Archiv der Kategorie: Rezensionen

Helsing, Falk van – Fall Larry Popper, Der

Wehe, wenn einem (deutschen) Juristen versehentlich ein vermeintliches Kinderbuch statt dem BGB in die Hände fällt und er es peinlich genau durchleuchtet. So geschehen 2004 im |Eichborn|-Verlag, wo ein amtierender Richter sich nicht vor allen Kollegen als Potter-Fan outen möchte und daher unter dem Pseudonym „Falk van Helsing“ J.K. Rowlings Dauerbrenner unter die streng-ironische Lupe nimmt. Nein, ganz so verhält es sich mit dem Pseudo nicht, denn unter diesem hat er schon eine ganze Reihe humoristischer Rechtsbücher veröffentlicht, nicht nur dieses eine.

Heraus kam hierbei diesmal „Der Fall Larry Popper – Juristisches Gutachten über die Umtriebe zaubernder Jugendlicher“. Dabei geht es nicht um eine strafrechtliche Aufarbeitung sämtlicher bisher erschienenen Bände – das wäre sicher zu umfangreich – sondern lediglich Teil 1 „… und der Stein der Weisen“. Pardon. „Larry Popper und der Stein der Meisen“ muss es korrekt heißen.

Da die zugkräftigen Eigennamen mittlerweile alle eingetragen sind und deren Nutzung sicher nicht billig ist, wurde mal eben ein wenig herumgebogen, sodass kein Lizenzinhaber ob etwaiger Copyrightverletzung gepeinigt aufheulen muss, jedoch nur so weit, dass sie erkennbar bleiben. Verdammt praktisch, wenn Juristen sich an an solches Projekt wagen, die sind mit allen Wassern gewaschen. So erkennt der Leser des Buches beispielsweise in Larry, Roy, Herlinde Grips, Hägar, Onkel Verner Dumm, Tante Begonie Dumm und natürlich auch Lord Vieltod die Originalfiguren mühelos wieder.

Das nächste Problem ist der Gerichtsstand. In England/Schottland, wo die „Straftaten“ eigentlich begangen wurden, gilt (Überraschung!) irgendwie kein deutsches Recht. Weswegen das Ganze – etwa die „Warzenschwein-Zauberschule“ – kurzerhand in die „[…] Nähe von Frankfurt“ verlegt wird. Warum, das erklärt der Herr Vorsitzende im Vorwort und belegt seine amüsant-gewagte Hessen-These sogar mit äußerst realen Quellenangaben. Dass ein Teil der „Angeklagten“ noch gar nicht strafmündig ist, wischt er ebenso elegant mit dem Argument beiseite, dass das Strafmündigkeitsalter in Zukunft sowieso von 14 auf 10 herabgesetzt werden soll/wird.

_Inhalt_

Wer meint, Harry Potters Zauberwelt sei niedlich, harmlos und die Handelnden würden für Jugendliche zum Vorbild gereichen, bessere Menschen zu werden, irrt. Gewaltig. Der (meist minderjährige) Leser findet in der Potterschen Lektüre einen wahren Sündenpfuhl vor, mit (Straf-)Taten, deren Nachahmung nicht wirklich geeignet ist ,- es sei denn man möchte bereits im Kindesalter eine steile Knastkarriere starten. Da es Hexerei im deutschen Rechtswesen nicht (mehr) gibt, müssen andere Erklärungen gefunden werden, daher nimmt es sich schon höchst amüsant, wenn Euer Ehren versucht, zum Teil paranormale Vorgänge in ein physikalisch-technisches Beamtendeutsch zu transferieren, um seine Anklageschriften zu erstellen.

So wird etwa aus dem berüchtigten gegen Harrys Eltern eingesetzten „Avada Kedavra“-Todesfluch furztrocken: „Freisetzung von Druckenergien mit ungewöhnlicher Beschleunigung nach außen“, mit Todesfolge versteht sich (strafbar übrigens gemäß §212 StGB). Da der umtriebige Lord dieses zielgerichtet einsetzen kann, wird er nicht wegen „Mord mit gemeingefährlich Mitteln“ verknackt, wohl aber wegen „Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion“ (§308 StGB – paranormale Energien gelten im weitesten Sinne auch als „Explosionsstoff“), „Mord aus niederen Beweggründen“ (§211 StGB) sowieso. Gegenüber Harry macht er sich der gefährlichen, schweren Körperverletzung (die zurückbleibende Narbe – §223 Abs.1, §224 StGB) und versuchtem Mord schuldig. Dass er das Haus in Schutt und Asche legte, bleibt straffrei, weil nach fünf Jahren verjährt.

Doch nicht nur die Großen erwischt es, auch die magischen Dreikäsehochs leisten sich einen Lapsus nach dem anderen. Zwar sind dies meist keine wirklichen Kapitalverbrechen und sollten mit ein paar Sozialstunden wieder ins Lot zu bringen sein, doch das Reiten auf dem Besen (zumal ohne gültige Piloten-Lizenz und nicht von der Prüfstelle abgenommenem Fluggerät) ist ein gefährlicher Eingriff in den Luftverkehr, was nach § 60 Abs. 1 LuftVG nicht ohne ist. Hagrids Einbruch bei den Dursleys in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, zweifacher Sachbeschädigung und Körperverletzung bringt ihn locker drei Jahre hinter Gitter. Ungeklärt bleibt allerdings, ob Dursley die Knarre überhaupt besitzen durfte, die Hagrid ein wenig verformt. Schlampig ermittelt, Euer Ehren!

Snape kriegt wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetzes einen auf die unförmige Runkel – Zaubertränke sind Designerdrogen: hundert Tagessätze Geldstrafe. Harry kommt auch nicht ungeschoren davon, kann aber – summa summarum – für all seine im Roman begangenen Missetaten mit vergleichsweise milden vier Wochen Jugendarrest rechnen. Malfoy, der ebenfalls mit dem Besen durch die Lüfte karriolt, fängt sich dafür zwanzig Sozialstunden ein. Sogar der unbefugt eingedrungene Troll würde wegen Hausfriedensbruchs und versuchtem Totschlags zur Räson gebracht und vor den Kadi gezerrt – notfalls an den Haaren, wenn er denn welche hätte.

_Fazit_

Simple Ordnungswidrigkeiten bleiben in dem 120 Seiten starken Buch gottlob unberücksichtigt, sonst hätte es ohne Zweifel Telefonbuchformat erreicht. Das 7,95 € teure Taschenbuch braucht man nicht in einem Rutsch durchackern, es ist in kleinere Themenkomplexe gegliedert. Leider greift sich der Originalitätsfaktor bereits nach ein paar der Fälle merklich ab, zu sehr gleicht sich das Procedere der Aufarbeitung, und auch die überaus witzigen juristischen Beschreibungen übernatürlicher Begebenheiten zünden irgendwann nicht mehr so wie anfangs. Geeignet ist es zudem nur für kundige Leserschaft, denn ohne Kenntnis des Romans bleibt man außen vor. Somit ist der Fall Larry Popper ein typischer Vertreter der Read-once-and-forget-Fraktion, welches auch der Fan nach einmaligem Lesen vermutlich im Regal verstauben lässt.

http://www.eichborn.de/

Hardebusch, Christoph – Trolle, Die

_Handlung_

Das Land Wlachkis steht unter der Fremdherrschaft des Volkes der Masriden. Die letzten freien Wlachaken führen eine Art Bürgerkrieg gegen die Besatzer. Einer der Widerstandskämpfer, Sten cal Dabran, wird von Zorpad, dem Masridenherrscher, gefangen genommen. Als Strafe soll Sten in einem engen Käfig im tiefsten Wald ausgesetzt werden, um dort den Tod durch wilde Tiere oder etwas Schlimmeres zu erlangen. Und Zorpads Plan scheint aufzugehen, denn als fünf Trolle bei dem Wlachaken auftauchen, scheint dessen Leben wohl beendet. Aber es kommt anders: Nicht nur, dass die Trolle, die eigentlich als ausgestorben gelten, Stens Sprache sprechen können, nein, sie scheinen auch noch intelligent zu sein. Der Anführer der Trolle, Druan, befragt den Widerstandskämpfer über die Menschen.

Da die Trolle normalerweise unter der Erde leben, wissen sie natürlich nur wenig über Menschen und deren Gepflogenheiten. Hinzu kommt, dass die Zwerge, die Todfeinde der Trolle, von eben jenen Menschen Hilfe erhalten, um die Monster auszurotten. So kommt es zu einem brüchigen Pakt: Die Trolle nehmen Sten mit sich, und dieser erzählt ihnen von den Menschen. Doch nicht alle Trolle sind mit dieser Situation einverstanden, so dass der größte und stärkste Troll, Pard, den Menschen lieber tot sehen würde. Auch der Wlachake bemerkt schnell, auf was er sich da eingelassen hat, denn die Trolle sind, obwohl intelligent und sprachbegabt, doch eben unberechenbare Ungeheuer, für die das Leben eines Menschen nicht viel Wert besitzt.

_Der Autor_

Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid, studierte Anglistik und Medienwissenschaften und arbeitete anschließend als Texter bei einer Werbeagentur in Heidelberg, wo er seitdem auch lebt. Sein großes Interesse an Fantasy und Geschichte führte ihn schließlich zum Schreiben. „Die Trolle“ ist sein erster Roman.

_Mein Eindruck_

Christoph Hardebusch hätte es sich wohl wirklich leichter machen können. Seinen Debütroman gleich in einer Reihe mit etablierten Autoren wie Stan Nicholls, Markus Heitz und Bernhard Hennen zu veröffentlichen, ist sicherlich keine leichte Situation für einen „Neuling“. Umso beachtlicher ist das Endprodukt, das er abgeliefert hat: 766 Seiten echtes Fantasy-Lesevergnügen. Wobei ja schon die pure Seitenanzahl ein ordentliches Wort ist. Doch wollen diese auch erst einmal sinnvoll gefüllt werden. Eines im Voraus: Es ist ihm auf beachtliche Art und Weise gelungen!

Mal ganz davon abgesehen, unterscheiden sich „Die Trolle“ schon etwas von den anderen Romanen aus der Reihe. Denn bei Hardebusch spielen die Trolle zwar eine wichtige Rolle, doch ist der Wlachakenrebell Sten der eigentliche Protagonist. Aha, ertappt: Etikettenschwindel, werden sich jetzt einige denken. Nein, dem ist nicht so, eher würde ich es als gelungenes Stil-und Darstellungsmittel beschreiben, denn somit erreicht der Autor, dass man die Trolle aus menschlichen Augen beobachtet und so die Ungeheuer mit gemischten Gefühlen wahrnimmt. Einerseits ist natürlich das Ziel der Trolle – nämlich ihre Rasse vor dem Aussterben zu bewahren – nur allzu verständlich. Andererseits aber sind sie eben trotz alledem Trolle: gefährlich, monströs und unberechenbar. Dieser Zwiespalt betrifft sowohl den Leser, als auch Sten. Dieses von Hardebusch verwendete Stilmittel ist von daher so interessant, da ja speziell die Fantsayliteratur gerne zur Schwarzweißmalerei neigt. So ist etwa bei Tolkien von Anfang bis Ende immer klar, wer gut und wer böse ist.

Der Kniff mit der Perspektive lässt sich besonders schön daran ersehen, dass die Zwerge die Trolle aus ihren Stollen haben wollen. Da diese auch nicht gerade mit Freundlichkeit glänzen, ein verständliches Anliegen. Wäre der Roman nun aus der Sicht eines Zwergs geschrieben, wäre klar, wer hier der Böse ist. So allerdings steht eigentlich nur ein richtiger Bösewicht fest: Zorpad, der Masridenherrscher. Alle anderen bewegen sich in den verschiedenen Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß. Dies macht die Lektüre enorm kurzweilig, und man fragt sich häufig: Wie würdest du an Stens Stelle handeln?

Desweiteren hat Christoph Hardebusch es geschafft, die Trolle nicht zu stereotypen Monstern verkommen zu lassen. Allerdings liegt auch hier mein Hauptkritikpunkt an diesem Roman. So haben etwa die Trolle Druan, Pard und Roch ein klares Charakterprofil, das heißt man kann sie sich plastisch vorstellen. Bei den anderen Trollen Zdam und Anda fehlt dies leider weitestgehend. Diese beiden erweckten in mir den Eindruck, nur „Auffüllmaterial“ oder „Kanonenfutter“ zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass dies bei den anderen Figuren nicht der Fall ist. So sind etwa die drei anderen Trolle, Sten, Zorpad, Flores oder Sargan äußerst gelungene Figuren geworden, mit einem hohen Wiedererkennungsfaktor. Doch muss ich ehrlich zugeben, dass diese Kritik bei einem Debütroman schon ein wenig an Erbsenzählerei grenzt. Andererseits wäre es ja fast schon erschreckend, wenn ein neuer Autor sofort perfekt schreiben würde.

Auch das Setting ist sehr überzeugend. Man merkt, dass sich Hardebusch richtig Gedanken über das „Land zwischen den Bergen“ gemacht und nicht einfach halbgare Kost geliefert hat. Dies sieht man einerseits an den historischen Ereignissen, von denen erzählt wird, und andererseits an der überaus athmosphärischen und plastischen Schilderung des Landes und der Städte. Auch die verschiedenen Kulturen der Völker sind interessant gestaltet. Besonders deutlich wird das an der Figur von Sargan, der aus einem Land jenseits der Berge kommt und mit der Kultur – oder dem Fehlen einer solchen – der hiesigen Völker teilweise Schwierigkeiten hat. Auch der Plot ist sinnvoll gewählt. So lernt man im ersten Teil des Buches erst einmal die Trolle und Sten kennen. In der zweiten Hälfte dagegen spielen dann auch weitere Figuren eine Rolle. So wird dem Leser Zeit gegeben, um erst die Trolle kennen zu lernen und sie dann später in Aktion zu erleben.

_Fazit_

„Die Trolle“ sind für Fantasy-Fans ein Muss. Der Roman wird auf seinen 766 Seiten nie langweilig oder eintönig, sollte wohl jedem Fan der |Heyne|-Reihe gefallen und viele vergnügliche Stunden Lesespaß bereiten. Ich bin mir sicher, dass wir an Christoph Hardebusch noch einige Freude haben werden, und bin schon jetzt gespannt, was auf „Die Trolle“ folgen wird!

http://www.hardebusch.net/

|Ergänzend dazu siehe auch:|
[Interview mit Christoph Hardebusch]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=65
[Teaser und Lesprobe zu „Die Trolle“]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=62

Isau, Ralf – König im König, Der (Die Chroniken von Mirad 2)

Band 1: „Das gespiegelte Herz“
Band 2: „Der König im König“

Nachdem Twikus und Ergil in [„Das gespiegelte Herz“ 1807 ihren Onkel Wikander besiegen und Mirad von seiner Tyrannei befreien konnten, sollte eigentlich alles in schönster Ordnung sein. Aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Die beiden Brüder sind noch jung, die Bevölkerung scheint sie als Könige nicht ganz ernst zu nehmen, und einige Könige des Sechserbundes nutzen offenbar die Gelegenheit, ihr eigenes Süppchen zu kochen …

Doch all diese Schwierigkeiten verblassen, als eines Tages das Sirilim-Schwert der Brüder unvermittelt das Zittern anfängt. In der folgenden Nacht träumt Ergil, Wikanders finsteres Schwert Schmerz, das geborsten ins Meer gestürzt war, tauche wieder auf! Als noch dazu ein Bote Múrias die Nachricht von einem seltsamen, schwarz gekleideten Mann namens Kaguan überbringt, der sich sehr eigenartig verhalten habe, beschließen die Zwillinge, zusammen mit Múria und Falgon zum Festland zu reiten.

Sie kommen zu spät, Kaguan ist verschwunden. Um herauszufinden, wer dieser geheimnisvolle Mann war und was er eigentlich wollte, benutzen die jungen Könige ihre Sirilim-Fähigkeiten. Das Ergebnis ist erschreckend! Kaguan ist ein Chamäleone, ein Diener des finsteren Gottes Magos, und er hat die Bruchstücke von Schmerz aus dem Meer geborgen, um sie seinem Herrn zurückzubringen, damit dieser Mirad erneut seiner Knechtschaft unterwerfen kann.

Zuerst jedoch muss das Schwert neu geschmiedet werden, und nur eine Familie in Mirad beherrscht diese Kunst. Eine verbissene Hetzjagd durch den halben Kontinent beginnt …

Der zweite Band der Mirad-Trilogie hat mir fast noch besser gefallen als der erste. Während im ersten Teil die Handlung sich noch ganz allmählich an die eigentliche Aufgabe, nämlich den Sieg über Wikander, herantastete, ist im zweiten Band von Anfang an klar, um was es geht. Die Jagd nach dem schwarzen Schwert bildet dabei den roten Faden, der sich durch das ganze Buch zieht, was diesen Band einheitlicher und zusammenhängender erscheinen lässt als den ersten.

Trotzdem geht hier bei weitem nicht alles glatt, im Gegenteil. Jedes Mal, wenn die Gefährten glauben, sie könnten Kaguan endlich fassen, macht ihnen irgendetwas einen Strich durch die Rechnung. Nicht nur die Tatsache, dass der Chamäleone sich durch die Anpassung seines Körpers an seine Umgebung nahezu unsichtbar machen kann, sondern auch, dass er die Brüder sehen kann, wenn sie ihre Sirilim-Gabe benutzen, macht ein Überlisten der Kreatur äußerst schwierig. Dazu kommt, dass das Schwert Schmerz, das Kaguan bei sich trägt, eine für die Zwillinge schier unerträgliche Ausstrahlung besitzt und ihnen die Sinne verwirrt. Außerdem hat Kaguan auch noch einige Helfer, die der Gemeinschaft schwer zu schaffen machen, und sein Meister hat ihm zusätzlich noch Macht über die Elemente verliehen. Das Repertoire umfasst aber auch so prosaische Tätigkeiten wie Geiselnahmen …

Die vielen verschiedenen Kniffe, durch die Kaguan seinen Verfolgern immer wieder entkommt, sorgen dafür, dass die Jagd durch Mirad abwechslungsreich, interessant und spannend bleibt. Und ehe sich aufgrund der ständigen Fehlschläge beim Leser Frustration einstellen kann, biegt Isau die Verfolgung in eine andere Richtung um …

Hilfreich für Kaguan waren aber nicht nur seine eigenen Fähigkeiten, sondern gelegentlich auch seine Verfolger. Ergil und Twikus haben sich zwar inzwischen ein gutes Stück zusammengerauft, gelegentlich aber flackern die alten Rivalitäten doch noch auf, in der Regel natürlich in kritischen Situationen, sprich: genau dann, wenn man es eigentlich gar nicht gebrauchen könnte! So kann Kaguan zumindest ein- oder zweimal nur deshalb in letzter Sekunde entkommen, weil die Zwillinge sich gerade nicht auf ihre Vorgehensweise einigen können und so kostbare Sekunden vergeuden.

Sogar die mangelnde Unterstützung der Brüder durch die Könige ihres Bundes weiß Kaguan auszunutzen, ebenso wie die Schwäche des Herrschers von Susan für seine Tochter Nishigo. Diese Vielfältigkeit, nicht nur in seinen körperlichen Fähigkeiten, sondern auch in seinem Denken, machen Kaguan zu dem interessantesten neuen Charakter dieses Bandes. Sein Gott wirkt dagegen fast ein wenig mickrig und einfallslos, aber gut, er kam ja auch kaum vor.

Außer den übrigen, bereits bekannten Charakteren Múria, Falgon, Dormund und Kira, die unverändert bleiben, ist noch Popi erwähnenswert, den Ergil zu seinem Knappen gemacht hat. Popi ist eigentlich ein Hasenfuß, der schon vor der geringsten Kleinigkeit am liebsten davonläuft. Aber nur, wenn es nicht um seine Könige geht! Ergil ist er so treu ergeben, dass er für ihn sogar solche Dinge tut, die er sonst niemals auch nur in Erwägung ziehen würde! Dass er dabei geradezu über sich selbst hinauswächst, fällt ihm überhaupt nicht auf.

Eine besonders angegehme Eigenschaft ist Isaus unaufdringliche Art und Weise, Dinge zu schreiben. So bleibt die Romanze zwischen Twikus und Nishigo ein zwar sichtbarer aber erfreulich dezenter Bestandteil der Geschichte. Die Zwillinge bleiben trotz ihrer Macht und Twikus‘ Hang zum Heldentum jederzeit menschlich und unperfekt, was auch für Falgon und Múria gilt. Und auch aus Popi wird kein strahlender Überheld, nachdem er seine Angst überwunden hat, sondern er ist immer noch ein fast zu bescheidener und ängstlicher Junge, der vorerst lediglich entdeckt hat, dass Mut durchaus nicht außerhalb seiner Reichweite liegt.

Zwei Fragen allerdings stellten sich mir bei der Lektüre: Wie konnte es passieren, dass die Wachposten im Palast von Susan so leicht auf den Chamäleonen hereingefallen sind? Hat sie denn niemand davor gewarnt, dass das „Gespenst aus der Schmiede“ seine Gestalt verändern konnte? Wenn ja, was für ein Versäumnis! – Und wie ist Kaguan aus der toten Meerschlange entkommen?

Aber gut, im Hinblick auf den gelungenen Rest des Buches kann man darüber hinwegsehen. Der Kampf gegen ein übermächtiges Böses ist zwar schon so alt wie die Fantasy selbst, aber vielleicht eben deshalb aus dieser auch nicht mehr wegzudenken. Und Ralf Isau hat das Thema mit einigen neuen und guten Ideen angereichert. Wie auch schon der erste Band für Jugendliche uneingeschränkt empfehlenswert, und für Erwachsene ebenfalls durchaus interessant, sofern man nicht besonderen Wert auf große Detailliertheit und komplexe Handlung mit mehreren Parallelsträngen legt.

Ralf Isau, gebürtiger Berliner, war nach seinem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst als Programmierer tätig, ehe er 1988 zu Schreiben anfing. Aus seiner Feder stammen außer der Neschan-Trilogie und dem Kreis der Dämmerung unter anderem „Der Herr der Unruhe“, „Der silberne Sinn“, „Das Netz der Schattenspiele“ und „Das Museum der gestohlenen Erinnerungen“. In der Reihe Die Legenden von Phantásien ist von ihm „Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ erschienen. Der dritte Band der Chroniken von Mirad soll im Herbst dieses Jahres erscheinen.

Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
ISBN-13: 978-3-522-17746-7

http://cms.thienemann.de/index.php?section=1
http://www.isau.de/index.html

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Bionda, Alisha – Kuss der Verdammnis (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 2)

Wolfgang Hohlbeins „Schattenchronik“ geht mit „Kuss der Verdammnis“ in die zweite Runde. Oder, um es anders auszudrücken: Mit dem zweiten Roman legt die Serie um die 400 Jahre alte Vampirin Dilara erst so richtig los. Eröffnet wurde die Serie nämlich mit [„Der ewig dunkle Traum“, 1899 einer Anthologie von Horror- und Fantasyerzählungen, in denen Dilara, die Heldin der Serie, nur eine untergeordnete Rolle spielte. Wolfgang Hohlbein stellte sie in der Titelerzählung dem geneigten Lesepublikum vor. Alisha Bionda bringt sie uns in „Kuss der Verdammnis“ nun endlich näher.

Wir befinden uns im London der Gegenwart. Dilara lebt, recht einsam und verlassen, in einer alten Villa am Hyde Park und weigert sich, sich dem Urvampir Antediluvian anzuschließen, der sie einst zur Untoten machte. Dilara widersetzt sich dem gängigen vampirischen Regelwerk, auch wenn dem Leser bisher noch verborgen bleibt, um was für Regeln es sich dabei genau handelt. Wenn Dilara die Langeweile packt, besucht sie die Galerie des Aplsey House und schaut sich in der Ecke für gehängte Verbrecher ihr eigenes Porträt an. Die „doppelte Dilara“ fällt einem gewissen Roderick auf, der sich sofort unsterblich in die Unbekannte verliebt und es sich zur Aufgabe macht, mehr über sie zu erfahren. Doch scheinbar hat er sich damit mehr eingehandelt, als er bewältigen kann. Denn dieser Kontakt mit der dunklen Seite ruft Gefühle und Erinnerungen wach, die lieber vergessen hätten bleiben sollen.

Währenddessen lernt Dilara auf einem Trödelmark den Buchhändler Calvin kennen; ein Mann ganz nach ihrem Geschmack. Die beiden werden ein Paar und schließlich macht sie Cal zu ihrem Gefährten. Die Idylle hält jedoch nicht lang. Antediluvian fordert Gefolgschaft – ein Aufruf, dem Dilara immer noch nicht nachkommen will. Eine offene Auseinandersetzung steht damit kurz bevor …

Dilara ist eine Protagonistin, mit der sich der Leser sicherlich schnell anfreunden wird. Natürlich ist sie schön: Lange Haare, grüne Augen und exotische Kleider gehören selbstverständlich zum Standardrepertoire. Sie ist verführerisch und doch keineswegs eine Männerfresserin. Sie selbst ist innerlich zerrissen, ihre lange Existenz hat sie bitter und pessimistisch gemacht. Dilara ist Alisha Biondas große Stärke. Es ist kaum zu übersehen, dass die Autorin auf ihren Hauptcharakter viel Zeit verwendet hat. Sie ist der dreidimensionalste und überzeugendste Charakter in „Kuss der Verdammnis“, dicht gefolgt von Roderick, der langsam vom Wahnsinn zerfressen wird. Daneben bleibt Cal seltsam farblos, wohl weil er bisher hauptsächlich im Schatten Dilaras steht – etwas, das sich sicher in späteren Bänden ändern wird.

Biondas Charaktere sind in ein sehr lebendiges London eingebettet. Besonders Dilara, mit ihren 400 Jahren Lebens- und Geschichtserfahrung, weiß viel zu berichten, und so erfährt selbst der gut informierte Londontourist noch etwas Neues, wobei Bionda es aber immer vermeidet, oberlehrerhaft zu klingen oder solche Passagen als reine Füller einzubauen. Die farbenfrohen Beschreibungen Londons (und auch des London Below, wie Neil Gaiman wohl Biondas Schattenwelt unter Londons Tempeln der Macht nennen würde) unterstützen die Geschichte, sie behindern sie nicht.

Da es sich bei „Kuss der Verdammnis“ erst um den zweiten Band einer Serie handelt (sechs sind bisher lieferbar), scheint Alisha Bionda besonderes Vergnügen daran zu finden, den Leser mit Anspielungen neugierig zu machen. So erfahren wir, gerade über die offensichtlich stark reglementierte Vampirkultur, nur wenig. Wir wissen, Antediluvian ist das Oberhaupt der Londonder Vampire (oder der Vampire überhaupt?), doch seine Geschichte bleibt bisher im Dunkeln, ebenso wie seine genaue Verbindung zu Dilara und was die beiden schlussendlich auseinander getrieben hat. Bionda wirft dem Leser Häppchen zu, kleine Informationsschnipsel, die sich jedoch bisher noch zu keinem ganzen Bild zusammenfügen lassen. Es bleibt also spannend – zumindest ist nicht zu befürchten, dass Alisha Bionda und ihren Gastautoren in absehbarer Zeit die Ideen ausgehen werden!

„Kuss der Verdammnis“ ist also ein Buch, das man nur ungern aus der Hand legt: Es ist kurzweilig, spannend und flüssig geschrieben. Die Charaktere sind glaubhaft und agieren in einer lebendigen Kulisse. Bewusste Löcher in Handlung oder Hintergrund werden an strategisch günstiger Stelle platziert, um die Neugier des Lesers zu wecken – ein Unterfangen, das mehr als gelingt. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

China Miéville – Der Eiserne Rat

In der Welt Bas-Làg gibt es eine Stadt, New Crobuzon, einen Moloch, der als Stadtstaat die mächtigste Organisation ihrer Art ist. Ein anderer Stadtstaat beginnt, New Crobuzon die Herrschaft auf den Meeren streitig zu machen. Betrieben durch elyktrische Kräfte oder Dampf und Segel, liefern sich die Mächte andauernde Seeschlachten, zu Land bekämpfen sich die Heere, die eine neue Ordnung bringen sollen. New Crobuzon versucht, die Macht zu behaupten. Wichtigste Einheiten stellen für sie die Thaumaturgen dar, die Kraft ihres Geistes und allerlei Beschwörungsformeln Macht über Elemente wie Wind oder Wasser oder Elyktrizität besitzen. Doch die andere Seite hat noch unvorstellbarere Mittel, die ihrer Vollendung harren und damit den Untergang New Crobuzons bedeuten würden …

Zwischen die Fronten gerät eine Volkslegende, der Eiserne Rat, der es geschafft hat, sich der Fesseln New Crobuzons zu entledigen und den Häschern zu entkommen. Der Rat gründete sich aus Remade-Sklaven – bio-thaumaturgisch rekonstruierten Wesen – und freien Arbeitern, die sich gegen unzumutbare Bedingungen auflehnten. Das Remaking ist in New Crobuzon eine kunstvoll praktizierte Bestrafung für Verbrecher und Regierungsgegner.

Der Eiserne Rat, ein gigantischer Tross aus Lokomotiven, Wagons und allerlei Volk, das sich den Rebellen zu Fuß angeschlossen hat. Die Schienenleger und Planierer bereiten den Weg für die Stadt auf Rädern, die sich in Fußmarschtempo dahinbewegt. Von hinten werden die Schienen mit Lastkarren wieder nach vorn transportiert, ein ewiger Kreislauf.

Ein Mentor und Mitbegründer des Rats ist Judah Low, ein Golemist, der unbelebte Materie jeder Art zu einem Pseudoleben erwecken und sich dienstbar machen kann. Judah befindet sich in New Crobuzon als Barde des Rats, um die Legende im Volk zu verbreiten und den Keim der Rebellion zu legen. Er ist es, der erfährt, dass der Rat erneut von der Miliz gesucht wird, und er zieht los, um seine Heimat zu warnen. Ihm folgen begeisterte Anhänger aus verschiedenen Gründen: Cutter zum Beispiel ist Judahs junger Liebhaber und folgt ihm, wie er ihm überall hin folgen würde.

Der Rat wird verfolgt, weil der Krieg in der Bevölkerung zu Unruhen führt. Man kann es sich nicht mehr leisten, einen Rebellen ungeschoren zu lassen. Das Vorbild durch den Eisernen Rat soll vernichtet werden …

China Miéville befindet sich wieder in seiner überbordenden Schöpfung, der Welt Bas-Làg. Nach „Perdido Street Station“ (dt: „Die Falter“ und „Der Weber“) und „The Scar“ (dt: „Die Narbe“ und „Leviathan“) soll „Iron Council“ der vorerst letzte Band einer lose über die Stadt New Crobuzon verknüpften Trilogie sein, von der jedoch jeder Teil selbstständig lesbar ist (natürlich sollte man hierbei die Splittung der beiden ersten Teile im Deutschen in je zwei Teile beachten). Nach der Narbe kehrt man nun in die Stadt zurück, doch handelt dieser Teil der Geschichte viele Jahre später.

Der Roman liest sich spannend und flüssig, doch weniger wie Phantastik, als vielmehr wie ein Western. Revolverhelden, Kopfgeldjäger, Spielsucht, Eisenbahner und ihr brachialer Weg durch fremdes Land, ihr Zusammentreffen mit Einheimischen … Trotzdem bleibt die Faszination bestehen, die Miéville mit dieser Welt geschaffen hat. Neue Entartungen schockieren, neue Mächte faszinieren, neue Völker erweitern das Bild der Welt.

Um den Rat selbst dreht sich die Geschichte recht wenig, eher um die Revolution in New Crobuzon, das Verhältnis Cutters zu Judah und dessen Geschichte als Mentor des Rates, mit dem er sich völlig identifiziert und dem er sich jederzeit zu opfern bereit ist.

Was auffällt, ist die Beschaffenheit des Charakters „Judah“: Name, Weltsicht und Fähigkeiten zusammen lassen frappierende Ähnlichkeiten mit dem legendären Juden Rabbi Löw erkennen, ein liebevoller, weiser Vater und Partner, dem das Wohl seiner Vertrauten und seiner Heimat über alles geht. Sowohl der Rabbi als auch Judah Low haben die Fähigkeit, Golems zu erschaffen und ihnen Befehle einzuarbeiten, die bis zur Selbstaufgabe der Golems ausgeführt werden. Und schließlich das Verhängnis Rabbi Löws durch seine eigene Schöpfung – auch hier finden sich entsprechende Verbindungen zu Judah Low. Mit seiner mächtigsten Schöpfung gibt er sich selbst auf – oder verwirkt sein Recht auf Leben, je nach Sichtweise.

Ob es für die anderen Charaktere auch Entsprechungen aus der Weltliteratur gibt, ist nicht ersichtlich. Doch ihr teilweise tragisches Schicksal färbt den Roman in gleicher Weise wie Judahs Einfluss. Miéville verausgabt sich auch nicht an den Mengen handelnder Personen, sondern konzentriert sich auf einige wenige, aus deren Blickwinkel er die Geschichte ablaufen lässt. So haben wir Einblicke in die Gefühle und Gedanken von Normalmenschen, die sich leichter auf die Masse projizieren lassen als die vielleicht reineren und abgehobeneren Beweggründe von Führern.

„Der Eiserne Rat“ ist eine geschickte Mélange aus Dramatik und Erzählung, sein Stimmungsschwerpunkt liegt in der Tragik. Mit jedem Einzelschicksal konfrontiert sich der Leser mit Fehlern in Beziehungen, Scheidepunkten in Lebenswegen und Einflüssen höherer Gewalt, die manchmal nur wenige Auswege offen lassen. Und eines ist sicher: Trotz aller Brutalität und Abstrusität ist Bas-Làg auch eine Welt voller Wunder, die sich zu entdecken lohnt. Sollte es China Miéville gefallen, erneut den Pfadfinder durch diese Welt zu spielen, hat er sich eine große Reisegruppe verdient.

Edgar Allan Poe – Der Doppelmord in der Rue Morgue

Ein grausiger Doppelmord an einer Frau und ihrer Tochter stellt die Pariser Polizei vor ein Rätsel. Die beiden Frauen sind in ihrer Wohnung in der Rue Morgue auf brutale Weise zugerichtet worden. Das Mädchen fand man mit verrenkten Gliedern, wie sie in den Kamin geschoben wurde, ihre Mutter dagegen geköpft auf dem Straßenpflaster liegend, nachdem sie aus dem Fenster geschleudert worden war. Obwohl zahlreiche Zeugen befragt werden und sich die Aussagen bis auf wenige Abweichungen decken, fehlt von einem Täter jede Spur. Doch die Befragten berichten alle von mindestens einer weiteren, dritten Person, die sich zum Zeitpunkt des Mordes im Haus befand, das ansonsten völlig leer stand. Wie nur war es dem Mörder gelungen, unbemerkt zu fliehen und keine Spur zu hinterlassen, die die Polizei wenigstens auf eine Fährte gelockt hätte?

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Rob-Vel / Jijé / Franquin u.a. – Fantasio und das Phantom

|Spirou und Fantasio sind papiergewordene Geschichte. Nach der Neuauflage der Gesamtausgabe präsentiert Carlsen nun das Sonderalbum „Fantasio und das Fantom“. Legendäre Kleinode und Wendepunkte aus knapp siebzig Jahren wurden hier zusammengefasst. Dabei erlebt der Leser weitaus mehr als eine Sammlung heiterer Detektiv- und Abenteuergeschichten. Diverse Zeichnergenerationen haben versucht, den französischen Comic-Helden ihren Stempel aufzudrücken.|

In Frankreich sind Spirou und Fantasio eine Institution. Sie sind älter als Asterix und Lucky Luke. Sie begründeten die Ecole Marcinelle (benannt nach dem Sitz des Verlages Dupuis) und prägten maßgeblich den europäischen Comic. Obwohl sich frankobelgische Comicalben seit einiger Zeit auf dem Rückzug befinden, hält der Hamburger Carlsen Verlag dem cleveren Pagen Spirou und seinem zerstreuten Kompagnon Fantasio die Treue. In den letzten Jahren legte man die 44-bändige Gesamtausgabe neu auf, so dass heute wieder alle Abenteuer in deutscher Sprache erhältlich sind. Zum Abschluss erschien das Sonderalbum Spirou und das Fantom, das eine Reihe amüsanter Kurzgeschichten enthält.

Der Leser erlebt auf der ersten Seite die „Geburt von Spirou“, in welcher der Direktor des Hotels Mücke einen Pagen sucht. Jung soll er sein, pfiffig und agil. Wegen Ermangelung eines geeigneten Bewerbers wendet sich der Direktor an einen Maler. Dieser zeichnet den gewünschten Pagen kurzerhand auf eine Leinwand und haucht ihm Leben ein. Spirou war geboren.

Weitere acht Kurzgeschichten folgen. Sie veranschaulichen die Entwicklung der Serie. Bald ist Spirou nicht mehr allein unterwegs. In der Detektivgeschichte „Fantasio und das Fantom“ ist das bekannte Team bereits ein Herz und eine Seele. Außerdem taucht erstmals das Eichhörnchen Pips auf, das heutzutage aus der Serie nicht mehr wegzudenken ist. Schließlich kommen der Bürgermeister und der Graf von Rummelsdorf hinzu.

Jenseits der Figuren erlebt die Serie auch eine inhaltliche Entwicklung. Die Boxergeschichte „Spirou und Floh“ ist angelehnt an die amerikanischen Vorbilder der Tramp-Storys. Bei „Fantasio und das Fantom“ handelt es sich um eine Detektivgeschichte, die hinführt zu den späteren Abenteuergeschichten. Der Leser kann beobachten, wie sich der charakteristische Charme und der Humor der Reihe entfalten.

Wer noch niemals etwas von Spirou und Fantasio gelesen hat, kann guten Gewissens mit dem Sonderband anfangen. Die neun Episoden veranschaulichen den Facettenreichtum der Serie und machen Lust auf mehr. Auch treue Fans der beiden französischen Abenteurer finden hier einen Leckerbissen. Die Sammlung halbvergessener Kleinode sorgt vor, denn Lesehungrige müssen sich fortan gedulden. Neue Bände werden nicht mehr im Zwei-Wochen-Takt erscheinen, sondern länger auf sich warten lassen. Mit „Flut über Paris“ (Band 45) ergreift eine neue Zeichnergeneration die Feder. Ob die Zeichner Jean David Morvan und José-Luis Manuera ihren berühmten Vorgängern Franquin und Fournier das Wasser reichen können, wird sich zeigen.

„Fantasio und das Phantom“ enthält:
Die Geburt von Spirou (Rob-Vel, 1938)
Spirou und Floh (Rob-Vel, 1942-43)
Fantasio und das Fantom (Jijé, 1946)
Weihnacht im Urwald (Franquin, 1949)
Fantasio und der Siphon (Franquin, 1957)
Fantasio und die ferngesteuerten Rollschuhe (Franquin, 1957)
Ferien in Broceliande (Fournier, 1973)
Der Solar-Fanta-Schrauber (Nic Broca, 1980)
Stählerne Herzen (Chaland, 1982)

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Bionda, Alisha – Regenbogen-Welt

Die „Magic Edition“ des BLITZ-Verlags ist schier unberechenbar. Da gibt es Bände wie „Die Geisterseherin“, die mit einfachsten Mitteln einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Oder aber Skurriles wie „Die galaktische Rallye“, wobei sich der Verlag mal ein wenig über die Grenzen der im Titel benannten Magie hinwegsetzt und es mit skurillem Humor versucht. Doch genau so prägnant sind die negativen Eindrücke von Durchschnittsware wie „Die Jahrtausendflut“ und „Endzeit“, die aus der vielversprechenden Serie ein recht wechselhaftes Happening gemacht haben, das im Abonnement daher auch eine ziemliche Riskobereitschaft erfordert. Solange man bei BLITZ allerdings Meisterwerke wie „Regenbogen-Welt“ in die Serie integriert, nimmt man auch gerne mal ein nicht ganz so überzeugendes Buch in Kauf. Die wunderschöne Story, die Alisha Bionda hier kreiert hat, ist nämlich so ziemlich das Beste, was mir aus dem Hause |BLITZ| bislang in die Hände gekommen ist!

_Story_

Saha träumt seit jeher davon, in die fünfte und gleichzeitig höchste Ebene der Regenbogen-Welt zu reisen. Voller Tatendrang entscheidet die junge Gottesanbeterin eines Tages, ihrer Berufung zu folgen und die am fernsten gelegene Landschaft auf der verwaisten Erde zu erkunden. Ihre Freunde sind von dieser Idee jedoch nicht sonderlich begeistert und bremsen Saha in ihrem Vorhaben, schließlich lauern unbekannte Gefahren auf dem langen Weg durch die Ebenen der Regenbogen-Welt. Ihren Mut können die übrigen Insekten jedoch nicht bremsen, und so macht sich Saha mit der Libelle Ishtar, dem Schmetterling Barb und weiteren Tieren auf den Weg, um das zu sehen, wovon sie schon seit Ewigkeiten träumt.

Und wie erwartet birgt die Reise viele unerwartete Geheimnisse, die für Saha und ihre Gefährten nicht immer ungefährlich sind. Doch dank der verschiedenen und sich in der Gemeinschaft ergänzenden Fähigkeiten gelingt es dem neu zusammengefundenen Verbund immer wieder, dem Bösen zu trotzen und seinen Weg fortzusetzen. Dabei stößt Saha schließlich auf die Geheimnisse der ersten Menschen und Informationen über den selber verursachten Verfall ihrer Rasse. Doch auch ein weiterer Aspekt wird ihr gewahr: Sie soll eines Tages zu den Begündern der zweiten menschlichen Rasse gehören und mit ihren Freunden die Erde neu bevölkern. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Saha die fünfte Ebene erreicht …

_Meine Meinung_

Der Inhalt dieses wunderschönen Romans mag auf den ersten Blick anmuten wie die Geschichte eines Kinder- und Jugendbuches, doch dies ist „Regenbogen-Welt“ definitiv nicht. Die Handlung beruht indes auf einer Sage aus dem Bereich der Navajo-Mythologie und ist dementsprechend auch mit einigen esoterischen Ansätzen verknüpft.

Außerdem sind die Heldenfiguren dieses Werkes erst einmal gewöhnungsbedürftig: Eine kleine Schar Insekten soll zusammen mit einigen verbrüderten Freunden aus der Tierwelt im Kampf gegen die Ausgeburten der Erde im nächsten Zeitalter für eine neue menschliche Generation sorgen. Klingt zunächst äußerst seltsam! Doch schneller als man glaubt, werden solche Begebenheiten zur Nebensache degradiert. Saha und ihre Gefährten haben fast ausschließlich ‚typisch menschliche‘ Eigenschaften und Wesenszüge und werden als Identifikationsfiguren sofort akzeptiert. Dass Freundschaft und das Füreinander dabei eine übergeordnete Position einnehmen, ist daher auch selbstverständlich und mitunter einer der wichtigsten Aspekte dieses Romans. Selbst wenn die verschiedenen Tierarten sich partiell unheimlich stark voneinander unterscheiden und in der heutigen Realität wohl kaum einträchtig nebeneinander herlaufen würden, harmonieren sie in dieser phantasiereichen Story wirklich perfekt.

Unterschwellige Anspielungen auf das „wirkliche“ Leben sind natürlich nicht zufällig und werden anhand der Tier-Darsteller auch mit tollen symbolischen Umschreibungen dargestellt. Aber natürlich ist „Regenbogenwelt“ deshalb jetzt kein vornehmlich sozialkritisches oder gar politisches Buch. Im Grunde genommen ist dieser Roman nämlich ein modernes Märchen, das auf den elementaren Eigenschaften der Fantasy-Literatur beruht und dabei die philosophischen Ansätze der Indianerkultur mit einbindet.

Wer jetzt allerdings inhaltliche Parallelen zu „Herr der Ringe“ oder sonstigen bekannten mythologisch motivierten Werken vermutet – schließlich ziehen in „Regenbogen-Welt“ auch einige ungleiche Gefährten auf den Weg in eine andere Ebene –, ist auf dem Holzweg. Die Spannung beruht nämlich nicht ausschließlich auf der Bewältigung von Gefahren und schon gar nicht auf unausgefochtenen, bevorstehenden Kampfhandlungen, sondern schon eher auf der späteren Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein, was erst die Grundlage für die tolle Abenteuerstory liefert.

Ein ganz so leicht zu durchschauendes Buch ist „Regenbogen-Welt“ deshalb ebenfalls nicht, weil neben der im Buch beschriebenen Reise auch diverse Gedankenansätze zur Diskussion gestellt werden, die einen vergleichsweise aktuellen Hintergrund haben und auch durch die Wahl von Schauplätzen und Hauptfiguren nicht verharmlost werden. Beim Betrachten der gescheiterten Existenz der menschlichen Rasse beim ‚ersten Versuch‘ spielt sich infolge dessen auch so manches auf einer eher spirituellen Ebene ab, die durch die meist vereinfachte Darstellung jedoch jederzeit verständlich bleibt und insgesamt auch nicht unnötig verworren oder komplex geraten ist.

Mit anderen Worten also ist „Regenbogen-Welt“ anspruchsvolle Kost in leichter, aber untransparenter Hülle, und dazu ein unheimlich toller, sich in seiner Identität mehrfach wandelnder Abenteuerroman mit außergewöhnlichen Charakteren und herrlicher Entwicklung. Andersartige Fantasy gepaart mit nachdenklich stimmenden Hintergrundthemen – Alisha Bionda hat mit ihrem Roman zur „Magic Edition“ einen wirklich herausragenden Beitrag geliefert, dessen symbolische Mystik von der ersten bis zur letzten Seite begeistert. Sehr empfehlenswertes Buch!

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John Wyndham – Die Triffids

Ein militärisches Missgeschick lässt 99,9% aller Erdmenschen erblinden. Darauf haben die Triffids, genetisch veränderte Nutzpflanzen mit Giftstachel und Wurzelbeinen, nur gewartet: Sie machen Jagd auf ihre hilflosen Herren … – Ein echter Klassiker des Science-Fiction-Katastrophen-Romans, nostalgisch und angestaubt, aber sachlich, hinreißend spannend und immer noch überzeugend zugleich.
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Kafka, Franz – Verwandlung, Die

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Mit diesen Worten beginnt eines der bekanntesten Werke Franz Kafkas, das heute zur Weltliteratur gezählt wird: „Die Verwandlung“.

|Das Buch …|

Gregor Samsa verdient sein Geld als Handlungsreisender, nicht nur für sich, sondern auch für seine ganze Familie. Sowohl seine Schwester als auch seine Eltern, bei denen er noch immer lebt, ernährt er mit. Als er eines Morgens erwacht und aufstehen will, um wie jeden Morgen den Zug pünktlich zu erreichen, muss er feststellen, dass sich sein Körper in einen Käfer verwandelt hat. Ohne Kontrolle über seine neuen, zahlreichen Gliedmaßen gelingt es ihm nicht einmal, aus dem Bett zu steigen. Und so, verwundert ob Gregors unüblicher Unpünktlichkeit, stehen schon bald seine Mutter und sein Vater vor der Tür und erkundigen sich nach ihm. Die wenigen Worte, die er in einer krächzenden Tonlage von sich gibt, können seine Eltern nicht beruhigen geschweige denn davon abhalten, ihn sehen zu wollen. Es kommt, wie es kommen musste: Gregor tritt seiner Familie als Insekt vor die Augen und erfährt in ihren Blicken nicht mehr als Abscheu und Furcht. Erschrocken verflüchtigt sich Gregor zurück in sein Zimmer.

Seine Schwester ist die Einzige, die sich seiner annimmt. In regelmäßigen Abständen bringt sie ihm altes oder bereits verdorbenes Essen herein. Um sie nicht weiter zu ängstigen, versteckt sich der krabbelnde Handlungsreisende während ihres Aufenthaltes im Zimmer, doch verschlingt er, sobald seine Schwester wieder fort ist, sofort gierig die Nahrungsmittel. Aber das eintönige Prozedere langweilt ihn. Er fühlt und denkt noch als Mensch, aber sein Handlungsspielraum wird immer eingeschränkter. So beginnt er sich mehr und mehr mit der Rolle des Käfers zu identifizieren, spricht keine Worte mehr und krabbelt stattdessen über Wände und Decken. Er arrangiert sich mit dem Wesen, zu dem er unzweifelhaft geworden ist. In diesem Zustand entdeckt ihn schließlich seine hereinplatzende Mutter, die augenblicklich in Ohnmacht fällt. Auch der Vater verliert allmählich die Fassung und wirft, als er den Käfer erblickt, mit Obst nach ihm. Selbst seine Schwester wendet sich von ihm ab und lässt ihm kaum noch Essensreste zukommen.

Die Familie, die Gregor Samsa einst durch seine berufliche Stellung finanziell unterstützt bzw. zusammengehalten hatte, lässt ihn mehr und mehr fallen. Sie braucht seine Ersparnisse auf und sucht nach Wegen, ohne ihn auszukommen. Die Familie sieht ihn schließlich als sprichwörtlichen Parasit an, den es zu beseitigen gilt. Doch so weit kommt es erst gar nicht, denn Gregor, durch die Obstattacke des Vaters verwundet und durch die fehlende Nahrungsaufnahme ausgemergelt, haucht sein Leben selbst aus – alleine und verlassen im Körper eines Käfers. Familie Samsa bringt den Leichnam aus dem Haus und versucht, mit dem Umzug in eine neue Wohnung ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Sie hat sich ihres einstigen Familienmitglieds entledigt, das nun nutzlos für sie geworden war.

|… als Hörbuch|

Das Hörbuch aus dem Verlag |Argon Hörbuch| kommt als 2-CD-Version im Pappschuber daher, die knapp 150 Minuten Laufzeit umfasst. Gelesen wird „Die Verwandlung“ von Ulrich Matthes, einem namhaften deutschen Schauspieler, der in Filmproduktionen wie „Der Untergang“ oder „Aimée und Jaguar“ mitwirkte und die Synchronstimme von Kenneth Branagh und weiteren Akteuren sprach. Der 1959 geborene Schauspieler hat auch schon auf dem Feld der Hörbücher überzeugen können. Zu seinen zahlreichen Vertonungen gehören etwa „Der englische Patient“ oder „Das Kalkwerk“. Zu Recht wurde er 2002 für seine Arbeit an „Pnin“ von Nabokov mit dem Preis für das beste Hörbuch ausgezeichnet.

So verwundert es kaum, dass Matthes auch für „Die Verwandlung“ eine überzeugende Leistung abliefert. Während anfangs noch der Eindruck entsteht, Matthes lese etwas zu langsam und gönne sich bei den Absätzen zu lange Pausen, scheint sich dieser zunächst etwas befremdliche Sprachgebrauch im Verlaufe der Novelle mehr und mehr der Grundstimmung der Erzählung anzupassen. Kafkas personaler, surrealer Stil beginnt durch Matthes Stimme an Lebendigkeit zu gewinnen und den Hörer zu erfassen, als ob er selbst in die Seele Gregor Samsas blicken und hineinfühlen könnte. Dennoch bleibt Matthes‘ Stimme kühl und distanziert und verleiht damit Kafkas Werk den nötigen, angemessen Grundtenor.

Obwohl oder gerade weil das Hörbuch auf musikalische Untermalung verzichtet und sich nur auf Ulrich Matthes konzentriert, wird dem vielschichtigen Werk Kafkas eine würdige Plattform geboten. Die sprichwörtliche Verwandlung Gregor Samsas vom Menschen hin zu einem von seiner Familie verabscheuten Käfer vollzieht sich auch im Hörbuch spürbar, wenn auch über den mit der Novelle übereinstimmenden, langsam voranschreitenden Prozess.

Wer Kafka nicht nur gerne liest, sondern auch hören möchte, liegt mit der Version aus dem |Argon|-Hörbuchverlag absolut richtig. Matthes versteht es, sich perfekt an Kafkas Stil zu orientieren und dem großen, stets einsamen Schriftsteller angemessen Rechnung zu tragen. Eine Aufgabe, an der andere Hörbücher bereits gescheitert sind.

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Baumann, Mary K. (u. a.) – All!, Das. Unendliche Weiten

Eine Darstellung des Weltalls in acht spektakulären Großkapiteln. Eingeleitet wird sie vom Vorwort eines Mannes, der als Leitfigur der modernen Astronomie gilt: Stephen Hawking. Der fast vollständig gelähmte Forscher mit dem vom Körper quasi losgelösten Geist hat entscheidend mit zum gegenwärtigen Blick auf den Kosmos beigetragen.

– „Ursprung“ (S. 8/9): Ein Bild der Milchstraße, wie sie vom Planeten Erde gesehen werden kann, leitet dieses Buch würdig ein: „Unser“ Sonnensystem verliert sich in einer Galaxie, die aus 200 Milliarden Sternen besteht und nur eine von vermutlich 150 Milliarden Galaxien im All ist – ein Vorgeschmack der Maßstäbe, die dieses Buch in Sachen „Unendlichkeit“ setzen wird!

– „Nebel“ (S. 10-29): „Geburt“ und „Tod“ der Sterne, die wir Menschen im Weltall erkennen können, verschwimmen in gewaltigen Nebelwolken. Sie bilden die galaktische „Ursuppe“, aus der sich Sonnen bilden und „zünden“ können, und sie stellen die Asche dar, die von den Sonnen bleibt, die in rasenden Explosionen „sterben“ und deren Überreste sich im Universum verteilen, wo sie zu neuen Sternen zusammenfinden.

– „Sterne“ (S. 30-53): Sie sind gebündelte Energie – vom „Weißen Zwerg“ bis zum „Blauen Überriesen“ gibt es zahlreiche Arten von Sternen. Sie erscheinen uns Menschen bizarr und sogar bedrohlich, sind im All jedoch überall zu finden. Das Wissen um ihre Existenz verdeutlicht, wie winzig die Chance war, dass ein kleiner blauer Planet eine mittelgroße gelbe Sonne am Rand der Milchstraße umkreisen und Leben hervorbringen konnte.

– „Die Sonne“ (S. 54-75″): Dies ist umso bemerkenswerter, als besagte Sonne sich bei näherer Betrachtung als grausiger Feuerball entpuppt, der nicht nur Hitze ausstrahlt, sondern mit diversen Todesstrahlen um sich schießt. Der Blick in die atomare Superhölle der „Sonnenfabrik“ ist heute möglich. Er enthüllt bei allem Schrecken, dass uns Menschen auf der Erde ohne „unseren“ Stern nur acht Minuten von einer eisigen Ewigkeit trennen.

– „Planeten“ (S. 76-115): Sie folgen der Sonne – neun Planeten umkreisen ihr Zentralgestirn. Nur auf einem hat sich nachweislich Leben entwickelt; Nr. 1 und 2 sowie 4 bis 9 sind glühend heiß oder
knochentrocken, bestehen aus Gas oder sind ewige Eisklumpen, also insgesamt
ungastlich. Womöglich gibt es nirgendwo Leben auf ihnen, aber das lässt sie nicht weniger interessant erscheinen: Jeder Planet stellt ein Kapitel in der Entstehungsgeschichte des Universums dar und der Mensch lernt immer besser, sie zu „lesen“.

– „Monde“ (S. 116-141): Mindestens 140 kleine bis sehr große Himmelskörper gesellen sich den Planeten als Monde zu – Kugeln aus Stein und Eis, die von „ihren“ Planeten in den Bann gezwungen wurden und sie umkreisen. Darunter sind groteske Seltsamkeiten wie Phobos und Deimos, die kartoffelförmigen Winzmonde des Mars, aber auch gewaltige Welten wie die großen Jupitermonde, von denen einige trotz ihrer spezifischen Eigentümlichkeiten womöglich eigenständiges Leben hervorgebracht haben.

– „Galaxien“ (S. 142-159): Die Vorstellungskraft des Menschen beginnt zu versagen, lässt er die Grenzen des eigenen Sonnensystems oder gar der Milchstraße hinter sich. Milliarden weiterer Galaxien stehen am Firmament. Sie sind oft von einer Fremdartigkeit, die erschreckt. Die moderne Astronomie hat unerschrocken begonnen, „Ordnung“ in dieses kosmische Gewirr zu bringen; wieso dies eine Sisyphusarbeit ist, können die Fotos dieses Kapitels nachdrücklich belegen.

– „In den Weiten des Alls“ (S. 160-171): Doch damit beginnen die Rätsel eigentlich erst. Das Universum ist seit seiner Entstehung so groß geworden, dass selbst das Licht der Galaxien an seinem „Rand“ die Erde kaum erreicht hat. Was wir sehen oder sichtbar machen können, ist ein Blick in die Vergangenheit. Je weiter wir schauen, desto „älter“ ist das Licht, das uns somit die Welt nach dem „Big Band“ zeigt, mit dem alles begann. 13 Milliarden Jahre können wir inzwischen zurückblicken, womit wir uns dem Ursprung allen Seins zu nähern beginnen.

„Das All!“ ist über die Präsentation kosmischer Phänomene hinaus Bestandsaufnahme der fotografischen Technik, die es heute ermöglicht, diese Wunder zu fixieren, die dem menschlichen Auge sonst verborgen bleiben müssten. „Das Universum der Farben“ erläutert, wie die sensationellen Bilder in diesem Buch möglich wurden. Ergänzt wird dieses Kapitel durch eine kommentierte Auflistung der unerhört ausgetüftelten Teleskope, Satelliten, Raumschiffe, Sonden und Kameras, die in vier Jahrzehnten jenes Bild vom Kosmos vermitteln halfen, das in diesem Buch dokumentiert wird. Ein zweiseitiges Glossar erläutert noch einmal die wichtigsten astronomischen Fachbegriffe, an denen dieses Buch notgedrungen so reich ist. Der Index ermöglicht es abschließend, bestimmte Informationen nachzuschlagen.

Ist es möglich, auf weniger als 200 Bild- und Textseiten darzustellen, was „da draußen“ im Universum „ist“? Die Verfasser des hier vorgelegten Werkes können diese Frage geradezu Aufsehen erregend bejahen: Es funktioniert, wenn man auf ein Bildmaterial zurückgreifen kann, das die sensationellsten astronomischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte umfasst.

Kein halbes Jahrhundert ist es her, dass kamerabestückte Sonden ins All geschossen wurden. Was sie vor Ort in Bildern festhielten, revolutionierte damals die astronomische Wissenschaft. Und doch wirken diese Fotos heute „wie mit einer Pappkamera gemacht“: so das drastische Urteil eines der Autoren dieses Buches. Was er damit meint, wird rasch klar: Die hier auf knapp 190 Seiten versammelten Abbildungen dokumentieren einen Fortschritt, dessen Ergebnisse den Menschen erschrecken können.

Gemeint sind damit weniger die Bilder von den Planeten, Monden und Asteroiden des Sonnensystems. Sie sind primär faszinierend, stellen sie uns doch in nie gekannten Details Orte vor, die wir vom Blick in den Nachthimmel kennen oder von denen wir gelesen haben: Dass es einen Uranus, einen Neptun oder einen Pluto gibt, kann sich heute (hoffentlich) selbst der naturwissenschaftliche Ignorant vorstellen.

Doch die Vorstellungskraft wird auf eine harte Probe gestellt, sobald der Blick über dieses Sonnensystem hinausschweift. „200 Milliarden Sterne“ findet man dort: Das ist ein Wert, unter dem sich der Mensch nicht wirklich etwas vorstellen kann. Dabei ist dies nur die Zahl der Sterne in der eigenen Milchstraße! Das Universum erstreckt sich vermutlich mehr als 13 Milliarden Lichtjahre in alle Richtungen und dehnt sich beständig weiter aus. Was soll man sich unter dieser Entfernung vorstellen? Hier müssen die meisten Menschen ihre geistigen Waffen strecken. „Das All!“ macht deutlich, dass trotzdem die Arbeit an der Entschlüsselung der universalen Geheimnisse wacker voranschreitet. Da draußen ist nicht nur etwas, es lässt sich auch ergründen und erklären.

Die moderne Technik unterstützt solche Forschungen. Was sich der Mensch einfallen ließ, um 13 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zu blicken, versöhnt durchaus mit den alltäglichen Scheußlichkeiten, die sich unsere Spezies so reichlich einfallen lässt: Richtet er sich gezielt auf Ziele, richtet der menschliche Geist wahrlich Erstaunliches aus! Wer hätte noch vor zehn, fünfzehn Jahren geglaubt, dass sich theoretische Konstrukte wie „Pulsare“ oder „Schwarze Löcher“ tatsächlich fotografisch belegen lassen? Immer Neues bringt die Suche im Kosmos zu Tage. Vieles fügt sich zu dem, was man bisher in Erfahrung brachte, anderes verstört ob seiner unglaublichen Fremdartigkeit. Doch auch diese Entdeckungen werden früher oder später entschlüsselt; daran lässt die Lektüre von „Das All!“ kaum Zweifel.

Für gottesgläubige Zeitgenossen mag das erschreckend oder wenigstens ein Ärgernis sein: Gott würfelt vielleicht deshalb nicht, weil es ihn überhaupt nicht gibt. Die Autoren von „Das All!“ klammern diesen Aspekt sorgfältig aus. „Ihr“ Universum funktioniert in der Tat ohne kosmischen Steuermann. Sicherlich macht dies mit den Schrecken aus, der sich in die Faszination mischt: In diesem womöglich tatsächlich unendlichen All könnten das Sonnensystem, die Erde und die Menschen eine Laune der Natur sein – nicht mehr aber auch nicht weniger. Nicht jede/r kann es unter diesen Umständen ertragen, den Blick zum Nachthimmel zu wenden.

Wer es – zumal unterstützt durch die moderne Technik – riskiert, wird freilich belohnt. Für die in diesem Band versammelten Fotos stellt das Prädikat „eindruckvoll“ im Grunde eine Untertreibung dar. Noch erstaunlicher ist das Aufgehen eines Konzepts, das die textlichen Erläuterungen auf ein Minimum begrenzt und die Leser trotzdem umfassend informiert. Der oft beschworene „Mut zur Lücke“ wird hier belohnt, weil beim „Abschmelzen“ des jeweils möglichen Informationsblocks die relevanten Fakten zurückbleiben. Wer meint, dies sei einfach, versuche sich doch einmal an einer Definition von „coronaler Loop“ in vierzig kurzen Zeilen …

„Das All!“ ist in jeder Beziehung kein billiges Vergnügen – das Buch ist kostspielig, sein Inhalt dem Thema jederzeit gewachsen. Bestes Kunstdruckpapier optimiert eine Reise durch das Universum, die wie selten zuvor erschreckt und fasziniert.

Vernor Vinge – Die Tiefen der Zeit

Vernor Vinge (* 10. Oktober 1944) ist in Deutschland vor allem durch seine beiden jeweils mit dem |Hugo Award| ausgezeichneten Romane „Ein Feuer auf der Tiefe“ (1992) und [„Eine Tiefe am Himmel“ 364 (1999) bekannt. Sie wurden ebenfalls für den |Nebula Award| nominiert, „Eine Tiefe am Himmel“ wurde in Deutschland zusätzlich mit dem Kurd-Laßwitz-Preis prämiert.

Bis zum Jahr 2002 dozierte der Mathematiker und Computerwissenschaftler Vernor Vinge an der San Diego State University, seitdem konzentriert er sich ganz auf seine schriftstellerische Tätigkeit.

Sein neuester in Deutschland erschienener Band „Die Tiefen der Zeit“ ist jedoch trotz des ähnlich klingenden Titels keine Fortsetzung seiner beiden erfolgreichen Romane um die „Zonen des Bewusstseins“, sondern eine Sammlung von achtzehn Kurzgeschichten, die bis auf zwei Ausnahmen in „The Collected Stories of Vernor Vinge“ (Tor Books 2001) enthalten sind. Einige Kommentare wurden aktualisiert, zu „Das Cookie-Monster“ und „Wahre Namen“ wurden sie von Vernor Vinge eigens für die deutsche Ausgabe verfasst und von Erik Simon, der vorliegende ältere Übersetzungen überarbeitet hat, ebenso wie das Vorwort übersetzt.

Die Erzählungen sind thematisch sortiert. Beginnend mit „Bücherwurm, lauf!“, der ältesten Erzählung Vinges aus dem Jahr 1966, zeigt Vinge die Veränderungen, die neue Technologien für die menschliche Gesellschaft bedeuten. Ansätze der Thematik Verschmelzung von Mensch und Maschine im Lauf seiner Evolution sind ebenfalls zu erkennen.

Zahlreiche weitere Erzählungen handeln von postapokalyptischen Szenarien, in denen die gesamte Nordhalbkugel der Erde oder die ganze Menschheit vernichtet wurden. Verschiedene Formen postatomarer Gesellschaften werden vorgestellt, einige davon unter den Einfluss von Aliens.

Drei Erzählungen sind mit nur fünf beziehungsweise sechzehn und sechsundzwanzig Seiten sehr kurz geraten, qualitativ sind diese drei leider auch nicht besser: Insbesondere die titelgebende Erzählung „Tiefen der Zeit“ gehört zu den schwächsten dieser Sammlung. Die für den Hugo-Award nominierte „Barbarenprinzessin“ ist unverständlicherweise als einzige Erzählungen des aus drei Kurzgeschichten bestehenden Romans „Grimms World“ in diesem Sammelband enthalten und konnte mich leider ebenfalls nicht überzeugen.

Davon abgesehen bietet der Sammelband höchst interessante und hochwertig übersetzte Kost; die Nachbearbeitung von Erik Simon zahlte sich hier aus. Interessanterweise fielen mir nur bei der von ihm selbst übersetzten „Barbarenprinzessin“ einige wenige Setzfehler auf.

Auffallend ist der starke amerikanische Einschlag der meisten Geschichten, was vielleicht darin begründet ist, dass sie größtenteils im |Analog Science Fiction and Fact|-Magazin erstveröffentlicht wurden. Einige Thematiken sind heute nicht mehr aktuell, wie russisch-amerikanische Konflikte der Zeit des Kalten Krieges, oder die auf die Apartheid-Problematik abzielende Geschichte „Absonderung“.

Bemerkenswert ist die sprunghafte Qualität der Erzählungen. Vinge ist nicht kontinuierlich besser geworden; eine der besten Erzählungen dieser Sammlung, „Kampflose Eroberung“, stammt bereits aus dem Jahr 1968 und stellt viele der später veröffentlichten Geschichten inhaltlich und schriftstellerisch in den Schatten. Vinge war stets eher ein Ideenschriftsteller denn ein Talent in der Darstellung von Charakteren; in dieser Geschichte sowie in der mit William Rupp geschriebenen Erzählung „Gerechter Frieden“ zeigt er jedoch, dass er auch dies beherrscht. Etwas knöchern und technokratisch wirken dagegen einige der frühen Geschichten in diesem Roman, was leider auch in späteren Storys immer wieder passiert.

Interessanterweise schrieb Vernor Vinge gerade seine visionärsten Ideen in seinen frühen Erzählungen nieder; seine späteren Werke beziehen sich sehr oft auf seine zu dieser Zeit bereits erschienenen Romanwelten und sind für Leser, die diese nicht kennen, schwer verständlich.

Empfehlen kann ich diesen Sammelband auch aus diesem Grund eher Vinge-Kennern denn Neueinsteigern. Etwas irritierend ist, dass dieses Buch auf der Rückseite nirgends als Sammelband gekennzeichnet wird. Dies könnte Leser in den Irrglauben versetzen, eine Fortsetzung seiner „Zonen des Bewusstseins“-Reihe zu kaufen. Mit den prämierten Romanen dieser Reihe kann dieser Sammelband nicht ganz gleichziehen.

Meine persönlichen Highlights stellten „Kampflose Eroberung“, „Wahre Namen“, „Weitschuss“, „Spiel mit dem Schrecken“, „Gerechter Frieden“ sowie „Die Plapperin“ dar.

_Einzelbesprechungen_

_Warnung:_ |Es ist möglich, dass einige Kommentare zu den Geschichten als „Spoiler“ angesehen werden könnten. Ich hab mich dennoch entschieden, nicht auf sie zu verzichten, denn stets erläutert Vinge bereits im jeder Geschichte vorangestellten Vorwort die grundlegenden Gedanken hinter der folgenden Story und fügt weitere im Nachwort hinzu. Ich habe mich hier bewusst noch etwas mehr zurückgehalten als Vinge selbst.|

_Bücherwurm, lauf! / Bookworm, Run!_ (1966, Erik Simon)

|Die USA haben die Sowjetunion weit überflügelt: Bender-Fusionselemente machen Kraftwerke überflüssig, was einen Wirtschaftskollaps zur Folge hatte, von dem man sich aber schnell erholt hat. Der Ostblock besitzt diese Technologie nicht und ist in Auflösung und Anarchie begriffen, ein Schatten seiner einstigen Größe.

Doch die technologischen Geheimnisse drohen verloren zu gehen: Der Schimpanse Norman wurde zu experimentellen Zwecken per Funk an einen Computer mit Zugriff auf eine riesige Datenbank angeschlossen, seine durch diese und den Computer gesteigerte Intelligenz wird zur Bedrohung, als er auch Zugriff auf streng geheime Daten erhält und aus dem Testgelände entkommt …

Der Affe zeigt sich gewitzt und kann seinen Verfolgern entkommen, nicht zuletzt dank seines Zugriffs auf spannende Spionage- und Science-Fiction-Romane, denen er viele Anregungen entnehmen kann. Als er sich sicher ist, dass man ihn töten wird, sobald man ihn gestellt hat, sucht er seine Rettung als Überläufer …|

Vinge geht den Bedenken nach, welche Macht ein solcherart vernetzter Mensch hätte. Die Bender-Fusionselemente und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft nehmen nur einen geringen Raum ein. Eine Fortsetzung mit einem „Über“-Menschen anstelle des Affen lehnte sein Lektor ab; Vinge selbst räumt ein, man würde sich einer Art Singularität (ein Lieblingsbegriff Vernor Vinges) nähern, an der Extrapolation nicht mehr ausreicht und man an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft gelangt.

_Der Mitarbeiter / The Accomplice_ (1967, Franziska Zinn, überarbeitet von Erik Simon)

|Robert Royce, Chef von Royce Technologies, erfährt von seinem Sicherheitsingenieur, dass jemand unbefugt 70 Stunden Rechenzeit des Supercomputers 4D5 im Wert von rund vier Millionen Dollar unterschlagen hat.

Die Nachforschungen führen ihn zu einem seiner besten und exzentrischsten Mitarbeiter, Howard Prentice. Dieser hat eine neue, computergestützte Kunstform geschaffen und sich deshalb heimlich Rechenzeit abgezweigt.|

Diese Geschichte basiert auf der von Gordon Moore 1965 gemachten Beobachtung, dass gewisse Aspekte der Rechenleistung von Computern sich alle ein, zwei Jahre zu verdoppeln scheinen. Vinge hatte eine Vision, wie man mithilfe eines Scanners (in dieser Geschichte noch „Bildlesegerät“ genannt) und eines leistungsstarken Computers aus gezeichneten Bildern einen Animationsfilm generieren könnte. Auch wenn ihm selbst einige seiner Annahmen und aus heutiger Sicht seltsam erscheinenden Technologien peinlich sind – beweisen die Pixar-Studios sowie ILM nicht, dass Computer durchaus einen Film nachbearbeiten oder erschaffen können? Vinges Ideen, Bilder einzuscannen und den Computer dazu passende Animationen errechnen zu lassen, sind zwar krude, völlig falsch lag er mit dieser Einschätzung jedoch nicht. Ebenso mit der Idee, dass Rechenzeit in der Zukunft dank erschwinglicher und leistungsstärkerer Rechner wesentlich günstiger bis kostenlos sein würde.

_Wahre Namen / True Names_ (1981, Hannes Riffel)

|Der „Dämon“ Mr. Slippery wird von den Behörden enttarnt: Man hat seine wahre Identität, seinen wahren Namen herausgefunden und kann ihn nun zur Mitarbeit erpressen. Denn Geheimbünde der so genannten „Dämonen“ – im Cyberspace dominante Persönlichkeiten, die das Netz virtuos beherrschen, sich oft derbe Späße erlauben oder von vorneherein kriminelle Absichten verfolgen – sind die Plage dieser Zeit.

Der geheimnisvolle „Postbote“ scheint politische Ambitionen zu verfolgen; man setzt den Insider Mr. Slippery als verdeckten Ermittler auf ihn an. Mr. Slippery findet zu seinem Erschrecken heraus, dass der Postbote scheinbar einige Mitglieder der Geheimbünde enttarnt, real ermordet und ihre virtuellen Persönlichkeiten übernommen hat. Das Geheimnis um den Postboten wird umso bedrohlicher und ungeheuerlicher, je näher sich Mr. Slippery an die Wahrheit heranpirscht.|

Eine Hackergeschichte à la Vinge. Seine virtuelle Welt ist eine Fantasywelt voller Magie, in der die Rote Hexe und Robin Hood sich ein Stelldichein mit DON.MAC und anderen Persönlichkeiten geben. Die Stärke dieser Avatare liegt in der Anonymität ihrer körperlichen Existenz; diese herauszufinden hat denselben Effekt wie die Kenntnis des wahren Namens eines Magiers im Märchen: Er wird angreifbar und man gewinnt Macht über ihn. Die Identität des Postboten zu ermitteln, erweist sich als schwierig und birgt einige Überraschungen für den Leser. Eine der besten und mit 104 Seiten auch die umfangreichste Geschichte dieser Sammlung.

_Der Lehrling des Fahrenden Händlers / The Peddler’s Apprentice_ (1975, Sylvia Pukallus)

|Graf Fürneham I. von Füffen hat ein Problem: Das Südreich und sein alter Rivale Hollerich Haifischzahn sehen ihn als Bedrohung an und ziehen vereint gegen ihn zu Feld. Fürneham sieht eine Chance in der Magie eines fahrenden Händlers Zagir. Dieser kommt aus dem fernen Sharn, seine Magie würde ihm den Sieg ermöglichen.|

Der Händler entpuppt sich als Zeitreisender aus der Zukunft, deren Waren und Technologie den mittelalterlichen Bewohnern wie ein Wunder erscheinen müssen. Doch diesmal ist der Händler zu früh angekommen: Er hätte eine höher entwickelte Zivilisation erwartet. Eine „Weltregierung“ hat in das Rad der Geschichte eingegriffen und hält die Zivilisation in kontrollierter Stasis. Bisher endeten alle Zivilisationen mit ihrer eigenen Vernichtung, dieses Mal ist es gelungen, den Kreislauf zu unterbrechen. Persönliche Aggressivität und technischer Forschungsgeist werden als Bedrohung angesehen und unterdrückt. Der Händler aus der Zukunft ist eine Bedrohung für dieses System.

Diese Geschichte enstand in Zusammenarbeit mit Vernor Vinges damaliger Frau Joan D. Vinge. Die Moral der Geschichte ist die Unentscheidbarkeit: Die erzwungene Stasis ist eine Bevormundung und Unterdrückung der freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen. Nachdem der Händler den Menschen hilft, sich von diesem Joch zu befreien, muss man leider erleben, wie Graf Fürneham nach den Geheimnissen der Zukunft strebt und zum Krieg rüstet.

_Die Unregierten / The Ungoverned_ (1985, Erik Simon)

|Nach einem Atomkrieg sind die Vereinigten Staaten in zahllose kleine Nationen zersplittert. Große Teile der Bevölkerung werden von mafiaähnlichen „Sicherheitsdiensten“, die sich selbst zum Beispiel „Michigan State Police“ oder „Al’s Protection Racket“ nennen, kontrolliert und gegen andere Sicherheitsdienste verteidigt. Die geeinte neumexikanische Republik rüstet zur Eroberung dieser vermeintlich herrenlosen Gebiete und dringt mit massiven Panzer- und Luftstreitkräften in das Gebiet der Sicherheitsdienste ein. Doch in dem vermeintlich wehrlosen Land ist jeder einzelne Bewohner mit Waffen von beträchtlicher Zerstörungskraft ausgestattet …|

Vinge präsentiert seine Vision einer anarcho-kapitalistischen Gesellschaft mit ausgeprägt individuellen und gewalttätigen Zügen, die dennoch friedlich koexistieren könnte, solange niemand das Gleichgewicht des Schreckens zu seinen Gunsten beeinflussen will. Waffenhändler verkaufen an den Meistbietenden, alte Depots der US Army sind Fundgruben für den Entdecker. An die Stelle nuklearer Monopolmächte treten einzelne Personen mit Militärausrüstung bis hin zu Massenvernichtungswaffen, denen gegenüber selbst ein ganzer Staat klein beigeben muss. Vinge spricht damit eine sehr moderne Furcht an; fühlt man sich doch heute bereits bedroht, sollte ein Staat wie der Iran in den Besitz solcher Waffen geraten.

_Weitschuss / Long Shot_ (1972, Erik Simon)

|Eine Raumsonde wird auf die lange Reise in das Alpha-Centauri-System geschickt. Die „Ilse“ genannte künstliche Intelligenz verliert jedoch den Kontakt zur Erde, die sich nach einem sprunghaften Ansteigen der Sonnenaktivität auf das Zehnfache plötzlich nicht mehr meldet. Ilse setzt ihre Mission fort und überprüft gewissenhaft ihre Funktion auf der langen Reise, die von zahlreichen Systemausfällen geplagt ist. Zu ihrem Entsetzen hat sie über die Jahrhunderte auch den selten gebrauchten Teil ihres Speichers verloren, der Ziel und Zweck ihrer Mission enthält. Ilse versucht, aus ihrer Form und Beschaffenheit sowie den erhaltenen Teilen ihres Speichers sowie ihrer Nutzlast, die hauptsächlich aus gefrorenem Wasser und einigen wenigen Mikroorganismen besteht, auf ihre Mission zu schließen. Im Alpha-Centauri-System angekommen, macht sie sich auf die Suche nach Planeten mit bestimmten, eng eingegrenzten Parametern.|

Der Erzähler berichtet aus der analytischen und maschinenhaft geduldigen Perspektive Ilses. Deshalb bleibt die Mission Ilses bis zur Auflösung am Ende für den Leser ein Geheimnis, auch wenn man sie sich anhand der beschriebenen Details und Vinges Vorwort schon vorher erschließen kann. Diese vielleicht faszinierendste Geschichte des Sammelbands schreit geradezu nach einer Fortsetzung, die Vinge zwar bereits in Erwägung gezogen, aber leider noch nicht geschrieben hat.

_Absonderung / Apartness_ (1965, Erik Simon)

|Eine südamerikanische Expedition entdeckt auf einer Insel der Antarktis einen primitiven Stamm, den sie erforscht. Es kommt zu Auseinandersetzungen und man zieht sich zurück. Der Botschafter der Zulunder zeigt sich sehr interessiert an dieser Entdeckung der Südamerikaner, denn die beiden dort gefundenen Schiffswracks stehen in Zusammenhang mit der Vertreibung der letzten Weißen aus Afrika nach dem nuklearen Desaster, das die komplette Nordhalbkugel verwüstet hat.|

Mit 26 Seiten ist diese Geschichte sehr kurz, und sie basiert auf nur zwei Gedanken: Warum gibt es in der Antarktis keine Eskimos? Warum leben keine Menschen dort? Was müsste passieren, damit Menschen sich in dieser unwirtlichen Gegend ansiedeln?

Vinge macht betroffen mit der Häme der schwarzen Zulunder, die sich an der Lage der primitiven Nachfahren der weißen Oberschicht ergötzen. Diese floh damals mit zwei Schiffen aus Südafrika, bekam in Südamerika kein Asyl und muss nun in der Antarktis dahinvegetieren.

Der zweite Gedanke ist die Parabel auf die gewünschte Rassentrennung und das Konzept der Apartheid an sich, das 1965 noch sehr aktuell war. Sie ist kurz, einprägsam und macht betroffen:

„Es wird uns ein Vergnügen sein, zu sehen, wie sie sich ihrer Überlegenheit erfreuen.“ Lunama beugte sich noch eindringlicher vor. „Jetzt haben sie endlich die Absonderung von uns, die ihresgleichen immer wollte. |Sollen sie darin verfaulen| …“ (S. 333)

_Kampflose Eroberung / Conquest by Default_ (1968, Erik Simon)

|Ron Melmwn ist ein Anthropologe des „Pwrlyg“ Konsortiums, das in Australien einen Stützpunkt auf der von einem Atomkrieg weitgehend verwüsteten Erde unterhält. Man plant, die verseuchten Zonen zu besiedeln, ist aber sonst freundlich zu den Menschen und hilft ihnen sogar. Doch es gibt auch Stimmen, die eine Ausrottung der Menschheit fordern, denn die Terroranschläge der Organisation „Merlyn“ kosten das Konsortium viele Leben und Geld. Man argumentiert, es wäre einfacher, diese Welt ohne störende Einflüsse wie eine andere Spezies oder Terroristen neu zu besiedeln.

Melmwn untersucht, warum einige Menschen gegen die Pwrlyg rebellieren. Ist die in zahllose Unternehmen aufgeteilte, von Unparteiischen in der Art eines Kartellamts überwachte Aliengesellschaft nicht der perfekte Weg, um Machtmissbrauch und Kriege wie durch die Regierungen zu verhindern? Sind grenzloser Individualismus mit nur geringen gesellschaftlichen Regeln und ein wahres multikulturelles Nebeneinander nicht auch ein Traum der Menschheit?

Er erkennt, dass trotz aller guten Absichten die Menschheit Widerstand leisten muss, wenn sie ihren eigenen Weg gehen will. Doch es scheint keinen Ausweg zu geben; kulturelle Assimilation oder die totale Vernichtung ist die Wahl, vor der die Menschheit gestellt wird. Mary Dahlmann erzählt Melmwn vom Schicksal der Indianer, und auch andere hochrangige Aliens scheinen das Dilemma der Menschheit begriffen zu haben …|

Diese Geschichte gehört zu den Highlights des Sammelbands. Beeindruckend schildert Vinge, wie die hilfsbereiten Aliens auch ohne Gewalt die Menschheit vernichten können, bis nur noch wenige „Natives“ in der Art der nordamerikanischen Indianer übrig geblieben sind, deren Kultur und Lebensweise es kaum anders ergangen ist.

Dabei erschüttert das Dilemma: Kampf, um sich selbst zu erhalten, und die Vernichtung durch die Aliens riskieren? Oder sich anpassen und langsam untergehen? Oder werden sich die Aliens zurückziehen, die Menschheit sich selbst überlassen?

_Die Tiefen der Zeit / The Whirligig of Time_ (1974, Werner Vetter, überarbeitet von Erik Simon)

|Nach einem verheerenden Atomkrieg entstand das Kaiserreich der Menschheit. Dank der Erfindung des Raumantriebs konnte man sich über das ganze Sonnensystem ausbreiten. Die herrschende Dynastie geht mit den Nachkommen der Verlierer des letzten Kriegs unmenschlich und selbstherrlich um. Alle Erinnerungen an die Vergangenheit werden gezielt unterdrückt, ebenso einige Bereiche der Wissenschaft, die völlig unter der Kontrolle des Kaisers steht. Ein Terrorregime, das einer späten Rache zum Opfer fallen wird …|

Mit 26 Seiten erneut eine sehr kurze Geschichte, die inhaltlich vor Klischees nur so trieft. Vinge hat diesmal auf ein Nachwort verzichtet, auch sein Vorwort ist diesmal belanglos und kurz, er redet um den in meinen Augen peinlichen Kern der Geschichte herum.

Die böse und verderbte Herrscherschicht trägt an die russische Romanov-Dynastie erinnernde Namen, ihre armer, unterdrückter Hofnarr die Uniform der US Army. Von den Künsten schätzt der Kaiser nur „heroische Architektur“, die er für zahllose gigantische Denkmäler seiner selbst benötigt. Sein Sohn ist ein verwöhnter Fratz und behandelt wunderschöne Frauen wie Spielzeug. Kurz, eine schrecklich nette Familie.

Was ist nun der Sinn der Geschichte? In meinen Augen, ihren viel versprechenden und zu den anderen Vinge-Romanen der „Zonen des Bewusstseins“ passenden Namen, „Die Tiefen der Zeit“, für diese Sammlung herzugeben. Der Kaiser findet einen verirrten Blindgänger des Atomkriegs und nimmt ihn, die Gefahr verkennend, auf Wunsch seines Sohns an Bord ihres Raumschiffs. Die ganze kaiserliche Familie explodiert mitsamt ihres amerikanischen Hofnarren, der vermutlich zusätzlich aus hämischer Freude gleich doppelt explodiert ist. Diese Geschichte ist geprägt von dem Geist vergangener Ost-West-Konflikte und aus heutiger Sicht unerträglich; sie kann weder schriftstellerisch und inhaltlich mit ihren Rachegedanken und der klischeehaften Schwarz-Weiß-Malerei überzeugen.

_Spiel mit dem Schrecken / Bomb Scare_ (1970 Franziska Zinn, überarbeitet von Erik Simon)

|Die Dorvik, eine fortschrittliche Rasse, die sich selbst als die „Söhne des Sandes“ bezeichnet, sind eine kriegerische, an irdische Reitervölker erinnernde Spezies. Ihre Lebensauffassung ist extrem sozialdarwinistisch, sie dulden keine anderen Völker neben sich und unterwerfen sie oder rotten sie aus.

Dank ihres Materie-Energie-Konverters sind die Dorvik in der Lage, gigantische Schlachtschiffe in den Weltraum zu bringen und sie mit furchtbaren Waffen auf derselben Basis zu bestücken. Die primitive Menschheit wäre in ihrem kleinen Sonnensystem an und für sich kein Problem für die Dorvik, doch bei aller Primitivität besitzen sie eine Abwehrwaffe gegen die Konverter der Dorvik. Da die Eroberung des Sonnensystems deshalb mit primitiven Waffen betrieben werden muss, häufen sich die Verluste der Dorvik. Prinz Lal e’Dorvik beschließt, die Erde zu sprengen, um so den Widerstand zu brechen.

Doch zwei jugendliche Aliens bedrohen sowohl Dorvik als auch die Menschen: Sie regen mit ihrem kleinen, nur neun Meter großen Raumschiff die Sonne zur Nova an und verstärken ihre Energien, die sie auf einen Schlag freisetzen wollen. Das Ergebnis wäre eine ins unermessliche verstärkte Supernova, die nicht nur das gesamte Sonnensystem, sondern unaufhaltsam, nur durch die Lichtgeschwindigkeit verzögert, alle Welten des Dorvik-Raums zerstören würde.|

Hier sind sie, die guten alten BEMs (Bug Eyed Monsters). Die Dorvik sind kalte, brutale, schuppige, reptilienartige Eroberer, die kleine Säugetiere, Milvaks, als Hors d’oeuvres gerne mal mit der Kralle aufspießen, sich an ihren Zuckungen ergötzen und sie aussaugen.

Die Geschichte wird zum Großteil aus der Sicht ihres Kommandeurs Prinz Lal erzählt, der die Menschheit gar nicht erst mit einem Namen versieht, sondern stets nur vom |Feind| redet. Er will sie alleine schon aus dem Grund vernichten, dass sie ein Abwehrmittel gegen die Überlegenheitswaffe der Dorvik besitzen. Die Geschichte ist sehr humorig und voller Ironie: Zwei Alien-Bengel mischen sich als dritte Partei ein und werden von den Dorvik attackiert. Dank ihrer grenzenlosen technologischen Überlegenheit können diese ihnen nichts anhaben, aber diesen Affront wollen sie nicht auf sich sitzen lassen und beginnen, die Sonne zur Explosion anzuregen. Bis ihre Mutter erscheint und ihnen ordentlich die Leviten liest …

Die Dorvik blasen die Vernichtung des Sonnensystems ab und nehmen Friedensverhandlungen mit den Menschen auf. Prinz Lal hat gehöriges Muffensausen bekommen und verzweifelt an der Tatsache, dass selbst alle fortschrittlichen Rassen zusammen wohl nicht ausreichen würden, um ihre Sonnen gegen diesen |Feind| zu beschützen. Wie ein trotziges Kind reagiert der große Kriegsherr auf diese „Bedrohung“, nicht ahnend, dass es sich nur um den ungezogenen Streich zweier Jugendlicher handelte. Doch dieser Streich bedeutet die Rettung der Menschheit und anderer Rassen:

„Alles, was lebt, muss sich gegen sie verbünden.“ Zornig schüttelte er seine Klaue gegen den Himmel. (S. 422)

_Die Wissenschaftsmesse / Science Fair_ (1971, Erik Simon)

|Der erfolgreiche Industriespion Leandru Ngiarxis bvo-Ngiarxis wird von der hübschen Tochter des genialen Wissenschaftlers Beoling Dragnor bvo-Grawn um Hilfe angefleht: Er soll ihren Vater auf der Wissenschaftsmesse beschützen. Der Fürst von Grawn und Eigentümer des gleichnamigen Unternehmens möchte ihn umbringen, da er sich von seinem Clan losgesagt hat und möglicherweise wissenschaftliche Geheimnisse an die Konkurrenz weitergeben könnte.

Doch es geht um weitaus mehr als kleinliche wirtschaftliche Interessen: Beoling Dragnor hat eine Entdeckung gemacht, die die Zukunft ihrer auf einer Eiswelt in tiefer Dunkelheit lebenden Spezies betrifft.|

Mit 14 Seiten ist dies die kürzeste Geschichte, die Vinge jemals geschrieben und veröffentlicht hat. Obwohl man davon ausgeht, dass es sich um Menschen handelt, kann man sich nicht sicher sein: Eine lebensfeindliche Dunkelwelt des ewigen Eises, bevölkert von Wesen die im Infrarotbereich sehen, deutet nicht gerade darauf hin. Die Gesellschaft ist in Industrie-Clans aufgeteilt, die Clanzugehörigkeit wird durch das Suffix bvo-Clanname angezeigt. Obwohl diese Welt hart und unerbittlich ist, arbeitet man gegeneinander und für den eigenen Profit. Die Entdeckung Beoling Dragnors zeigt eine Bedrohung dieser Wesen, die sie nur durch Zusammenarbeit vielleicht abwenden können.

Vinge spielt hier unter anderem auf globale Umweltprobleme unserer Welt an, die nur durch internationale Kooperation gelöst werden können. Doch Profit und Gewinnstreben, Wettbewerb zwischen den Staaten und ihren Unternehmen blockieren bekanntermaßen viele Maßnahmen zum Schutz der Umwelt – was uns bei diesen Aliens so unsinnig erscheint, ist auch in unserer Welt unsinnig, aber dennoch vorhanden!

_Edelstein / Gemstone_ (1971, Erik Simon)

|Die kleine Sanda verbringt im Sommer 1957 einen langweiligen Urlaub bei ihrer Großmutter. Doch es spukt im Haus ihrer Großmutter. Ein seltsamer „Edelstein“ frisst Plastikblumen und spuckt Diamanten aus. Bei Berührung erzeugt er seltsame Gefühle, Sanda meint, dass er lebt. Doch erst der Einbruch einer Bande, die der ungewöhnliche Reichtum der alten Frau auf den Plan gebracht hat, lässt Sanda erkennen, was genau der „Edelstein“ eigentlich ist.|

Sein Lektor Stanley Schmidt hätte diese Geschichte zuerst abgelehnt, erklärt Vinge. Sie sei auch wirklich das Unausgewogenste, das er je geschrieben habe, könne sich nicht entscheiden, um was es eigentlich geht.

Dennoch ist „Edelstein“ vielleicht gerade deshalb so interessant. Vinge hat die Erinnerung an einen langweiligen Urlaub mit seiner sehr eigenen Interpretation des Films „Das Ding aus einer anderen Welt“ vermengt, dabei kam eine Art Gruselvariante des viel später erschienenen „E.T.“-Films von Steven Spielberg heraus. Allerdings sind nur gewisse Elemente dieser Geschichten ähnlich, die Erkundung und Erfahrung des fremdartigen Wesens des „Edelsteins“ macht den Reiz der Geschichte aus, die zusätzlich noch leichte Konflikte zwischen Großmutter und Enkeltochter aufweist, was bei einer Kurzgeschichte wie dieser abschweifend und irritierend wirken kann.

_Gerechter Frieden / Just Peace_ (1971, Erik Simon)

|Ein duplizierter Agent und Botschafter der Erde soll auf einem krisengeschüttelten Planeten des Delta-Pavonis-Systems Frieden schaffen. Doch die beiden Parteien zeigen sich uneinsichtig und bekämpfen sich lieber bis zur gegenseitigen Vernichtung als die Vermittlung anzunehmen. Der Agent beschließt, sie zu ihrem Glück zu zwingen. Dazu greift er zu radikalen Mitteln und terrorisiert beide Seiten, die daraufhin das Kriegsbeil begraben und sich auf den neuen, gemeinsamen Feind konzentrieren.|

Diese Geschichte schrieb Vinge zusammen mit seinem Freund William Rupp. Sie erinnert ein wenig an „Spiel mit dem Schrecken“: Erneut werden zwei verfeindete Parteien durch einen gemeinsamen „Feind“ geeint. Es werden jedoch einige neue Aspekte aufgegriffen, wie die Möglichkeit, Körper und/oder Bewusstsein zu übertragen, zu „klonen“ oder zu „duplizieren“. Der springende Punkt an der Geschichte ist die menschenverachtende Brutalität, mit der der Agent vorgeht, gar vorgehen muss, die abertausende das Leben kostet – und dennoch eine ganze Welt rettet. Dieses moralische Dilemma ist zentral für die Geschichte, in der Vinge und Rupp im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten dieser Sammlung viel Zeit auf die Charakterisierung des Hauptcharakters verwenden, die demzufolge auch wesentlich lebendiger und unterhaltsamer als sonst gelungen ist, was dem Lesevergnüngen ausgesprochen gut tut.

_Mit der Sünde geboren / Original Sin_ (1972, Joachim Körber, überarbeitet von Erik Simon)

|Die Shimaner sind die zweite intelligente Spezies, der die Menschheit je begegnet ist. Bei der Landung der Menschheit lebten sie noch im Paläolithikum. Doch sie lernen unheimlich schnell, besitzen eine überragende Intelligenz und eine bemerkenswerte Gabe zum logischen und problemlösenden Denken. Deshalb importiert man viele Shimaner auf die Erde, um sie zur Lösung verzwickter Problemfälle einzusetzen. Die Shimaner haben einen Traum, den auch die Menschheit teilt: Unsterblichkeit. Aber leider leben sie nur knapp 25 Monate. Ungeduldig und aggressiv erscheinen sie deshalb den Menschen; ein shimanischer Projektmanager duldet keine Verzögerungen, was man allgemein ihrer niedrigen Lebensspanne zuschreibt.

Ein gewisser Samuelson bietet den Shimanern Raumschiffe an, mit denen sie in den Weltraum expandieren können. Als Konkurrent der Menschheit, die sich immer mehr auf sie verlässt und degeneriert …|

Diese Geschichte steht in Kontrast zu einem sonst sehr üblichen Schema: Weise, langlebige und großmütige Außerirdische mit höherer Intelligenz und Wissen stehen normalerweise einer kurzlebigen, aggressiven und dümmeren Menschheit gegenüber. Vinge hat dieses Schema hier verdreht: Hier ist die kurzlebige und aggressive Spezies intelligenter als die Menschen, deren Großmut ihnen schlecht gelohnt werden könnte. Das „Sein bestimmt das Bewusstsein“, meinte Marx, und unter dieser Prämisse muss man auch die höllischen Zustände auf Shima verstehen, die dem Leser vor Augen geführt werden: Die Shimaner durchleben in kurzen Zeitspannen alle Sünden und Grausamkeiten der Menschheit – und nun droht ihre Expansion zu anderen Sternen, was ein gewaltiges Gefahrenpotenzial für die Menschheit darstellt.

_Die Plapperin / The Blabber_ (1988, Erik Simon)

Obwohl Vernor Vinge „Die Plapperin“ lange vor „Ein Feuer auf der Tiefe“ und [„Eine Tiefe am Himmel“ 364 geschrieben hat, kann man diese Geschichte als Erweiterung dieser beiden Romane ansehen. In der Tat ist die Idee der auf mehrere Körper verteilten Bewusstseinsteile der Klauenwesen in der Plapperin sehr ähnlich zu „Ein Feuer auf der Tiefe“.

_Warnung:_
Da diese Geschichte in Vinges „Zonen des Bewusstseins“-Universum spielt, sollte sie nur gelesen werden, sofern man „Ein Feuer auf der Tiefe“ bereits gelesen hat. Ansonsten stößt man auf nirgends erklärte Konzepte, kann Vinge nicht folgen und verdirbt sich möglicherweise den Spaß an „Ein Feuer auf der Tiefe“.

_Gewinne einen Nobelpreis! / Win a Nobel Prize!_ (2000, Erik Simon)

Im Jahr 2000 schrieb Vernor Vinge für das wöchentliche erscheinende |Nature|-Magazin wie viele andere SF-Autoren nach der Idee des Redakteurs Henry Gee eine maximal drei Seiten lange Geschichte, die einen Ausblick ins nächste Jahrhundert bieten soll.

Vinge schreibt in der Form einer E-Mail mit zahlreichen Hyperlinks (die Links sind in der Druckausgabe unterstrichen, aber ohne URL) und berichtet über eine Technologie, die Erinnerungen an seine erste Geschichte weckt: Die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Alles in allem kein neuer Gedanke und nur mäßig originell geschrieben.

_Die Barbarenprinzessin / The Barbarian Princess_ (1986, Erik Simon)

|Verleger Rey Guille reist mit seiner Barke auf einer Welt umher, die aus zahllosen Archipelagos besteht. Große Teile dieser Welt befinden sich noch im Stadium tiefer Barbarei, der Entwicklungsstand von Rey Guilles Mannschaft ist schwer einzuschätzen, Buchdruck und Seefahrt auf dem Stand des 15. Jahrhunderts beherrschen sie jedoch bereits.

Seine populärste Serie ist die über Hrala, eine über einen Meter achtzig große, phantastisch gebaute, unglaublich starke und geschickte, rachsüchtige und triebhafte Barbarenprinzessin. Eines Tages bringt man ihm eine echte Barbarin an Bord, deren unaussprechlichen Namen er zu Tatja Grimm verkürzt. Sie ist sehr groß; auch wenn sie rotes statt schwarzem Haar hat und der Busen viel zu klein ist, meint man, aus ihr eine perfekte Hrala für Werbezwecke machen zu können.

Die in der Zivilisation sehr verloren wirkende Tatja darf bald ihre Schauspielkünste beweisen: Guille und seine Crew werden bei Nachforschungen über das Schicksal der Besatzung einer geenterten Barke von Wilden gefangen genommen. Mit billigem Flitter als Rüstung und einem hölzernen Schwert, das, mit Glitzersteinchen besetzt und silberner Farbe bestrichen, keinen Hieb verkraften würde, macht sie sich daran, die Einheimischen in der Rolle von Hrala das Fürchen zu lehren und Rey zu retten.|

Diese Erzählung wurde im Jahre 1987 für den Hugo-Award nominiert. Dabei muss man wohl den in Deutschland bisher noch nicht veröffentlichten Roman „Grimm’s World“ kennen, denn der Weltentwurf ist nur sehr vage und unbefriedigend lückenhaft, selbst für eine Erzählung. Mit Rey Guille und Hrala, der Barbarenprinzessin, sind Anspielungen auf den bekannten Science-Fiction-Schriftsteller und Herausgeber Lester del Rey sowie Robert E. Howards Conan- und Red-Sonja-Erzählungen enhalten.

Die Geschichte ist keineswegs als Persiflage zu verstehen, denn Tatja spielt ihre Rolle so gut und mutig gegenüber den bewaffneten Wilden, dass Rey am Ende glaubt, einer Besucherin von einem anderen Stern, einer Göttin, gegenüber zu stehen.

Überzeugen konnte mich diese Geschichte allerdings nicht: Man kann sie nicht mit der Heroic Fantasy eines Robert E. Howard vergleichen, noch handelt es sich um Science-Fiction im herkömmlichen Sinne. Diese Geschichte erschien mir sehr inkonsistent; es ist nie klar, ob die Wilden die Hrala-Geschichten kannten oder überhaupt lesen konnten, aber die Show beeindruckte sie genug, um ihre Gefangenen freizulassen.

Dass die Barke, auf der Rey Guille lebt, ein gigantisches Schiff von der Größe einer Kleinstadt ist, und dass Tatja wirklich schlauer ist als die Barbaren, bei denen sie aufgewachsen ist, und sogar schlauer als die Leute an Bord der Barke und sie in der Folge versucht, sich zur Herrin derselben aufzuschwingen, konnte ich nur durch Recherche herausfinden.

Der Roman „Grimm’s World“ besteht aus drei Kurzgeschichten, die relativ wenig Kohärenz besitzen und eher dem Fantasy-Genre mit anthropologischen Einschlägen zuzuordnen sind. „Die Barbarenprinzessin“ ist die erste dieser Geschichten; was sie von den beiden anderen getrennt in diesem Sammelband zu suchen hat, ist fraglich. Lust auf „Grimm’s World“ hat sie nicht gerade gemacht.

_Das Cookie-Monster / The Cookie Monster_ (2003, Erik Simon)

Eine weitere Geschichte zu Vinges Lieblingsbegriff und -thema „Technische Singularität“: Was wäre, wenn es KIs gäbe, die nicht viel intelligenter als wir wären, aber mehrere tausend Mal schneller denken könnten?

Diese KIs könnten innerhalb weniger Augenblicke Weisheit erlangen, die einem Menschen verschlossen bliebe. Was wäre, wenn diese KIs ihre Erfahrungen speichern und an andere KIs weitergeben würden?

Bis diese Geschichte anfängt, interessant zu werden, vergeht leider geraume Zeit. Erst ab dem Kontakt Dixie Maes mit Rob Stern kann diese Erzählung gefallen; die wirklich interessanten angesprochenen Thematiken kommen dann leider arg kurz. Als krönenden Abschluss des Sammelbands hätte ich mir eine andere Geschichte gewünscht; obwohl neueren Datums, konnte sie mich ähnlich wie die „Barbarenprinzessin“ nicht ansprechen.

John Varley – Der Satellit

Das 21. Jahrhundert nähert sich seiner Mitte, als das Forschungsschiff „TRS Ringmeister“ den Gasplaneten Saturn ansteuert. Sieben Männer und Frauen nehmen an dieser Mission teil, die unter dem Kommando von Cirocco Jones steht. Das eigentliche Reiseziel gerät indes ins Abseits, als im Orbit des Planeten kreisend ein bisher unbekannter Mond recht stattlicher Größe entdeckt wird. „Themis“ wird er genannt und die Aufregung ist groß, als er sich als künstliches Gebilde erweist – ein 1300 km durchmessendes Rad mit sechs Speichen, dessen „Felgenumfang“ 4000 km beträgt.

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Lukianenko, Sergej – Wächter des Tages

Der Auftakt zu Sergej Lukianenkos Wächter-Trilogie schlug unter anderem dank großzügiger Kinowerbung ein wie eine Bombe, das Buch stand wochenlang in den Bestsellerlisten ganz weit oben und auch der Andrang am Kino war anfangs für eine russische Verfilmung sehr groß. Und auch wenn der Kinofilm vielleicht nicht den westlichen Massengeschmack getroffen hat, wurde die Fortsetzung in Buchform doch ungeduldigst erwartet. In [„Wächter der Nacht“ 1766 wurde ein düsteres Bild von Moskau gezeichnet; hier trafen wir auf den Lichten Magier Anton, der für die Nachtwache arbeitet und einige Abenteuer und Gefahren zu überstehen hat. Die beiden großen Magier Sebulon und Geser intrigieren gegenseitig und manchmal auch scheinbar gegen ihre eigene Wache, sodass nie klar war, wer in dieser Trilogie wirklich die Guten sind und wer die Bösen. Umso gespannter war ich auf die „Wächter des Tages“, die sich nun der Gegenseite widmen, sodass wir auch die Tagwache näher kennen lernen werden.

Zunächst treffen wir auf die dunkle Hexe Alissa, die einst Sebulons Geliebte war, nach dem Missbrauch des Kraftprismas beim Chef der Tagwache allerdings in Missgunst gefallen ist. Die erste Geschichte beginnt sogleich mit einem Kampf zwischen den Lichten und den Dunklen, bei dem eine Dunkle stirbt und Alissa alle magischen Kräfte verliert und nicht mehr ins Zwielicht eintreten kann. Doch dadurch rehabilitiert sie sich und gewinnt Sebulons Vertrauen zurück. Alissa wird zu einem Urlaub in ein Kindererholungsheim geschickt, um dort neue Kräfte zu tanken. In den Alpträumen der Kinder gewinnt Alissa ihre magischen Fähigkeiten zurück. Doch auch ein anderer Betreuer erhält Alissas verstärkte Aufmerksamkeit, denn sie beschließt, die Zeit im Erholungsheim zu einer kleinen Affäre zu nutzen. So verführt sie den gut aussehenden Igor und verbringt eine heiße Nacht am Strand mit ihm. Doch als sie ihre magischen Fähigkeiten zurückerlangt hat, muss sie erkennen, dass Igor ein lichter Magier ist, der ebenfalls zum Krafttanken in das Heim geschickt wurde. Es kommt zum Kampf zwischen den beiden, der für einen der Widersacher tödlich endet.

Die zweite Geschichte widmet sich dem Lichten Witali, der sein Gedächtnis verloren hat und nicht weiß, wer er eigentlich ist. Nach und nach bemerkt Witali, dass er über große magische Kräfte verfügt, mit denen er sogar Geser und Swetlana überrumpeln kann. Gleichzeitig wird eine mächtige Kralle entwendet, woraufhin es zu einigen Morden auf Seiten der Dunklen kommt. Erst nach und nach wird klar, welche Rolle Witali im Gesamtgefüge der Wachen spielt, am Ende der Geschichte kommt es zu einem fulminanten Showdown, bei dem das Kräftegleichgewicht wieder hergestellt wird.

Erst in der dritten Geschichte jedoch verdichten sich die Geschehnisse, wir erfahren mehr über die Zusammenhänge innerhalb des zweiten Teils der Wächter-Trilogie, aber langsam durchschauen wir auch, welche Rolle Alissa und ihre Liebesgeschichte spielen, welchen Part Igor dabei einnimmt und welchen die gestohlene Kralle. Im Laufe dieser Geschichte gibt Sergej Lukianenko viele Geheimnisse preis und erklärt uns ansatzweise, welche düsteren Pläne die beiden Chefs der Tag- und Nachtwache verfolgen. Auch hier wird wieder mehr als deutlich, dass es keine Guten und Bösen im eigentlichen Sinne gibt. Doch leider endet auch diese Geschichte offen, sodass wir ungeduldig auf den bereits heiß ersehnten dritten Teil „Wächter des Zwielichts“ warten müssen, bis wir endlich hinter die Fassaden blicken können …

Sergej Lukianenko versteht es hervorragend, seine Wächter-Trilogie in diesem Mittelband fortzusetzen und weiter auszubauen. Er gönnt uns keine Ruhepause, sondern steigt direkt mit einem gefährlichen Kampf zwischen Licht und Dunkel ein, bei dem beide Seiten große Verluste wegzustecken haben. Doch wie schon im ersten Teil, dient auch diese Schlacht nur zur Ablenkung. Sebulon und Geser verfolgen beide ihre eigenen Pläne und setzen ihre eigenen Wächter wie Figuren in einem Schachspiel ein, sodass die eine oder andere Figur bei diesem Spiel auch geopfert werden muss. Nur ganz langsam lässt Lukianenko uns einige Zusammenhänge verstehen und erst am Ende von Band 2 erfahren wir, wessen Schicksal durch die Schicksalskreide in [„Wächter der Nacht“ 1828 eigentlich umgeschrieben wurde und zu welchem Zweck dies geschah. Dadurch baut Lukianenko kontinuierlich Spannung auf, doch ganz bewusst lässt er viele Fragen offen, die uns natürlich zum Kauf der Fortsetzung verleiten werden.

Während Sergej Lukianenko uns in seinem ersten Teil Anton als Bezugsperson an die Hand gegeben hat, aus dessen Sicht wir sämtliche Ereignisse geschildert bekommen haben, wechseln die Bezugspersonen in „Wächter des Tages“, sodass wir uns nicht so recht einfühlen können in die Welt der Tagwache. In dem Moment, wo uns die Hexe Alissa sympathisch wird und wir ihre widerstreitenden Gefühle nachvollziehen können, müssen wir uns von ihr bereits verabschieden, weil die Perspektive zu Witali wechselt, der für die zweite Geschichte unser Erzähler sein wird. Für die Sympathieverteilung bedeutet das, dass wir weiterhin eher mit den Wächtern der Nacht fühlen, da Anton für mich der Sympathieträger bleibt, der immer noch seiner Liebe Swetlana hinterher trauert, mit der er aufgrund ihrer großen magischen Kräfte keine glückliche Zukunft haben kann.

Meiner Meinung nach verschenkt Sergej Lukianenko durch den Wechsel der Bezugspersonen einiges Potenzial, da wir mit keiner handelnden Figur so recht warm werden können. Unsere Sympathieträger werden immer genau dann geopfert, wenn wir sie gerade besser kennen gelernt und uns mit ihnen angefreundet haben. Dadurch steht man als Leser etwas verloren da und vermisst eine Identifikationsfigur, die Anton im ersten Band repräsentiert hat. So war ich dann froh, als Anton in der dritten Geschichte dieses Bandes wieder eine wichtige Rolle übernahm und häufiger auftrat. In der dritten Geschichte schwenkt Sergej Lukianenko hin und her, im regelmäßigen Wechsel begleiten wir auf der einen Seite Anton und auf der anderen Seite den Dunklen Edgar, die beide allmählich die Pläne ihrer beiden Chefs durchschauen und uns dabei peu à peu die Antwort auf viele Fragen präsentieren.

Auch in diesem Band spielt Sergej Lukianenko seine Stärken aus; so gestaltet er seine Charaktere weiter aus und wir lernen neue Facetten der wichtigen Figuren kennen. Bei Lukianenko gibt es keine Schwarzweiß-Zeichnungen, er gibt all seinen Charakteren gute wie auch schlechte Wesenszüge mit, die die Grenzen zwischen Gut und Böse erfreulich verwaschen gestalten. So kann im Grunde genommen jeder Leser für sich entscheiden, mit wem er mitfiebern möchte, Lukianenko gibt uns keine Seite vor. Für mich ist und bleibt Anton Gorodetzki die Identifikationsfigur schlechthin, seine Gefühle für Swetlana sind nachvollziehbar, ebenso wie seine Zweifel und Frustration, weil er die Pläne seines Chefs nicht versteht und sich von Geser und Sebulon ausgenutzt fühlt. Anton ist nicht perfekt, auch in „Wächter des Tages“ muss er sich zwischen zwei Seiten entscheiden, um am Ende vielleicht doch eine Zukunft mit Swetlana haben zu können.

Sergej Lukianenkos Charaktere sind vielschichtig und authentisch, sie werden uns mit all ihren Vorzügen, Zweifeln, Intrigenspielen und in all ihrem Gefühlschaos vorgestellt. Aber es sind nicht nur die ausgefeilten Figuren, die offenbaren, dass Lukianenko ein sehr genaues Bild von seiner Zwielichtwelt vor Augen hat; es ist insbesondere die komplexe und schwer durchschaubare Handlung, die ein Zeichen dafür ist, dass Lukianenko noch viel vor hat in seiner Wächter-Trilogie. Er hat eine realitätsnahe Welt geschaffen, in der die Anderen in einem komplizierten Miteinander leben, das von Kämpfen, Intrigen und Vertragsbrüchen gekennzeichnet ist, die immer wieder das labile Kräftegleichgewicht ins Wanken bringen. In diesem Band werden uns zwar einige Zusammenhänge erklärt, doch wird unterschwellig deutlich, dass Lukianenko uns die entscheidenden Hinweise weiter verheimlicht. Bei den Anderen steckt hinter jeder Tat noch viel mehr, meist handelt es sich um Ablenkungsmanöver, nie können wir sicher sein, dass wir wirklich schon hinter die Fassade geblickt haben; Lukianenko lässt uns nur an der Oberfläche kratzen und fesselt uns dadurch nur umso mehr an seine Bücher.

So bleibt festzuhalten, dass „Wächter des Tages“ zwar mit den üblichen Problemen eines Mittelbandes zu kämpfen hat, da Anfang und Ende des Buches offen gestaltet sind, dennoch überzeugt Lukianenko erneut (fast) auf ganzer Linie. „Wächter des Tages“ ist atmosphärisch dicht geschrieben, düster, spannend, zwiespältig, es weckt unsere Neugier auf die Fortsetzung und bietet viel Potenzial für den ausstehenden Abschluss der Wächter-Trilogie. Viele Dinge sind noch ungeklärt, viele Schicksale stehen nicht fest, sodass Sergej Lukianenko in „Wächter des Zwielichts“ noch einiges aufklären muss. Mit nur winzigen Schönheitsfehlern wie der fehlenden Bezugsperson bleibt „Wächter des Tages“ ein klein wenig hinter dem ersten Teil der Trilogie zurück, doch bietet es auf der anderen Seite einen genaueren Blick in die Welt der Tagwache, sodass wir die Gefühle und Denkweisen der Dunklen viel besser nachvollziehen können, und es bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, die Lukianenko hoffentlich in „Wächter des Zwielichts“ aufgreifen wird, um uns endlich verstehen zu lassen, was in der Welt der Anderen wirklich vor sich geht. Was will man mehr?

Ridpath, Michael – Absturz

_Story_

Alex Calder verdiente sich einst seine Sporen als Oberleutnant der Royal Air Force. Nach einem Tornadoabsturz, den ein Insasse mit dem Leben bezahlen musste, sah sich Alex jedoch gezwungen, das Metier zu wechseln. Seitdem ist er Trader bei der erfolgreichen Investment-Bank Bloomfield Weiss und hat mit dazu beigetragen, dieses Unternehmen an die Spitze zu bringen. Seine Kenntnisse über den internationalen Devisenmarkt haben ihm bei seiner zweiten Chance einen steilen Karriereverlauf ermöglicht, dessen Ende noch nicht in Sicht ist.

Dann jedoch wird Alex in einen geheimnisvollen Komplott verstrickt. Seine Kollegin Jennifer Tan wendet sich vertrauensvoll an ihn und berichtet ihm von den unmoralischen Angeboten des Star-Traders von Bloomfield Weiss. Sie fühlt sich von ihm immer stärker belästigt, kann sich aber alleine nicht zur Wehr setzen. Calder versucht daraufhin, ihr zu helfen, bekommt aber von den Bossen eine Abfuhr erteilt – man will ihm nicht glauben, schließlich ist der Kollege ja auch ein indirekter Konkurrent. Jennifer sieht keinen anderen Ausweg mehr und zieht gegen die Firma vor Gericht.

Doch dies ist ihr Todesurteil; wenige Tage später kommt sie nämlich bei einem Sturz aus dem Fenster ihrer Wohnung ums Leben. Die Verstrickungen scheinen jedoch auch mit ihrem Tod kein Ende zu finden, denn die Polizei handelt den Todesfall als Selbstmord ab. Alex indes glaubt nicht an das Urteil der Behörden und versucht auf eigene Faust, der Sache auf die Spur zu kommen. Als dann schließlich ein weiterer Mordfall sein Umfeld erschüttert, wird die Sache langsam heikel …

_Meine Meinung_

„Absturz“ ist mit Sicherheit kein ungewöhnlicher Thriller, dafür aber ein verdammt guter. In bester Tom-Clancy-Manier strickt Michael Ridpath hier eine sehr spannungsgeladene, mit zahlreichen überraschenden Wendungen gewürzte Story zusammen, bei der er sein umfassendes Wissen über den internationalen Finanzmarkt bestens einbringen kann. Was meist zu trockner Selbstbeweihräucherung führt – schließlich rühmt sich ja so mancher Autor gerne mit seiner Fachkundigkeit –, ist bei Ridpath aber nur Mittel zum Zweck und wird auch nicht ständig in den Vordergrund gestellt. Der Autor erklärt lediglich den Aufbau der Firma Bloomfield Weiss anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und geht auch nur auf die Zusammenhänge näher ein, die für die Progression des Plots wichtig sind. Genau so lässt sich Beamtenjargon fließend lesen!

Im Vordergrund steht indes natürlich die Geschichte des Protagonisten Alex Calder. Bei ihm sind der im Titel thematisierte Absturz und der darauf folgende, rasante Aufstieg eng miteinander verknüpft. Calder wird als eine sehr ehrgeizige Person vorgestellt, ein Workaholic, der als Karrieremensch eine echte Identifikationsfigur darstellt. Eigentlich lässt sich der Hauptakteur auch durch nichts aus der Ruhe bringen, bis ihn plötzlich einige unliebsame Ereignisse, die zunächst außerhalb seines Einflussbereiches geschehen, einholen. Mit Willenskraft und dem Einsatz, der Calder schon ein Leben lang ausgezeichnet hat, versucht er, die Angelegenheiten wieder ins Lot zu bringen, läuft dabei aber samt seiner Kollegin Jennifer Tan gegen Wände an. Gedanken an die Vergangenheit steigen auf, doch dieses Mal lässt sich der erfolgreiche Trader nicht mehr von seinem Ziel abbringen. Und somit kämpft er auch gegen einen erneuten Absturz.

Die Elemente, mit denen Ridpath in seinem aktuellen Roman arbeitet, sind indes nicht besonders aufregend. Es ist eben alles schon mal dagewesen, angefangen bei den üblen Verstrickungen in der großen Firma bis hin zur ernüchternden Selbstmord-Theorie, der man nicht so wirklich glauben will. Und dennoch ist „Absturz“ ein wirklich empfehlenswertes Buch geworden. Michael Ridpath schafft es nämlich sehr schön, selbst derart bekannte Inhalte zu einer mitreißenden Story umzufunktionieren, die aufgrund der vielen überraschenden Ereignisse merklich an Klasse gewinnt. Es ist in etwa vergleichbar mit den Grisham-Romanen; auch der berühmte Bestseller-Jurist arbeitet in jedem Buch nach demselben Strickmuster, zaubert aber jedes Mal wieder eine umwerfende Geschichte hervor, ohne dabei ausschließlich Klischees zu bemühen. Zwar liegen zwischen Grisham und Ridpath stilistisch Welten (abgesehen vom vergleichbaren Aufbau von „Die Firma“), doch die Ansätze sind durchaus ähnlich – und das Ergebnis auch.

Die Geschichte ist stark, die Charaktere glaubwürdig und der Aufbau trotz vieler Verzwickungen durchweg logisch, gehörige Spannung inklusive. Ridpaths mittlerweile vierter Roman ist ein wirklich atemberaubender Thriller, den man so schnell nicht mehr beiseite legen kann. Wer sich mit der Literatur von Leuten wie Tom Clancy beschäftigt und diese zu schätzen gelernt hat, wird an „Absturz“ sicherlich eine Menge Freude haben.

Stephen King – Puls

Clayton Riddell ist ein bislang erfolgloser Comiczeicher, der gerade in Boston seine erste Geschichte verkauft hat. Dadurch hofft er, dass sich das Blatt von nun an für ihn wenden wird und ihm eine sorgenfreie Zukunft bevorsteht. Zuhause in Maine wartet seine Familie auf ihn; seine Frau Sharon, von der er sich kürzlich getrennt hat, und sein zwölfjähriger Sohn Johnny. Kurz vor seiner Rückfahrt besorgt Clay noch Geschenke für die beiden und will sich ein Eis bei einem Straßenverkäufer genehmigen. In dem Moment, als er in der Warteschlange steht, bricht plötzlich auf der Straße die Hölle los. Mehrere Menschen beginnen völlig unkontrolliert übereinander herzufallen. Ein junges Mädchen tötet eine Frau mit Bissen in den Hals, ein Mann greift Passanten mit einem Fleischermesser an, ein anderer reißt einem Hund mit den Zähnen sein Ohr ab. Binnen Sekunden gerät die gesamte Stadt außer Kontrolle. Autos kollidieren auf den Straßen, Feuer brechen aus, Menschen springen aus den Hochhäusern; Feuerwehr, und Notdienste sind rettungslos überfordert, die Polizei erschießt gnadenlos jeden Angreifer.

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Stieg Larsson – Verblendung (Millennium 1)

Wenn man den Pressestimmen im Klappentext Glauben schenkt, dann dürfte „Verblendung“ von Stieg Larsson eine der vielversprechendsten Thriller-Veröffentlichungen des Jahres sein. Der kritische Leser mag da gleich entgegenhalten, dass ebendiese Pressestimmen allesamt von schwedischen Zeitungen mit unaussprechlichen und nach Ikea-Katalog klingenden Namen kommen, doch für den |Heyne|-Verlag war dies kein Hindernis, „Verblendung“ schon mal im Vorfeld als Thrillerveröffentlichung des Jahres zu lobpreisen. Ob das alles nur leere Versprechungen sind oder in dieser Lobhudelei wirklich ein Fünkchen Wahrheit steckt, soll der folgende Text klären.

Ganz beschaulich fängt der Roman an, als der Journalist Mikael Blomkvist den Auftrag erhält, eine Familienchronik im Auftrag des Patriarchen Henrik Vanger zu schreiben. Die Vangers stehen einem der größten schwedischen Konzerne vor, einem komplexen Familienimperium, das tief in der schwedischen Geschichte verwurzelt ist.

Für Mikael kommt dieser Auftrag gerade zur rechten Zeit, gibt er ihm doch die Möglichkeit, nach seiner Verurteilung wegen übler Nachrede aus dem Rampenlicht der Stockholmer Pressewelt abzutauchen. Mikael hatte in einem Artikel für sein Magazin „Millennium“ über zwielichtige Geschäfte des Großindustriellen Hans-Erik Wennerström berichtet, aber in der darauf folgenden Gerichtverhandlung den Kürzeren gezogen.

So richtet Mikael sich also auf der beschaulichen Insel Hedeby ein, um an Vangers Familienchronik zu schreiben. Was nur Henrik Vanger und er selbst wissen, ist, dass dies nur ein Scheinauftrag ist. In Wirklichkeit soll Mikael herausfinden, was aus Vangers vor vierzig Jahren verschwundenen Großnichte geworden ist. Harriet Vanger war in Henrik Vangers Augen eine wichtige Hoffnung für die Zukunft des Vangerschen Konzerns. Doch Harriet verschwand während einer Familienzusammenkunft auf der Insel unter mysteriösen Umständen. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Henrik Vanger vermutet einen Mord.

Als Mikael nach einigen Wochen der Ermittlungen wider Erwarten eine erste Spur entdeckt, wird ihm die junge Ermittlerin Lisbeth Salander zur Seite gestellt. Lisbeth, die mit sehr eigenwilligen Methoden arbeitet und sich nie in die Karten gucken lässt, stellt sich als überaus pfiffige und kompetente Assistentin heraus. Gemeinsam kommen die beiden auf die Spur eines alten Familiengeheimnisses und bringen sich durch ihr Wissen schließlich selbst in Gefahr. Wie schwer die Wahrheit wirklich wiegt, die die beiden zutage fördern werden, ahnen sie dabei selbst noch nicht, aber sie werden sich wünschen, dieses grausige Geheimnis niemals aufgestöbert zu haben …

Der Handlungsabriss von „Verblendung“ verspricht schon außerordentlich spannende Lektüre. Obwohl Larsson den Handlungsbogen ganz gemächlich spannt, zieht er den Leser gleich tief in die Geschichte hinein. Er erzählt auf eine schlichte und lockere Art, schafft es aber, den Leser von Anfang an mitzureißen. „Verblendung“ ist ein Buch, das den Anschein erweckt, als würde es sich quasi von selbst lesen. Leichtfüßig huscht man mit den Augen über die Seiten und zieht dabei unmerklich mit der Zeit das Lesetempo an – bis man irgendwann an den Punkt kommt, dass man „Verblendung“ nicht mehr gerne aus der Hand legen mag.

Dabei ist es nicht einmal die Spannung, die den Leser von der ersten Seite gefangen nimmt. Vielmehr sind es die Figuren, mit denen man mitfiebert. Larsson widmet sich erst einmal in aller Ruhe dem Leben seiner beiden Protagonisten Mikael und Lisbeth. In aller Ruhe erzählt er ihre Vorgeschichte (die in beiden Fällen durchaus interessant ist) und sorgt damit für eine vergleichsweise enge Bindung zwischen Leser und Figuren. Larsson geht es ganz offensichtlich nicht einfach nur darum, oberflächliche Spannung zu erzeugen und den Leser in einem atemlosen Plot mitzureißen, er legt seine Geschichte auf etwas mehr Tiefe an.

Mikael und Lisbeth sind zwei Figuren, die für sich genommen schon reichlich unterhaltsam sind. Beide haben ihre ganz ureigenen Macken. Bei Mikael ist es ein permanentes, offenes Dreiecksverhältnis, das er nun schon seit Jahren mit Freundin und Chefredakteurin Erika pflegt. Bei Lisbeth ist es ihre mangelnde soziale Kompetenz. Lisbeth ist aktenkundig und wird betreut, ist in ihrem Job als Ermittlerin für eine Security-Firma aber unübertroffen. Mikael und Lisbeth sind in ihrer ganzen Art und Weise ein interessanter Gegensatz, und auch dieser ist es, der auf den Leser einen Reiz ausübt und ihn bei der Stange hält.

Mit dem Thrillerplot lässt sich Larsson dagegen Zeit, aber das kann er sich durchaus leisten, denn auch so bleibt die Geschichte stets interessant. Mikaels Arbeit gleicht der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Immer wieder geht er Akten und Polizeiberichte durch, die vor ihm schon andere zigmal durchgekaut haben. Natürlich ist dem Leser klar, dass Mikael irgendwann etwas finden wird, aber dadurch, dass Larsson diesen Moment hinauszögert, steigert er die Spannung.

Als Mikael dann die erste Spur entdeckt, beginnt Larsson kontinuierlich an der Spannungsschraube zu drehen. Mit viel Liebe zum Detail schildert er Mikaels mühselige Vorgehensweise zur Rekonstruktion der Geschehnisse von vor vierzig Jahren. Als dann die ersten Drohungen gegen das Ermittlerduo von unbekannter Adresse kommen, steigt die Spannung zu ihrem Höhepunkt an. Larsson enthüllt eine grausige Familiengeschichte, und das Wissen darum ist für beide Protagonisten gleichermaßen belastend.

Der Spannungshöhepunkt ist dann schon weit vor Ende des Buches erreicht. Schon 150 Seiten vor dem Ende des Romans ist der Fall geklärt – größtenteils schlüssig aufgelöst und bis auf in kleineren Details durchaus glaubwürdig. Doch auch nach diesem vermeintlichen Ende gibt es noch einiges Spannendes zu lesen. Auch wenn der Fall abgeschlossen ist, so gibt es für die Protagonisten doch noch Vieles zu tun. Auch hier steigt die Spannung zum Ende hin dann noch einmal gewaltig an und endet mit einem Tusch, der die Romankomposition wunderbar abrundet.

Vom Aufbau her kann man „Verblendung“ durchaus als sehr gelungene Spannungslektüre sehen. Der Plot ist dicht und fein gewoben, der Leser fiebert mit den Figuren mit und der Erzählstil ist so eingängig und leichtfüßig, dass man bei der Lektüre gerne mal die Zeit vergisst. Man bekommt einen Einblick in den Journalistenalltag und blickt den Figuren bei all ihren Aktivitäten stets über die Schulter. Man ist nah am Geschehen, schmunzelt und leidet mit den Protagonisten, die sehr bildhaft und trotz ihrer merkwürdigen Eigenarten lebensnah erscheinen.

„Verblendung“ ist der Auftakt zu Larssons „Millennium-Trilogie“. In Schweden hat sich der Roman so ordentlich verkauft, dass die Verfilmung offenbar bereits in Arbeit ist. Die Filmrechte hat sich übrigens die gleiche Produktionsfirma gesichert, die auch schon Mankells Wallander-Krimis verfilmt hat. Larsson ist mit „Verblendung“ für den „Gläsernen Schlüssel“, den schwedischen Krimipreis, nominiert worden. Larsson selbst war seines Zeichens Journalist und Herausgeber des schwedischen Magazins „EXPO“ – also selbst ein kleiner Mikael Blomkvist. Vielleicht wirkt auch deswegen das Leben von Blomkvist so authentisch. Larsson starb leider schon 2004 fünfzigjährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

Kurzum: Mit „Verblendung“ ist Stieg Larsson ein überaus spannend erzählter Roman geglückt. Ob das Ganze nun wirklich die Thriller-Veröffentlichung des Jahres ist, werden wir wohl erst am Jahresende wissen. Dennoch kann man „Verblendung“ getrost weiterempfehlen. Man fiebert mit den Figuren mit, schließt sie in sein Herz und mag sie am Ende des Romans gar nicht mehr verlassen. Der Spannungsbogen strebt kontinuierlich aufwärts und trotzdem besitzt Larsson die Professionalität, seinen Roman gewissermaßen ruhig angehen zu lassen. Freunden spannender Lektüre absolut zu empfehlen, denn mit diesem Buch vergisst man die Zeit.

Blazon, Nina – Rückkehr der Zehnten, Die

Noch nichts von Nina Blazon gehört? Nun, das sollte sich schnell ändern. Diejenigen, die bereits Romane der Autorin gelesen haben, wissen warum. Klar, die Bezeichnung „ein neuer Stern am Fantasy-Himmel“ mag hochgegriffen klingen, zumal sich in letzter Zeit viele mit solchen und ähnlichen Titel schmücken lassen. Doch selbst wenn es auf die meisten aufstrebenden Jungschriftstellern (noch) nicht zutrifft, heißt das nicht, dass sich niemand damit rühmen kann.

Nina Blazon, Jahrgang 1969 und geboren in Koper, legt mit „Die Rückkehr der Zehnten“ bei |Ueberreuter| einen für sich allein stehenden Fantasy-Roman vor. Eine bereits lobenswerte Tatsache, quellen die Regale der Fantastikabteilung in der Regel doch mit Serien, Zyklen und unüberschaubar langen Reihen über. Die Geschichte ist bündig auf knapp 350 Seiten erzählt; eine für die Fantasy ungewöhnlich kurze Erzählung. Und doch entfaltet sich der Roman in voller Blüte und baut ein Welt auf, die in manch bücherüberspannenden, langen Sagen nicht so plastisch rüberkommt.

Die Zwillinge Lis und Levin sind zusammen mit ihrer Mutter für ein paar Tage zu Verwandten nach Slowenien gereist. Obwohl sie ein gutes Verhältnis zu Onkel und Tante haben, sind die beiden, vor allem Levin, über den kurzfristig eingeplanten Urlaub im Mittelmeerstädtchen Piran nicht sehr erfreut. Levin, leidenschaftlicher Live-Rollenspieler, hatte nämlich schon lange im Voraus für eine Convention zugesagt, auf der er wie üblich in die Rolle seiner Lieblingsfigur Karjan, einem Hohepriester des Gottes Swantewit, schlüpfen wollte. Seine Mutter ließ sich von ihrem Plan jedoch nicht abbringen und untersagte ihrem Sohn die Teilnahme an dem Rollenspieltreffen.

„Die Rückkehr der Zehnten“ beginnt geschickt mit der Beschreibung einer Kampfszene, die Levin in der Rolle des Priesters darstellt. Was zunächst als normaler Kampf innerhalb einer im Roman aufgebauten Fantasy-Welt anmutet, entpuppt sich wenig später als aufgenommenes Videotape, das Levin und seine Schwester Lis ihren Cousins vorspielen. Der packende Einstieg ermöglicht eine direkte Identifikation mit den beiden Hauptfiguren und schlägt eine Brücke zwischen der realen und der Fantasy-Welt. Gleich zu Beginn wird klar, dass Levins Fähigkeiten als Priester und Lis eher ablehnende Haltung gegen das Hobby ihres Bruders eine wichtige Rolle spielen werden. Die Charakterentwicklung der Geschwister wird gleich auf den ersten Seiten verankert und gut motiviert. Während die Figuren und ihre Beziehungen vorgestellt werden, entwickelt sich zeitgleich die Handlung.

Denn Lis und Levin finden, während sie im Meer schwimmen gehen, ein Medaillon, das tief unten auf dem Meeresboden liegt. Überrascht von dem Fund, halten sie es zunächst geheim. Doch die eigenartige Innschrift, die keiner ihnen bekannten Sprache zuzuordnen ist, fesselt sie so sehr, dass sie eine Abschrift vornehmen und diese im Museum vorzeigen. Der Museumswächter reagiert mürrisch, nimmt sich jedoch die Zeit, die Schrift zu analysieren. Auch ihm ist sie unbekannt, er mutmaßt und datiert sie aber auf eine längst vergangene Epoche. Anhand ähnlicher ihm bekannter Schriftzeichen glaubt er das Wort „Desetnica“ darin zu lesen. Ein Begriff, der für die zehnte Tochter steht, die alten Aufzeichnungen nach Unglück über eine Familie brachte, sofern sie nicht geopfert wurde.

Mehr verwirrt als durch die Antwort befriedigt, machen sich die Lis und Levin wieder auf den Heimweg. Doch es passiert, was passieren musste. Während die beiden eines Abends am Strand entlangspazieren, taucht aus dem Nebel eine Stadtmauer auf dem Wasser auf. Levins Neugier ist stärker als die Angst, und so packt er Lis und bahnt sich einen Weg hinüber – direkt in die Welt des Medaillons, in der sich die Sage um die Desetnica erfüllen sollte.

Mit dem schnellen Einstieg und sympathischen Protagonisten gelingt es Nina Blazon, sofort eine Atmosphäre aufzubauen, die bis zur letzten Seite des Buches aufrecht erhalten werden kann. Erst im Nachhinein wird deutlich, dass die kleinen Verwicklungen und Ereignisse der ersten 50 Seiten das Grundmuster für den weiteren Verlauf der Handlung bilden. Dadurch schafft es die Autorin, all ihre Handlungsfäden geschickt und logisch zu verknüpfen. Auch die Charaktere sind gut durchdacht und überzeugend dargestellt. So ist Lis, aus deren Sicht der gesamte Roman erzählt wird, zunächst ein wenig schüchtern und über Levins Eigenarten nicht sehr erbaut. Als sie beide schließlich in die fremde Welt reisen und Lis Bruder in der Rolle des Priesters, den er schon beim Rollenspiel verkörperte, regelrecht aufgeht, fühlt sie sich mehr als unwohl und will nur noch nach Hause zurückkehren. Doch mit jedem weiteren Tag, an dem ihr Vorhaben scheitert, knüpft sie engere Kontakte zu den Bewohner der Stadt Antjana, lernt ihre Wünsche und Sehnsüchte kennen und erfährt, dass es kein Zufall, sondern Schicksal war, in diese Welt gelangt zu sein.

Denn eine Gruppe von Priestern beherrscht die Stadt mit eisiger Hand und lässt keine Gnade mit denen walten, die Poskur, ihrem Gott des Feuers, nicht huldigen. Unruhe breitet sich aus, denn vor den Mauern der Stadt liegt ein Heer der Sarazenen, angeführt von der Desetnica, die sich einst aus der Stadt retten konnten und nun das Volk von den Priestern befreien will. Ein gefährliches Spiel beginnt, denn während sich Levin das Vertrauen bei den Priestern zu erschleichen versucht, schließt sich Lis einer Untergrundbewegung an, die die Rückkehr der Zehnten vorbereiten wollen. Eine Gruppe von Menschen, die als Zeichen dasselbe Medaillon tragen, das auch Lis bei sich hat.

Ohne weiter auf spezifische Details einzugehen, sei so viel gesagt: „Die Rückkehr der Zehnten“ packt den Leser schon auf der ersten Seite und lässt ihn nicht mehr los. Die archaische Welt Antjanas, die der Schreckensherrschaft der Priester ausgesetzt ist, bietet einen überschaubaren Ort der Handlung und verläuft sich nicht in einer überdimensionalen Fantasy-Welt. Die Spannung bleibt konstant hoch, immer wieder nehmen Ereignisse ihren Lauf, die zu überraschenden Wendungen führen. Und doch bleibt genug Zeit, die Figuren angemessen zu beschreiben und sie überaus lebendig wirken zu lassen. Bis auf wenige Ausnahmen innerhalb der Priestergilde, die wirklich keine guten Eigenschaften aufweisen und durch und durch als verabscheuungswürdige Gegenspieler aufgebaut werden, sind die meisten Personen weder ganz weiß noch ganz schwarz. Dass das Ende hierbei klassisch mit einem typischen Happy-End ausklingt, fällt nicht negativ ins Gewicht, werden doch alle bis dahin noch losen Enden verknüpft und zu einem würdigen Abschluss gebracht.

Nina Blazon schafft mit „Die Rückkehr der Zehnten“ das, was generell einen guten Fantasy-Roman ausmachen sollte. Das Buch ist unterhaltsam, spannend, logisch, durchdacht und bis zur letzten Seite fesselnd. Wer Nina Blazon also immer noch nicht kennt, kann mit diesem Roman einen guten Einsteig wagen. Und nach der Lektüre dieses Buches wird es sicher nicht das einzige Werk dieser Autorin gewesen sein, das von nun an den heimischen Bücherschrank schmücken wird.

[Fantasy bei Ueberreuter]http://www.ueberreuter.de/ueberreuter/index.php?usr=&phd=4&content=22

Shocker, Dan – Sumpfhexe, Die (Larry Brent 29)

_“Lebende Leichen“_

Larry Brent ist gerade auf der Durchreise nach Budapest und möchte nur einen kurzen Zwischenstopp in Österreich machen, wird aber bald schon wieder mit einem neuen Fall vertraut gemacht, der sich bei seinem Aufenthalt in Moolstadt ergibt. Dort haben sich in den letzten Tagen einige mysteriöse Todesfälle zugetragen, bei denen Menschen teilweise auf recht grausame Art und Weise ums Leben gekommen sind. Das Ungewöhnliche daran: Kurze Zeit nach dem Ableben haben sich die Leichen noch einmal für einen kurzen Moment berappelt und ihren Standort verändert.

Larry Brent mietet sich im ortsansässigen Wirtshaus ein und wird dort hautnah mit den Fällen konfrontiert, als sein Zimmernachbar ebenfalls Opfer der außergewöhnlichen Mordserie wird. Daraufhin wird die Unterkunft bis auf weiteres geschlossen, so dass der PSA-Agent sich nach einer neuen Bleibe umsehen muss. Er kommt schließlich bei seinem alten Bekannten, dem Baron Kurt Parsini, unter, der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Yvette die Heunenburg bewohnt. Dort stellt Brent fest, dass Parsini in seiner noblen Behausung einiges zu verbergen hat. Doch dies muss erst einmal hinten anstehen, denn in Moolstadt wird weiter gemordet, und die Einwohner werden immer wütender. Für Brent wird es höchste Zeit, die Sache aufzuklären, denn die aufständischen Moolstädter haben sich einen Sündenbock ausgesucht, den sie für das Geschehene lynchen wollen. Doch der ist unschuldig …

_“Machetta – Sumpfhexe vom Missisippi“_

Larry Brent verbringt einen angenehmen Abend mit der spanischen Schönheit Maria-Rosa Mojales, die sich vom PSA-Agenten Schutz erhofft, damit sie die schrecklichen Ereignisse aus der Vergangenheit vergessen kann. Doch die gemeinsame Heimfahrt wird von einem seltsamen Vorfall überschattet; aus dem Nichts heraus taucht ein Mann auf und springt Brents rasendem Wagen vor die Front. Obwohl der Fremde eigentlich schwer verletzt sein müsste, steht er sofort wieder auf und flüchtet noch, bevor Brent ihn sich genauer ansehen kann. Lediglich den Ausweis des Mannes findet Larry noch und begibt sich anschließend auf die Suche nach einem gewissen Perry Wilkinson.

Brent überreicht ihm zwischen Tür und Angel seinen verlorenen Pass, wird aber sofort danach abgewiesen. Beinahe zeitgleich wird Wilkinson auch von einem Vertreter namens Poul Anders aufgesucht, der in Wilkinson einen alten Schulkameraden wiedererkennt. Dieser ist jedoch nicht besonders erfreut über den aufdringlichen Besuch und streitet jegliche Bekanntschaften ab. Anders fliegt raus, kurze Zeit später wird seine Leiche entdeckt.

Brent ist davon überzeugt, dass Perry Wilkinson hinter dem Mord steckt, und tatsächlich verhält sich der Angeschuldigte auch sehr verdächtig. Doch immer mehr zeigt sich, dass Wilkinson gar nicht mehr Herr über seine Sinne ist. Seine langen Forschungen nach der sagenumwobenen Sumpfhexe Machetta scheinen nicht ohne Resultat gewesen zu sein, doch inwieweit sie von ihm Besitz ergriffen hat, kann nicht mehr festgestellt werden. Wilkinson ist nämlich plötzlich spurlos verschwunden …

Währenddessen machen sich zwei Jugendliche auf den Weg, aus ihrem Elternhaus zu fliehen. Der etwas reifere Andrew Coaches und seine Freundin, die mädchenhafte Cindy Fuller, fliehen durch die Wälder nach Jackson und wählen dabei den Weg durch das Sumpfgebiet, in dem sich der Legende nach Machetta seit Jahren mordend austoben soll. Und tatsächlich stoßen sie ziemlich schnell auf einige unliebsame Figuren …

_Meine Meinung_

Band 29 aus der BLITZ-Edition der „Larry Brent“-Reihe bietet zwei packende Mystery-Thriller, die beide von der ersten bis zur letzten Sekunde spannend sind. In beiden wird mal wieder das Übersinnliche thematisiert, wobei gerade „Lebende Leichen“ eine interessante These zugrunde liegt. Ein Ermordeter soll in den kurzen Momenten seiner kurzzeitigen Wiederbelebung den Namen seines Mörders verraten können. Ob es ihm gelingt, und was es genau damit auf sich hat, möchte ich an dieser Stelle natürlich nicht verraten, aber der Umgang mit dem Thema, das hier in einer packenden und wendungsreichen Geschichte dargestellt wird, ist dem Autor wirklich sehr gut gelungen. Es stellt sich lediglich die Frage, ob tatsächlich so viele Mordfälle von Nöten sind, um die gruselige Stimmung in Moolstadt zu beschreiben, denn so gerät die Auflösung des Falles ein wenig knapp. Ansonsten zeichnet sich aber speziell diese Story als sehr gradlinig aus, in der selbst belanglose Nebenstränge wie die gefälschten Bilder in der Heunenburg nicht negativ auffallen. Kurzum: ein Larry Brent in Bestform.

Der zweite Fall ist da schon etwas verzwickter, was unter anderem daran liegt, dass sich einige unnötige Schwierigkeiten dabei auftun, die Masse an Handlung in einer Einheit von ungefähr 120 Seiten unterzubringen. So werden die Zusammenhänge zwischen Perry Wilkinson und der Sumpfhexe Machetta erst sehr spät erklärt. Zudem ist es fraglich, ob man den zweiten Hauptstrang, der sich mit den beiden Ausreißern beschäftigt, überhaupt für den Spannungsaufbau benötigt hätte. Aber es bleiben auch einige Fragen im Raume stehen, so zum Beispiel die nach dem Verbleib von Brents Begleiterin Maria-Rosa Mojales, selbst wenn diese Person für die eigentliche Handlung keine besondere Bedeutung hat. Auch wenn die Geschichte an sich sehr spannend ist, so ist sie bei weitem nicht so kompakt und rund wie der vorangegangene Plot. Einzelne Übergänge lassen logische Überleitungen vermissen, und so manche aufgeklärte Eigenheit ist nur bedingt zufrieden stellend. Aber immerhin; die typische Dan-Shocker-Atmosphäre tritt auch hier beim ersten Anflug einer mystischen Begebenheit ein und führt letzten Endes auch dazu, dass uns die umfangreiche Story nach wenigen Seiten ebenfalls mitreißt.

Man kann also bei diesem Sammelband nicht meckern. Eine gute und eine sehr gute Geschichte füllen „Die Sumpfhexe“ und machen das Doppelpack zu einem der besten Vertreter dieser momentan wohl umfangreichsten Serie aus dem Hause BLITZ. Hier lohnt es sich definitiv, den Festpreis von 9,95 €uro zu investieren, und man sollte sich dazu auch ein wenig beeilen, denn das Teil ist wie immer auf 999 Exemplare limitiert und nun schon ein paar Monate auf den Markt. Mehr Infos gibt es [hier]http://www.Blitz-Verlag.de.

Kalla, Daniel – Pandemie

_Ein neues Virus_

Dr. Noah Haldane ist Spezialist für Infektionskrankheiten und neue Krankheitserreger. Als Mitarbeiter eines Expertenteams der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt er einem Hilferuf der chinesischen Regierung und versucht die Ausbreitung einer neuen und sehr gefährlichen Grippevariante, die in der abgelegenen Provinz Gansu im Norden Chinas aufgetreten ist, zu verhindern. Die Erkrankung erhält das Akronym ARCS (Acute Respiratory Collapse Syndrome) da ein Viertel der Infizierten an einem Zusammenbruch der Atemfunktionen verstirbt.

Das Virus weckt bei Dr. Haldane Erinnerungen an die letzte große Grippepandemie von 1918, bei der mehr als 30 Millionen Menschen starben. Genau wie damals erkranken auch viele junge Erwachsene, während sich bei einer „normalen“ Grippe vor allem Immunschwache, besonders Alte und Kleinkinder infizieren. Dabei scheint jedoch dieses neue Virus, obwohl es zum Glück nicht ganz so ansteckend ist, um vieles tödlicher zu sein als das Virus vom Typ H1N1, welches damals als „Spanische Grippe“ grassierte. Durch sofortige Quarantänemaßnahmen und Massenschlachtungen von Hühnern und Schweinen in der gesamten Provinz gelingt es schließlich, eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Die Gefahr einer Pandemie der „Gansu-Grippe“ scheint gebannt.

_In der Hand von Terroristen_

Doch während das Expertenteam um Dr. Haldane aufatmet, wird der Erreger der „Gansu-Grippe“ schon eifrig in einem geheimen Forschungslabor im Norden Somalias in Hühnereiern kultiviert. Noch vor der Ankunft der WHO-Experten in China gelang es zwei Malaien durch Bestechung des Stellvertretenden Klinikdirektors Ping Wu, zu einem der Infizierten vorzudringen und dessen virushaltige Körpersekrete aus China herauszuschmuggeln.

Der Drahtzieher hinter diesem „Diebstahl“ ist der einflussreiche ägyptische Zeitungsmagnat Hazzir Al Kabaal. Obwohl Kabaal in Europa studiert hat und durch sein ganzes Auftreten eine pro-westliche Haltung signalisiert, gehört er insgeheim einer radikalen muslimischen Vereinigung an. Durch den Angriff der westlichen Mächte auf den Irak verbittert und zu seinen islamischen Wurzeln zurückgekehrt, benutzt er schon seit längerem seine Zeitungen und sein Geld, um für den Islam einzutreten und heimlich verschiedene terroristische Bewegungen zu unterstützen.

Angestachelt durch die Reden von Scheich Hassan, des Vorstehers der Al-Futuh-Moschee in Kairo, sieht Kabaal seine Aufgabe darin, die amerikanischen Besatzungsmächte von islamischem Boden zu vertreiben. Dazu kommt ihm das Gansu-Virus gerade recht.

_Ein infernalischer Plan_

Während der Mikrobiologe Dr. Anwar Aziz mit dem Gansu-Virus an Schweinen, Affen und Menschen herumexperimentiert, um eine stärkere Ansteckungsrate zu erreichen, entsendet Kabaal infizierte Selbstmordattentäterinnen nach London, Hongkong und Vancouver, um dort an speziell ausgewählten öffentlichen Orten besonders viele Menschen zu infizieren. Den WHO-Experten wird schnell klar, dass die in diesen Städten auftretenden Grippe-Epidemien keine natürliche Ursache haben können.

Ihre Vermutung wird zur schrecklichen Wahrheit, als Kabaal über den Fernsehsender Al Dschasira im Namen der Bruderschaft der einen Nation ein Ultimatum an die westlichen Staaten sendet. Nur bei einem sofortigen Rückzug aller Koalitionstruppen von islamischem Boden würde die Bruderschaft von der Entsendung einer ganzen Armee von infizierten Selbstmordattentätern absehen. Damit beginnt für Noah Haldane und Gwen Savard, die Direktorin für Bioterrorismus Abwehr, ein Wettlauf gegen die Zeit. Fieberhaft beginnen die beiden mit Hilfe der CIA nach den Drahtziehern zu forschen.

_H5N1 lässt grüßen_

Passend zur derzeitigen Hysterie um eine mögliche Pandemie mit einem von Mensch zu Mensch übertragbaren Vogelgrippevirus vom Typ H5N1, wurde die Veröffentlichung von David Kallas Erstling „Pandemie“ vom April 2006 auf Dezember 2005 vorgezogen.

Es ist zurzeit wohl eine der größten Befürchtungen, dass das Vogelgrippevirus H5N1 im Schmelztiegel Asiens, wo Hühner, Schweine und Menschen auf engstem Raume zusammenleben, den Speziessprung zum humanen Grippevirus schafft. Kalla startet mit diesem äußerst beängstigenden, aber durchaus realistischen Szenario zur Entstehung einer neuen Pandemie. Doch obwohl „Pandemie“ ebenfalls von einem gefährlichen Grippevirus handelt, das den Speziessprung vom Vogel zum Mensch geschafft hat, kann die natürliche Ausbreitung dieses Virus durch schnell durchgeführte Quarantänemaßnahmen relativ früh gestoppt werden. Damit wäre die Gefahr einer Pandemie gebannt, gäbe es da nicht Hazzir Al Kabaal, der unter dem Deckmantel seines islamischen Glaubens das Virus künstlich in den Metropolen der westlichen Welt verbreitet und so hofft, einen Rückzug der Koalitionstruppen von islamischem Boden erzwingen zu können.

Hätte Kalla es mal lieber bei einer natürlichen Ausbreitung der Grippe belassen und sich nicht islamischer Terroristen bedient, um seinem Roman eine künstliche Spannung zu vermitteln. Leider fehlt es Kallas stereotypen Bösewichtern an einem wirklich nachvollziehbaren Beweggrund, neben dem typischen Hass der Extremisten. Zum Freisetzen eines tödlichen Grippevirus, für das es kein Heilmittel gibt, reicht es jedoch nicht aus, einen Hass auf die westliche Welt zu haben. Woher sollte Al Kabaal wissen, dass es den Engländern und Amerikanern wirklich gelingt, die Ausbreitung der Grippe zu verhindern? Die Möglichkeit, dass das Virus durch einen infizierten Touristen auch auf islamischen Boden gebracht werden könnte, ist nicht unbedeutend. Ist Kabaals Hass so groß, dass er eine potenziell tödliche Gefahr für ein Viertel aller Moslems völlig ignoriert?

Ein weiterer grober Fehler in der Handlung ist die Entführung des Virus aus Gansu. Woher hat Kabaal so schnell erfahren, dass es ein neues gefährliches Grippevirus in Gansu gibt? Die Inkubationszeit dieser Grippe beträgt nur vier Tage, also kann nach dem ersten Auftreten der Grippe und der Ankunft des WHO-Teams im besten Fall ein Monat gelegen haben. In diesem Zeitraum hat Kabaal von der neuen Krankheit erfahren, ihr tödliches Potenzial erkannt, einen infernalischen Plan geschmiedet und Leute beauftragt, das Virus zu stehlen. Abgesehen von der Zeit, die es dauert, ein gut ausgestattetes Labor zur Zucht und Veränderung von Viren einzurichten. Sollte sein Plan, ungeachtet aller Risiken, ein tödliches Virus zu benutzen, aber schon vor dem Auftreten der Gansu-Grippe existiert haben, gäbe es jede Menge anderer gut geeigneter Krankheiten, die durch infizierte Selbstmordattentäter unter die Leute gebracht werden könnten.

Doch trotz dieser Ungereimtheiten und flachen Charaktere ist „Pandemie“ spannend zu lesen, wenn auch nicht sonderlich anspruchsvoll. Vor allem die real existierende Bedrohung durch H5N1 trägt wohl dazu bei, dass man „Pandemie“ nicht wieder aus der Hand legen mag.

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