungen und stößt dabei auf allerhand Unerklärliches und Seltsames – und auf eine Frau, die seine große Liebe werden soll.

Auf den ersten Blick mag die Handlung nach Krimi riechen, aber bei näherer Betrachtung entpuppt sich das als die falsche Schublade. Es gibt zwar eine Leiche und es werden Ermittlungen angestellt, aber dass dabei die Spannung eines wirklichen Krimis aufkommt, kann man kaum behaupten. Der Todesfall des Schülers ist eher ein Aufhänger für die Geschichte und insofern erinnert „Der Flusskönig“ ein wenig an „Schnee, der auf Zedern fällt“ von David Guterson. Für die Kriminalgeschichte, als die man sie gemeinhin ansieht, sind beide Romane zu vielschichtig. Alice Hoffman konzentriert sich weniger auf die Ermittlungen oder die Umstände des Todes (die werden ganz lapidar am Rande aufgeklärt – leider ohne groß in die Handlung eingebunden zu werden), sondern erzählt die Geschehnisse drumherum.

Und so wäre die treffendste Bezeichnung, die mir für diese Art Roman einfällt, ein „Erzählroman“, auch wenn dies etwas sonderbar klingen mag. Diese Bezeichnung deutet aber immerhin bereits an, was den Kern des Buches ausmacht, nämlich das Erzählen an sich. Und das muss man Alice Hoffman dann doch lassen: Erzählen kann sie. Daher rührt vermutlich auch die Auszeichnung von „Entertainment Weekly“, die sie als eine der „100 kreativsten Persönlichkeiten der Unterhaltungsbranche“ ehrt – zurückzuführen vermutlich auf ihre gefeierte Romanvorlage zum Film „Zauberhafte Schwestern“ mit Nicole Kidman, Sandra Bullock und Diane Weeks.

Hoffman bedient sich einer etwas blumigen Sprache. Sie erzählt ihre Geschichte auf sehr plastische Weise und versteht es, ihr durch ihre Schilderungen so viel Leben einzuhauchen, dass das Buch im wahrsten Sinne des Wortes Kopfkino ist. Man muss ihr schon lassen, dass sie sich darauf versteht, Stimmungen zu erzeugen. Die Art, wie sie Landschaften und Menschen beschreibt, erinnert mich auch hier wieder ein wenig an David Guterson – mit dem Unterschied, dass ich Guterson noch für einen Tick besser halte. Guterson wirkt nicht so selbstverliebt in die eigene Formulierungskunst, wie es bei Hoffman hier und da durchschimmert. Auch wenn ihr Sprachstil im Großen und Ganzen wirklich schön und geradezu poetisch ist, gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, es wäre etwas viel des Guten – vor allem dann, wenn hinter der blumigen Erzählweise auch die Handlung etwas kitschige Züge entwickelt. Da werden dann zartbesaitete Schülerinnen auch schon mal von obskuren Rosendüften ohnmächtig.

Insgesamt zeigt sich auf dieser Ebene ein leichter Hang zum Übernatürlichen. Hoffman verlangt dem Leser sehr viel Toleranz ab – das gilt nicht nur für das Ignorieren sämtlicher Genreschubladen, sondern trifft auch auf die Entwicklung der Geschichte zu. Es tauchen eine Reihe unerklärlicher Phänomene auf, die im Zusammenhang mit Augusts Tod stehen, die dem Roman eine leicht mystische Stimmung verleihen – von wirklicher Mystery à la „Akte X“ kann aber bei weitem nicht die Rede sein – und so wirken manche dieser Elemente eben auch eher kitschig als unheimlich. Ob man diesen Aspekt für die Handlung unbedingt so strapazieren musste – vielleicht hätte man es einfach bei dezenten Andeutungen belassen sollen. Was an Authentizität mit Blick auf die Figuren zu loben wäre, macht Hoffman damit zumindest ein wenig wieder zunichte.

Die Beschreibung der Figuren bekommt recht viel Raum. Sie blickt zurück in deren Vergangenheit und lässt sie in der Gegenwart in aller Ruhe agieren, fast so, als ergebe sich die Handlung dann von selbst. Ein weiterer Aspekt, an dem sich sicherlich die Geister scheiden. Der eine wird wohl denken, dass die Handlung überhaupt nicht voran kommt, der andere wird sich über den tiefen Einblick in das Seelenleben der Hauptfiguren freuen. Ich zähle mich eher zu Letzteren.

Doch obwohl man den Figuren recht nahe steht und obwohl man einen tiefen Einblick in ihre Gefühlswelt bekommt, blieben mir manche Verhaltensweisen ein wenig unverständlich. Insbesondere trifft dies auf die Lehrerin Betsy zu, deren Bekanntschaft Abel Grey bei seinen Ermittlungen macht. Gerade was die Liebesgeschichte zwischen diesen beiden Figuren angeht, kann man nicht immer die Verhaltensweisen sonderlich gut nachvollziehen – was man nicht nur der mangelnden Rationalität „großer“ Gefühle in die Schuhe schieben kann, sondern letztendlich eher der Autorin vorhalten muss.

Und so kann dann trotz sprachlicher Ausgefeiltheit der Handlungsverlauf nicht immer restlos überzeugen. Man hängt am Ende irgendwie in der Schwebe. Nicht alle Handlungsstränge werden zufrieden stellend aufgelöst, hier und da liegt einem am Ende immer noch ein „Ja, aber …“ auf der Zunge. Fast so, als hätte Frau Hoffman in ihrer sprachlichen Selbstverliebtheit vergessen, sich einen wirklich runden Handlungsverlauf zu überlegen. Es gibt zwar einige Aspekte, die sie sehr gut löst (beispielsweise den Verlauf der Ermittlungen, die Abel anstellt), dafür aber auch andere, die etwas überstürzt und wenig überzeugend aufgelöst erscheinen (beispielsweise die Liebesgeschichte zwischen Abel und Betsy).

Sprachlich und von der Charakterzeichnung her ist der Roman am Ende trotz allem dann doch noch so gut, dass man der Autorin manchen Schnitzer in der Handlung verzeihen möchte. Nicht gänzlich, aber ein ganz kleines bisschen eben, denn schön zu lesen ist „Der Flusskönig“ in jedem Fall, auch wenn es kein Buch ist, das unbedingt bleibenden Eindruck hinterlässt.

Wei Hui – Marrying Buddha

Wei Hui ist wohl Chinas bekannteste Schriftstellerin. Die 31 Jahre alte Chinesin hat mir ihrem Debüt „Shanghai Baby“ (in Deutschland 2001 veröffentlicht) für einen handfesten Skandal gesorgt. In ihrer chinesischen Heimat fiel der Roman bei der Zensur durch, da er pornografisch und dekadent sei. Das Verbot im eigenen Land ließ Leser in anderen (westlichen) Ländern aufhorchen, „Shanghai Baby“ avancierte zu einem weltweiten Bestseller, in China bleibt das Buch jedoch verboten.

Nun erschien der zweite Roman der Chinesin, es ist eine Fortsetzung zu „Shanghai Baby.“ Wieder ist Coco die Protagonistin und Ich-Erzählerin, die den Leser in sympathischer Weiser an ihrem für chinesische Verhältnisse skandalösen Liebesleben teilhaben lässt. Stärker noch als bei „Shanghai Baby“ hat man diesmal das Gefühl, dass die Distanz zwischen Coco und Wei Hui eine nur sehr geringe ist. Coco hat wie ihre Erschafferin einen in China verbotenen Roman namens „Shanghai Baby“ geschrieben und ist nach New York gezogen. Dort verliebt sie sich in den Japaner Muju, eine tiefe Beziehung entwickelt sich und die alles andere als traditionsbewusste Coco denkt über Heirat, Familie und ihre Wurzeln nach. Schon komisch, dass dies gerade in New York passiert, aber wie der Leser erfährt, scheinen New York und Shanghai kulturell gar nicht so weit voneinader entfernt zu sein. Ein interessanter Punkt an diesem Roman ist der zuweilen faszinierende Vergleich zwischen beiden Metropolen. Dabei zeichnet die Autorin wie schon in ihrem Debüt das Bild eines Shanghais, das immer kapitalistischer und hedonistischer wird und wo der Widerstand der alten Tradition schwindet. So schreibt sie von New Yorks Chinatown: |“Die Chinatowns in Übersee sind wie alte Güterzüge, die langsam mit ihrer Fracht aus alten chinesischen Traditionen und Erinnerungen dahinrattern. Im Gegensatz dazu ist China ein Hochgeschwindigkeitszug, der mit seiner sich entwickelnden Marktwirtschaft in atemberaubender Geschwindigkeit vorwärtsrast.“|

Zentrales Thema ist jedoch nicht die Kultur zweier Städte im Vergleich, sondern die Liebe und alles, was dazugehört. So glücklich Coco mit ihrem Muju in New York auch ist, spannend ist das natürlich noch nicht. „Marying Buddha“ ist aus der Retrospektive geschrieben. Obwohl der überwiegende Teil in New York spielt, ist die Protagonistin schon längst aus New York zurückgekehrt und die Beziehung zu Muju scheinbar vorbei. Coco zieht es nach Putuo, einer kleinen Insel mit buddhistischen Tempeln. Auf dieser Insel wurde sie geboren und dort sucht sie Ruhe, lässt ein Jahr New York Revue passieren. Schritt für Schritt entblättert sie die Liebesgeschichte zwischen Muju und sich mit allen erotischen Details, bis sie bei einer Lesereise die Beziehung zerbröckeln lässt. In Spanien trifft sie auf Nick, einer New Yorker Zufallsbekanntschaft, der sie kaum zu widerstehen vermag. In Argentinien besucht Muju sie bei ihrer Lesereise. Angesichts der hoffnungslosen Situation in Argentinien und der mit aufkeimenden Problem konfrontierten Beziehung dürfte die Ortswahl der Autorin alles andere als ein Zufall gewesen sein. Nach der Lesereise kehrt Coco allein nach Shanghai zurück. Als sie schwanger wird, weiß sie schließlich nicht. von wem.

„Marrying Buddha“ ist ein flottes Buch und verfolgt den so erfolgreichen Stil von „Shanghai Baby“ weiter. Jedem Kapitel hat die Autorin Zitate vorangestellt; dass sich da Zitate aus buddhistischen Lehrbüchern mit Zitaten aus „Sex and the City“ abwechseln, ist bezeichnend. Der Roman schwebt anders als das Debüt zwischen dem bunten und aufregenden Leben pulsierender Metropolen und der Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, thematisch gibt es also einen Unterschied zwischen beiden Büchern. Genau dieser Unterschied in Kombination mit Huis VIP-Status dürfte auch dazu geführt haben, dass man zumindest diesen Roman in China frei kaufen kann. Zum Thema Verbot äußert sich die Protagonistin, die ja dasselbe Schicksal wie Wei Hui erträgt, ausgiebig im dreizehnten Kapitel. Hier sind die autobiografischen Züge des Romans natürlich auch am deutlichsten. In New York hat Coco ein Stipendium der Ostasienabteilung der Columbia University angenommen. Als zu einer Veranstaltung alte chinesische Autoren anreisen, wird deutlich, was Wei Hui und ihre vom Staat gestützten Kollegen trennt: Alter und Geschlecht. Etwas verletzt und ein bisschen feministisch klingt sie, wenn sie schreibt: |“Nicht ein einziger machte Anstalten, sich freundlich mit mir zu unterhalten. Mein Englisch, die mehreren hundert Dollar, die ich in Form von Kleidung an mir trug, ja selbst die Pickel in meinem Gesicht, all das war unverzeihlich für sie. Nichtsdestotrotz hatten sie mir im Geiste vermutlich schon mehrmals die Kleider vom Leib gerissen.“ |

Stellen wie diese sind die bestechendsten an dem Roman, ebenso wie die interessanten Vergleiche zwischen Amerika und China. Leider ist die Liebesgeschichte nicht ganz so faszinierend; zwar bieten sich immer mal wieder interessante Gedanken zum Thema Nummer eins, doch wirklich mitreißend ist der „Roman über Lust und Leidenschaft“ dann doch nicht, unterhaltsam aber allemal.

Antal Szerb – Die Pendragon-Legende

Das geschieht:

Historiker János Báthoy hat seine Zelte in London aufgeschlagen. Dort lernt er Owen Pendragon, Earl of Gwynedd, kennen, einen walisischen Hochadligen, der als Mäzen der Künste und nobler Mensch berühmt aber als Nachfahre des Alchimisten und Hexenmeisters Asaph Pendragon auch berüchtigt ist. Der Earl lädt Báthoy auf sein Schloss Llanvygan ein, was dieser freudig annimmt.

Damit gerät er in ein Komplott, das bereits seit Monaten das Haus Pendragon bedroht. Drei Mordanschläge wurden auf den Earl verübt. Verantwortlich ist wohl eine Gruppe, die sich um das Erbe eines reichen Mannes sorgt. Dieser hatte sein Vermögen mit Hilfe des Earls gemacht. Es soll ihm zufallen, wenn sich herausstellt, dass es beim Tod des reichen Mannes nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Obwohl der Earl vorgibt, nicht an dem Erbe interessiert zu sein, wird er scharf beobachtet. Auch Báthoy wird anonym gewarnt, sich nach Llanvygan zu begeben. Er reist trotzdem, begleitet von Osborne Pendragon, dem Neffen des Earls, sowie vom undurchsichtigen Abenteurer Maloney.

Das Reiseziel stellt sich als einsamer, unheimlicher Ort dar. Des Nachts schleichen merkwürdig gewandete Gestalten durch die Gänge. Ein Ritter in voller Rüstung galoppiert um das Schloss. Geheimgänge werden entdeckt. Maloney übt sich als nächtlicher Fassadenkletterer. An einem See wird ein riesenhafter, altmodisch gekleideter Greis gesichtet. Geht etwa der alte Asaph um? Er heißt, er sei im Besitz okkulter Geheimnisse der Rosenkreuzer gewesen. Ein Elixier dieses mysteriösen Ordens soll ihm das ewige Leben verliehen haben. Sein Grab ist jedenfalls leer, wie unsere drei Freunde feststellen. Sie geraten gleich doppelt in Bedrängnis, als sich sehr diesseitige Gangster auf Schloß Llanvygan zu tummeln beginnen. Bis zum ersten Mord dauert es nicht mehr lange. Die Spannung steigt, denn auch die Geister im Schloss intensivieren ihre Attacken …

Eine angenehme Wiederentdeckung

Viel Mystery-Bockmist wird in den Buchläden der westlichen Welt verstreut; der Fahrer auf dem Traktor heißt Dan Brown. Er kann nicht plotten, kann nicht schreiben, ist aber immens erfolgreich und hat eine Unzahl noch erbärmlicherer Kopisten nach sich gezogen, die das Grundkonzept – ein historisches Rätsel wird mit viel Thrill und einem Hauch Phantastik verquirlt – treulich aufgreifen.

Nun ist diese Konstellation beileibe nicht neu, sondern in der Unterhaltungsliteratur schon seit Urzeiten in Verwendung. Der Erfolg der gegenwärtigen Schreibautomaten hat zumindest den einen Vorteil, dass sich dies am praktischen Beispiel überprüfen lässt: Auf der Suche nach ihrem Stück vom Kuchen suchen Buchverlage verzweifelt nach Titeln, die sich irgendwie in den Hype einschleusen lassen. Es kann nicht ausbleiben, dass unter dem ganzen Schutt, der dabei aufgewühlt wird, hier und da ein Goldkorn zu Tage tritt.

„Die Pendragon-Legende“ ist kein Korn, sondern ein richtiger Nugget. Bereits 1934 entstanden, zeigt hier ein echter Schriftsteller, wie man aus den genannten Einzelelementen eine stimmungsvolle, durchgängig spannende, immer überraschende Geschichte spinnt. Der Grundton ist überaus heiter bzw. ironisch, was keinen Deut daran ändert, dass der Leser sehr ernstgenommen wird.

Keine Furcht vor ungelösten Rätseln

Gibt es für ein solches klassisches Garn einen stimmungsvolleren Hintergrund als das ‚alte‘ England mit seinen von Geistern heimgesuchten Burgen und Schlössern? Kunstvoll treibt es Szerb auf die Spitze, verstärkt die altertümlichen Besonderheiten des Schauplatzes, verwandelt Schloß Llanvygan und Umgebung in eine von der realen Gegenwart (des Jahres 1933) isolierte Enklave, in der die Vergangenheit lebendig blieb. Dies kommt der Story durchaus entgegen, aber vor allem verleiht es ihr jene nostalgische Patina, die bereits zu Szerbs Zeiten bei der Leserschaft gut ankam.

Völlig unaufdringlich und deshalb umso wirksamer konstruiert der Verfasser das phantastische Fundament, auf dem seine Geschichte bombenfest steht. Dieses Mal sind es nicht die üblichen Verdächtigen – totgeschwiegene Evangelisten, Templer, Nazis usw. -, die im Hintergrund ihr Unwesen treiben. Die Rosenkreuzer gab es tatsächlich, sie hielten sich wie alle ‚geheimen‘ Orden – schon wegen der stets misstrauischen Staatsgewalt – sorgsam verborgen und trieben okkulte ‚Studien‘.

Unsere Geschichte erfährt ein zufriedenstellendes Ende, doch die Rätsel bleiben ungelöst. Die „Pendragon-Legende“ mündet – zumindest soviel sei verraten – in ein phantastisches Finale. Es kann real sein, muss aber nicht. Die Sehnsucht nach und die Furcht vor dem Wunder stellte eine immer wieder literarisch aufgegriffene Konstante im Leben des Antal Szerb dar, wie sein Landsmann György Poszler in einem nicht gerade leicht verständlichen aber informativen Nachwort deutlich macht. Nur selten gelingt es so gut wie in diesem Fall, das ‚Reale‘ mit dem ‚Irrealen‘ zu verknüpfen. Der Leser bleibt leicht ratlos und trotzdem zufrieden zurück. Die sorgsam aufgebaute Spannung verpufft nicht durch ein allzu profanes Ende. Darüber hinaus hat Szerb dafür Sorge getragen, dass wir auch am Schicksal der auftretenden Figuren interessiert sind.

Wissen ist durchaus handfeste Macht

Der unbedarfte Bücherwurm als Held wider Willen, begabt mit einschlägigem Fachwissen und erfüllt vom heimlichen Wunsch nach einem zünftigen Abenteuer: Diese Figur verkörpert János Báthoy nahezu perfekt. Glücklicherweise rettet der Autor ihn vor dem drohenden Klischee. Von der vor allem in Hollywood gern kultivierten Frauenfurcht des ‚intellektuellen‘ Helden gibt es beispielsweise keine Spur. Báthoy nutzt die Chancen, die sich ihm eröffnen. Die aufkeimende Liebe zur hübschen Earls-Nichte ist da kein Hindernis.

Der aufgestörte Büchernarr zeigt sich in der Krise zwar in der Regel hilflos aber nie ohne Ideen. Vor allem ist es sein Fachwissen, das sich nicht als Hindernis, sondern als nützliches Instrument im Ringen um die Rätsel von Schloß Llanvygan erweist. Außerdem hilfreich ist Báthoys Herkunft, die ihn die Hürden einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft quasi überspringen lässt und ihm die Absurditäten derselben in Vertretung der Leserschaft vor Augen führt. (Persönlich kann dieser Rezensent eine Figur nur lieben, die den gemeinsamen Berufsstand so – und schon auf Seite 6! – definiert: „Ich bin Doktor der Philosophie, ein Gelehrter überflüssiger Wissenschaften, und ich beschäftige mich zudem mit Dingen, um die sich kein normaler Mensch mehr kümmert.“).

Auch sonst ist der Leser vor Überraschungen nie sicher. Szerbs Personal scheint sich aus der Klamottenkiste klassischer Kriminalromane zu bedienen. Doch stets gibt es Brüche, die aus Klischeegestalten echte Persönlichkeiten werden lassen. Dabei löst die Gestaltung der weiblichen Darsteller besonderes Erstaunen aus: Sie sind ebenso selbstständig wie ihre männlichen Zeitgenossen, denken und handeln ohne deren ‚Schutz‘ und im positiven Sinn modern. Von allen auftretenden Figuren zeigt sich eine Frau, Lene Kretzsch, als praktische Gefährtin der Geister- und Gangsterjäger. Ihr fällt immer noch ein ungewöhnlicher Ausweg ein, wenn die anderen schon verzagen. Diese Gleichberechtigung im eigentlichen Sinn des Wortes schließt den Kreis, der „Die Pendragon-Legende“ eine uneingeschränkt lesenswert gebliebene Lektüre bleiben ließ.

Autor

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Antal Szerb ist in seinem Heimatland Ungarn einer der meist gelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein kurzes Leben war geprägt von der Liebe zur europäischen Kultur und Literatur. Geboren wurde Szerb am 1. Mai 1901 in Budapest als Sohn eines assimilierten jüdischen Kaufmanns. Er machte 1919 sein Abitur, studierte in Graz klassische, später moderne Philologie. Ab 1920 wechselte er nach Budapest und zu den Fächern Hungarologie und Germanistik, später auch Anglistik. 1924 promovierte Szerb über Ferenc Kölcsey, den Dichter der ungarischen Nationalhymne. Anschließend arbeitete er als Lehrer für Ungarisch und Englisch an einer Vorstadtschule sowie an einer höheren Lehranstalt für kaufmännische Berufe.

Als Schriftsteller wurde Szerb Mitte der zwanziger Jahre tätig. Er verfasste Rezensionen, Essays und Erzählungen, die in den führenden literarischen Zeitschriften erschienen. Mehrfach reiste er nach Italien, Paris und England; seine Erfahrungen schlugen sich in den ersten beiden Romanen „A Pendragon legenda“ (1934; dt. „Die Pendragon Legende“) und „Utas és holdvilág“ (1937; dt. „Reise im Mondlicht“) nieder. Daneben war Szerb als Literaturwissenschaftler aktiv. 1934 – Szerb war inzwischen Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft Ungarns – erschien seine ungarische Literaturgeschichte „A magyar irodalomtörténet“, 1941 eine Geschichte der Weltliteratur („A világirodalom története“).

Obwohl christlich getauft, blieben dem erfolgreichen Schriftsteller und Forscher wegen seiner jüdischen Herkunft die Tore der Universität verschlossen. Immerhin gelang es ihm, sich 1937 mit der Unterstützung einflussreicher Gönner an der Universität Szeged zu habilitieren. Bis 1943 lehrte Szerb dort. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Die faschistischen „Pfeilkreuzler“ übernahmen die Macht. Auch in Ungarn begann der organisierte Judenmord. Antal Szerb wurde im Sommer 1944 zum ‚Arbeitsdienst‘ eingezogen. Im westungarischen Lager Balf bei Ödenburg hat man ihn am 27. Januar 1945 ermordet und in einem Massengrab verscharrt.

Taschenbuch: 311 Seiten
Originaltitel: A Pendragon legenda (Budapest : Révai 1934)
Übersetzung: Susanna Großmann Vendrey
http://www.dtv.de

Hörspiel-CD: 108 min. = 2 CDs
Sprecher: Andreas Pietschmann, Matthias Habich u. a.
ISBN-13: 978-3-8996-4383-1
http://www.audiobuch.com

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Lehr, Thomas – 42

Die 42 ist eine Zahl, mit der man gerne Gutes verbindet. Man denkt unweigerlich gleich an Douglas Adams, bei dem 42 die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ist, wenngleich diese sonderbare Antwort natürlich ganz neue Fragen aufwirft. Ironischerweise wohnt auch Agent Mulder aus der Mystery-TV-Serie „Akte X“ in Appartement Nr. 42. Sinnbildlich kann man die 42 also auch für die Suche nach dem Unbekannten, nach den unbeantworteten Fragen der Menschheit sehen. Und nun hat der deutsche Autor Thomas Lehr sein eigenes Stück zum Mythos der 42 beigetragen – einen Roman mit eben diesem Titel, in dem es ebenfalls um ein unerklärliches Phänomen geht.

Das Szenario, das Lehr in „42“ entwickelt, ist faszinierend: An einem wunderschönen Sommertag besichtigt eine Gruppe von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern das Schweizer Forschungszentrum CERN, vor den Toren von Genf. Doch es ist kein gewöhnlicher Sommertag. Als die Besuchergruppe um genau 12:47:42 Uhr aus dem Fahrstuhl des DELPHI-Schachtes tritt, ereignet sich ein erschreckend verstörender Störfall: Die Zeit bleibt stehen.

Die Welt rund um die Besuchergruppe wird zur Ewigkeit, alles wirkt wie eingefroren. Nur unsere Besuchergruppe bleibt von den Auswirkungen verschont und kann sich weiter bewegen. Auf die Verwirrung erfolgt schon bald die Ernüchterung. Der Stillstand der Welt ist kein vorrübergehender. Auch am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat hält dieser Zustand an. Fünf Jahre verbringt die Gruppe der „Chronofizierten“ in der Mittagshitze des ewigen 14. August 2000, bevor die Welt sich für magische drei Sekunden weiterdreht, um dann wieder wie erstarrt anzuhalten.

Die Jahre vergehen, die Wissenschaftler des CERN suchen nach einem Grund für den temporalen Kollaps, versuchen zu verstehen und rückgängig zu machen, was die Welt ins Stocken brachte. Derweil richten sich die übrigen Mitglieder der Gruppe ein, lernen mit Stille und Einsamkeit umzugehen. Menschen sterben, Kinder werden geboren. Die „Chronofizierten“ lernen mit der Macht und Ohnmacht der Situation umzugehen. Doch dann sorgt eine Reihe von Mordanschlägen für Unruhe und Seuchen kommen auf …

Der Stillstand der Zeit, das Gefangensein in einer eingefrorenen Wirklichkeit und die Suche nach einem Ausweg, das ist eine für sich genommen faszinierende Vorstellung. Man stelle sich vor, die Zeit würde wirklich, zumindest für einen Moment, still stehen. Alles wäre in der Bewegung eingefroren, alle Menschen in einer Art Wachkoma gefangen, nur man selbst könnte sich durch die Welt bewegen und sie anfassen – als würde man durch eine Fotografie wandeln.

Dass bei Thomas Lehr dieser Zustand obendrein über mehrere Jahre anhält, wirft neben der wissenschaftlichen Begreifbarkeit einige weitere interessante Fragen auf, die sich vor allem auch auf sozialer Ebene stellen. Wie gehen die Bewegungsfähigen mit ihrem Schicksal in einer bewegungsunfähigen Welt um? Wie arrangieren sie sich mit ihrer komatös erstarrten Umwelt? Wie entwickeln sie sich als Gruppe? Und wie fühlt man sich, wenn nach fünf Jahren der lange herbeigesehnte Ruck einsetzt, der die Welt wieder in Gang setzt, nur um drei Sekunden später wieder alles anzuhalten? Es sind die wissenschaftlichen und sozialen Fragen, die das Ereignis aufwirft, die „42“ so faszinierend machen. Zumindest, solange man sich nur mit dem grundlegenden Ereignis und dem Klappentext befasst.

Lehr erzählt die Geschichte aus der Sicht des Journalisten Adrian, der einerseits die Versuche der Wissenschaftler beobachtet, die Zeitpanne rückgängig zu machen, und andererseits auch seine eigenen Wege durch die im Dornröschenschlaf liegende Welt geht. Ganz wissenschaftlich erzählt er den Werdegang der Gruppe und den Verlauf der Ereignisse anhand von fünf Phasen, die die Gruppe durchlebt:
|“1. Schock
2. Orientierung
3. Missbrauch
4. Depression
5. Fanatismus“| (S. 18)
Diese Phasen bestimmen ganz wesentlich die Entwicklung der Gruppe auf sozialer Ebene und zeichnen den Handlungsverlauf vor.

Ein großer Teil der Faszination des Ereignisses verliert sich aber leider schon nach wenigen Seiten. Die aufgeworfenen Fragen beschäftigen uns als Leser weiterhin, doch die Art, wie Lehr den Leser mit seinen Figuren, dem temporalen Kollaps und der daraus resultierenden Handlung konfrontiert, dürfte so manchen Interessierten ziemlich vor den Kopf stoßen. Lehr macht es dem Leser alles andere als leicht, in die Handlung einzusteigen und seinen Schilderungen zu folgen.

Ich persönlich war schon gleichermaßen erstaunt und verwirrt, als ich den Anfang des Buches, für den Lehr bereits 2002 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet wurde, hinter mich gebracht hatte. So richtig begreifen konnte ich nicht, was Lehr dort schildert. Vieles ergibt erst wesentlich später Sinn, denn im Grunde wirft Lehr dem Leser die Puzzleteile zum Verständnis nur bröckchenweise hin. Der Klappentext lobt „42“ gerade auch wegen der |“funkelnden und souveränen Sprache“|. Aus meiner persönlichen Sicht wirkt das schon fast ironisch, denn für mich ist gerade die Sprache die größte Barriere zwischen Leser und Autor – eine Barriere, an der so mancher Leser scheitern dürfte.

Die ganze Geschichte wirkt wie durch eine halbtransparente Gardine betrachtet. Der Leser steht draußen vor dem Fenster und versucht einen Blick auf die drinnen sich im Licht bewegenden Figuren zu erhaschen. Schattenhafte Schemen lassen sich erkennen, Bewegungen und Aktivitäten erahnen, aber so sehr man sich die Nase auch an der Fensterscheibe platt drücken mag, die Gardine schluckt sämtliche Blicke und die Handlungen bleiben diffus. Diese halbtransparente Gardine ist Lehrs |“funkelnde und souveräne Sprache“|.

Er wirft mit Fremdwörtern um sich, konstruiert verschachtelte Sätze, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen suchen und sich auch schon mal über Zweidrittel der Seite erstrecken, um an anderer Stelle dann mit unvollständigen Dreiwortsätzen daherzukommen. Obendrein verwirrt er den Leser mit seiner abstrakten Symbolik. Manche Passagen muss man zwei- oder dreimal lesen, nur um sie dann immer noch nicht so ganz verstanden zu haben.

Es wirkt so, als wäre es Lehr gar nicht so wichtig, ob der Leser ihn versteht oder nicht. Er scheint in irgendeiner abgehobenen Sphäre sprachlicher Selbstverliebtheit seinem Ego zu frönen. Und so kann man es eigentlich keinem Leser verübeln, wenn er das Buch nach wenigen Kapiteln bereits entnervt aus der Hand legt. Lehr verlangt dem Leser enorm viel ab, sowohl mit seinen sprachlichen Mitteln und dem verwirrenden, ironischerweise in der Zeit sprunghaften Erzählstil, als auch mit den vielen unverständlichen Begriffen, für die er nicht einmal ein Glossar anhängt. Während der Lektüre hin und wieder den Fremdwörterduden zu konsultieren, ist also durchaus ratsam.

Was den potenziellen Leser sprachlich erwartet, sei an einem Beispiel verdeutlicht: |“Dass ich für Karins Aufenthalt die gesamte deutsche Ostseeküste in Erwägung ziehen musste, gab ich den anderen preis, nicht aber – und wie auch? -, dass ich ein zerrissener Mann war, verschlagen auf die calvinistische Insel der Zeitschiffbrüchigen mitsamt einem befreundeten Arbeitskollegen und dessen Frau, die ich wenige Wochen zuvor in einem Fotolabor aus beruflichen Gründen aufgesucht und unversehens geküsst hatte in einem diffus glättenden, plötzlich mitleidlosen und pornografischen Rotlicht, das uns die Geschlechtsorgane freilegen ließ und hastig bearbeiten, für beide Seiten wohl erschreckend professionell, wie routinierte Lustnotfallhelfer, die vor nichts zurückschrecken dürfen (das aus der Hülle gleitende stumpfe Skalpell, der Tränengeschmack deiner klaffenden violetten Wunde, später, auf meinen Fingerkuppen) und keine Zeit zu verlieren zu haben, zu Recht, denn wir hatten nur wenige Minuten, bevor Annas Handy uns zur Vernunft brachte oder zur Feigheit bis auf den heutigen Tag, an dem uns kein elektrisches Klingeln mehr aufschrecken kann und nichts an Zeit mehr zu versickern oder wegzudriften scheint, wenigstens in dem enormen räumlichen Außerhalb jenseits unserer Körper.“| (S. 102/103) Das war in der Tat nur ein einziger Satz …

Lehrs sprachliche Mittel erschaffen in jedem Fall eine Distanz zum Leser. Man tut sich nicht nur schwer, die Handlung nachzuvollziehen, auch die Figuren rund um die Hauptfigur Adrian bleiben einem seltsam fremd, fast schon gleichgültig. Man fiebert nicht mit, staunt höchstens über die Welt, durch die die Protagonisten wandeln. In manchen Momenten kommt man nicht umhin, Lehrs Umschreibungen der eingefrorenen Welt als treffend zu bezeichnen. In Momenten, in denen man ihm folgen kann, geht von seinen Worten in der Tat eine gewisse Sprachgewalt aus. Doch das sind eher seltene Glanzpunkte in einem ansonsten oft fast hoffnungslos verworrenen Erzählstil.

Auch der Spannungsbogen hat darunter zu leiden. Ist es erst noch die Betrachtung der Menschen, die teils auf wirklich groteske Weise erstarrt sind, die den Leser fasziniert, so verliert sich dieser Effekt mit der Zeit und die Handlung dahinter tut sich etwas schwer damit, in Fahrt zu kommen. So wenig, wie der Leser anfangs in die Handlung eintauchen kann, so wenig wird er auch durch einen spannenden Handlungsverlauf bei der Stange gehalten.

Das ist alles sehr bedauerlich, in Anbetracht eines preisgekrönten Autors, eines prämierten ersten Kapitels und eines immerhin für den Deutschen Buchpreis 2005 nominierten Romans. „42“ ist in jedem Fall ein Paradebeispiel dafür, wie Lesereindruck und hochrangige Literaturkritik in ihrer Einschätzung divergieren können.

„42“ dürfte die Meinungen sehr stark spalten, denn entweder man bewegt sich als Leser in der gleichen Sphäre wie der Autor und kann ihm folgen, oder man findet erst gar keinen Zugang zu seinem Werk. Hier scheint es nur diese beiden Extreme zu geben (wie beispielsweise auch ein Blick auf die Kundenrezensionen bei Amazon.de offenbart) und in meinem Fall ist bedauerlicherweise das Letztgenannte zutreffend. Schade, denn das gesamte Szenario ist für sich genommen außerordentlichen vielversprechend.

[Verlagsseite zum Buch]http://www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=5326

Büchner, Barbara – toten Weiber von Wien, Die

|Was hat Dr. Strunzl mit dem toten Adonis vor?

In Sonja Roths Villa am Stadtrand von Wien kommt es zu seltsamen Vorfällen, seit die Autorin von Heftromanen ihr Hinterhaus einem verschrobenen Historiker vermietet hat. Dieser Dr. Heribert Strunzl führt offenbar Experimente durch, die nicht jeder sehen soll. Dazu braucht er die Asche berühmter toter Wienerinnen – sowie die Überreste des gefeierten Musical-Stars Adonis Götterl. Strunzls geheimer Plan ist grausig – doch er hat die teuflische Rechnung ohne Sonja und ihren Hausfreund Harry gemacht …|

_Barbara Büchner_ wurde 1950 in Wien geboren. Seit 1972 ist sie als freie Journalistin und Schriftstellerin tätig. 1985 Ausbildung zur Dokumentarin. Ihr Hobby: künstlerische Grafik. Zahlreiche Publikationen: Kurzgeschichten, Kriminalgeschichten, Romane und Jugendbücher. 1977 Verleihung des Staatspreises für journalistische Leistungen im Interesse der Jugend durch das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Wien. Für „Abenteuer Bethel – Das Recht auf Leben“ wurde die Autorin in die Ehrenliste zum österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis aufgenommen, ebenso in die Ehrenliste zum Katholischen Kinderbuchpreis 1993.

Barbara Büchner versteht zu schreiben. Das wissen die Leser ihrer Bücher. „Die toten Weiber von Wien“ ist wieder einmal ein Werk der Wiener Autorin, das die ganze Bandbreite ihres schriftstellerischen Könnens in sich vereint: Humor, filigrane Schreibkunst, Spannung, ungewöhnliche Plotstrukturen und vieles mehr.

Der Titel handelt von einem verschrobenen Historiker (Dr. Heribert Strunzl), der das Gartenhaus der Villa der über fünfzigjährigen Heftromanautorin (Sonja Roth) mietet, um dort höchst morbide Experimente durchzuführen. Doch Sonja, die zuerst erfreut über den vermeintlich älteren und ruhigeren Wissenschaftler war, und ihr Hausfreund (Harry, ein gescheiterter Englischlehrer mit Hang zu Drogen, der sich von betuchten älteren „Damen“ aushalten lässt) bemerken sehr schnell, dass mit dem Professor, der ständig dick vermummt herumläuft, irgendetwas nicht stimmt, versuchen ihm auf die Schliche zu kommen, decken auf, dass es wohl einen Zusammenhang zu Grabschändungen der Vergangenheit gibt und geraten in tödliche Gefahr …

Was Barbara Büchner wie keine andere beherrscht, ist die hohe Kunst, verschiedene Plotelemente zu verknüpfen; so geschickt, dass sie einen nahtlosen Übergang hinbekommt. So auch in diesem Roman. Das ist die wahre Größe, die diese Autorin ausmacht.

Zum einen folgt der Leser Sonja und Harry auf den Spuren des nekrophilen und okkulten Wiens und erfährt so eine Menge über die Geschichte der Stadt. In die spannend erzählte Gruselkrimistory hat die Autorin geschickt Lokalgeschichte, Sagen, Anekdoten und historische Kriminalfälle der Stadt Wien in die Handlung eingeflochten. Das macht eine Besonderheit dieses Buches aus.

Aber nicht nur das. Auch die ganze „spezielle“ Beziehung zwischen der Protagonistin Sonja Roth und ihrem erheblich jüngeren Liebhaber verleiht der Erzählung eine besondere Note. Obwohl ihr sehr wohl bewusst ist, dass er sich finanziell von ihr aushalten lässt – |“Unglaublich, was ein Mann alles aus seinen Lenden herausholen kann, wenn er befürchten muss, mitten im eiskalten Wasser auf die Straße gesetzt zu werden!“| ­– und er im Bett nicht unbedingt der „Bringer“ ist – |“und die Leistungen im Bett ließen ebenfalls sehr zu wünschen übrig. Ein Mann, der im Geist mit Dämonen kämpft, kann sich nicht auf seinen Schwanz konzentrieren.“| –, präsentiert sich die Beziehung durchweg positiv. Und gerade diese beschreibt die Autorin so sympathisch – |“… aber Männer neigen sehr schnell dazu, sich für unersetzlich zu halten, sogar Männer wie Harry, und eine kleine Beunruhigung hin und wieder tut ihnen nur gut …!“| – und humorvoll, dass der Leser das ungewöhnliche Paar sofort ins Herz schließt. Besonders amüsant sind die erotischen Szenen, weil die Autorin in ihnen ihren besonderen Humor unter Beweis stellen kann. Offen, aber nicht bis ins kleinste Detail, genau die Dosierung, die gute Unterhaltung ausmacht.

An diesem Buch stimmt einfach alles, und Barbara Büchner zeigt damit wieder einmal, dass sie eines wirklich kann: |schreiben|! Einen Satz der Autorin kann ich nur unterstreichen, habe ich ihn mir auch längst auf die Fahne geschrieben: |“Ich finde, eine wirklich emanzipierte Frau hat es gar nicht nötig, ständig auf ihre Stärke zu pochen. Nur die Starken haben den Mut, sich beschützen zu lassen.“|

Gilbert, David – Normalen, Die

Wenn man sich anschaut, mit wem die englischsprachige Presse David Gilbert nach seinem Debütroman „Die Normalen“ so alles in eine Schublade gestopft hat, dann fallen eine Menge großer Namen: Douglas Coupland, Bret Easton Ellis, T.C. Boyle, Don Delillo und noch einige andere mehr. Coupland selbst ist ein erklärter Fan von Gilbert, und Gilbert höchstselbst wurde die Ehre zuteil, für Don Delillos „Endzone“ das Drehbuch zu schreiben. Gilbert ist also ein Autor, der schon mit Erscheinen seines Debütromans für Furore sorgt und auch von den Kollegen seiner Zunft Respekt erntet. Grund genug, David Gilberts vielgepriesenen Debütroman einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Hauptfigur der Geschichte ist Billy Schine. Billy treibt ziellos durchs Leben. Er hat einen brillanten Harvard-Abschluss, ohne jemals etwas daraus gemacht zu haben. Er sitzt seine Zeit mehr oder weniger leidenschaftslos in einer Zeitarbeitsfirma ab, in einem Job, für den er hoffnungslos überqualifiziert ist. Das Verhältnis zu seiner Freundin Sally dümpelt ähnlich antriebslos vor sich hin. Obendrein ist Billy noch hochverschuldet, weil er sich mit seinem Harvard-Studium finanziell verhoben hat.

Billy entzieht sich gerne der Welt, bleibt gerne in den eigenen vier Wände und macht, wenn es um Krankheiten geht, aus einer Fliege einen Elefanten. Er liebt das Kranksein und die Bettruhe, aber natürlich nur, weil er sich bester Gesundheit erfreut und noch nie wirklich ernsthaft krank war. Doch Billys Leben kann nicht ewig so unmotiviert vor sich hin plätschern. Das merkt Billy, als die Geldeintreiber Ragnar & Sons einen zunehmend raueren Ton anschlagen und Billy in seiner Phantasie deren Schlägertrupp schon vor seiner Wohnungstür sieht.

Doch dann bietet sich Billy eine fantastische Gelegenheit, für einige Zeit abzutauchen. Er meldet sich beim Pharmakonzern Hargrove Anderson Medical als freiwillige Versuchsperson für einen Medikamententest. Zwei Wochen in einem hochgesicherten Medizinlabor mit Unterkunft, Vollverpflegung und 2.000,- Dollar Vergütung. Da lässt Billy sich gerne mal für vierzehn Tage mit einem atypischen Psychopharmakon zur Behandlung von Schizophrenie voll pumpen.

Wie Billy schon bald feststellt, ist er nicht der Einzige, der in der Klinik dem wirklichen Leben aus dem Weg zu gehen versucht. Was Billy in diesen vierzehn Tagen erlebt, ist sowohl schräg als auch absonderlich, tragikomisch und erschütternd …

Mit „Die Normalen“ ist David Gilbert ein wirklich erfrischender Debütroman geglückt, der bei Freunden moderner amerikanischer Literatur noch einigen Zuspruch finden dürfte. So leidenschaftslos Billy auf den Leser auch wirken mag, das bunte Treiben, das Gilbert anhand seiner Hauptfigur in den abgeriegelten Trakten der Versuchsklinik beschreibt, hält für den Leser so einiges bereit und ist durchaus mitreißend erzählt. Es ist sowohl die komische Seite des Lebens, die sich hier offenbart, als auch die tragische.

Es sind einige faszinierende Widersprüchlichkeiten des Lebens, die mit Billys Betreten der Versuchsklinik zutage treten. Auf der einen Seite ist seine Teilnahme an der Studie ein Versuch, sich dem Leben zu entziehen, auf der anderer Seite fordert er es auf provokante Art heraus. Einerseits zeigt er mit dem Verlassen seiner verfahrenen Lebenssituation den Ehrgeiz, sein Leben neu zu ordnen, andererseits setzt er sich mit seiner Teilnahme am Medikamententest in ebenso großem Maße einer gesundheitlichen Gefahr aus. Für Billy, den Hypochonder, ist der Klinikaufenthalt gleichzeitig eine Erfahrung, die er auf seine Art genießen kann. Er kann krank feiern, ohne krank zu sein.

Hinter den Türen trifft Billy auf eine ganze Reihe skurriler Figuren, die in erheblichem Maße zum Unterhaltungswert des Romans beitragen. Da wäre Lannigan, der überdrehte Schauspieler und Zimmergenosse von Billy, da wäre Do, der eigentümliche Hinterwäldler, die beiden aggressiven Cousins Ossap und Dullick, der abgehalfterte Trinker Rodney, der merkwürdige Frank, für den Schusswunden der größte Kick sind, und nicht zuletzt die geheimnisvolle Gretchen, die als einzige Frau in der Männerrunde stets faszinierend für Billy bleibt und zu der er ein ganz besonderes Verhältnis hegt.

Gilbert nutzt die Abgeschiedenheit seiner Hauptfigur vom Rest der Welt obendrein zu einem Blick auf die Gesellschaft insgesamt. Billys Nabel zur Welt ist der Fernseher, über den er an all dem teilhaben kann, was die Nation bewegt. Insbesondere das Spektakel und der Massenkult um einen Gehirntumorpatienten, dessen Gehirnscan dem Grabtuch von Turin ähnelt, wird stetig verfolgt und treibt immer absurdere Blüten. Gilbert erzählt seine Geschichte mit einem Blick für die Absurditäten der heutigen Gesellschaft und würzt sie mit einer großen Prise Ironie. Billy bleibt der stetige Beobachter, den kaum ein Ereignis aus seiner Lethargie zu reißen vermag. Das lässt das Absurde noch absurder erscheinen.

Die Versuchsreihe, an der Billy teilnimmt, das ganze Versuchsprozedere, das ständige Rätseln darüber, wer ein Placebo verabreicht bekommet und wer das wirkliche Medikament, das ständige Lauern auf Nebenwirkungen bei sich und anderen Probanden, dominiert die Schilderungen über das Leben in der Klinik. Billy erduldet all das weitestgehend teilnahmslos. Während um ihn herum so langsam alle verrückt zu werden scheinen, wirkt Billy wie ein ruhender, gleichgültiger Polt der Beständigkeit. Als solcher, herausgelöst aus Familie, Leben und Gesellschaft, eignet er sich hervorragend für Gilberts gesellschaftliche Betrachtungen und ironische Seitenhiebe.

Die Konstruktion der Geschichte ist gut durchdacht und geht voll und ganz auf, was den Roman besonders reizvoll macht. Nachdem sich der Leser an der Skurrilität der Welt der Versuchsklinik und der Testperson ergötzt hat, mischt Gilbert eine zunehmend tragische Komponente in die Geschichte. Billy versucht mit seinem Aufenthalt, der Welt und seinem Leben zu entrinnen, aber das Leben, das er draußen zurückzulassen glaubt, holt ihn schließlich ein und nimmt eine durchaus tragische und gleichsam glaubwürdige Wendung.

Zusammen mit Gilberts bravouröser und erfrischender Erzählart ergibt diese wohl überlegte Konstruktion der Geschichte einen wirklich stimmigen Roman. Gilberts Beschreibungen treffen den Nagel auf den Kopf und individuelle, absolut treffende Wortschöpfungen sind das Sahnehäubchen, mit dem Gilbert seine augenzwinkernde Erzählweise garniert.

Gilbert überzeichnet immer wieder, insbesondere bei der Beschreibung seiner teils grotesken Figuren innerhalb der Klinik, ohne dass diese Überzeichnung zu einem Makel wird. Die ganze Situation des Medikamententests, der ganze Alltag der Versuchskaninchen ist schließlich für sich genommen absurd genug, um diese Überzeichnung tragen zu können, und da die Schilderung nicht ins Lächerliche abdriftet, trägt sie obendrein erheblich zum Unterhaltungswert des Romans bei.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass David Gilbert mit „Die Normalen“ einen absolut lesenswerten Debütroman abgeliefert hat. Sein Stil ist flott und erfrischend, seine Schilderung gleichsam komisch wie tragisch. Gilbert hat einen Roman geschaffen, der trotz der Kuriosität seiner Handlung auch einen treffenden Blick auf Leben und Gesellschaft wirft. „Die Normalen“ dürfte all diejenigen erfreuen, die auch Douglas Coupland, T.C. Boyle und Jeffrey Eugenides schon mit Begeisterung gelesen haben.

Wolfe, Tom – Ich bin Charlotte Simmons

Gerne wird Tom Wolfe als Amerikas „Mr. Zeitgeist“ tituliert. Ein Autor, der seinen Finger in die Wunden der heutigen Gesellschaft legt, der die gesellschaftlichen Strömungen auseinander nimmt und dadurch tiefere Einblicke vermittelt. Genau das will er auch mit seinem neuesten Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ wieder erreicht haben. Ein Buch, das schon seinem äußeren Anschein nach den Eindruck vermittelt, dass Wolfe durchaus ein literarisches Schwergewicht ist – und das nicht nur, weil der Schmöker ein stolzes Kilo auf die Waage bringt.

Charlotte Simmons ist jung, beneidenswert intelligent und der Stolz von Lehrerschaft und Eltern. Sie schafft mittels Stipendium den Sprung aus einem kleinen 900-Seelen-Kaff in den Bergen North Carolinas an die traditionsreiche Elite-Uni Dupont in Pennsylvania. Für Charlotte geht damit ein Traum in Erfüllung. Endlich findet sie die richtige Heimstatt für ihren überragenden Intellekt. Sie wird auf den Olymp des Wissens ziehen, um mit unzähligen Gleichgesinnten Wissenschaft, Kultur und Bildung zu frönen.

Doch kaum hat das Provinzmädchen sein Studium angetreten, wird es auch schon von der grausamen Realität eingeholt. Der erhoffte Olymp des Wissens entpuppt sich als Paradies der Stumpfsinnigen, die Sex und Alkohol „studieren“. Charlotte ist entsetzt. Hier bringen nicht gute Noten Ansehen und Respekt, sondern nur die angesagtesten Klamotten, ungehemmter Alkoholkonsum bis zur Besinnungslosigkeit und sexuelle Freigiebigkeit. Charlotte, im so genannten „Bible-Belt“ aufgewachsenen und religiös erzogen, ist selbstverständlich noch Jungfrau und würde niemals auf die Idee kommen, Alkohol zu trinken.

Doch auch das Mauerblümchen Charlotte bleibt zu ihrem eigenen Entsetzen vor den Avancen männlicher Studenten nicht verschont, und so sieht sie sich schon nach wenigen Wochen von drei Verehrern umgarnt: Hoyt, dem coolsten Typen auf dem Campus, Jojo, dem weißen Star der Basketballmannschaft, und Adam, der sich für den letzten Intellektuellen am Campus hält. Charlotte entscheidet sich für den Falschen und braucht lange, um sich von der daraus resultierenden Depression zu erholen …

Der Plot klingt zunächst sehr vielversprechend. Wolfe verspricht schonungslos die vorherrschende Jugendkultur zu demaskieren und ganz nebenbei noch mit dem aktuell in Amerika schwelenden Kulturkampf zwischen dem Konservativismus des Mittleren Westens und dem Liberalismus von Ost- und Westküste abzurechnen. Damit packt Wolfe wieder mal ein heißes Eisen an und wird seinem Ruf als „Mr. Zeitgeist“ gerecht.

Wolfe, dessen Wurzeln im Journalismus liegen und der in den Sechzigern zu den Begründern des sogenannten „New Journalism“ gehörte, der den vorherrschenden Reportagestil mit literarischen Stilelementen versetze, scheint hier einen Themenkomplex gefunden zu haben, der genau nach seinem Geschmack ist. Allein optisch könnte der Kontrast zwischen dem Autor und seinen Figuren kaum größer sein: cremefarbene Maßanzüge gegen Schlabberhosen und schief sitzende Baselballkappen.

Der Stoff, der „Ich bin Charlotte Simmons“ zugrunde liegt, bietet in jedem Fall eine Menge Potenzial für eine gleichsam kritische wie auch provokante und ironische Betrachtung. Die ersten Kapitel scheinen dann auch diesen Eindruck zu bestätigen. Wolfe betrachtet zunächst Charlotte in der Provinz und vor allem die Distanz, die dort zwischen Charlotte und ihren Mitschülern herrscht: die Intelligente und der Provinz-Pöbel.

Schon Charlottes Umzug an den Campus von Dupont offenbart ganz neue Gegensätzlichkeiten. Charlotte tritt in eine völlig neue, völlig fremde Welt ein. Schon in ihrem Zimmer trifft sie auf einen Gegensatz, der größer kaum sein könnte. Zimmergenossin Beverly ist all das, was Charlotte nicht ist: reich, weltmännisch, attraktiv, ständig umworben, mit allem neumodischem Schnick-Schnack ausgerüstet und beliebt. Wie Wolfe diese beiden gegensätzlichen Charaktere und ihre Familien aufeinander prallen lässt, wie die Handelnden miteinander umgehen, das macht die ersten Kapitel durchaus zu einem gewissen Lesevergnügen.

Wolfe beobachtet des bunte Treiben am Campus von Dupont mit geradezu pedantischer Genauigkeit und mit einer Detailbesessenheit, die manchmal schon an die Grenze des Vertretbaren stößt. Seitenweise widmet er sich der Dynamik eines einfachen Basketball-Trainingsspiels. Haarklein nimmt er jede Bewegung der Spieler auseinander, seziert ihr Innerstes und beweist damit, dass er sich auf genaues Schildern versteht und dass er dem Leser damit tiefe Einblicke ermöglichen kann.

Dennoch hat man manchmal das Gefühl, er würde in seiner Pedanterie ein wenig über das Ziel hinausschießen. Viele Szenen wiederholen sich, bestimmte Themen werden immer wieder ausführlichst durchgekaut, wie z. B. die Verwunderung der Intellektuellen über die Sportbegeisterung der Mitstudenten. Manchmal hat man dabei das Gefühl, dass Wolfe irgendwie immer seinen eigenen Intellekt heraushängen lässt. Unzählige Beschreibungen durchtrainierter Basketballerkörper, in denen immer wieder alle möglichen Muskelpartien einzeln benannt werden. Ist ja schön, dass Tom Wolfe so gut Bescheid weiß, aber manchmal täte er gut daran, das nicht immer krampfhaft in die Geschichte einbinden zu wollen, um die Handlung mit einem etwas dynamischeren Erzählfluss zu versehen.

Die Thematik an sich bietet Stoff für jede Menge provokanten Witz, für die Ironie der Gegensätzlichkeiten des Alltags, aber durch Wolfes übertriebene Genauigkeit in seinen Schilderungen gerät der Erzählfluss mitunter ein wenig zäh. Seine genauen Beschreibungen mögen noch so meisterhaft sein, sein Blick mag noch so gnadenlos die Mechanismen des Campusgeschehens sezieren, irgendwie fehlt dem Ganzen in letzter Instanz dann doch der gewisse Biss. Etwas schnellere Schnitte und eine etwas flottere Gangart hätten sicherlich Wunder gewirkt und dem Roman seine teilweise kaum zu leugnende Langatmigkeit genommen.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Figuren. Wolfe wechselt immer wieder die Perspektive, schlüpft mal in die Rollen der drei Charlotte-Verehrer Hoyt, Jojo und Adam und erzählt dann wieder aus Charlottes Sicht. Alle vier Hauptfiguren wirken wie wandelnde Klischees: Hoyt, der Aufreißer, Jojo, der „Anabolika-Trottel“, Adam, der intellektuelle Streber und Charlotte, das Mauerblümchen und naive Landei. Eine Entwicklung lässt sich an den Hauptfiguren nur zum Teil und dann auch nur in Ansätzen ablesen, die meisten bleiben stumpfe Stereotypen.

Ein weiteres Problem bringt die Figur der Charlotte mit sich. Man mag ihr das Entsetzen über die ach so grausame, freizügige Realität des Campuslebens nicht so recht abkaufen. Wie weltfremd muss ein Mensch sein, um beim Anblick Tanzender auf einer Party schockiert festzustellen, dass auf der Tanzfläche quasi Geschlechtsverkehr simuliert wird? Auch die Simmons haben zu Hause schließlich einen Fernseher. Wie kann eine Charlotte also entsetzt sein, wenn jemand „Scheiße“ oder „Fuck“ sagt? Man wird das Gefühl nicht los, dass in Charlottes Kopf ein alter Mann hockt, der ihr das schockierte Entsetzen souffliert. Und dieser alte Mann kann dann eigentlich nur Tom Wolfe sein, der ja schließlich auch schon jenseits der Siebzig ist.

Diese Diskrepanz zwischen der konservativen Hauptfigur und der liberalen Realität mag vielleicht den aktuell in den USA tobenden Kulturkampf karikieren, aber ihn anhand einer Charlotte Simmons in dieser Form zu vollziehen, nimmt ihm ein wenig von der provokanten unterschwelligen Kritik. Und so wirkt das Ganze mehr wie der mahnende Zeigefinger der Großeltern, die über den Verfall von Kultur und Sittsamkeit der Jugend besorgt sind. Der Roman selbst verliert so einiges von seiner Schärfe.

Bleibt zusammenfassend ein etwas durchwachsener Eindruck im Gedächtnis. Tom Wolfe weiß mit Worten umzugehen, besitzt eine außerordentlich genaue Beobachtungsgabe und versteht sich darauf, das gesellschaftliche Leben messerscharf zu sezieren. Dennoch wird die Freude an „Ich bin Charlotte Simmons“ auch durch einige Schwächen getrübt. Stellenweise wirkt der Roman ein wenig langatmig, die Figuren sind wandelnde Klischees und bleiben auch am Ende nur als Stereotype in Erinnerung, und Wolfes „schonungsloses Demaskieren der Jugendkultur“ wirkt aufgrund der übergroßen Portion Naivität einer Charlotte Simmons nicht immer ganz glaubwürdig und bissig genug.

Haas, Marc Alexander – Dunkelheit der Tage, Die

|“Viele hatten sich anfangs ein organisches Dunkel vorgestellt, eine pulsende Bauchhöhle der Metropole, eine tropfende, schleimabsondernde Peristaltik, die nach Licht und Zellen griff, die sich von Ausscheidungen nährte und nie gesehene blasse Kreaturen gebar, um eine erdabgewandte Seite zu bevölkern. Nässe und Moder hatten sie erwartet, rätselhafte Geschöpfe, transparente Schädellose, die in schwarzen Pfützen wimmelten, Altäre der Nacht metertief unter der Stadt.“|

Marc Alexander Haas‘ Roman „Die Dunkelheit der Tage“ erzählt die Geschichte einer Stadt und seiner eigentlich so alltäglichen Bewohner. Wir begegnen Maria, die sich nach der Trennung von Eric zu ihrer Freundin Greta in deren Kneipe flüchtet und die bei einem kleinen Zwischenfall im Supermarkt nicht nur den Obdachlosen Elias kennen lernt, sondern auch Henri, in den sie sich verliebt. Henri ist nach einem Brand arbeitslos und nimmt daher gezwungenermaßen einen Aushilfsjob auf dem Schrottplatz an. Er ist zu stolz, um auf das Angebot seines Freundes Tito zurückzugreifen, für ihn zu arbeiten. Maria und Henri nähern sich einander ganz allmählich an, und im Laufe des beschriebenen Jahres erleben wir Höhen, aber auch einige Tiefen ihrer Beziehung mit.

In der Geschichte treffen wir auf Greta, die in Scheidung von Paul lebt, der ihr zunächst noch hinterherläuft, dann aber bald eine neue Freundin hat. Greta ist die Einzige, die an Vincent herankommt. Er ist vielleicht der geheimnisvollste Charakter in der „Dunkelheit der Tage“, denn er taucht nur ganz sporadisch auf, eigentlich ist er stets auf der Suche nach dem tätowierten Mörder seiner geliebten Freundin Lara. Vincent ist ein undurchsichtiger Charakter, an den wir nicht herankommen, da auch seine Bekannten ihn nicht durchschauen können. Dennoch geht von ihm eine Faszination aus, der sich niemand entziehen kann.

Wir lernen Elias kennen, der in einer kleinen Baracke haust, aber immer wieder zugegen ist, wenn sich kleine Dinge ereignen; so passiert ihm im Supermarkt ein kleines Missgeschick, welches nur Henri durch sein beherztes Eingreifen ausbügeln kann. Elias möchte keine Hilfe seiner Freunde und Bekannten annehmen und feiert daher sogar Weihnachten und Silvester bei eisiger Kälte im Freien, aber immer wieder zeigt er seine Hilfsbereitschaft, er assistiert bei einer Geburt und hilft einer gehässigen Frau nach einem Sturz in ihren Rollstuhl hinein.

Dies sind nicht die einzigen Charaktere, die uns vorgestellt werden. Auf weniger als 400 Seiten stellt Marc Alexander Haas uns eine Vielzahl von verschiedenen Menschen vor und erzählt Teile ihrer Lebensgeschichte. So erfahren wir viele ihrer Eigenarten, Episoden aus ihrer Vergangenheit, aber wir erleben auch ihr aktuelles Leben mit. Im Laufe des Jahres in dieser dunkel gezeichneten Stadt werden Menschen begraben, aber wir schauen auch bei einer Geburt zu. Während die Jahreszeiten wechseln, findet also auch ein kleiner Wechsel der Generationen statt. Die Beziehung zwischen Maria und Eric ist vorbei, doch gibt es nach dem Kennenlernen zwischen Maria und Henri neue Hoffnung. So trostlos, wie Marc Haas uns die unbekannte Stadt präsentiert, baut er auch immer wieder kleine Oasen der Zuversicht ein, die die Geschichte leichter verdaulich machen, auch wenn wir sowohl Armut und Obdachlosigkeit als auch Arbeitslosigkeit und Beziehungskrisen miterleben müssen.

„Die Dunkelheit der Tage“ ist die Biografie einer Stadt samt einem Teil seiner Bewohner, viele völlig unterschiedliche Charaktere verfolgen wir und lernen dabei auf der einen Seite den armen Elias kennen, der für sein Überleben betteln gehen muss, aber wir treffen auch Tito, der von seinem vielen Geld Häuser kauft, die er einfach nur verfallen lassen möchte. Der Roman ist ein Wechselspiel aus Zuversicht und Verzweiflung. Nehmen wir beispielsweise Maria und Henri, die sich kennen lernen, als es Maria nach der Trennung von Eric nicht gut geht. An dieser Stelle muss Henri seine Arbeitslosigkeit verkraften, während es für Maria neue Hoffnung auf dem Arbeitsmarkt gibt, da Gretas Exmann ihr eine Ausstellung in Aussicht stellt. Aber kaum hat dieser eine neue Freundin, löst sich diese Hoffnung in Luft auf. Doch Henri kann helfen, denn er weiß sofort, dass Tito Maria helfen kann. Schon geht es mit den beiden bergauf, doch dann muss Henri den Aushilfsjob auf dem Schrottplatz annehmen und erfahren, dass sein neuer Arbeitgeber dubiose Geschäfte tätigt. Wir erleben alleine an diesem Teil der Geschichte ein ständiges Auf und Ab kennen.

Marc Alexander Haas gelingt der Aufbau einer dichten Atmosphäre und die authentische Zeichnung unterschiedlicher Charaktere. Allerdings fordert er viel von seinen Lesern, er überfrachtet seine Erzählweise völlig, sodass wir einen langen Atem brauchen, um uns durch das Dickicht an Adjektiven, Schachtelsätzen und Metaphern zu kämpfen. Viele Kunstworte werden eingefügt, um eine Sprache zu schaffen, die vielleicht in den Kontext passen mag, die ich aber nicht wie andere Rezensenten als musikalisch bezeichnen möchte, sondern als schwafelig und ermüdend. Auch ist die Geschichte völlig zerpflückt durch den ständigen Wechsel der Schauplätze. Kaum begleiten wir eine Figur auf einem Teil ihres Weges, springen wir schon zu einer anderen Person und erleben mit dieser eine Episode. Dieser ständige Wechsel ohne jeglichen roten Faden führt zu Verwirrung und dazu, dass wir Haas‘ Gedankengängen nicht so recht folgen können.

Meiner Meinung nach hätte der Autor sich auf die Zeichnung einiger weniger Charaktere konzentrieren sollen, dann wären sie uns vielleicht näher gebracht worden, aber Haas versucht die Vorstellung zahlreicher Personen auf wenig Raum und unterbricht seine Erzählung oftmals durch Einschübe, die uns inhaltlich nicht voranbringen, sondern in schier unerträglich schwülstiger Art und Weise eine Szenerie beschreiben wollen:

|“Schilf raschelt spröde; blasse, sehnsuchtsvolle Geschöpfe schälen sich aus der Finsternis, während drüben, im Dunkel des anderen Ufers, der Angler kauert. Geduldig bringt er seine Rute aus, schält das Gebein, aus dem er seine Haken schnitzt. Er zieht harlekineske Fische aus dem stillen Gewässer, und neben ihm hockt friedfertig der Tod. Verirrte Gestalten in der formlosen Dämmerung, vertraut und unvorstellbar fern zugleich, wie Karrenspuren aus der Bronzezeit. Ein Nachen liegt für den Wanderer bereit, er schwoit vor einer pulsenden Höhle, einem Gebirge aus Rauchquarz, von einer rätselhaften Lichtsystole durchblutet.“|

Wer sich von derart überladener Sprache nicht abschrecken lässt, sondern sie womöglich als Kunst bezeichnet, und wer die Geschichte einer Stadt und seiner Figuren kennen lernen möchte, der mag sich mit der „Dunkelheit der Tage“ anfreunden können, ich persönlich bin mit der Erzählung nicht warm geworden. Zu zerpflückt erschien mir der Text, zu schwafelig die Sprache und auch das Schicksal der Charaktere berührte mich nicht. Das vorliegende Buch ist kein Unterhaltungsroman, sondern ein schwer verdauliches Stück Literatur, das seine Leser herausfordert und viel Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen benötigt. Leider wird man nicht durch eine interessante Geschichte belohnt, sondern nur durch kleine Episoden verschiedener Charaktere, mit denen man sich nur halbwegs anfreunden kann.

Yves Jansen – Platzeks Häutung

Für viele mag Goethes „Faust“ eine recht angestaubte Angelegenheit sein. Dass sich aus dem Stoff eine lesenswerte Lektüre zaubern lässt, die gar nicht mal anstrengend sein muss, belegt Yves Jansen mit seinem Debütroman „Platzeks Häutung“.

Erik Platzek ist ein mittelmäßiger, eher unscheinbarer Mensch. Von der Ehefrau verlassen, lässt er seine Zahnarztkarriere hinter sich, um fortan in einer mitteldeutschen Kleinstadt als Buchantiquar zurückgezogen vor sich hin zu leben. An Wochenenden gönnt der Eigenbrödler sich immer wieder mal ein entspannendes Wochenende im Luxushotel „Baseler Hof“. Genau dort verbringt er eines Tages eine wilde Nacht mit der mysteriösen Lilith. Zu dem schüchternen Mittvierziger mag das so gar nicht passen.

Yves Jansen – Platzeks Häutung weiterlesen

Goebel, Joey – Vincent

|Per aspera ad astra| – sinngemäß: ohne Leid kein Preis. Kunst kommt von Können, sagen die einen. Grundlage künstlerischen Schaffens ist das Leiden, sagen andere. Leid als Quelle der Inspiration. Für Vincent, die titelstiftende Hauptfigur in Joey Goebels Roman „Vincent“ (Originaltitel: „Torture the artist“), sieht so der Alltag aus. Goebels Roman überspitzt das Treiben der Unterhaltungsindustrie auf der Suche nach einem Weg zurück zu Kunst und Qualität.

Foster Lipowitz ist ein alter Medientycoon. Als Vorstandsvorsitzender des größten globalen Unterhaltungskonzerns hat er jahrzehntelang die Menschheit mit seichten Belanglosigkeiten in Form von Musik, Filmen und Fernsehserien überschüttet. Der oberflächliche Müll der Unterhaltungsindustrie, die immer gleich klingenden Popsongs, der immer gleich aussehenden Popsternchen und die sinnentleerten Leinwandspektakel aus Hollywood haben ihn reich gemacht. Doch vom Krebs gebeutelt, plagen den Mann auf dem Totenbett Gewissensbisse.

Nichts von dem, das er geschaffen hat, ist wirklich von Wert, nichts ist es wert, dass sich die Nachwelt daran erinnern wird, nichts hat die Kulturlandschaft wirklich bereichert. Aber Lipowitz hat einen Plan und die Macht, das zu ändern. Und so hebt Lipowitz ein neues Projekt aus der Taufe: New Renaissance. Das Ziel: Aus hochbegabten Kindern werden Künstler herangezogen, die wahre Meisterwerke erschaffen. Mit ihnen will Lipowitz Qualität und Kunst wieder dem unkritischen und anspruchslosen Mainstream zugänglich machen. Unterhaltung soll wieder niveauvoller werden.

Doch um wirklich große Kunst zu schaffen, müssen die Künstler leiden, denn woher sollen sie sonst ihre Inspiration nehmen. Und so stellt Lipowitz dem jungen Vincent, seinem vielversprechendsten Schüler, Harlan als Manager zur Seite. Der ist fortan als dunkler Schutzengel dafür verantwortlich, dass Vincent ordentlich was zu leiden hat. Dank Harlans gutem, aber stets fürsorglichem Händchen im Quälen und dank Vincents ausgesprochen großartiger Fähigkeiten im Leiden scheint das Projekt ein voller Erfolg zu werden.

Je mehr Vincents Leben in Kummer und Traurigkeit versinkt, desto brillanter wird seine Kunst. Seine Songs werden Hits, seine Fernsehserien Quotengaranten. Bei so viel Leid einerseits und so viel Erfolg andererseits ist das Leben für Vincent ein Wechselbad der Gefühle. Wie soll er dabei sein eigenes Glück verwirklichen? Hat das überhaupt eine Chance?

„Vincent“ ist ein Roman, der sich nicht so leicht in eine Schublade stopfen lässt. Ein eigenwilliges Buch, das sich jeder Kategorisierung zu widersetzen scheint. Die Marketingstrategen in den Chefetagen der Unterhaltungsindustrie, die Goebel mit seinem Roman kräftig aufs Korn nimmt, würden sein Buch wohl als „Tweener“ abstempeln. Ein Buch, das irgendwo einsam zwischen allen Zielgruppen umhertreibt. Keine Chance, so etwas zu vermarkten.

„Vincent“ ist von allem ein bisschen. Ein großer Löffel Satire, eine Prise Utopie, ein Spritzer thrillerhaftes Drama, abgeschmeckt mit einer Messerspitze Herz-Schmerz. „Vincent“ ist ein Roman, der sich jeglichem Vergleich zu entziehen scheint und der auf seine Art einzigartig ist. Nicht zuletzt auch deswegen ist die Lektüre ein ausgesprochener Genuss.

Wer vom Fernsehen enttäuscht ist, wer lieber Stille erträgt als das ewig gleich klingende Radiogedudel und wer im Kino beim Besuch des Action-Blockbusters des Jahres nur müde gähnt, der dürfte sich in „Vincent“ verstanden fühlen. Endlich mal ein Buch, das schonungslos und unterhaltsam den Finger in die Wunde der modernen, globalisierten Unterhaltungsindustrie legt. Alle, denen der Mainstream zuwider ist, werden ihre Abneigungen gegen Pop und Kommerz in diesem Buch manifestiert finden.

Auch Joey Goebel scheint einer dieser Mainstream-Verachter zu sein. Seinen ganzen Frust über die Belanglosigkeiten der Unterhaltungsindustrie scheint er in dieses Buch gelegt zu haben. Gnadenlos zieht er über Popkultur und Fernsehlandschaft her, verreißt Musiker und Fernsehshows und lässt dabei einen gnadenlosen Realitätsbezug erkennen. Diese Aufgabe fällt im Roman meist Harlan zu. Harlan scheint das fiktive Pendant zu Joey Goebel zu sein, was sich auch schon anhand biographischer Parallelen offenbart. Beide touren in jungen Jahren mit einer Band durch den Westen der USA. Beiden bleibt der musikalische Durchbruch verwehrt.

Harlan ist nach seinen ersten Gehversuchen als Musiker von der Unterhaltungsindustrie zutiefst enttäuscht. Seine Plattenkritiken für ein Musikmagazin fallen immer so brutal negativ aus, dass sein Arbeitgeber ihn schließlich feuert. Genau deswegen werden die Macher von New Renaissance auf ihn aufmerksam. Hier bekommt Harlan endlich die Chance, sich seinen Idealen entsprechend zu verwirklichen – als Don Quijote der Unterhaltungsindustrie. Natürlich bringt das moralische Bedenken mit sich. Die Förderung eines begabten Künstlers mag ein noch so edles Ziel sein, die Mittel von New Renaissance sind mehr als fragwürdig.

Harlan mag dafür eingestellt worden sein, Vincent zu quälen, dennoch kümmert er sich stets fürsorglich um den jungen Nachwuchskünstler. Das Verhältnis der beiden hat dadurch einen recht merkwürdigen Charakter. Man schließt Harlan als Leser dennoch ins Herz. Er ist sympathisch und man versteht ihn irgendwie. Harlan ist die eigentliche Hauptfigur. Er erzählt die Geschichte aus seiner Sicht.

Vincent bleibt mehr oder weniger blass. Eine gewisse Distanz bleibt zwar zu beiden Figuren bestehen, da auch Harlan sich nicht bis in den letzten Winkel seiner Seele schauen lässt, doch während man für Harlan in seiner Zwickmühle als Handlanger der Unterhaltungsindustrie und als Retter der Kultur noch Sympathie empfinden kann, bleibt Vincent ein wenig fremd und abstrakt. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Man kennt genügend leiderprobte Künstler, um sich ein Bild von ihm zu machen. Das Kurt-Cobain-Bild auf dem Buchdeckel ist da nur eine mögliche Assoziation, die sich aufdrängt.

Zu Beginn mag man „Vincent“ in erster Linie für eine Satire halten. Der Roman hat seine unverkennbar humoristischen und sarkastischen Seiten. Wenn Harlan in der Chefetage des weltweit wichtigsten Medienkonzerns durch die Fernsehkanäle zappt und gnadenlos über alles herzieht, was dort zu sehen ist, während ihm gegenüber die Menschen sitzen, die genau diesen Unsinn verzapft haben, so ist das schon ganz besonders erheiternd.

Aber darüber hinaus ist „Vincent“ auch die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen Künstler und Mentor, eine Geschichte um wahre Kunst und echte Künstler und nicht zuletzt ein Drama um Liebe, Schwermut, Verlust, Enttäuschung und Ausbeutung. „Vincent“ ist ein Roman, der wunderbar vielschichtig ist, der gleichermaßen unterhält und nachdenklich stimmt, der zum Lachen ermuntert und den Leser rührt.

Dass diese Mischung so gut aufgeht, ist besonders auch Goebels Stil zu verdanken. Ein wenig nüchtern mag er manchmal wirken. Immer wieder streut er Briefe ein oder E-Mails und Texte, die Vincent geschrieben hat. Wie Beweismittel in einem Gerichtsverfahren führt er diese Textschnipsel in seine Erzählung ein, die dadurch einen ganz eigentümlichen und authentischen Charme erhält. Als würde Harlan seine Beichte ablegen. Figuren werden immer wieder anhand ihrer Lieblingsband, ihrer Lieblingsfernsehsendung und ihres Lieblingsfilms vorgestellt und es ist erstaunlich, wie viel das über die jeweiligen Personen aussagt. Hier und da könnte Goebel seinen Stil sicherlich noch weiter verfeinern, aber auch so weiß er schon zu gefallen. Außerdem ist der Mann erst 25, was für die Zukunft noch auf einiges hoffen lässt.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Vincent“ ein außerordentlich erfrischendes und unterhaltsames Buch ist. Eine originelle Geschichte, die sehr gelungen mit einer Mischung aus Satire und Dramatik umgesetzt wurde. Für mich zählt das Buch schon jetzt zu den Toptiteln des Jahres. Joey Goebel ist ein Autor, den man sich ruhig merken sollte.

de Sá Moreira, Régis – geheime Leben der Bücher, Das

„Schmeckt nicht jedem“, diesen Slogan gibt es seit einiger Zeit für eine große Zigarettenmarke. Einen ähnlichen Slogan sollte es auch für Régis de Sá Moreiras dritten Roman „Das geheime Leben der Bücher“ geben. Für wen Bücher nur Gebrauchsgegenstände sind, die am Bahnhofskiosk erworben werden, um eine langweilige Zugfahrt zu überbrücken, für den wird Moreiras Liebeserklärung an die Welten zwischen zwei Buchdeckeln nichts anderes sein als knappe 200 Seiten unverständliches Geschwafel. Für die jedoch, die liebevoll über ihre Reihen von Büchern streichen, Stunden über dem richtigen Ordnungsprinzip der eigenen Sammlung grübeln und Bücher zur Hand nehmen, nur um ihnen etwas Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, für die wird „Das geheime Leben der Bücher“ ein kleines poetisches Meisterwerk sein, das sie in ihrer eigenen Liebe bestärkt.

Der in Paris lebende Moreira hat vor „Le Libraire“, wie der Roman auf Französisch heißt, bereits zwei Bücher geschrieben, doch erst jetzt wurde er ins Deutsche übersetzt. Der |Droemer|-Verlag hat ihn in seiner Reihe „Profile“ herausgebracht, ein Programm für „anspruchsvolle Leser“, wie der Verlag selbst es nennt. Und das beginnt schon bei der Aufmachung: Im schmucken Hardcover kommt der schmale Band daher, mit Goldschrift und in liebevollem Satz. Ein Buch, das man gern zur Hand nimmt und bei dem man erwartungsvoll die Luft anhält, bevor man die erste Seite aufschlägt.

Moreira stellt uns einen namenlosen Buchhändler vor, in einer (ebenfalls namenlosen) Stadt, in der es vor konkurrierenden Buchhandlungen nur so wimmelt. Doch selbst in einem so bibliophilen Ort ist dieser Buchhändler ein Anachronist. Zwischen (vermutlich) Bertelsmann und Weltbild, Hugendubel und Lagerverkauf, besitzt er einen anheimelnen kleinen Laden, der eher eine Erweiterung seines Wohnraumes ist denn ein wirkliches Geschäft. Und so kommt es auch, dass sein Laden immer geöffnet hat und dass er am Schreibtisch seines Buchladens einschläft, wenn der letzte Kunde gegangen ist und aufwacht, wenn der erste Kunde mit einem „Dingelingdingeing“ das Geschäft betritt. Er hat eine sehr eigene Verkaufsphilosophie: Um zu verhindern, dass er versehentlich Schund verkauft, gibt es bei ihm nur Bücher, die er selbst gelesen hat. Darum ist seine Auswahl natürlich begrenzt. Zwar hat er ganze Regalreihen voller Fremdsprachenlehrbücher und ein Regal nur für Ausgaben von „Anna Karenina“, doch nur einen einzigen Reiseführer. Überhaupt fühlt sich der Buchhändler seinen Büchern verpflichtet. Er bietet ihnen ein Heim, er schreitet nachts seine Regalreihen ab, um sie zur Nachtruhe zu betten, er schlägt sie auf, um in ihnen zu lesen … seine Bücher sind seine Freunde und Begleiter und seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Und manchmal verweigert er auch einem Kunden ein Buch, wenn er meint, es sei bei diesem nicht gut aufgehoben.

Überhaupt, die Kunden. Sie sind die treibende Kraft in „Das geheime Leben der Bücher“. Wir erleben nämlich einen Tag im Leben dieses außergewöhnlichen und einsiedlerischen Buchhändlers. So ein Tag läuft nach einem festgeschriebenen Prinzip ab: Ein Kunde betritt den Laden und nachdem er wieder gegangen ist, trinkt der Buchhändler einen Kräutertee. Die Menschen, welche die Buchhandlung betreten, sind skurril, urig, liebenswert. Da wären zum Beispiel die Zeugen Jehovas, die täglich in den Laden kommen, um dem Buchhändler von der Schönheit des Lebens zu erzählen. Oder Gott, der auch schon mal eingeschnappt ist und hinter sich die Tür zuschlägt. Oder die Floristin, die ihre Blumensträuße gegen Bücher tauscht. In kurzen Kapiteln erzählt Moreira so immer eine kleine Geschichte, schildert eine Szene, zeigt uns eine Momentaufnahme.

„Das geheime Leben der Bücher“ ist kein großer Roman, stattdessen ist es eine leise Sammlung von Vignetten um einen Buchhändler, die sich durch ihre Poesie und Einfachheit in das Herz des Lesers schleichen. Von einer Handlung kann hierbei keine Rede sein, es gibt keinen Konflikt und somit auch keine Lösung. Das Buch beginnt und endet – einfach so. Gerade deshalb werden es Buchliebhaber mögen. Es ist eine unaufdringliche Liebeserklärung an die Welt der Bücher, den staubigen Geruch einer alten Buchhandlung und die unerwarteten Entdeckungen, die man zwischen Buchdeckeln findet. Wem diese Gefühlswelten fremd sind, der sollte besser die Finger von de Sá Moreira lassen und sich einer geradlinigeren Lektüre widmen. Alle anderen jedoch werden in Moreira und seinem Buchhändler Verbündete ihrer Leidenschaft finden und „Das geheime Leben der Bücher“ regelmäßig aus dem Regal nehmen – einfach, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

Lolly Winston – Himmelblau und Rabenschwarz

Der Tod ist gemeinhin eine ernste Angelegenheit – todernst sogar. Ein Buch, das sich der „Trauerarbeit“ einer Witwe widmet, muss folglich eine tieftraurige, trockene und gleichsam tränenfeuchte Angelegenheit sein. Aber muss es das wirklich? Dass ein Roman um Tod und Verlust durchaus leichtfüßig, unterhaltsam und witzig sein kann, beweist die Amerikanerin Lolly Winston mit ihrem Debütroman „Himmelblau und Rabenschwarz“.

Sophie Stanton ist 36, als ihr Mann Ethan an Krebs stirbt. Sie ist am Boden zerstört, fällt in eine tiefe Sinnkrise und hat Schwierigkeiten, die einfachsten Dinge des Alltags zu bewältigen. Freunde und Familie versuchen sie aufzubauen, schließlich geht das Leben weiter, doch Sophie mag das nicht glauben und droht zu verzweifeln.

Lolly Winston – Himmelblau und Rabenschwarz weiterlesen

Hall, Sarah – Elektrische Michelangelo, Der

Sarah Hall ist international noch ein eher unbeschriebenes Blatt, in ihrer britischen Heimat wird sie allerdings schon als die |“vielversprechendste neue Stimme der englischen Literatur“ (The Independent)| gefeiert. Ihr Romandebüt „Haweswater“ wurde mehrfach ausgezeichnet und ihr Zweitwerk „Der Elektrische Michelangelo“ wurde 2004 gar für den Booker-Preis nominiert.

Cyril Parks ist der titelstiftende „Elektrische Michelangelo“. Anfang des letzten Jahrhunderts wächst Cy im Seebad Morecambe Bay an der englischen Nordwestküste auf. Seine Mutter führt direkt an der Bay ein Hotel, das überwiegend von lungenkranken Arbeiter aus den nahe gelegenen Industriestädten frequentiert wird. Cy, der schon immer ein talentierter Zeichner war, tritt in jungen Jahren eine Lehre bei Eliot Riley an. Keine gewöhnliche Lehre, schließlich dürfte Tätowierer kein anerkannter Ausbildungsberuf sein. Riley ist ein begnadeter Künstler, aber auch ein notorischer Trinker und ein draufgängerischer Querulant, der keinen guten Ruf genießt. Nur als Tätowierer ist seine Reputation tadellos.

Als Cys Mutter stirbt, nimmt Riley den Jungen ganz unter seine Fittiche. Cy lernt in dieser Zeit viel über die tiefen Abgründe des Lebens und die hohe Kunst des freihändigen Tätowierens. Als Riley dann in den 30er Jahren stirbt, packt Cy die Koffer und schifft sich nach Amerika ein. Sein neues Zuhause wird Brooklyn, der kunterbunte Schmelztiegel New Yorks. Als Tätowierer kommt Cy schon bald auf Coney Island unter, eine eigene Welt, wo das Können eines guten Tätowierer ein gefragter Dienst ist. Auf Coney Island herrscht der ewige Jahrmarkt vor den Toren New Yorks, mit Karussells und Freakshows, mit Zirkus und Hot Dogs.

Hier geht Cy seiner Arbeit nach, tätowiert Meerjungfrauen und Herzen auf Oberarme und trinkt abends im Varga, der Kneipe mit den siamesischen Kellnerinnen, einen Drink – bis die mysteriöse Zirkusakrobatin Grace mit einem äußerst ungewöhnlichen Auftrag an ihn herantritt und Cy sich in sie verliebt …

Schon inhaltlich erzählt Sarah Hall eine Geschichte, wie man sie nicht alle Tage vorgesetzt bekommt. Die Lebensgeschichte eines Tätowierkünstlers ist schon für sich genommen ein literarisch eher seltenes Vergnügen. Halls Figuren stehen fast allesamt am Rande des Gesellschaft. Menschen, die von der Masse belächelt werden, weil sie auf merkwürdige Art anders sind. Hall führt eine Reihe skurriler Figuren in die Geschichte ein. Der eigenbrötlerische Querulant Eliot Riley ist nur einer von ihnen. Auf Coney Island, im Trubel des ewigen Jahrmarkts, lernt Cy noch einige andere wunderliche Typen, allesamt Randerscheinungen der Gesellschaft, kennen. Da wären beispielsweise die siamesischen Zwillinge hinter dem Tresen des Varga, die an der Hüfte zusammengewachsen sind, da wäre das geradezu riesenhafte Pärchen Arthur und Claudia (er Tätowierer, sie Gewichtheberin) und da wäre die geheimnisvolle Grace, die ihre spärliche Wohnung mit ihren Pferd Maximus teilt.

Sarah Hall versteht es, den Leser größtenteils aufgrund ihrer Figurenbeschreibungen bei der Stange zu halten. Spannung im eigentlichen Sinn baut sie kaum auf. Sie unterhält den Leser einzig mit ihren sprachlichen Mitteln und der Figurenzeichnung. Und das ist absolut nicht langweilig. Cy wächst dem Leser schnell ans Herz und auch die übrigen Figuren gehen einem so schnell nicht aus dem Kopf.

Hall widmet sich einem faszinierenden Ausschnitt vom Rande der menschlichen Gesellschaft und erzählt dabei eine Geschichte, die dennoch mitten aus dem Leben gegriffen scheint. Halls Figuren haben Ecken und Kanten. Sie mögen noch so kurios erscheinen und noch so sonderbar wirken, sie wirken dennoch echt. Jeder trägt seine eigene dunkle Seite in seiner Seele, jeder Charakter hat ausgeprägte helle wie dunkle Züge. Die Figuren, die als ganz wesentlicher Bestandteil die Geschichte tragen, sind einer der unumstößlich positiven Aspekte des Romans.

Coney Island mit seinen merkwürdigen Freakshows, die stets darauf bedacht waren, die Andersartigkeit der Darsteller auf dem Silbertablett zu präsentieren, war zur damaligen Zeit für die Menschen ein Fenster zu weiten Welt. Man sah dort Dinge, die man sonst nirgends zu sehen bekam, von Missgebildeten bis zu Kleinwüchsigen. Man konnte staunen und sich ekeln, so dass von der ganzen Insel auch etwas Faszinierendes ausging. Im Zeitalter des aufkommenden Fernsehens und mit zunehmender Abstumpfung der Betrachter, wurden in den 50ern auch nach und nach die Attraktionen von Coney Island eingemottet. In der Rückschau betrachtet, sind sie ein faszinierendes Phänomen, das ein wunderbares Setting für einen Roman bildet und dessen Sarah Hall sich hier bedient.

Eine ähnliche Faszination geht vom Tätowieren an sich aus. Cy ist zu einer Zeit aufgewachsen, als höchstens Seeleute und zwielichtige Gestalten Tätowierungen trugen. Die Kunst, die Cy erlernt, hat einen verruchten, dunklen Charakter, der eine gewisse Faszination abstrahlt. Hall beobachtet das bunte Treiben im Tätowierstudio von Eliot Riley, erzählt kuriose Geschichten um Tätowierungen und Tätowierte, Geschichten zwischen Schönheit, Schmerz und Leidenschaft.

Doch nicht nur die Geschehnisse auf Coney Island und im Tätowierstudio von Morecambe Bay sind interessant erzählt, auch Cys Kindheit ist erzählerisch eine sehr gute Leistung. Der Grund liegt vor allem in Sarah Halls herausragender sprachlicher Fingerfertigkeit. Virtuos jongliert sie mit Worten und zeichnet im Kopf des Lesers farbenprächtige und plastische Bilder – ähnlich unauslöschlich, wie die Bilder, die Cy seinen Kunden mit der Nadel in die Haut ritzt.

Unumstößlicher Mittelpunkt der Geschichte ist Cy. Weitestgehend geht es um seine Arbeit. Sein Gefühlsleben verläuft eher unspektakulär. Er ist ein Einzelgänger, der nicht viele Kontakte pflegt. Eine solche Hauptfigur mag im ersten Moment etwas langweilig wirken, aber Cy geht seinen Weg und der Leser nimmt daran Anteil. Mit dem ersten Auftauchen von Grace kriegt die Geschichte dann genau das, was ihr bisher fehlte. Cy verliebt sich in sie und sie wird innerhalb der Handlung zu seinem Gegenpol. Sie bleibt stets geheimnisvoll, scheint etwas Magisches an sich zu haben, das nicht nur Cy fasziniert, sondern auch den Leser.

Etwas überraschend entwickelt sich der Roman auf den letzten 70 Seiten. Plötzlich kippt die Handlung, tragische Ereignisse nehmen ihren Lauf und erzeugen eine ganz eigene Spannung, die die Handlung zuvor nicht hatte. Es ist ein sehr deutlicher Bruch und im ersten Moment ist man versucht, ihn als unpassend zu schelten. Je näher dann allerdings das Finale rückt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass das Buch genau so eine Wendung vielleicht auch braucht. Der Bruch in der Handlung hat einen gewissen Schockeffekt, aber er hat auch auf Figuren und Handlung genau diese Wirkung und es ergeben sich daraus Dinge, die man bei den Figuren anfangs nicht für möglich gehalten hätte.

Am Ende sind es alle großen menschlichen Gefühle, die der Roman in sich vereint, und das hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. In „Der Elektrische Michelangelo“ spiegeln sich viele Facetten von Liebe, Schmerz und Lebensphilosophie, sowie die dunklen und auch die hellen Seiten der menschlichen Seele wider. Der Roman bekommt dabei trotz seiner kuriosen, „unnormalen“ Figuren etwas Universelles und schafft es deswegen auch, den Leser zu berühren. Letztendlich sind die Typen aus den Freakshows auf dem Jahrmarkt und die tätowierten Sonderlinge auch nur Menschen wie du und ich …

Bleibt unter dem Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Sarah Hall zeichnet sich durch einen wunderbaren, geradezu virtuosen Umgang mit Worten aus. Geschickt zeichnet sie mit Worten lebhafte Bilder und lässt die Lektüre zu wahrem Kopfkino werden. Liebevoll entwirft sie skurrile, aber liebenswürdige Figuren mit Ecken und Kanten, die so wirken, als wären sie direkt aus dem Leben gegriffen. Sie spiegelt die Facetten der menschlichen Emotionen wider und gibt ihrem Roman damit trotz der „Randgruppenthematik“ einen universellen Anstrich. Und zu guter Letzt widmet sie sich auch der geheimnisvollen Frage, was an in die Haut gestochenen Bildern so besonders und faszinierend ist.

http://www.liebeskind.de/

Hennig von Lange, Alexa – Warum so traurig?

Der sympathische Lockenkopf Alexa Hennig von Lange legt dieser Tage mit „Warum so traurig?“ seinen neuen und vielleicht besten Roman vor. Die 1973 geborene Hannoveranerin trat erstmals als „Bim Bam Bino“-Moderatorin in den Neunzigerjahren in Erscheinung. Von der Moderation wechselte sie aber bald in ihren Traumberuf, der Schriftstellerei. Ihr bisher größter Erfolg wurde dann auch gleich das Debüt „Relax“ (1997). Seitdem kamen fast jährlich neue Veröffentlichungen hinzu, darunter das weniger überzeugende „Ich bin’s“ (1999), das mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnete „Ich habe einfach Glück“ (2001), „Woher ich komme“ (2003), „Erste Liebe“ (2004) sowie einige Kinderbücher.

Mit „Warum so traurig?“ kehrt Hennig von Lange einerseits zu ihren Wurzeln zurück, anderseits präsentiert sie sich wie auch schon in „Woher ich komme“ als gereifte Schriftstellerin und Persönlichkeit. „Warum so traurig?“ ist eine Art Fortsetzungsroman des Bestsellers „Relax“. In diesem Roman berichtete die Autorin von einem Paar Anfang zwanzig im Rausch der wilden Neunzigerjahre. Das junge Paar war nicht nur im Liebes-, sondern auch im stetigen Drogenrausch. Die 90er sind jetzt vorbei, Elisabeth, die in „Relax“ nur als „die Kleine“ auftauchte, ist Anfang dreißig und mit ihrem Arbeitskollegen Philip verheiratet. Wie es im Klappentext des Buches treffend zusammengefasst wird, berichtet „Warum so traurig?“ vom Aufwachen, der großen Ernüchterung nach der wilden Jugendzeit.

In der Ehe von Philip und Elisabeth kriselt es. Der Alltag hat sich eingeschlichen und die Erotik zwischen beiden ist eingeschlafen. Während Elisabeth dieses Thema anzusprechen versucht, blockt Philip diese Gespräche ab. Generell wird zwischen beiden wenig geredet, der kurze Trip nach Lissabon, über den sich die Erzählzeit erstreckt, kann dies auch nicht ändern. Vielmehr legt er diese Schwächen noch weiter offen. Elisabeth hatte gar keine Lust auf diese Reise, hält dies aber zurück. Sie ist zur Zeit mit anderen Dingen beschäftigt. Während er sie durch Lissabon schleift, ist sie tief in ihren Gedanken versunken, versucht ihre eigene Vergangenheit zu entschlüsseln. Dabei tauchen immer wieder ihre letzten beiden Beziehungen zu Chris, welcher am Ende von „Relax“ stirbt, sowie Markus, mit dem sie später zusammen war, auf. Auch Philip spielt in diesen durch den früheren massiven Drogenkonsum der Protagonistin bruchstückhaften Erinnerungen eine Rolle. Sie erinnert sich daran, wie es mit beiden angefangen hat und versucht so (vergeblich) den Zauber der ersten Begegnung, der ersten Berührung wieder aufleben zu lassen. „Mein Kopf ist voll von unsortierten Bildern, zusammengeklebt von einander bekämpfenden Gefühlen,“ stellt sie müde fest.

Der in die Beziehung eingekehrte Alltag ist nicht das einzige Problem der beiden. Schnell erfährt der Leser, dass beider Leben in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Sie ist noch mit der Vergangenheit beschäftigt, hat Sehnsüchte und den Wunsch Mutter zu werden; er will nicht auf die Gedankenspiele seiner Frau eingehen und Kinder will er schon gar nicht. Welche Folgen das für die Ehe haben kann, deutet sich an, als man ein befreundetes Ehepaar in Lissabon besucht. Melissa und Rene haben Kinder, und wie sich zeigt, war Philip mit Melissa einmal zusammen. Als Elisabeth nach dem Trennungsgrund fragt, antwortet Philip kühl: „Sie wollte Kinder haben.“

Doch da ist noch mehr, und instinktiv sucht Elisabeth in ihrer Erinnerung danach. Der Leser ahnt, dass die Erinnerung auch die Entscheidung in der Gegenwart bringen wird.

Hennig von Lange zeichnet mit ihrer einfachen und klaren Sprache gefühlvoll das Scheitern einer noch jungen Ehe nach. Während die Gegenwart die Tatsachen abbildet, werden die Ursachen dafür durch die Erinnerungen der Protagonistin zu Tage gebracht. Immer wieder dringt Vergangenes an die Oberfläche und bringt so ein weiteres Teil des Puzzles zum Vorschein. Die Autorin hat es solcherart geschafft, dieser ruhigen, reflektierenden Erzählungen ein erhebliches Maß an Spannung mitzugeben, was den Leser in einem Zuge durch den Roman treibt. Dieses Entknoten der Vergangenheit hat sie in „Woher ich komme“ schon geübt, hier hat sie es zur Perfektion gebracht. „Warum so traurig?“ verfügt auch über die weiteren Zutaten, die einen Hennig-von-Lange-Roman immer lesenswert machen. Wieder wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und es ist wohl die beste Eigenschaft der Autorin, die Gedankengänge der Protagonistin und die Charaktere selbst nachvollziehbar und glaubhaft darzustellen. Sie kreiert die Figuren nicht nur, sie fühlt sich auch in sie hinein, und so geht der Leser vollkommen in der Gedankenwelt und im Blickwinkel der Erzählerin auf.

„Warum so traurig?“ ist das vielschichtigste Buch der Autorin. Mit wenigen Worten stellt sie einen tief greifenden Konflikt dar. Sie bringt die erwachsene Erkenntnis zu Papier, dass die zweifellos vorhandene Liebe zwischen zwei Menschen doch nicht reicht, um eine dauerhaft glückliche Ehe zu führen. Sie zeigt auch, dass Narben Zeit zum Heilen brauchen, die ständige Flucht in die Drogen hat die Wunden nur noch vergrößert. Geradezu zerbrechlich wirkt die Protagonistin, die panische Angst vor dem Tod und dem Vergessen hat. Panisch sagt sie zu ihrem Mann „Liebling, ich werde mein Gedächtnis verlieren!“ Die Angst vor Gedächtnisverlust ist ein wiederkehrendes Motiv in dieser Erzählung und wirkt wie eine Metapher für den Verlust der Jugend, denn „Warum so traurig?“ ist auch ein Abschied von der Jugend. Traurig stellt Elisabeth fest: „So golden und sexy, wie wir es uns erträumten, wird es nie wieder werden.“

Franzen, Jonathan – Schweres Beben

Jonathan Franzen hat sich mit den [„Korrekturen“ 1233 einen Namen gemacht als großartiger Erzähler, der seine Leser auch in Büchern epischer Länge mit nur wenig Inhalt zu unterhalten und zu fesseln weiß. Seine Stärken liegen in einer scharfen Beobachtungsgabe und einem fantastischen Erzähl- und Formuliertalent, die zum Erfolg seines Bestsellerromans deutlich beigetragen haben. Aus verkaufsstrategischen Gründen ist es nur verständlich, dass nun auch Jonathan Franzens frühere Werke ins Deutsche übersetzt werden. „Schweres Beben“ wurde bereits im Jahre 1992 in den USA veröffentlicht und damit neun Jahre vor den „Korrekturen“, sodass man als Leser seine Erwartungen niedriger halten sollte. Allerdings ist dies nach der mehr als erfreulichen Lektüre der „Korrekturen“ nur schwer möglich …

_Erschütternd_

In Massachusetts bebt die Erde. Kaum ist Louis Holland in die Nähe seiner ungeliebten Schwester Eileen gezogen und kaum hat er sich mit seiner Stiefgroßmutter Rita Kernaghan verabredet, platzt dieses Date auch schon wieder, da Rita das einzige Opfer des kleinen Erdbebens geworden ist. Louis‘ Mutter Melanie erbt daraufhin große Aktienpakete des Chemiekonzerns Sweeting-Aldren im Wert von etwa 20 Millionen Dollar. Doch das Unternehmen gerät in die Schlagzeilen, als behauptet wird, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer nicht korrekt entsorgt. Mehrfach erschüttern kleine Beben die Stadt, manchmal sind die Beben so schwach, dass Louis sie gar nicht bemerkt.

Zufällig lernt der 23-jährige Louis die sieben Jahre ältere Seismologin Renée Seitchek kennen, die eine interessante Theorie hat. Bei einer umfassenden Literaturrecherche hat sie nämlich Hinweise darauf gefunden, dass das Chemie-Unternehmen über tiefe Bohrlöcher verfügt, über die eigentlich nach Erdöl gesucht werden sollte. Doch Renée glaubt nicht daran. Sie ist der Überzeugung, dass Sweeting-Aldren seine Abwässer in den Boden pumpt und dadurch diese Erdbeben hervorruft. In den 70er Jahren hatte es bereits eine erste Erdbebenwelle gegeben, die ganz plötzlich aufgehört hat.

Louis und Renée verlieben sich ineinander, doch als die beiden Louis‘ Sachen aus seiner Wohnung holen, damit er bei seiner neuen Freundin einziehen kann, steht plötzlich eine alte Bekannte vor der Tür. Überraschend taucht nämlich Lauren auf, in die Louis einst verliebt war. Geblendet von ihren optischen Reizen, mit denen die bereits 30-jährige Renée nicht mithalten kann, entscheidet sich Louis daher für Lauren. Renée versucht daraufhin auf eigene Faust, Sweeting-Aldren zu überführen und begibt sich damit in große Gefahr. Doch das Schlimmste steht der Gegend rund um Boston noch bevor, denn eine weitere (Natur-)Katastrophe wird die Erde erbeben lassen …

_Franzen goes Brockovich_

Während das erste Erdbeben zunächst noch völlig harmlos wirkt, zumal es so schwach ist, dass kaum jemand es wahrnimmt und es auch nur ein Todesopfer zu beklagen gibt (welches zufällig im angetrunkenen Zustand auf einem Barhocker gestanden und sich beim Sturz tödlich verletzt hat), so spitzen sich die Ereignisse schnell zu, als eine Folge von Erdbeben zu verzeichnen ist. Darüber hinaus scheint mehr hinter den Beben zu stecken als eine natürliche Ursache, denn Renée Seitchek kann anhand wissenschaftlicher Veröffentlichungen plausibel machen, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer in den Boden pumpt und dadurch die Erdbeben auslöst. Doch das Chemieunternehmen ist mächtig, und somit begibt Renée sich unwissentlich bald in Lebensgefahr.

Thematisch zieht sich die Aufdeckung eines großen Umweltskandals durch das ganze Buch und hält ein wenig die losen Handlungsfäden zusammen. Immer wieder entdeckt Renée neue Hinweise auf die dubiosen Machenschaften des Chemiekonzerns und immer wieder bebt die Erde und erinnert die Menschen an die drohende Gefahr. In Art einer Erin Brockovich versucht auch Renée Seitchek, andere Leute von ihrer zunächst abwegig klingenden Theorie zu überzeugen. Die Beweise sind dünn, dennoch verdichten sie sich im Laufe von Renées Nachforschungen.

Jonathan Franzen greift sich hier ein Thema heraus, das auch heute noch brandaktuell ist, da nach wie vor das Problem einer umweltgerechten Entsorgung von schädlichen Abwässern besteht. Unternehmen standen schon häufig unter dem Verdacht, heimlich ihren Müll so einfach wie möglich zu entsorgen. Welche Auswirkungen dies haben kann, zeigt Franzen in „Schweres Beben“ auf.

_Familiengeschichte_

Aber es geht um mehr: Die Umweltthematik taucht zwar immer wieder auf und hat dem Buch auch seinen Titel verliehen, doch wäre Jonathan Franzen nicht Jonathan Franzen, wenn er nicht auch die Geschichte einer auseinander brechenden Familie erzählen würde. In diesem Falle erfahren wir die Geschichte der Familie Holland, die nach dem ersten kleinen Beben einen unerwarteten Geldsegen zu verkraften hat. Während das Erbe den Marihuana-rauchenden Vater kaum interessiert, zerbricht Mutter Melanie fast an der Angst, das Geld wieder zu verlieren. Und während Eileen sich von ihrer nun reichen Mutter gleich eine teure Eigentumswohnung sponsern lässt, geht Louis wieder einmal leer aus. So weit ist dies für den männlichen Holland-Sprössling nichts Neues, denn Eileen kam noch nie mit ihrem eigenen Geld aus und bettelte schon immer (erfolgreich) ihre Mutter an. Aber dieses Mal kommen auch private Probleme hinzu, denn nach einer anfänglich glücklichen Liebelei mit Renée lässt Louis sich zu schnell von der hübschen Lauren den Kopf verdrehen. Auch beruflich läuft es für Louis alles andere als erfolgreich, denn seinen Job bei einem kleinen Radiosender hat er verloren, nachdem ein fanatischer Abtreibungsgegner den Sender gekauft hat. Louis’ Leben hat also ebenfalls schwere Beben zu verkraften, zeitgleich gehen sein Privat- und Berufsleben den Bach herunter und von seiner Familie kann er auch kaum Rückhalt erwarten. Wäre Louis zumindest an seiner privaten Misere nicht selbst schuld, könnte er einem fast leidtun.

Anders als in den „Korrekturen“ setzt Franzen seinen Schwerpunkt ganz klar auf die Vorstellung nur eines Protagonisten, nämlich die von Louis Holland, über den Rest seiner Familie lesen wir nur ganz nebenbei etwas. Neben Louis erhalten auch Renée Seitchek und ihr Kollege Howard Chun eine ausführliche Präsentation, doch während Renée im Laufe des Romans eine wesentliche Rolle spielt, bleibt Howard immer nur im Hintergrund und ist für die Handlung nicht wirklich wichtig. Warum Franzen sich also viel Zeit nimmt, um auch Howard darzustellen, ist mir nicht klar geworden.

_Thematische Überfrachtung_

Jonathan Franzen scheint ein Faible für lange Romane zu haben, „Schweres Beben“ füllt in der deutschen Übersetzung ganze 685 Seiten und ist voll gepackt mit Informationen über die handelnden Personen, die Spekulationen über mögliche Umweltsünder, über Episoden, die die Handlung ausschmücken und auch bestückt mit allerhand Beiwerk. Die Geschichte wirkt etwas zusammenhanglos. An einer Stelle braucht Franzen einen etwa 50-seitigen Exkurs, bei dem er sogar einen Schlenker über die Geschichte der Indianer macht, um Louis zu erklären, welche familiären Verwicklungen die Familie Holland mit dem Chemiekonzern aufzuweisen hat. Oft entsteht der Eindruck, dass Franzen nicht genug zu sagen hat, als dass es 685 Seiten spannend füllen könnte. Während er sein Meisterwerk mit liebevoller Figurenzeichnung ausgestattet hat, die gerne eien solchen Umfang einnehmen konnte, schafft er es nicht, uns die Familie Holland so zu präsentieren, dass sie uns ans Herz wachsen könnte. Familie Lambert war einfach etwas Besonderes, wir haben sie lieb gewonnen, weil sie eigen und ein wenig chaotisch, aber doch so normal war. An Familie Holland ist kaum etwas normal, auch werden einem die Menschen kaum sympathisch, da sie immer wieder von einem Unglück ins nächste geraten und sich dies meist selbst eingebrockt haben.

Kurz: Der Funke mag nicht so recht überspringen. Der Leser wird nicht recht warm mit dem Buch und auch die Figuren erscheinen uns teilweise sehr nervig (wie Lauren) oder unentschlossen (wie Louis). Besonders Louis‘ Verhalten bleibt meist nicht nachvollziehbar, er dreht sich wie die Fahne im Wind und scheint gar nicht zu wissen, was er eigentlich möchte. Zwar ist er erst 23, dennoch würde ich einem selbstständigen jungen Mann in diesem Alter doch etwas mehr Entschlossenheit zutrauen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Franzen oftmals unangekündigt in der Zeit hin- und herspringt. Wir bleiben über lange Strecken stets bei Louis Holland und begleiten ihn überall hin, allerdings auch in seine gedanklichen Ausflüge in die eigene Vergangenheit. So ist es eine echte Herausforderung für den Leser, an jeder Stelle den Überblick zu behalten über die Zeit, in der die momentane Handlung spielt.

_Wortgewandt_

Während Franzen leider keine so mitreißende (Familien-)Geschichte zu erzählen hat, wie ich es mir erhofft hatte, so punktet er deutlich im sprachlichen Bereich. Schon 1992 in seinem zweiten Roman beweist Franzen, dass er mit Sprache umgehen kann. Lange Schachtelsätze, die sich teilweise über ganze Absätze ziehen, sind keine Seltenheit, doch sind sie stets so formuliert, dass man beim Lesen nie den Überblick verliert. „Schweres Beben“ ist wunderbar zu lesen und macht auf sprachlicher Ebene auch einfach Spaß.

An einigen Stellen zeigt Franzen auch hier, dass er den geübten Blick für Kleinigkeiten hat. So beobachtet er oftmals Dinge, die den meisten Menschen gar nicht auffallen würden. Diese Eigenart hat die „Korrekturen“ zu etwas Besonderem gemacht, im vorliegenden Buch ist davon leider noch zu wenig zu spüren. Man merkt einfach, dass Jonathan Franzen erst eine Entwicklung durchmachen musste, bevor er zu solch überzeugendem Erzähltalent gelangen konnte, wie er es in seinem Bestseller bewiesen hat.

_Warten auf einen neuen Franzen_

„Schweres Beben“ kann praktisch nur enttäuschen, will man es doch mit seinem Nachfolgeroman vergleichen. So ungerecht der Vergleich mit einem so viel jüngeren Buch auch ist, so gerechtfertigt erscheint er doch angesichts der Begeisterung, die die „Korrekturen“ ausgelöst haben. Das vorliegende Buch zeigt in Ansätzen, wo Jonathan Franzens Stärken liegen. Natürlich steht auch hier eine kuriose Familiengeschichte im Mittelpunkt des Geschehens, wobei die Handlung zusammengehalten wird durch den vermuteten Umweltskandal der Firma Sweeting-Aldren. Thematisch hat Franzen sein Buch etwas überfrachtet, oftmals schweift er in seiner Erzählung ab und verlangt von seinen Lesern dadurch einen langen Atem. Inhaltlich ist „Schweres Beben“ durchaus interessant und auch hochaktuell, dennoch weiß das Buch nicht mitzureißen. Für die 685 Seiten sind Ausdauer und Durchhaltevermögen erforderlich. Auch wenn „Schweres Beben“ sicherlich nicht schlecht ist, gehört es nicht zu den Büchern, die man unbedingt gelesen haben muss.