Archiv der Kategorie: Rezensionen

Remin, Nicolas – Venezianische Verlobung

Nicolas Remin schaffte mit seinem Debütroman [„Schnee in Venedig“ 1987 auf Anhieb den Weg auf die deutschen Bestsellerlisten. Seine Erfolgsfaktoren waren sicherlich einmal sein sympathischer und verarmter Krimiheld Commissario Tron, aber auch Remins netter Schreibstil und die wunderbar romantische Szenerie haben sicherlich sehr zum Erfolg des Buches beigetragen. So verwundert es nicht weiter, dass Nicolas Remin in der „Venezianischen Verlobung“ auch wieder auf diese verkaufsträchtigen Komponenten zurückgreift, um seine Leser erneut gut zu unterhalten und mit seinem Roman in das Venedig des 19. Jahrhunderts zu entführen.

In Remins zweitem Roman dreht sich alles um die venezianische Verlobung zwischen Commissario Tron und seiner Angebeteten, der Principessa di Montalcino. Die beiden sind zwar offiziell ein Paar, doch wird die Hochzeit immer weiter aufgeschoben, sodass Trons Mutter es langsam mit der Angst zu tun kriegt. Der Palazzo Tron befindet sich in seiner Auflösung, es kann nicht mehr richtig geheizt werden und es regnet durch das undichte Dach hinein, sodass Trons Mutter keine andere Möglichkeit sieht, als Nutzen aus der geplanten Hochzeit zu ziehen und sich dadurch einen Kredit bei der Bank zu besorgen. Doch die Principessa plagen auch Geldnöte, wie sie ihrem Verlobten bald anvertraut. Helfen kann ihr wiederum der gute Name der Trons mitsamt der jahrhundertealten Tradition der Familie Tron.

Doch dies ist nur das schmückende Beiwerk, das die eigentliche Kriminalhandlung abrundet und das Buch noch unterhaltsamer macht. Im Zentrum der Geschichte steht der Mord an Anna Slataper, der politischen Hintergrund zu haben scheint, da Anna die Geliebte des Erzherzogs Maximilian war, also des Bruders des Kaisers von Österreich, der nun selbst Kaiser von Mexiko werden soll. Der Fall wirkt sonnenklar, denn Maximilian scheint sich seiner Geliebten entledigt zu haben, als sein eigener politischer Aufstieg bevorstand. Doch so geradlinig ist Remins Romanhandlung nicht, denn er fügt seiner Geschichte weitere Komponenten hinzu:

Wir lernen das arme Waisenmädchen Angelina Zolli kennen, das Commissario Tron zunächst bestiehlt, ihm dann aber aus Mitleid seine Geldbörse zurückgibt, weil Angelina merkt, dass er selbst nicht viel Geld besitzt. Angelina wird Zeugin des Mordes an Anna Slataper, erkennt von dem Mörder zunächst aber nur sein Hinken. Erst später kann sie sich an weitere Details erinnern und versucht auf eigene Faust, den Täter zu stellen. Im Laufe der Romanhandlung treffen wir auf zwielichtige Gestalten, die alle scheinbar etwas zu verbergen haben, auch Erpressung ist im Spiel, denn Anna Slataper hat zusammen mit einem berüchtigten Fotografen zusammen kompromittierende Fotos erstellen lassen, die nun zu Geld gemacht werden sollen. Aber was wirklich hinter dem Mord an Anna Slataper steckt, das erfahren wir erst ganz am Ende, wenn Nicolas Remin seine einzelnen Handlungsfäden für uns entwirrt.

In ähnlicher Manier wie auch schon in „Schnee in Venedig“ beweist Nicolas Remin erneut, dass er nicht nur über eine wunderbare Beobachtungsgabe verfügt, sondern auch über ein beachtliches Erzähltalent. Seine Dialoge wirken herzerfrischend und stecken voller Wortwitz, sodass wir beim Lesen nicht selten ein Lächeln auf den Lippen haben, weil wir uns die beschriebenen Situationen bildlich vorstellen und dabei einfach amüsiert sein müssen. Bis ins kleinste Detail entwickelt Remin seine Figuren und Szenerien, er erzählt uns von Commissario Tron, der die Zeitschrift mehrfach abonniert hat, die er selbst herausgibt, nur um den Verkaufserfolg voranzutreiben. Doch dann fällt seinem Vorgesetzten Spaur ein, dass er mit „selbst geschriebenen“ (also vielmehr abgeschriebenen) Gedichten seine Geliebte beeindrucken kann. So kommt es schließlich, dass Tron in seiner geliebten Zeitschrift, dem Emporio della Poesia, neben Gedichten von Baudelaire auch die zusammengestückelten Verse seines Chefs abdrucken muss. Zeitgleich muss Tron sich mit seiner Mutter herumquälen, die seine bevorstehende Hochzeit schamlos für ihren finanziellen Vorteil ausnutzen will und Tron damit in eine peinliche Situation zu bringen droht. Die gesamte Rahmenhandlung wirkt insgesamt sehr durchdacht und ausgefeilt; Nicolas Remin zeigt uns, dass ein Kriminalroman mehr ist als nur ein brutaler Mord mit einer anschließenden Hetzjagd.

Besonders Remins Charaktere gefallen äußerst gut. Die meisten von ihnen haben wir bereits in „Schnee in Vendig“ kennen gelernt, doch nun erfahren wir neue Facetten dieser Personen, außerdem kommen neue Figuren hinzu, die ebenfalls ihren Raum in der Geschichte erhalten. Remin füllt seine Figuren aus, haucht ihnen Leben ein und macht sie uns dadurch unglaublich sympathisch. Obwohl das gesamte Geschehen im 19. Jahrhundert spielt, ist Commissario Tron jemand, mit dem man gerne einen Kaffee trinken gehen würde, weil er einfach nett und freundlich auftritt.

Leider kann die eigentliche Krimihandlung nicht ganz mit der Rahmengeschichte mithalten. Während die Geschichte zunächst geradlinig beginnt und klar zu sein scheint, welche Motive und welcher Täter hinter dem Mord an Anna Slataper stecken, so kommen nach und nach immer neue Verdächtige ins Spiel, sodass sich die Spekulationen irgendwann ziemlich im Kreise drehen. Die Verdächtigungen werden wie ein Ball hin- und hergeworfen; hier kommt man gedanklich kaum hinterher, zumal man Remins Gedankengänge nicht immer nachvollziehen kann. Zum Ende hin scheint Nicolas Remin sich in einem unübersichtlichen Wust von gegenseitigen Verdächtigungen zu verlieren, der kaum entwirrbar scheint. Das Romanende wirkt daher alles andere als überzeugend, die Motive werden uns nicht ganz klar, sodass das befriedigende Aha-Erlebnis am Ende leider ausbleibt.

Dennoch kann Nicolas Remin auch mit seinem Folgeroman überzeugen, da er erneut beweist, dass er herrliche Charaktere und Dialoge voller Wortwitz und Situationskomik entwerfen kann. Das Lesen eines Remin macht einfach Spaß, sodass man dem Autor wieder einmal kleine logische Ausrutscher in der eigentlichen Krimihandlung verzeiht.

Frenz, Lothar – Riesenkraken und Tigerwölfe. Auf der Spur mysteriöser Tiere

Auf die Spur mysteriöser Tiere begeben sich Autor und Leser dieses Bandes, der sich binnen weniger Seiten als echte Überraschung und Kleinod des deutschen Sachbuch-Marktes entpuppt. Dabei scheinen sich hier zunächst nur die üblichen Verdächtigen zu tummeln: Nessie, Bigfoot & Yeti und – die Königsfrage für Kryptozoologen (1) in der Endrunde von „Wer wird Millionär?“ – Mokéle-mbêmbe, der trompetende Miniatur-Brontosaurus im Tele-See (!) des düsteren Kongo-Dschungels.

Dort, wo solche Fabelwesen schnauben, sind auch die Fliegenden Untertassen niemals fern. Die hartnäckige Weigerung der UFO-Jünger, regelmäßig die ihnen verschriebenen Medikamente einzunehmen, sichert zwar allerlei über- und außerirdischen Kreaturen ihre Präsenz auf den „Lone Gunmen“-Websites dieser Welt („Elvis & Bigfoot rocken auf Alpha Centauri“), lässt aber den neugierigen Durchschnittsbürger vor der Kryptozoologie eher zurückschrecken.

Glücklicherweise gehört Lothar Frenz eindeutig zu jenen Vertretern dieser Zunft, deren Kopf sich dort befindet, wo er hingehört: auf seinen Schultern nämlich, statt irgendwo haltlos im esoterischen Gewaber zu treiben. So gibt es statt mystischen Gefasels Fakten oder gut begründete Thesen, die dort, wo es sich der Sache wegen ziemt, mit der nötigen Vorsicht präsentiert werden.

Überhaupt ist Frenz‘ Ansatz ein anderer als der, den der Titel zunächst suggeriert: Dem Autoren geht es nicht um die Sensation um jeden Preis; damit kann er ohnehin nicht dienen: Was bisher verschwunden blieb, taucht auch nach der Lektüre der „Riesenkraken und Tigerwölfe“ nicht auf. Aber das ist völlig unwichtig, denn gar zu rasch und fest hängt der Leser am Kanthaken, wenn Frenz damit beginnt, von ’neuen‘ Tieren zu erzählen, die immer und überall auf dieser Welt gefunden werden, die doch angeblich längst bis in den letzten Winkel vermessen, untersucht und zu allem Überfluss aus dem Weltall unter ständiger Beobachtung gehalten wird.

Doch entscheidend ist, was man mit seinen Daten anfängt. Mit Hilfe moderner Satelliten ist es zwar möglich, ahnungslose Zeitgenossen zu überraschen, die sie sich in Moskau auf dem Roten Platz in der Nase bohren. Dennoch könnte es durchaus möglich sein, dass großfüßige Affenmenschen in der nordamerikanischen Provinz direkt neben McDonalds-Filialen hausen: Es hat sie dort halt noch nie jemand wirklich intensiv gesucht!

Erstaunlich ist es schon: Unbekannte Kreaturen verbergen sich nicht zwangsläufig in tiefen Höhlen, auf arktischen Hochplateaus oder 20.000 Meilen unter dem Meer, sondern häufig direkt um die Ecke. Wer hätte beispielsweise damit gerechnet, dass ausgerechnet Mallorca die Heimat einer Krötenart ist, von der bis 1980 kein Mensch jemals gehört hatte? Ganze Legionen hirntoter Ballermänner haben jahrelang praktisch zu Häupten der kostbaren Lurche ahnungslos Sangria aus Plastikeimern in sich hineingeschüttet!

Der Gedanke hat etwas Tröstliches: Wir Menschen kommen mit dem Ausrotten der alten Arten kaum nach, so schnell entdecken unsere fleißigen Wissenschaftler Nachschub … Fast noch interessanter ist die Regelmäßigkeit, mit der die Forscher Tiere, die sie längst kennen gelernt haben, wieder ‚verlieren‘, bis sie Jahrzehnte später erneut ‚entdeckt‘ werden. Wie Frenz nachweist, kann sich dieses Spiel durchaus mehrfach wiederholen. Seltsam auch, mit welcher Hartnäckigkeit sich angeblich ausgestorbene Wesen zurückmelden. Irgendwie scheinen sie alle ein Eckchen zu finden, in das sie sich flüchten und verschnaufen können, die Quastenflosser, Seychellen-Riesenschildkröten oder Kongopfauen dieser Erde, bis sie erneut das Licht der Öffentlichkeit suchen. Und den wohl endgültig Dahingeschiedenen wie dem Moa, dem Beutelwolf oder dem Zwergelefanten diverser Mittelmeerinseln (gab es tatsächlich!) verhilft immerhin das kollektive schlechte Gewissen ihrer menschlichen Meuchler zu einem geisterhaften Nachleben, wie Frenz ebenso überzeugend wie kurzweilig deutlich macht.

Überhaupt tut es gut, ein Buch zu lesen, das diesen Titel schon rein formal für sich beanspruchen kann! Dieser Stoßseufzer ist im Zeitalter des E-Books und der Kleinstverlage, die wirklich jedem Mist zumindest die Gestalt eines Buches verleihen, sofern dafür nur bezahlt wird, durchaus angebracht. Lothar Frenz ist Naturwissenschaftler (sogar ein studierter) und Journalist (dito); für „Riesenkraken und Tigerwölfe“ erweist sich das als ideale Mischung. Ob sich sein Werk deshalb so flüssig liest, weil er regelmäßig Drehbücher für die ZDF-Kinder-Dokumentar-Filmreihe „Löwenzahn“ verfasst, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Auf jeden Fall versteht Frenz sein Handwerk; die Biografie nennt zwei weitere Buchveröffentlichungen zu den Themen Störche bzw. Sterbehilfe; größer kann die thematische Bandbreite eines Wissenschaftsjournalisten eigentlich nicht sein …

Anlass zur Kritik geben höchstens die Illustrationen: Uralte Kupferstiche, Zeichnungen aus Urvater Brehms „Thierleben“ und Schwarzweiß-Fotos in miserabler Wiedergabe-Qualität, nicht selten digital-dilettantisch aus der Vorlage ‚ausgestanzt‘, ohne Hintergrund jeglichen Aussagewertes beraubt und lieblos irgendwo in den Text montiert, lassen zumindest in der Gestaltung den Verdacht aufkommen, der Verlag habe das Manuskript von einem an Selbstüberschätzung leidenden, autodidaktisch ‚ausgebildeten‘ (und billigen) Grafiker am heimischen PC in Form bringen lassen. Sparsamkeit hin, Preiskalkulation her: So geht es jedenfalls nicht!

Damit ist es aber auch schon genug der Kritik an einem Sachbuch, das kundig und unterhaltsam, nicht mit wissenschaftlichem Anspruch (doch diesen auch gar nicht erhebend), sondern neugierig und ohne den in Deutschland stets präsenten erhobenen Zeigefinger in sein Thema einführt: kein Wunder, dass sich eine renommierte Naturwissenschaftlerin wie Jane Goodall nicht nur als Kryptozoologin ‚outet‘, sondern auch gern dazu bereit erklärte, „Riesenkraken und Tigerwölfe“ durch ein Vorwort zu adeln – nicht, dass dieses Buch darauf angewiesen wäre!

Anmerkung:

(1) Die „Krytozoologie“ – übrigens kein ‚offizieller‘ i. S. von anerkannter Zweig der Naturwissenschaften – widmet sich dem Studium von (d. h. in der Realität primär der Suche nach) Lebewesen, auf deren Existenz zwar Spuren hindeuten, ohne dass diese letztlich jedoch (bisher) bewiesen werden konnte.

Tonke Dragt – Das Geheimnis des siebten Weges

Bei meiner Recherche zu diesem Titel habe ich erfahren, dass es seinerzeit bereits eine TV-Serie namens „Das Geheimnis des siebten Weges“ gegeben haben muss. Keine Stunde später erzählte mir mein Bruder, dass er die Serie damals im Ersten Deutschen Fernsehen gesehen hat und recht begeistert war. Für all diejenigen, die das damals verpasst haben, trotzdem aber interessiert sind, gibt es nun zwei Möglichkeiten. Entweder man schreibt sich im Internet auf der TV-Wunschliste für diese Serie ein und wartet oder man wählt die schnellere Variante und greift nun das gleichnamige Hörbuch ab, in dem die Geschichte um den beliebten Lehrer Franz van der Steeg neu belebt wird.

Story

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Frankfurt, Harry G. – Bullshit

In dem Buch mit dem sehr prägnanten Titel „Bullshit“ befasst sich der Autor Harry G. Frankfurt, seines Zeichens Professor für Philosophie an der Universität von Princeton, mit dem Phänomen des „Bullshits“. „Bullshit“ meint in diesem Kontext, vereinfacht formuliert, Gerede von äußerst fragwürdiger oder völlig fehlender inhaltlicher Substanz. Um sich dem Begriff des „Bullshits“ zu nähern, zitiert er im Laufe der insgesamt 65 Seiten dieses Büchleins diverse Auszüge aus dem Oxford English Dictionary sowie eine Anekdote über Wittgenstein und auch eine Passage aus dem Werk „Die Lüge“ von Augustinus, um nur die bekanntesten Namen zu nennen.

In zumindest augenscheinlich wissenschaftlicher Weise geht der Autor daran, den „Bullshit“ genauer zu bestimmen. Dies tut er vor allem anhand sprachwissenschaftlicher Überlegungen. Im Zuge dessen grenzt er beispielsweise den „Bullshit“ vom „Humbug“ und der ordinären Lüge ab. Wenngleich es nur etwa eine Stunde dauern dürfte, dieses Buch zu lesen, so erscheint es dennoch überwiegend langatmig. Die wenigen originellen Lichtblicke werden sogleich wieder von jenem Schwadronieren überdeckt, welches sich leider in vielen philosophischen Auseinandersetzungen finden lässt. Dieses Buch als Philosophie zu beschreiben, wäre jedoch wesentlich zu hoch gegriffen. Es erscheint vielmehr als ein Gedankenspiel über ein Thema, dessen Signifikanz für die Philosophie eindeutig in Frage gestellt werden muss. An der Qualifikation und Reputation des Autors ist indes keineswegs zu zweifeln, allerdings muss man sich vor Augen führen, was dieses Buch ist oder vielmehr sein soll. Es ist ein einzelner Gedanke, der sehr weitschweifig ausgeführt wird und dessen Bedeutsamkeit, wie erwähnt, höchst strittig ist. „Bullshit“ ist ein Essay, über das man sich zumindest an einigen wenigen Stellen amüsieren kann, insofern man diese Form des Humors teilt.

„Ist der Bullshitter seinem Wesen nach ein geistloser Banause? Ist sein Produkt in jedem Fall grob und unsauber gearbeitet? Das Wort |shit| verweist natürlich darauf. Exkremente sind niemals in besonderer Weise gestaltet und gearbeitet.“ „Während |heiße Luft| ein von jeglichem Informationsgehalt entleertes Reden darstellt, sind Exkremente Stoffe, denen jeglicher Nährstoffgehalt entzogen worden ist.“

Angesichts solcher Textstellen darf man sich doch fragen, ob es wirklich eines Professors für Philosophie bedarf, um solche Vergleiche anzustellen. Ebenso lässt sich hieran besonders deutlich veranschaulichen, wie gering der Grad an Wissenschaftlichkeit ist, der von Seiten des Autors an den Tag gelegt wird. Dies hat allerdings Methode, wie man annehmen kann. Zunächst möchte ich dem potenziellen Leser dieses Buches eine verschwendete Stunde und die Vergeudung von 8 € ersparen. Das Büchlein hat im Endeffekt nur zwei Kernaussagen, die ich aus besagten Gründen an dieser Stelle zitieren möchte:

1. „Bullshit ist immer dann unvermeidlich, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen.“
2. „In Wirklichkeit sind wir Menschen schwer zu packende Wesen. Unsere Natur ist notorisch instabiler und weniger eingewurzelt als die Natur anderer Dinge. Und angesichts dieser Tatsache ist Aufrichtigkeit selbst Bullshit.“

Das zweite Zitat stellt übrigens gleichzeitig den Abschluss von „Bullshit“ dar. 65 Seiten Wortklauberei kulminieren also in diesen drei Sätzen, die inhaltlich weder neu noch besonders originell sind. Für einen Leser, der sich noch nie mit Philosophie befasst hat, mag das eine bemerkenswerte Schlussfolgerung des Autors sein, allerdings kann ich nachdrücklich versichern, dass dem, objektiv betrachtet, nicht so ist. Jeder Philosophiestudent im Grundstudium wäre in der Lage, eine solche These aufzustellen. Zudem ist die Frage, ob ein Mensch überhaupt zu gesicherter Kenntnis über sich oder seine Umwelt gelangen kann, grundlegender Bestandteil jeglicher erkenntnistheoretischer Philosophie. Wer sich allerdings für das Thema der Erkenntnis und des Irrens interessiert, dem kann ich als Einstieg nur René Descartes’ „Meditationen“ wärmstens ans Herz legen. Allerdings ist dies nur eines der vielen Bücher zum Thema, die allesamt gehaltvoller und faszinierender sind als „Bullshit“.

Natürlich wird dem Leser des Buches nicht entgehen, dass der Autor sich ein offenkundig triviales Thema gesucht hat und dieses mit großem Aufwand bespricht. Der „Clou“ des Buches soll offensichtlich darin bestehen, dass gesicherte Aussagen durch die instabile Beschaffenheit des eigenen Ichs in äußerstem Maße schwierig erscheinen. Dies bedeutet, wenn man den Gedanken auf die Spitze treibt, dass der Autor seinen Leser am Ende des Buches mit dem Eindruck zurücklässt, die soeben gelesenen 65 Seiten seien in der schlussendlichen Konsequenz ebenfalls „Bullshit“. Und zumindest in diesem Punkt stimme ich eindeutig mit dem Autor überein. Somit scheint der alte Satz „Nomen est omen!“ für das Buch „Bullshit“ durchaus zutreffend zu sein.

Crowe, Cameron – Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?

Während einige wenige Schauspielerinnen und Schauspieler aus Hollywoods „Goldenem Zeitalter“, das Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre endete, noch unter uns Normalsterblichen weilen, sind die Regisseure jener Ära, die ihnen einen guten Teil ihres Glanzes verdankt, längst in den Zelluloid-Himmel eingegangen. Billy Wilder, geboren 1906 in einem vergessenen Flecken irgendwo in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, einer der größten Drehbuchautoren und Filmemacher überhaupt, hat sie alle überlebt! Zwar ließ ihn Hollywood seit 1981 keine Filme mehr drehen, doch der bärbeißige Meister hat den Kontakt zur Kinowelt niemals abreißen lassen. Bis kurz vor seinem Tod im biblischen Alter von 96 Jahren behielt Wilder am berühmten Hollywood-Boulevard ein eigenes Büro, in dem er sich als sein eigener Nachlassverwalter die Zeit vertrieb und voller Groll auf die Rechenschieber und Bilanzenreiter schimpfte, die seiner Karriere ein unrühmliches und vorzeitiges Ende bereitet hatten.

Seit Mitte der 1920er Jahre war Wilder im Filmgeschäft; zunächst in Deutschland, dann nach 1933 – Wilder war Jude – für kurze Zeit in Frankreich und schließlich in den Vereinigten Staaten, wo er zunächst als Drehbuchautor und dann als Regisseur über vier Jahrzehnte Filmgeschichte schrieb. Die Liste seiner Klassiker ist eindrucksvoll: „Das verflixte 7te Jahr“ gehört ebenso dazu wie „Manche mögen’s heiß“, „Das verlorene Wochenende“, „Das Appartement“ oder „Irma la Duce“.

Dass dieser Mann über das Filmemachen eine ganze Menge weiß, liegt auf der Hand. Es war hoch an der Zeit, dieses Wissen zu dokumentieren. Wilder wollte biografisch nie zur Feder greifen; er habe nie etwas geschrieben, für das man ihn nicht im Voraus bezahlt habe, ließ er verlautbaren. Leider ist unter der Knute der globalisierten Ignoranten die Ehrung der alten Meister aus der Mode gekommen. Wilder war – nicht zuletzt aufgrund seiner niemals verwundenen Kaltstellung – in seinen späten Jahren zudem ein schwieriger Interviewpartner. Zur Bitterkeit gesellte sich ein guter Teil Altersstarrsinn. Dumme Fragen – oder was er dafür hielt – reizten ihn und fehlende Fachkenntnis bei seinem Gegenüber weckten seinen ausgeprägten Sinn für Sarkasmus.

Unter solchen Voraussetzungen war es naturgemäß denkbar schwierig, Wilder als Interviewpartner zu gewinnen. Cameron Crowe unternahm in der zweiten Hälfte der 90er Jahre den schwierigen Versuch. Auch er schien rasch zum Scheitern verurteilt zu sein, doch dann setzte sich Wilders Neugier durch: Crowes Werdegang wies erstaunliche Parallelen zur eigenen Karriere auf. In den frühen 1920er Jahren begann Wilder (damals noch „Billie“) als Reporter (der fragwürdige Gipfelpunkt dieser „Karriere“ bestand darin, vom interviewunwilligen Sigmund Freud höchstpersönlich vor die Tür gesetzt zu werden …). Crowe war in dieser Hinsicht als Journalist und Mitherausgeber des renommierten „Rolling Stone“-Magazins ungleich erfolgreicher, bevor er sich nach Hollywood begab und sich dort wie Wilder an der seltenen Kombination Drehbuchautor/Regisseur versuchte – mit durchschlagendem Erfolg: Crowes dritter Film – „Jerry Maguire“ mit Tom Cruise – entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten Filme der 90er Jahre und sicherte seinem Schöpfer gleich zwei „Oscars“.

Billy Wilder konnte beruhigt sein: Hier bemühte sich ein „Ebenbürtiger“ um seine Aufmerksamkeit. 1995 begann Crowe mit seinen Interviews, die sich aufgrund der Eigenwilligkeiten des Befragten zunächst mühsam anließen. Doch je besser sich Crowe und Wilder kennen lernten, desto besser kamen sie in den drei Jahren, über die sich das Projekt schließlich (mit großen Pausen) hinziehen sollte, miteinander zurecht. Crowes orientierte sich grob an einem berühmten und bewährten Konzept: Dreißig Jahre zuvor hatte der Regisseur und Filmhistoriker François Truffaut den großen Alfred Hitchcock befragt. Dies geschah im Rahmen einer längeren Reihe ausführlicher Interviews, die zum ersten Mal einen einzigartigen Einblick in das Werk und das Leben des vom Publikum geschätzten, von der Kritik aber bisher weitgehend unbeachteten Meisters der Suspense ermöglichten. Den roten Faden bildeten die Filme, die lückenlos ange- und besprochen wurden.

Genauso gingen nun Crowe und Billy Wilder vor, was Letzteren nicht immer begeisterte, gibt es doch in seiner Filmografie Werke und in seinem Leben Vorfälle, über die er zu gern den Mantel des Vergessens breiten wollte. Zudem war Wilder ein Meister der Finte und des Ausweichens. Festnageln konnte man ihn nur schwer. Doch bei aller gebotenen Ehrfurcht ließ Crowe nicht locker. Noch größeres Vergnügen als die hochinteressanten filmhistorischen Informationen bereitet die Beobachtung der rhetorischen Scharmützel, die er und sein Wild(er) sich lieferten, denn Crowe beschreibt immer wieder, wo und unter welchen Umständen er sich mit Wilder traf und was sich dabei jenseits des Aufnahmemikrofons ereignete. Über die späten Jahre prominenter Männer und Frauen zeigen sich die Quellen oft ziemlich schweigsam. Das ist auch verständlich, denn im Alter verlieren sie mit ihrer Kraft gewöhnlich das, was sie für ihr Publikum so faszinierend machte. Doch Wilder war zum Zeitpunkt der Crowe-Interviews zwar alt, nicht mehr gesund und oft melancholisch, doch geistig völlig auf der Höhe und von daher eine Persönlichkeit, die der Welt etwas zu sagen hatte.

„Conversations with Wilder“, wie der vorliegende Band im Original viel schöner und auch treffender betitelt wurde, ist nicht nur bis zum Rand angefüllt mit klugen Anmerkungen zur Filmgeschichte und zahllosen Anekdoten über die Schauspieler/innen, Studiochefs, Kameramänner und Autoren, mit denen (oder gegen die) Wilder im Laufe seiner langen Karriere gearbeitet hat. Der großformatige Band prunkt außerdem mit einer Unzahl begleitender Schwarzweißfotos. Doch hier muss die einzige echte Kritik ansetzen: Für den modischen, aber für eine Dokumentation ungeeigneten „Sechzigerjahre-Retro-Schick“ mit seinen direkt vom Fernsehbildschirm abgenommenen und folgerichtig konturschwachen und verschwommenen Filmbildern opfert Crowe die klare Linie seiner ansonsten über die gesamte Distanz unterhaltsamen Quasi-Werkschau und -Biografie. Bei einem Buch, das ziemlich teuer verkauft wurde, hält sich das Verständnis für pseudo-künstlerische Stückchen dieser Art in Grenzen! Das ist aber auch der einzige Einwand, der sich gegen Crowes meisterhafte Darstellung erheben lässt, die dem Bücherschrank jedes Filmliebhabers zur Zierde gereichen wird.

Merlau, Günter – Schloss der Schlange, Das (Die Schwarze Sonne, Folge 1)

Das junge Hörspiel-Label |Lausch| hat erst kürzlich mit der Erstveröffentlichung von [„Caine“ 2050 einen echten Volltreffer gelandet, da startet auch schon die nächste Serie mit dem Titel „Die schwarze Sonne“. Und wieder ist alles bestens: tolle Story (sehr frei interpretiert nach der Romanvorlage von Bram Stoker), exzellente Sprecher, herrliche Atmosphäre und eine wunderschöne Aufmachung mit tollen Zeichnungen und Illustrationen im Booklet. Kurzum – man darf es vorwegnehmen – ein Optimalfall von einem Hörspiel und ein weiteres wichtiges Standbein, mit dem sich das Label endgültig etabliert haben sollte.

_Story_

England 1885: Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern kehrt der junge Adam Salton in seine Heimat zurück. Dort wird er schon von seinem Onkel Richard sowie dessen Gefährten Nathaniel de Salis erwartet. Besonderes Letzterer ist Adam von Anfang an sympathisch, hat er doch ein Faible für das Mystische, ähnlich wie Adam selber, der seit einiger Zeit von grausamen Visionen und erschreckenden Tagträumen heimgesucht wird.

Doch auch die Realität ist voller Entsetzen: Bereits bei seiner Ankunft stoßen die drei Männer auf eine brutal zugerichtete Leiche, deren zunächst prognostizierte, natürliche Todesursache heftig umstritten ist. Als es dann nicht bei dem einen Leichnam bleibt, entschließen sich Nathaniel und Adam, dem Spuk auf den Grund zu gehen. Beiden ist bewusst, dass die Bewohner von Derbyshire irgendetwas verheimlichen, doch noch kann sich niemand einen Reim darauf machen, wie es zu den plötzlichen Todesfällen gekommen ist. Dann jedoch machen die beiden eine furchtbare Entdeckung: In den Mooren von Derbyshire haust ein mythologisches Schlangenwesen, das von einem seltsamen Kult gedeckt wird. Langsam kommt Licht ins Dunkel, doch eine Frage steht weiterhin im Raum: In welchem Zusammenhang stehen die jüngsten Morde mit dem Tod von Adams Eltern?

_Meine Meinung_

Natürlich wird ein Hörspiel in erster Linie im Hinblick auf die Rahmenhandlung bzw. die eigentliche Geschichte bewertet. Ohne einen spannenden Plot läuft nunmal gar nichts. Und dennoch ist „Die schwarze Sonne“ in seiner genialen Umsetzung nicht nur auf die eigentliche Story zu beschränken. Es sind die fantastischen Bedingungen, unter denen dieses Hörspiel auftritt, die letztendlich für die hier entfachte Begeisterung sorgen. Alleine schon der Soundtrack dieser ersten Episode ist Gold wert. Mit vielseitiger Klassik hebt Hörspielautor Günter Merlau die verschiedenen Stimmungen perfekt hervor. Düstere Gruselstimmung, plötzliche Euphorie, gesteigerte Theatralik – alles zu seiner Zeit und alles unheimlich toll inszeniert. Lausch bieten nicht nur eine erzählte Geschichte, sondern Kino für die Ohren! Bärenstark, wie die Atmosphäre immer wieder ruckartig umschlägt. Ängste, Liebe, Harmonie, Schrecken, Freude, Grusel, Verwirrung, was will man mehr?

Dazu dann die Sprecher: Das Label kann wirklich auf eine erlesene Auswahl erstklassiger Akteure zurückgreifen. Besonders hervorzuheben sind hier die beiden Hauptdarsteller Christian Stark in der Rolle des Adam Salton und Harald Halgarth als der wissensdurstige Nathaniel de Salis. Stark kann dabei besonders an den Stellen, in denen die Handlung aus seiner Sicht erzählt wird, auftrumpfen. Die Beschreibung seiner schrecklichen Visionen sowie das Erleben der abenteuerlichen Ermittlungen rund um die Moore von Derbyshire sind darstellerische Extraklasse, oder, um beim Klischee zu bleiben, ganz großes Kino!

Die eigentliche Story soll bei all dem äußeren Glanz natürlich nicht unter den Tisch gekehrt werden. Günter Merlau nimmt sich alle Freiheiten, die ihm seine Arbeit bietet, hält sich aber inhaltlich komplett an die Vorlage. Der wesentliche Unterschied besteht in der frischen, lebhaften Präsentation. Der verstaubte Stoker wird neu belebt, das alte England durch die moderne Aufarbeitung ins neue Jahrtausend transferiert. Dennoch geht dies nicht auf Kosten der Spannung. Und, nicht unwichtig, das Ganze wirkt auch nicht wie die kitschige Auferweckung verschollener Klassiker. Denn gerade erst durch den tollen Soundtrack und die herrliche Grundstimmung bekommt das Hörspiel die zweifellos vorhandene Authentizität zugesprochen; erst hierdurch entsteht das teils gruselige, teils abenteuerliche Flair, in dem sich die Geschichte bewegt. Außerdem begeht man nicht den Fehler, die Story an sich zu modernisieren. Jugendliche Plattitüden sind den Machern fremd, Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts hingegen willkommen.

Was kann ich mehr sagen? Es passt einfach jedes einzelne Puzzlestück dieser Produktion wie die berüchtigte Faust aufs Auge. „Das Schloss der Schlange“ ist ein wunderbarer Auftakt einer neuen, viel versprechenden Reihe, mit der wir in Zukunft garantiert noch sehr viel Freude haben werden. Leider wird die Fortsetzung erst im Herbst erscheinen, doch bis dahin ist dann wenigstens genügend Zeit, um die Kunde von diesem neuen, fantastischen Label für phantastische Unterhaltung weiterzugeben! Mit einem Wort: Super!

http://www.die-schwarze-sonne.de/
http://www.merlausch.de

Weißmann, Karlheinz – Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus

Vor 30 Jahren starb der bedeutende Anthropologe Arnold Gehlen, der zu Lebzeiten sehr bekannt war und heiß diskutiert wurde, mittlerweile aber fast vergessen scheint. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann, der auch an der anspruchsvollen Vierteljahresschrift „Sezession“ mitwirkt, will in seinem Buch „Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus“ diesen Kopf wieder in Erinnerung rufen und einer – durchaus kritischen – Diskussion zuführen. In Zeiten, die durch Terrorismus, große politische Verwirrung bis in die Regierungen und strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt sind (einige Medien sprechen gerne vom „Ende der Spaßgesellschaft“), scheint auch die Nachfrage nach den völlig unromantischen und unpopulären Ideen Gehlens zum Menschen und seiner Gemeinschaftsordnung zu steigen. Weißmanns Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Perspektiven“, die Denker vorstellt, die von der Mainstream-Debatte gerne übersehen werden. Es gliedert sich in einen biographischen Abriss, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus Gehlens Denken und einen Abschnitt über das Dilemma politischer Philosophen, Gedanken zu veröffentlichen, denen zu viel Öffentlichkeit schaden könnte.

Die biographischen Angaben beschränken sich überwiegend auf Gehlens akademisches Leben, seine Lehrstühle, seine Lehrer und Schüler. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist sein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus. Bei äußerer Anpassung behielt er in seiner Lehre eine Eigenständigkeit, die regimetreuen Kritikern oft ein Dorn im Auge war. Auch später in der BRD wurde er vom offiziellen akademischen Betrieb eher misstrauisch beäugt, während sich Wirtschaft und Verbände um seine Vorträge rissen. Der Mensch Gehlen bleibt in diesem Kapitel jedoch etwas blass.

Die thematischen Kapitel beruhen auf zentralen Begriffen und Hauptwerken Gehlens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darlegung seiner eigenen Hauptgedanken. Vorgänger und Anregungen werden unterschiedlich intensiv behandelt. In jedem Kapitel folgt darauf die Vorstellung der unterschiedlichen – zustimmenden wie ablehnenden – Reaktionen, die von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde. Dass der Kritik so viel Platz eingeräumt wird, ist berechtigt, da Gehlen sich von sachlicher, konstruktiver Kritik durchaus beeindrucken ließ und daraufhin manchmal seine Schriften in jüngeren Auflagen umformulierte.

Ausgangspunkt in Gehlens Denken ist die rein analytische Betrachtung des Menschen in der Welt, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) formulierte. Er gilt als einer der Mitbegründer der modernen Anthropologie. Für ihn war der Mensch einerseits das gegenüber dem Tier instinktarme und schwache „Mängelwesen“ und andererseits der intelligente, d. h. der berechnende und sein eigenes Verhalten steuernde „Prometheus“. Es wird erläutert, wie seine Vorstellungen vom „Mängelwesen“ – vermutlich der bekannteste Begriff Gehlens – von antiken Philosophen und Herder angeregt war. Weißmann legt hier dar, wie Gehlen sich u. a. auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und dabei von der (schulmäßigen) Philosophie abwandte. Obwohl Professor für Philosophie, sah er seine Anthropologie schließlich ausdrücklich als Abkehr von der Philosophie, so wie sie die Naturwissenschaften bereits wenige Jahrhunderte zuvor vollzogen hatten.

Seine Institutionenlehre hat Gehlen vor allem in „Urmensch und Spätkultur“ ausgebreitet. Schon an diesem Buchtitel wird deutlich, dass Gehlen die Institutionen, angefangen bei Ehe, Familie und religiösen Riten, als Hervorbringungen des prähistorischen Menschen sieht, der noch sehr stark den Mächten der Natur ausgeliefert ist und mit den Institutionen eine Entlastung im Kampf ums Überleben aufbaut. Der späte Mensch in diesen Institutionen entfremdet sich der ursprünglichen Lage, verliert den Bezug zu ihnen und verkennt ihre Bedeutung. Wieder gelingt es Weißmann, Gehlens Ansätze von den Naturwissenschaften und der Psychologie und seine Abwendung von einer spekulativen Philosophie deutlich zu machen. Es wird dabei klar, dass man sich hier auf einer Stufe befindet, auf der nichts mehr endgültig bewiesen oder widerlegt, sondern allenfalls noch in schlüssigen Theorien formuliert werden kann. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Kapitel sicher das stärkste des Buches, denn Weißmann schafft es sehr gut, Entwicklung, Aufbau und Systematik von Gehlens Vorstellungen zu vermitteln.

Im letzten thematischen Kapitel werden Gehlens Intellektuellenkritik sowie seine Begriffe „Kristallisation“ – für Gehlen die Versteinerung eines durch Technik und Wirtschaftstätigkeit geprägten Systems, die ein völlig neues Zeitalter einläutet – und „Moral und Hypermoral“ (so sein letztes Werk von 1969) vorgestellt. Erst durch die wieder klar verständliche Darlegung dieser Gedanken wird deutlich, warum das Ganze unter der Überschrift „Die Geschichte“ läuft. Durch eine kurze Erläuterung dieser Zuordnung zu Beginn wäre klarer geworden, dass Arnold Gehlen diese Gedanken in und für eine ganz bestimmte Epoche entwickelt hat. Wie der Verfasser ausführt, hat die ständige Auseinandersetzung des Gegenwartsdenkers Gehlens noch im Alter zu Änderungen in seinem Weltbild geführt.

Abschließend enthält das Buch eine Bibliographie einschließlich Sekundärliteratur und eine Zeittafel zu Gehlens Leben und Werk.

Weißmann wird seinem Anspruch, Gehlen als „Vordenker eines neuen Realismus“ vorzustellen, in zweierlei Hinsicht gerecht: Einmal zeigt er ihn als einen Gegner jeglicher Utopien und Idealismen, zum anderen als äußerst eigenständigen Kopf, der ungewöhnliche Gedanken entwickelt und sich quer zu irgendwelchen Denktraditionen stellt, wenn er sich damit auf der richtigen Spur zur Erfassung der Wirklichkeit glaubt.

Diese Schrift ersetzt mit ihren knapp 120 Seiten natürlich keine umfangreiche Monographie, ist aber als kurze und prägnante Einführung sehr zu empfehlen. Hier wird ein Denker, der nicht gerade zu den ständig zitierten Köpfen gehört, kompetent, verständlich und kritisch vorgestellt.

Bilal, Enki – Bilal – 32. Dezember

|Enki Bilal gehört seit Jahren zu den Großen der französischen Comic-Szene. Sein Zyklus »Legenden der Gegenwart« und die Geschichten um Alexander Nikopol und Jill Bioskop haben ihn zu einem der tonangebenden Zeichner der achtziger und neunziger Jahre gemacht. Nach einem kurzen Blick auf Bilals Biographie werden an dieser Stelle zwei seiner Comic-Alben vorgestellt, die vor einiger Zeit auf Deutsch im |Ehapa|-Verlag erschienen sind: »Exterminator 17« und »32. Dezember«.|

Enki Bilal wurde am 7. Oktober 1951 in Belgrad geboren. Als er zehn Jahre alt war, beschlossen seine Eltern, nach Frankreich auszuwandern. Die Familie fand in Paris ein neues Zuhause. Schon früh entdeckte Bilal seine Faszination für das Zeichnen. Mit einer seiner Arbeiten gewann er 1971 einen Talentwettbewerb für Nachwuchszeichner, den die Jugendzeitschrift »Pilote« veranstaltet hatte. Es folgte eine erste Veröffentlichung in Heft 645 von »Pilote«. Nach diesem ersten Erfolg blieb Bilal dem Magazin viele Jahre lang treu verbunden. In den siebziger Jahren schrieb und zeichnete er für »Pilote« viele kleine Szenarios. Er entwickelte dabei seine so genannte Runzeltechnik und übte sich in Direktkolorierung, was damals noch eine eher ungewöhnliche Methode war.

Ebenso wichtig wie die Ausbildung seines Zeichentalents in jenen Tagen war wohl Enki Bilals Bekanntschaft mit Pierre Christin. Der langjährige Szenarist wollte politische Themen aufgreifen und konnte Bilals Hang zu Monstren und phantastischen Halbwesen nicht so recht teilen. Doch aus der gemeinsamen Arbeit dieses ungleichen Paares erwuchs der fünfteilige Zyklus »Legendes d’Aujourd’hui« (dt.: Legenden der Gegenwart), der in der Zeit von 1975 bis 1983 entstand. Bilal und Christin widmeten sich hier gesellschaftlichen Themen. Die Geschichten waren geprägt von einem stets skeptischen Blick auf die Machtstrukturen der Politik. Später kamen phantastische Einflüsse hinzu, die auf Bilals Konto gingen. Der grob als »Polit-Fiction« zu umschreibende Zyklus stellt Bilals erstes großes Werk dar und brachte ihn (trotz gewisser inhaltlicher Schwächen) voran in die erste Liga der französischen Comickünstler.

Wem Enki Bilal seitdem noch kein Begriff war, lernte ihn spätestens durch seinen zweiten Zyklus kennen. Der dreiteilige Nikopol-Zyklus, begonnen 1980, entstand allein unter Bilals Federführung. Sowohl als Autor als auch als Zeichner setzte er mit dem ersten Band »La foire aux Immortels« neue Maßstäbe. Die Geschichte teilt Seitenhiebe in Richtung von Politik, Kirche und Gesellschaft aus. Nicht zuletzt ist es ein phantastisches Science-Fiction-Abenteuer. Zeichnerisch ist Bilals Freude an offenen Formen, an großen Panels und an grafischer Ganzheitlichkeit kaum zu übersehen. Jede Seite ein Kunstwerk, könnte man seinen Anspruch formulieren.

_Exterminator 17_

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Bei |Ehapa| erschien vor kurzer Zeit das Album »Exterminator 17« (frz.: Exterminateur 17), das Bilal 1976/77 mit dem Szenaristen Jean-Pierre Dionnet schuf. Das SF-Szenario stellt eine Präambel zu der späteren gleichnamigen Reihe dar und beleuchtet die Vorgeschichte der Hauptfigur, des Androiden Nummer 17. Es geht dabei um einen Kriegsandroiden der Generation 17, ein altes Modell, das zerstört werden soll. Sein Erfinder und Konstrukteur richtet es jedoch so ein, dass seine Seele bei seinem Tod auf die menschliche Maschine überwechselt. Fortan ist Exterminator 17 ein Android mit der Seele seines Erfinders, mit einem Bewusstsein seiner Selbst und mit Lebenswillen. Ein Rebell unter den Maschinen. Aus Angst vor einer Revolution machen die Menschen Jagd auf ihn.

Veröffentlicht wurde die Geschichte zum ersten Mal in dem ambitionierten SF-Comic-Magazin »Metal Hurlant« (Heft 13). Wer andere Arbeiten von Enki Bilal kennt, muss sich über »Exterminator 17« wundern. Gleichförmig angeordnete Panel, zusammenhanglose Bildsprünge, langweilige Hintergründe – weder Form noch Inhalt von »Exterminator 17« können überzeugen. »Exterminator 17« ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein schlechtes Szenario negativ auf die Zeichenqualität auswirkt. Was Enki Bilal später zu »Exterminator 17« zu sagen hatte, unterstützt diesen Eindruck: „Die ersten zehn Seiten hatten mich noch interessiert, aber plötzlich hakte ich die Sache komplett ab. Ich habe die Geschichte dann ohne Enthusiasmus zu Ende gezeichnet. Rein automatisch.“

_32. Dezember_

Ganz anders sieht es bei dem Album »32. Dezember« aus. Hier ist alles wieder da, was man als Leser des Nikopol-Zyklus geschätzt hat. Mutige, offene Bildformen, Direktkolorierung, unter der die einzelnen Linien zu verschwinden drohen, ein abwechslungsreicher Gesamteindruck. Durch unzählige grafische Gegensätze entsteht ein spannendes Werk: Kleine Panels stehen gegen große, farbige Doppelseiten gegen nahezu farblose, haargenau Details gegen unklare Eindrücke. Und nicht nur optisch ist Bilals »32. Dezember« ein außerordentlich empfehlenswertes Comic-Album. »32. Dezember« ist der zweite Teil einer Trilogie, die 1998 mit dem Band »Der Schlaf des Monsters« (frz.: Le Sommeil du Monstre) begann. Bilal wendet sich mit dieser dritten großen Arbeit wieder dem Medium Comic zu, nachdem er eine ganze Weile im Filmgeschäft aktiv war.

In »32. Dezember« erzählt Enki Bilal die Geschichte von Nike, Amir und Leyla, die in den neunziger Jahren als elternlose Säuglinge in den Ruinen von Sarajewo gefunden wurden. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, über dreißig Jahre. Sie haben noch gelegentlich Kontakt miteinander. Auf unterschiedlichen Wegen schlagen sie sich durch die Welt des Jahres 2026. Es treffen also wieder Science-Fiction und persönliche Abgründe aufeinander. »32. Dezember« ist jedoch weitaus mehr. Themenschwerpunkte des Bandes sind Kunst und Religion. Optus Warhole, ein weltweit legendärer Künstler, kennt kein Maß und keine Form mehr. Er ist radikal bis zum Äußersten, schreckt vor inszenierten Massenmorden nicht zurück. Die Menschheit ist seine Leinwand, formbar. Bilal selbst sagt: „Manipulation ist das zentrale Thema meiner Bücher, was auch immer andere dazu sagen.“ Von diesem Standpunkt aus wird auch der Bogen zur Religion ersichtlich. Die kürzlich irgendwo in der Wüste entdeckte Adler-Stätte stellt die Führer aller Religionen vor neue Fragen über den Ursprung der Menschheit. Sind die phantastischen Relikte echt oder nur ein weiterer Spielstein in dem allumfassenden Werk von Optus Warhole? Die bezaubernde Melancholie, die Bilals Werke auszeichnet, ist in »32. Dezember« voll da. Eine schwer greifbare Seelenzerrüttung der Hauptfiguren, Grausamkeit und phantastische Höhenflüge treffen sich hier und formen ein facettenreiches Ganzes. »32. Dezember« bleibt nicht unpersönlich, und der Leser kommt nicht umhin, zu deuten und selber Überlegungen anzustellen. Ein herrlicher Comic, einhundert Prozent Enki Bilal, ein Album zum Immer-wieder-Lesen.

Wann der dritte Teil der Trilogie erscheint, ist noch nicht bekannt.

Winter, Maren – Stundensammler, Der

Mit „Der Stundensammler“ legt Maren Winter ihren zweiten Roman vor, dessen Handlung wie ihr Debüt erneut in ein historisches Gewand verpackt ist. Beschrieb sie in „Das Erbe des Puppenspielers“ die schicksalhafte Reise eines Puppenspielers, der in die Intrigen und Verschwörungen zu Zeiten Karl des Großen verwickelt wird, so verlegt sie in ihrem Zweitwerk die Geschichte gut 700 Jahren nach vorne. Genau genommen in das Jahr 1492, zu Hochzeiten der Renaissance.

„Der Stundensammler“ wurde wie ihr Erstling erneut bei |Heyne| veröffentlicht und erschien dort als Taschenbuchausgabe in der Reihe |Heyne Original|. Auf den knapp 500 Seiten lassen sich neben der Romanhandlung zwei Karten sowie einige Anhänge finden. Die Karten stellen Nürnberg sowie das Nürnberger Umland dar und sind mit für den Plot wichtigen Ortschaften gekennzeichnet. Für das Nachvollziehen der Handlungsstränge wären sie zwar nicht notwendig gewesen, als nette Beigabe taugen sie aber allemal. Die Anhänge beschäftigen sich mit dem historischen Hintergrund und listen detailliert die wichtigsten Fachausdrücke mit prägnanten Erläuterungen sowie die Protagonisten der Handlung und deren Bezug zur historischen Realität auf. Wer tiefer gehende Informationen sucht, kann sich anhand der gelieferten Hinweise so um weitere Literatur bemühen.

Während Maren Winter mit „Das Erbe des Puppenspielers“ auf sicherem Terrain agierte – immerhin schloss die 1961 geborene Autorin eine Ausbildung zur Puppenspielerin ab und gründete mit ihrem Mann ein Figurentheater -, wagt sie sich in „Der Stundensammler“ auf ein zumindest aus ihrer Biographie nicht ersichtliches, neues Gebiet vor. Zentraler Aspekt in ihrem Roman ist die Erfindung der Taschenuhr, um den sie die Lebensgeschichte der fiktiv ausgestalteten Hauptfigur Severin und den damit verbundenen Plot anlegt:

Severin wird als Findelkind von seiner leiblichen Mutter in die Familie des Bauern Georg Geiss gegeben, in der er mit seinen neuen Geschwistern eine harte Kindheit erlebt – unbedacht von seiner tatsächlichen Herkunft. Er muss schuften und hart arbeiten, doch die Anerkennung in seiner Familie bekommt er nicht. Als er eines Tages die Schafe hüten muss und nicht verhindern kann, dass eines von ihnen im Fluss ertrinkt, hat er sich seine letzten Sympathiepunkte verspielt. Die Strafe, das Schaf durch noch härtere Arbeit abzugelten, trifft ihn hart.

Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf, als die Familie ins Dorf Affalterbach zieht, um dort auf dem kleinen Markt ihre Waren feilzubieten. Denn während die Bauern noch unbedacht handeln, zieht der Markgräfliche Erbprinz gen Nürnberg und schlachtet auf seinem Weg die schutzlosen und völlig überraschten Bauern regelrecht ab. Zwar kann das Heer vor Nürnberg aufgehalten und schließlich vertrieben werden, doch Severin verliert seine gesamte Adoptivfamilie, während sich der Junge im Kirchturm versteckt hält. Denn den Angriff verschläft der Junge schlicht und ergreifend unter der über ihm tickenden Kirchenuhr. Alles, was er danach noch vorfindet, ist ein Feld voller Leichen.

Dieses Ereignis prägte ihn so sehr, dass die Zeit, und vor allem das Wissen über die Zeit, sein künftiges Leben fortwährend begleitet. Anfangs noch unbewusst, später im Verlaufe der Handlung immer drängender, wird ihm klar, dass es nur eine Lösung gibt: eine Taschenuhr, die jeder mit sich herumtragen kann. Erst dann hätten die Menschen die Kontrolle über die Zeit …

Maren Winter schafft es leider nicht, gleich zu Beginn eine fesselnde Atmosphäre aufzubauen. Zwar wird schnell klar, dass sich die Autorin auf dem historischen Gebiet auskennt und weiß, wovon sie schreibt, doch der Funke will zunächst nicht überspringen. Das mittelalterliche Bild, das sie aufzubauen versucht, setzt sich einfach nicht plastisch im Gedächtnis fest, als dass darauf aufbauend die Handlung wirklich mitreißen könnte.

Dies scheint an mehreren Faktoren zu liegen. Zunächst wirken die Figuren anfänglich äußerst platt, auch wenn der Hauptcharakter Severin und die Heinlein-Brüder, unten denen der Junge später dient, hier angenehm herausstechen. Die meisten Nebenfiguren bleiben recht blass und leblos. Die Bauernfamilie etwa, die auf den ersten Seiten beschrieben wird, kommt einerseits klischeeartig tumb, voreingenommen und rüde daher, anderseits werden den Bauern dann aber Dialoge in den Mund gelegt, die äußerst unpassend erscheinen. Wenn sie in einigen Szenen plötzlich auf die politische Situation und die kriegerischen Konflikte zu sprechen kommen und mit erstaunlichem Hintergrundwissen argumentieren, entsteht der Eindruck, dass an dieser Stelle recht gezwungen der Plot vorangetrieben werden soll. Auch Severins Motivation, durch das Verschlafen des Gemetzels unter der Kirchenuhr die Zeit kontrollieren zu können, damit ihm solch ein Missgeschick kein weiteres Mal passiert, kann nicht so recht überzeugen.

Der Leser wird also auf eine harte Probe gestellt, wenn er sich der Romanhandlung hingeben möchte, aber immer wieder bemerken muss, dass diese sich nicht von alleine entfaltet, sondern von der Autorin mal mehr, mal weniger auffällig in die gewünschte Richtung vorangetrieben wird. Schade, denn dadurch kann sich auch die mittelalterliche Szenerie nicht festsetzen. Durchaus verständlich, wenn der Leser hier frustriert aufgibt – doch durchzuhalten lohnt sich.

Denn in dem Moment, als Severin auf die Bettlerin Barb trifft, die sich seiner annimmt und nach Nürnberg bringt, gewinnt „Der Stundensammler“ an Fahrt. Plötzlich kann sich der Leser mit der Hauptfigur identifizieren, kämpft seinen täglichen Kampf ums Überleben mit und freut sich für ihn, während er sich langsam vom Bettler über den Tagelöhner zum Gesellen hocharbeitet. Nürnberg, in dem sich die weitere Handlung abspielt, wird plastisch. Es gewinnt an Facetten ebenso wie an Leben, wenn immer mehr einflussreiche Leute in Severins Leben treten, die ihm helfen, seinen Traum von der Kontrolle der Zeit zu realisieren und ihn beim Bau einer Taschenuhr unterstützen. Dass sein Ziel schlussendlich Wirklichkeit wird, er seinen wahren Vater trifft und auch in der Liebe fündig wird, rundet den Roman würdig ab. Alles andere als ein Happy-End hätte man nach diesem Aufbau auch nicht erwartet.

Wer tapfer ist und durchhält, bekommt schließlich mit „Der Stundensammler“ einen ordentlichen Roman geboten, der zwar keine Lorbeeren gewinnt, aber durchaus unterhalten kann. Das historische Gewand um die Erfindung der Taschenuhr ist überzeugend, die schriftstellerische Aufarbeitung dessen aber ausbaufähig.

Oprisko, Kris / Wood, Ashley – Metal Gear Solid (Band 2)

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_Story_

Solid Snake trifft im Labyrinth den gefangenen Baker und erhofft sich von ihm mehr Informationen über die Pläne zum Abschuss von Metal Gear, doch während des Gespräches stirbt der Wissenschaftler in den Armen des Einzelkämpfers – gerade als er dabei war, ihm ein wichtiges Geheimnis über seine Auftraggeber aus dem Pentagon anzuvertrauen. Diese wiederum verlangen von Solid Snake eine engere Zusammenarbeit mit der Söldnerin Meryl, auf die sich Solid Snake jedoch nur bedingt einlässt. Von ihr erfährt er, wo der Erfinder des Projektes, Dr. Emmerich, stationiert ist und wie man Metal Gear aufhalten kann. Meryl, zugleich Tochter von Colonel Campbell, hält die Stellung, während sich Snake noch tiefer in das Labyrinth hineinbegibt und schließlich Emmerich aufspürt. Doch auch hier scheint er zu spät zu kommen, denn ein brutaler Cyborg hat sich bereits einen Weg zum Metal-Gear-Urheber gebahnt und droht, ihn zu vernichten. Es kommt zum Kampf, in dem sich das wahre Gesicht des Kampfroboters offenbart, und in dem Snake von oberster Stelle erfährt, um wen es sich bei seinem neuen, übermächtig erscheinenden Gegner zu handeln scheint …

_Meine Meinung_

Der zweite Comic-Band zur vierteiligen Serie steckt voller Überraschungen für den Helden Solid Snake. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen, und es macht den Eindruck, als würden seine Auftraggeber ihm wichtige Informationen vorenthalten oder aber eingreifen, wenn Snake droht, zu viel zu erfahren. Es liegt eine Verschwörung in der Luft, die durch das Auftauchen eines alten Bekannten in der zweiten Hälfte noch mysteriöser wird, den Leser aber gleichzeitig auch ein bisschen (im positiven Sinne) verwirrt. Genaue Motivationen der Verbrecher sind zwar rein äußerlich erkennbar, aber wie die einzelnen Verstrickungen tatsächlich aussehen, bleibt weiterhin ein Rätsel, das es für den legendären Söldner aufzudecken gilt.

Wie auch schon im ersten Teil lebt die Geschichte vorrangig von ihrer Action. Solid Snake hat mehrere Gefechte zu überstehen, verfolgt aber eine sehr klare Linie, die sich aber generell auch durch die gesamte Geschichte zieht. Der Hauptcharakter und sein zielstrebiges Auftreten sind sinnbildlich für den sehr gradlinigen Verlauf der Handlung, die aber dank der verzwickten Rollenaufteilung – man weiß nach wie vor nicht mit Gewissheit, welche Person jetzt welchen Zweck erfüllt – niemals an Spannung verliert. Schade ist nur, dass das Ganze wieder so schnell vorbei geht. Rein quantitativ passiert in Band 2 jedenfalls nicht allzu viel, und auch wenn die Handlung sich weiterentwickelt hat, ist die Geschichte nur geringfügig vorangekommen. Kris Oprisko kommt schnell auf den Punkt, das ist auch gut so, aber ein bisschen mehr Inhalt hätte dem zweiten Teil letztendlich trotzdem sehr gut getan. Es fällt mir jedenfalls schwer, mir vorzustellen, dass die Sache nach ganzen vier Bänden bereits komplett rund sein soll. Es wäre zu einfach, wenn Solid Snake jetzt auf direktem Wege die Nuklearwaffen aufspürt und sie vernichtet. Wo bringt der Autor dann die Lösung der hier aufkeimenden Ungereimtheiten bezüglich der ‚bösen‘ Charaktere noch unter?

Aber gut, ich lasse mich überraschen und darf mich auch eigentlich nicht beschweren, schließlich war Band 2 am Ende auch wieder sehr unterhaltsam und konnte mit seiner düsteren Atmosphäre erneut echt begeistern. Mittlerweile habe ich mich auch an den Stil von Ashley Woods Skizzen gewöhnt, der mir von Bild zu Bild besser gefällt, gerade wenn der Mann mal etwas mehr Farbe ins Spiel bringt. Wer sich den ersten Teil bereits angeschafft und damit seine Freude gehabt hat, darf die aktuelle Ausgabe natürlich auch nicht verpassen und sich schon jetzt auf die im Mai folgende Fortsetzung freuen. Dann sollte aber neben der gewohnt rasanten Action auch die Rahmenhandlung ein wenig mehr vorankommen, denn wenn es von meiner Seite etwas zu kritisieren gibt, dann die meines Erachtens zu deutliche Fokussierung auf Dialoge und Kampfhandlungen, deren Inhalte nicht immer den gewünschten Fortschritt bringen – und dies war eigentlich einer der Punkte, die mir im Vorgängerband noch so positiv aufgefallen sind, sprich ein konsequenter Strang und kaum Nebenhandlung. Ein bisschen mehr Rahmen hätte es aber in der Fortsetzung schon sein können, und ich wäre rundum zufrieden gewesen. Ja, ja, wüsste ich nur manchmal selber, was ich genau will … Aber wie gesagt, alles in allem bin ich auch von Teil zwei überzeugt!

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Nasaw, Jonathan – Blutdurst

Wenn man es mal genau betrachtet, dann ist Vampirismus eine Abhängigkeit wie jede andere auch: Als Vampir ist man ständig auf der Suche nach Stoff, und lässt man einmal eine Mahlzeit aus, muss man sofort mit schweren Entzugserscheinungen rechnen. Sämtliche Gedanken kreisen nur um die Beschaffung von Blut, es ist Lebenselixier und Fluch zugleich.

Diese Analogie ist nicht gerade eine neue Erkenntnis, schon Abel Ferrara hat ihr in dem Film mit dem bezeichnenden Titel „The Addiction“ ein Beispiel gesetzt. Doch jetzt buchstabiert Jonathan Nasaw in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Blutdurst“ das ganze Suchtpotenzial des Vampirs bis zur totalen Erschöpfung durch.

Die Grundidee ist eigentlich ganz sympathisch: Nach dem Beispiel der Anonymen Alkholiker trifft sich in San Francisco wöchentlich ein kleiner Haufen Vampire, um ihrer Droge Blut abzuschwören. Denn wenn sie auch eigentlich ganz normale Menschen sind, d. h. sich weder in Fledermäuse verwandeln können noch unsterblich sind, so besitzen sie doch ein außergewöhnliches Gen, das ihnen beim Genuss von Blut ein unglaubliches High verschafft. Alles ist auf Blut besser, schärfer, klarer und überhaupt erträglicher – wie das eben bei Drogen so ist. Am besten wirkt das Blut von Babys, und für einen Babyblutrausch würde ein Vampir so ziemlich alles riskieren.

Nick Santos, seines Zeichens abstinenter Vampir und Romanautor a. D., ist der Kopf von VA, den anonymen Vampiren von San Francisco. Er selbst hat die Zeit des exzessiven Blutrausches bereits hinter sich und ist nun ein fundamentalistischer Verfechter des nüchternen Lebensstils. Um anderen Vampiren die Vorteile des blutfreien Lebens nahe zu bringen, entführt er sie auch schon mal und zwingt sie zum kalten Entzug.

James Whistler, ebenfalls Mitglied von VA und Nicks Nemesis, sieht die ganze Sache etwas anders. Ihm geht nicht ganz auf, was so Verwerfliches daran sein soll, seinem (einverstandenen) Partner beim Sex ein paar Tropfen Blut abzuzapfen. Und so schnappt er sich den VA-Neuzugang Lourdes, füttert sie mit Blutbeuteln an, macht sie zu seiner Geliebten und beschließt, mit ihrer Hilfe VA zu sprengen. Nach und nach nehmen sie sich die Mitglieder der Gruppe vor und machen ihnen schmackhaft, doch rückfällig zu werden.

Was sonst noch passiert? Alles und nichts. Nick schwängert eine Pastorin, schreibt ein Buch über seine Welt auf Blut, Whistler führt Lourdes in die Vampirpraktiken auf einer obskuren Karibikinsel ein und schwängert sie nebenbei, es gibt eine kleine Fehde zwischen der Wicca-Hohepriesterin Selene und Nick, es wird viel über Süchte und Abstinenz philosophiert und dazwischen gibt es Sex, Sex und nochmal Sex. Ach, und ein bisschen Gewalt. Und Drogen eben.

„Blutdurst“ soll offensichtlich, zu einem gewissen Grade, eine Satire auf die Hochzeit der 12-Schritte-Programme in den USA sein. Vollkommen legitim, würde sich dieses Vorhaben nicht nach ungefähr 200 Seiten absolut totlaufen. Die Charaktere des Romans sammeln Süchte (und die dazugehörigen Selbsthilfegruppen) wie andere Leute Briefmarken, und irgendwann wird es für den Leser schwer, all dem pseudopsychologisch-verständnisvollen Gelaber über Co-Abhängigkeit und sonstigen Unfug mit irgendeinem Wohlwollen zu folgen. Das Leben dieser Figuren besteht nur aus Sex und Drogen, und so verführerisch das für den ein oder anderen auch klingen mag – ein fast 600 Seiten starker Roman lässt sich damit nicht unterhaltsam füllen.

Folglich mäandert die Handlung mehr schlecht als recht dahin und man kann sich nie ganz sicher sein, wo Nasaw denn nun eigentlich hinwill. Mal geht es um den schwulen Nick, der spontan die Freuden des Sexes mit einer ordentlich beleibten Frau entdeckt. Dann geht es um Whistlers schrulliges High-Society-Leben, das uns offensichtlich demonstrieren soll, dass Männer auf Blut sexy und erfolgreich sein können. Dann wieder geht es wahlweise um entführte Babys, Wicca-Rituale, Sexorgien und Gesprächstherapie. Eine Zeit lang nimmt man an, dass Selenes Rache an Nick der Knackpunkt der Handlung sei (er hatte ihr im Blutrausch einst fast die Kehle herausgerissen), doch dieser Konflikt wird in einem solchen Antiklimax aufgelöst, dass man sich fragt, warum Nasaw dieses Problem überhaupt eingeführt hat, nur um es dann so gelangweilt abzuarbeiten.

Nasaw zitiert kurz vorm Ende Tolstoi, offenbar um dem Leser zu verstehen zu geben, wie er „Blutdurst“ verstanden wissen will: „Eine Geschichte hinterlasse einen tieferen Eindruck, wenn sich unmöglich sagen lässt, auf wessen Seite der Autor steht.“ Da ist natürlich was dran, nur muss man als Autor dafür auch einen fesselnden Plot und überzeugende Charaktere liefern. Bei Nasaw ist man nie ganz sicher, ob nun die Süchtigen oder die 12-Schrittler auf der moralisch richtigen Seite stehen. Whistler als egoistischer Hedonist steht dem moralgebeutelten, aber durchaus auch mal korrupten Nick gegenüber. Doch letztendlich lässt sich Tolstois Motto hier nicht anwenden, sind dem Leser schlussendlich doch alle Charaktere und damit auch ihr Schicksal egal.

„Blutdurst“ ist ein Roman, der, um ein Vielfaches gekürzt, durchaus seine Momente hätte haben können. So aber verlieren sich satirische Spitzen und moralische Fragen in einem unüberschaubaren Wust aus Sexorgien und Psychosprech, die sich ewig wiederholen – wie das Leben auf Droge eben.

Franke, Jürgen E. – Midgard – Das Fantasy-Rollenspiel

_Allgemein_

„Midgard – Das Fantasy-Rollenspiel“ ist das älteste deutsche Rollenspiel. Das System ist so ausgelegt, dass es in jeder beliebigen Fantasywelt gespielt werden kann, so dass die Länderbeschreibung in diesem Grundregelwerk nur äußerst rudimentär behandelt wird. Die Beschreibung der verschiedenen Länder „Midgards“ wird in den verschiedenen Regionalbänden nachgeholt. Sollte jemandem aber die Midgard-Welt nicht gefallen, kann er jederzeit mit diesem Regelwerk in andere Fantasywelten „auswandern“.

Spielbare Rassen sind außer den obligatorischen wie Menschen, Elfen und Zwergen auch Halblinge und Gnome. Neben den Rassen spielt natürlich auch noch der Typus eine große Rolle. Hier gibt es eine mannigfaltige Auswahl verschiedener Professionen vom Krieger über den Söldner und den Barbaren bis hin zum Tiermeister, die bestimmen, auf welche Fähigkeiten und Talenten der Charakter bei seiner Erschaffung Zugriff hat. Es gibt auch einige magische Professionen, die allerdings im „Arkanum“ behandelt werden und daher im Grundregelwerk nicht vorkommen.

_Charaktererschaffung_

Die Eigenschaften wie etwa Stärke und Konstitution haben einen Wert zwischen 20 und 100 und werden mit einem Prozentwurf (2W10) ermittelt. Überhaupt baut das gesamte Charaktererschaffungssystem auf dem Würfelglück auf, denn ebenso wie die Eigenschaften werden der Stand, die Anzahl der Talente, die Ausdauer, die Lebenspunkte (die sich anschließend nie mehr ändern!) und die Ausrüstung von Monsieur Laplace bestimmt.

Nachdem man die Rasse des Helden bestimmt hat, muss man sich eine passende Profession aussuchen, die dann bestimmt, auf welche Fertigkeiten man Zugriff hat. Neben den Eigenschaften gibt es noch die abgeleiteten Eigenschaften, die einiges an Rechenarbeit vom Spieler erfordern.

_System_

Das System ist recht einfach. Falls Proben auf eine Eigenschaft abgelegt werden müssen, wird ein Prozentwurf fällig. Zeigt der Wurf kleiner/gleich den Eigenschaftswert, ist die Probe gelungen. Die Proben auf ein Talent werden anders gewürfelt, nämlich mit einem zwanzigseitigen Würfel (W20). Da man für gewöhnlich immer einen Talentwert zwischen null und achtzehn aufweist, muss man würfeln und das Ergebnis zum Talentwert hinzu addieren. Ist dieses Ergebnis größer als zwanzig, ist die Probe gelungen.

Beispiel: Der Halbling Frodo hat einen Schleichen-Wert von fünfzehn und will an einem eingedösten Ork vorbeischleichen. Sein Wurf mit dem W20 sollte daher mindestens eine Fünf zeigen.

Gemessen am Schaden, den die Waffen verursachen, ist die Lebensenergie der Charaktere relativ gering. Der anfängliche Wert für die Lebensenergie ändert sich auch im Verlauf des Spieles nicht mehr. Da man im Kampf bei jedem Treffer Ausdauerpunkte verliert, ob dieser nun Schaden anrichtet oder nicht, sollte selbst für höherstufige Helden eine direkte Konfrontation der letzte Ausweg sein. Ist nämlich die Ausdauer erst einmal aufgebraucht, nimmt der Charakter auf alle Aktionen nicht nur einen Malus von -4 auf sich, sondern kann auch keine Angriffe mehr abwehren.

_Mein Eindruck_

„Midgard“ ist ein sehr interessantes Grundregelwerk. Einerseits ist das Spielen in anderen Welten möglich, andererseits ist auch die offizielle „Midgard“-Welt durchaus reizvoll. Die grundlegenden Regeln sind einfach verständlich und schnell verinnerlicht.

Der einzig wirkliche negative Punkt ist die Charktererschaffung: Es ist wirklich alles dem Zufall überlassen. Kann ich das bei den Eigenschaften noch verstehen, ist das bei der Anzahl der Talente einfach nur unsinnig. So sind gleiche Voraussetzungen der Spieler eigentlich nur möglich, wenn alle gleich schummeln oder sich eine erfahrene Gruppe eigene Hausregeln bastelt.

Sehr positiv ist das schnelle und trotzdem realistische Kampfsystem. Durch die niedrige Anzahl an Lebenspunkten sowie den ständigen Verlust von Ausdauer wird das Kämpfen einerseits spannend und andererseits extrem tödlich. Spätestens nach dem dritten toten Charakter sollte selbst dem dümmsten Spieler klar werden, dass bei „Midgard“ mehr das Köpfchen als die Muckis gefordert wird.

Wegen der leichten Regeln bereitet das Spielen schon relativ schnell ziemliche Freude (lieben Dank von hier aus an meinen Spielleiter Thomas), da man sich sofort auf das eigentliche Darstellen seiner Rolle konzentrieren kann.

Ebenso überzeugend ist die Aufmachung: Schöner Hardcovereinband und klassischer Style lassen wenige Wünsche offen. Besonders praktisch: zwei Lesebändchen zum Markieren wichtiger Seiten, das ist top!

_Fazit_

„Midgard“ ist zu Recht seit Jahren eines der erfolgreichsten Fantasy-Rollenspiele Deutschlands. Die Regeln sind einfach und selbst für Anfänger schnell verständlich. Durch das gefährliche Kampfsystem ist „Midgard“ sowohl realistisch als auch für alte Hasen immer wieder motivierend. So kann ich „Midgard“ guten Gewissens uneingeschränkt weiterempfehlen.

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Roberts, Adam – Sternenstaub

Während ich darüber nachdenke, wie ich euch dieses geniale Buch schmackhaft machen kann, dudelt |VISION DIVINE|s „The Perfect Machine“ im Hintergrund. Was das mit „Sternenstaub“, dem aktuellen Roman von Adam Roberts, zu tun hat? Nun ja, auch hier spielen intelligente Maschinen, so genannte |Dottechs|, eine entscheidende Rolle. Dabei handelt es sich um Nanotechnologie in ihrer ausgereiftesten Form, denn Sinn und Zweck der so genannten |dotTech| ist es, den Wirt (z. B. einen Menschen) gesund zu halten bzw. seine Lebensqualität zu sichern. Dabei braucht sie keine Anweisungen und arbeitet vollkommen autark. Das heißt im Einzelnen, dass beispielsweise Wunden schneller heilen und die Lebensdauer eines Menschen vervielfacht wird, was wiederum zur Folge hat, dass Lebenserwartungen von neunhundert bis tausend Jahren keine Seltenheit darstellen.

Genau diese Technologie wird dem Protagonisten des Buches, Ae, zur Strafe entrissen. Dieser „wohnt“ auf einem Knaststern, weil er mehrere Menschen auf dem Gewissen hat und somit als letzter Verbrecher der Galaxis gilt. Ihm zur Seite steht eine Aufseherin, aber das ist auch schon das einzig Wahre auf diesem Planeten. Alles andere ist künstlich: der Himmel, die Wiese, die Bäume und der See. Eine Flucht ist so gut wie unmöglich, und trotzdem bekommt Ae eines Tages die Möglichkeit, dieser Tristesse zu entfliehen. Eine Stimme in seinem Kopf, eine so genannte K.I. (Künstliche Intelligenz) ist der einzige Kontakt zwischen ihm und seinen Auftraggebern. Diese unterbreiten ihm einen Deal, der´s in sich hat: Ae muss alle Lebewesen auf einem Planeten liquidieren und hat danach die Möglichkeit, bis zum Ende seiner Tage in Freiheit zu leben. Die Tatsachen liegen dabei klar auf der Hand: Entweder verkümmert er bis zum Ende seiner Tage auf dem Knaststern, oder hat die Möglichkeit, mit Gewissensbissen in Freiheit zu leben. Da Ae vordergründig über kein Gewissen verfügt, stimmt er dem Deal zu.

Das ist der Zeitpunkt, ab dem das „Abenteuer“ seinen Lauf nimmt. Denn der Ausbruch aus dem Gefängnis erweist sich ohne die Dottech als mehr als schwierig. Mit mehr Müh und Not als gedacht, gelingt ihm doch die Flucht, und er findet sich auf dem Raumschiff des Wheah Agifo3acca wieder. Von dort aus reist er dann weiter zu anderen Planeten, immer mit dem Hintergedanken im Kopf, dass seine Auftraggeber von ihm die Ausführung der schier unglaublichen Tat erwarten. Geplagt von einem schlechten Gewissen, stellt Ae eigenhändig Nachforschungen an und dabei den Auftrag zunehmend in Zweifel.

Wie lange dauert es, bis sein Ausbruch aus dem Gefängnis aufgedeckt wird? Wie nah sind ihm seine Verfolger auf den Fersen? Und die alles entscheidende Frage: Springt Ae über seinen Schatten und nimmt für seine persönliche Freiheit den Tod von Millionen Menschen in Kauf?

Adam Roberts ist meiner Meinung nach ein sehr guter und spannender Sci-Fi-Roman gelungen. Angesichts der Tatsache, dass die Nanotechnologie mittlerweile immer öfter in den Medien auftaucht und als Zukunftstechnologie angesehen wird, sind seine Ausführungen auch gar nicht mal so unrealistisch. In Briefform auf einen Stein geschrieben, trägt der Erzählstil ebenfalls dazu bei, die Spannung konstant oben zu halten. Wer weiß, vielleicht wird in hundert oder hundertfünfzig Jahren über Adam Roberts ähnlich visionär wie heute über Jules Verne gesprochen … Das ist natürlich alles noch Zukunftsmusik, aber Fakt ist, dass mit „Sternenstaub“ ein gelungener Sci-Fi-Roman seinen Weg in die Bücherregale gefunden hat. Und daran kann man wirklich nicht rütteln.

Was das Buch selbst angeht, so befindet sich am Ende ein Glossar, das die gängigen eher unbekannten Begriffe im Roman noch einmal erklärt. Eine gute Ergänzung, aber wer das Buch aufmerksam durchliest, für den dürfte das Glossar eher überflüssiger Natur sein.

Joseph Delaney – Spook – Der Schüler des Geisterjägers

Geschichten über Zauberer, Magie und unheimliche Wesen sind am Kinder- und Jugendbuchmarkt der Renner – spätestens seit ein gewisser Harry Potter, besenschwingender Zauberernachwuchs, die Bestsellerlisten unsicher macht. Wem Harry Potter noch nicht gruselig genug ist, der sollte einmal Tom Ward bei seinem ersten Abenteuer begleiten. Tom ist ein junger Auszubildender. Das mag im ersten Moment sterbenslangweilig klingen, aber Tom ist nicht irgendein Auszubildender in irgendeinem Durchschnittsberuf.

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Röhr, Matthias / Larmann, Ralh – Meine letzten 48 Stunden mit den Böhsen Onkelz

Die |Onkelz| sind Geschichte. Wohl nicht nur, weil die Band auf ihrem Zenit (zumindest verkaufstechnisch gesehen) aufhören wollte, sondern weil es intern saftig krachte. Immer mehr Details nimmt man mit der Zeit wahr, und wieder scheint die komplette Wahrheit der |Onkelz| hinter den Kulissen verborgen zu bleiben.

Einen kleinen Einblick hierin und in den Höhepunkt der mehrere Dekaden andauernden |Onkelz|-Geschichte liefert uns nichtsdestoweniger Gitarrist Matthias „Gonzo“ Röhr, der über die kompletten zwei Tage des |Onkelz|-Festivals (vom Frühstück des ersten Tages über den Soundcheck bis zum eigentlichen Konzert) auf dem Lausitzring Buch geführt hat und einiges zu berichten weiß. Dabei handelt es sich nicht um ein normales Buch an sich, wir haben es hier mit einem Bildband mit äußerst ausführlichen und mehr oder weniger ausschweifenden Kommentaren zu tun.

Sehr positiv ist schon einmal die Tatsache, dass Gonzo zu keiner Sekunde versucht, einen Schriftsteller zu imitieren. Er schreibt und beschreibt die Dinge einfach frei von der Leber weg und gewährt uns somit einen emotionalen und spannenden Einblick ohne viel Drumherum. Viele Bilder entstehen im Kopf, obwohl der Fantasie sowieso Grenzen gesetzt sind, da zu so gut wie jedem Text auch das passende Bild mitgeliefert wird.

Im Format A4+ werden auf 96 Seiten im Hardcover qualitativ wirklich hochwertige Aufnahmen aufgetischt, die allen Ferngebliebenen des Festivals und natürlich auch Anwesenden sehr sympathisch und direkt rübergebracht werden.

Ein Manko habe ich persönlich dennoch gefunden und empfunden: Die Eindrücke des Konzerts sind eher mager beschrieben, und auf die dargebotenen Songs wird einzeln fast nicht eingegangen. Was hätte mich zum Beispiel die Meinung Gonzos zum zensierten ‚N*tten M*nn‘, das trotz hoher angedrohter Geldstrafen ein letztes Mal dargeboten wurde, interessiert. Überhaupt ist der Auftritt der am wenigsten berücksichtige Teil in diesem Buch. Aber immerhin erscheint ja in Kürze die DVD.

Besonders dem jahrelanger „Verfolger“ der |Onkelz| werden sich sehr viele Details – besonders zwischen den Zeilen gelesen -, auch was Gonzos Streit mit Stephan Wildner (b.) angeht, offenbaren, die ansonsten wohl unter dem Mantel des Schweigens verborgen geblieben wären.

So bleibt nur ein Fazit: Ein gelungener Biographie/Foto-Cocktail und vor allem ein nettes Gimmick für alle |Onkelz|-Fans und/oder Festival-Besucher.

Ellis, Bret Easton – Lunar Park

Auf seiner aktuellen Homepage dupliziert sich Skandalautor Bret Easton Ellis selbst. Durch sein Gesicht verläuft ein Riss; links und rechts können zwei verschiedene Vita zu ein und derselben Person eingesehen werden. Schnell wird deutlich, dass eine der beiden nicht ganz der Realität entsprechen kann – die Frage lautet nur: Welche? Was hier auf einer visuellen Ebene dargestellt wird, spiegelt bereits die Struktur seines neuen Romans „Lunar Park“ wieder.

Erfolgreiche Autoren stecken in einem ähnlichen Dilemma wie erfolgreiche Bands: Werden diese von Album zu Album immer progressiver, verschrecken sie eventuell ihre alten Fans. Sind die Unterschiede zwischen den Alben hingegen marginal, ist schnell von „Selbstkopie“ und „Ideenlosigkeit“ die Rede. Auch Ellis hatte mit seinem Debütroman [„Unter Null“ 2026 Neuland betreten, aber sowohl Stil als auch Thematik (schöne, gelangweilte Yuppies, die sich mit Sex und Drogen über ihr sinnloses Leben hinwegtäuschen wollen) wiederholten sich auch in den Folgeromanen. Zwischen „American Psycho“ und „Glamorama“ schien zuletzt nur noch der Wechsel der Dekade eine Neuerung darzustellen. Schlecht ist dieser Roman beileibe nicht, aber eben auch nicht innovativ. Es stand also durchaus zu befürchten, dass auch Ellis‘ nächster Output ein „Unter Null vol. 6“ werden würde.

Zum Glück scheint Ellis diese Problematik selbst erkannt zu haben, denn sein neues Werk bricht völlig mit „Glamorama“ & Co. „Lunar Park“ ist indes nicht nur ein Roman, sondern auch eine fiktive Autobiographie mit realen Versatzstücken. Noch nie hat Ellis seinen Figuren ein derart komplexes Innenleben verliehen. Es ist zugleich der erste Roman von Ellis, welcher in der Vergangenheit erzählt wird. Bereits nach kurzer Lektüre wird deutlich: Diesmal geht es Ellis um echte Emotionen.

Der kalte Hass aus seinen früheren Werken scheint dabei einer gemütlichen Resignation gewichen zu sein: Starautor Bret Easton Ellis durchlebt, nachdem sein früher Ruhm ihn von seinem tyrannischen Vater emanzipiert hat, eine Sinnkrise. Die Oberflächlichkeit seiner Protagonisten spiegelt sich in seinem eigenen Lifestyle wider. Drogenexzesse, prestigeträchtige Bekanntschaften mit Prominenten und selbst die eigenen Lesereisen geben ihm nichts mehr. Da entsinnt er sich der attraktiven Schauspielerin Jayne, mit der er vor etlichen Jahren einen Sohn gezeugt hat. Damals hat er die Verantwortung nicht tragen wollen, aber nun sieht er in dieser Option einen Rettungsanker. (Spätestens hier gewinnt die Fiktion überhand, da Ellis im wirklichen Leben nie Vater wurde und zudem Männer zu bevorzugen scheint.)

Jayne verzeiht ihm, sie heiraten und besorgen sich ein Familienhaus in einem ruhigen Vorort. Ellis erhält eine Dozentenstelle bei einer Universität und versucht sich daran, seine Frau und seinen Sohn Robby kennen zu lernen. (Konflikte sind dabei natürlich vorprogrammiert.) Parallel dazu verdichten sich Anzeichen dafür, dass es im Haus und in Ellis näherer Umgebung spukt: Möbel verändern über Nacht ihre Position, Robbys Spielzeug „Terby“ scheint ein Eigenleben zu entwickeln, Kinder verschwinden in der Nachbarschaft und der PKW von Ellis` verstorbenem Vater taucht immer wieder auf.

Außerdem meint Ellis, seinen berüchtigtsten Protagonisten – Patrick Bateman – wirklich gesehen zu haben. Diese Figur ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Person Bret Easton Ellis. Wer „Lunar Park“ wirklich verstehen will, sollte daher mindestens [„American Psycho“ 764 zuvor gelesen haben. Patrick Bateman spiegelt nicht nur die seelischen Abgründe seines Schöpfers wider, er hat auch dafür gesorgt, dass Ellis mit extremen Anfeindungen (teilweise sogar Morddrohungen) konfrontiert wurde. In „Lunar Park“ zieht Ellis daher für alle, die „American Psycho“ nicht verstanden haben, Bilanz:

|“[Niemand] draußen in der wirklichen Welt war so verrückt und grausam wie diese Kunstfigur. Davon abgesehen war Patrick Bateman ein notorisch unglaubwürdiger Erzähler, und wenn man das Buch tatsächlich las, konnten einem durchaus Zweifel kommen, ob die geschilderten Verbrechen wirklich passiert waren. Es gab genügend Hinweise, dass sie nur in Batemans Phantasie existierten. Die Morde und Folterungen waren bloße Phantasien, in denen sich seine Wut und sein Zorn darüber entluden, wie das Leben in Amerika beschaffen war, in dem er sich trotz seines Wohlstands gefangen fühlte. Die Phantasien waren eine Flucht. Diese Idee lag dem Buch zugrunde.“| (S.190)

„Lunar Park“ ist ein literarisches Experiment. Einer seiner altbewährten Techniken bleibt Ellis jedoch treu: Der Vermischung verschiedener Realitäts- bzw. Fiktionsebenen. Nun erklärt er aber erstmals, was ihn dazu immer wieder motiviert:

|“Die physische Existenz eines Schriftstellers ist im Grunde eine statische, und um gegen diese Einschränkung anzukämpfen, müssen wir jeden Tag eine Gegenwelt und ein anderes Ich konstruieren.“| (S.227)

Das Schreiben ist für ihn also eine existenzielle Notwendigkeit. Der Plot des Romans tritt denn auch recht schnell in den Hintergrund. Das, was hier wirklich zählt, sind Bilder, die Gefühle transportieren. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, konnte auch im Nihilismus der früheren Romane stets ein ironisches Augenzwinkern entdecken. „Lunar Park“ geht aber über die reine Kritik des Zeitgeistes hinaus. Das Verwischen der Grenze zwischen Schriftsteller und Werk ist zwar in der Geschichte der Literatur kein wirkliches Novum, wird hier aber einer erfrischenden Neuinterpretation unterzogen:

|“Ich lebte in einem Film, in einem Roman, im Traum eines Idioten, den ein anderer schrieb, und ich war langsam erstaunt – überwältigt davon -, wie ich mich verfranst hatte.“| (S.291)

|“Der Schriftsteller fand mich unsympathisch, weil ich versuchte, nach einem vorgefassten Plan vorzugehen. […]
Der Schriftsteller verlangte nach Chaos, Geheimnis, Tod. Daraus bezog er seine Inspiration. […] Der Schriftsteller wollte, dass Patrick Bateman wieder in unser Leben trat. Der Schriftsteller hoffte, die schiere Entsetzlichkeit des Ganzen würde mich aus meiner Lethargie reißen.
Ich war an einem Punkt, wo ich bei allem, was der Schriftsteller wollte, einfach nur Schuldgefühle hatte.“| (S.321)

Einige Rezensenten haben angemerkt, der „Horror“-Anteil von Lunar Park sei nicht überzeugend, sondern eher unfreiwillig komisch. Damit haben sie zwar nicht Unrecht, aber diese Kritik geht am Thema vorbei. Ellis wechselt mit „Lunar Park“ keineswegs das Genre; er fügt seiner Palette lediglich ein paar neue Farben hinzu. Die „Hommage“ an Stephen King – das Element des Phantastischen – soll folgerichtig nicht nur unterhalten, sondern vor allem einen Einblick in die Psyche des Schriftstellers gewähren.
Stephen King selbst hat einmal in einem Interview angemerkt, Gespenster seien für ihn ein Symbol für ungelöste Probleme. Und siehe da: Das Thema „ungelöste Probleme zwischen Vater und Sohn“ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Handlung des Romans.

Die Antwort auf die Frage „Wer ist das Gespenst?“ scheint dabei zunächst offensichtlich: „Natürlich, es muss Ellis Senior sein!“ Nach und nach kommen aber Zweifel auf. Ist es vielleicht doch der Sohn von Ellis, welcher denselben Namen wie sein Großvater (Robert) trägt? Aber Robert Ellis Jr. ist fiktiv – also doch Bret selbst? Welcher Bret könnte es dann aber sein? Der Privatmensch? Der Schriftsteller? Der Schriftsteller in der Fiktion? Der fiktive Schriftsteller in der Fiktion des fiktiven Schriftstellers? Alle Figuren zusammen? Keine von ihnen?

Zuletzt kulminiert die Geschichte wieder – entgegen dem Vorsatz, mit dem Ellis sie eingeleitet hat – in eine endlos verschachtelte Satzkonstruktion. Der letzte Absatz jedoch gehört zu dem Schönsten und Ergreifendsten, was ich je gelesen habe. Bret Easton Ellis war bisher dafür bekannt, die Oberflächlichkeit als literarisches Stilmittel perfektioniert zu haben. Nun aber ist es ihm irgendwie gelungen, alle Bedeutungs- bzw. Fiktionsebenen (mitsamt der ihnen innewohnenden Sehnsucht) seines Gesamtwerkes in einem einzigen Begriff zu vereinen: Lunar Park.

Serno, Wolf – Balsamträger, Der

Wolf Serno wurde in den letzten Jahren vor allem durch seine Geschichten um den Wanderchirurgen bekannt und in manchen Publikationen sogar als die deutsche Antwort auf Umberto Eco bezeichnet. Seine Fähigkeit, historisch Korrektes mit spannender Fiktion zu verknüpfen, ist hierzulande fast schon einzigartig und verdient immer wieder großes Lob. Während ich selber noch immer sehr begeistert an sein zuletzt von mir gelesenes Buch „Hexenkammer“ zurückdenke, veröffentlichte Serno dieser Tage auch schon wieder einen neuen Roman unter dem Titel „Der Balsamträger“. Die Vorfreude war groß, aber leider bleibt der Autor in seinem Ende 2005 erschienenes Werk ein Stück weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Warum, wieso, weshalb kann man im Anschluss an die folgende Inhaltsangabe lesen.

_Story_

1780 im Thüringer Wald. Der kleine Tagedieb Listig ist als Bettler nicht sonderlich erfolgreich. Eines Tages entdeckt er jedoch eine Masche, mit der er die Leute auf dem Markt übers Ohr hauen kann. Und seine Raffinesse wird immer ausgefeilter; so gelingt es ihm tatsächlich, den berüchtigten, wertvollen Antonius-Splitter aus der Kirche zu entwenden, als eine Räuberbande diese in Brand setzt. Als er diesen in einem Wirtshaus gegen eine Mahlzeit tauschen kann, kommt dem jungen Listig eine Idee; er schnitzt sich seine eigenen Splitter, verkauft die Duplikate und bereichert sich mit dieser üblen Gaunerei. Im selben Ort trifft Listig auch auf einen Zahnbrecher, mit dem er fortan von Dorf zu Dorf zieht, bis Listig das Opfer eines Unfalls wir: Mitten im Wald wird der betrunkene Ganove von einer Kutsche angefahren und verliert dabei beide Beine. Aus dem Mann, der seinem Namen alle Ehre macht, wird ein hilfloser Krüppel.

Pausback ist ein recht einfältiger, ziemlich naiver Hüne, der nach dem Tod seines Vaters dessen Geschäft übernehmen muss. Weil dieser jedoch stets auf Reisen war, um seine heilenden Medikamente zu verkaufen, muss sich der Riese von seiner geliebten Mutter trennen und verliert trotz seines bärigen Äußeren jegliche Obhut. So kann ihm auch niemand zur Hilfe eilen, als seine Kunden den neuen Buckelapotheker immer wieder übers Ohr hauen und ihm die angepriesenen Salben quasi gratis entwenden. Der jedoch merkt vom Schwindel zunächst nichts und wandert seine Route stetig weiter – bis er in Pennewitz auf einen Mann ohne Beine trifft.

Von dort an reisen Pausback und Listig gemeinsam durch die Lande und wandern entlang der Apothekenstrecke bis nach Hamburg. Das heißt, Pausback läuft, während er neben seinen Kräutern auch noch den neuen Freund auf den Schultern trägt. Als Lohn für die Erleichterung der Fortbewegung unterstützt Listig Pausback bei seinen Geschäften und vermeidet, dass dieser in den Ruin hineinrennt. Der neue Friede wird aber schnell getrübt, als die beiden dank Listigs lockerer Zunge in das Lager der Räuberhauptmanns Galantho gelangen. Und dort müssen sie um ihr Leben bangen. Doch dies ist nicht die einzige Situation, in der die Freundschaft der beiden auf eine harte Probe gestellt wird. Auch die spätere Bekanntschaft mit der hübschen Eva, in die sich beide prompt verlieben, wird zur Zerreißprobe, in der Listig erneut auf alte Qualitäten zurückgreift …

_Meine Meinung_

Das 18.Jahrhundert ist das neue Steckenpferd von Serno und wird in „Der Balsamträger“ von der Atmosphäre und den kulturellen Bräuchen her mal wieder fantastisch beschrieben. Die Personen, die Schauplätze der Geschichte und auch die Gepflogenheiten der Charaktere, all dies lässt auf eine verstärkte Vorliebe für diese Ära schließen, bei der Serno mal wieder eine makellose Figur abgibt. Woran es aber bei „Der Balsamträger“ im Vergleich zu früheren Romanen mangelt, ist die Spannung. Der Autor verbringt lange Zeit damit, die einzelnen Hauptpersonen genauer vorzustellen, was im Falle von Listig sicher auch nötig ist, schließlich ist der Mann mit allen Wassern gewaschen, und seine zahlreichen Eigenschaften sollen sich ja auch im späteren Verlauf immer wieder zeigen. Trotzdem dauert es einfach viel zu lange, bis die ganze Geschichte mal in Schwung kommt, denn richtig interessant und in diesem Sinne auch halbwegs spannend wird es erst ab dem Moment, in dem Pausback und Listig aufeinander treffen und gemeinsam ihre Abenteuer erleben.

Zudem hat Wolf Serno es irgendwie verpasst, die einzelnen Handlungsstränge fließender ineinander übergehen zu lassen. Die Verbindung des Amtsmannes Röther, der seine Magd (und Geliebte) Eva dazu bringt, die eigene Frau umzubringen, zur übrigen Geschichte wird zwar später deutlich, aber die diesbezügliche Darstellung ist eher unzufrieden stellend. Lediglich die tatsächliche Rolle der Eva bzw. das Mysterium um die junge Giftmischerin ist ein Punkt, um den herum sich eine gewisse Spannung aufbaut, die auch bis zum Ende durchhält.

Ansonsten scheint der Autor bei „Der Balsamträger“ mehr darauf bedacht zu sein, seinen Humor mit einzubringen. Alleine schon die Darstellung des ziemlich dummen (wenn auch klischeehaft eingeleiteten) Buckelapothekers Pausback lockert so manches Mal die Lachmuskeln, und auch das Bild, das der flinke Listig abgibt, fördert einem ab und an ein Grinsen zutage. Leider aber sind es im Endeffekt auch seine Sprüche und Streiche, die nach einiger Zeit langweilig werden und dem Buch diese vermeidbaren Längen in den ersten beiden Dritteln verpassen. Wie heißt es so schön: Weniger ist manchmal mehr, und genau das trifft hier zu. Serno lässt bisweilen die Zielstrebigkeit beim Kreieren des Plots vermissen, und infolge dessen verrent er sich einfach zu oft in Teilhandlungen, die für die grundlegende Story absolut keine Bedeutung haben. Zu Beginn liest sich das noch alles schön und locker, auf Dauer aber nimmt es der Geschichte den Fluss.

Zum Schluss offenbart Serno dann aber glücklicherweise wieder alte Qualitäten. Die einzelnen Nebenstränge werden zusammengefügt, und es ergibt sich ein gutes, zufrieden stellendes Ende und dann auch das Resümee, dass der Roman trotz der genannten Kritikpunkte immer noch Spaß bereitet hat. Hier scheidet sich nämlich die Spreu vom Weizen: Serno bringt selbst einen durchschnittlich beginnenden Roman noch halbwegs sauber ins Ziel; bei manch anderem Autor hätte man zwischendurch – wohl wissend, dass der Schuss nach hinten losgeht – schon längst aufgegeben.

Venables, Stephen – Everest. Die Geschichte seiner Erkundung

Ein halbes Jahrhundert ist seit der Erstbesteigung des Mount Everest am 29. Mai 1953 verstrichen. Die ehrwürdige Royal Geographical Society zu London nahm dies 2003 zum Anlass, ihr berühmtes Bildarchiv zu öffnen. Mehr als 20.000 oft noch niemals publizierter Fotos werden hier aufbewahrt, von denen ca. 400 Eingang in dieses Buch fanden, um die Geschichte der von der Gesellschaft geförderten Everest-Expeditionen zwischen 1921 und 1953 zu illustrieren.

„Vorwort“ (Sir Edmund Hillary), S. 8-10: Der Mann, der 1953 den Mount Everest mit Tenzing Norgay als Erster erklommen hat, leitet mit einer kurzen Erinnerung an dieses Ereignis das Buch ein. Eine „Grußbotschaft des Dalai Lama“ (S. 11) erinnert daran, dass Tibet nicht nur der Standort des höchsten Gipfels der Erde, sondern auch die Heimat eines Volkes ist, das seit fünf Jahrzehnten systematisch von den chinesischen Kommunisten unterdrückt wird. Der Dalai Lama merkt weiterhin an, dass die Menschen im Himalaja die Berge als Wohnsitz der Götter achten und nicht als alpinistische Herausforderung betrachten.

„Die Fotografien“ (Joanna Wright), S. 12-18: Die Kuratorin für Fotografie der Royal Geographical Society erläutert das Besondere dieses Buchprojekts: Seit jeher fordert die Gesellschaft von den Expeditionen, die sie unterstützt, Berichte, Karten und Bilder. Über die Jahrzehnte – die RGS existiert seit 1830 – hat sich vor allem seit der Erfindung der Fotografie ein bemerkenswerter Quellenbestand angesammelt, der unschätzbaren wissenschaftlichen Wert gewonnen hat, weil er – so wie die in diesem Band gezeigten Fotos aus Tibet und Nepal – Welten fixiert, die längst versunken sind. Gleichzeitig fügt es sich, dass immer wieder begnadete Fotografen in die Wildnis gezogen sind, wo ihnen mit den schwerfälligen Apparaten ihrer Zeit erstaunliche Aufnahmen gelangen.

„Der Höchste Berg der Erde“, S. 19-38: Den Mount Everest hat es schon vor seiner „Entdeckung“ durch Reisende und Bergsteiger gegeben. John Keay fasst die lange, leider nur bruchstückhaft überlieferte „Vorgeschichte“ des Monumentalgipfels zusammen und beschreibt, wie dieser allmählich ins Visier der englischen Kolonialmacht, der Forschung und schließlich der Bergsteiger geriet. Im Kapitel „Chomolungma: Wohnsitz der Götter“ (S. 39-70) versucht Ed Douglas zu erklären, was die Gipfel des Himalaja der einheimischen Bevölkerung bedeuten. Er liefert eine behutsam vereinfachte Einführung in die buddhistische Glaubenslehre bzw. Götterwelt, von der prominente Mitglieder auf besagten Bergspitzen thronen und von ihren Gläubigen nicht gestört werden möchten.

„Der lange Aufstieg 1921-53“ (Stephen Venables), S. 71-198: Drei Jahrzehnte dauerte der Sturm auf den Gipfel des Everest, an dem natürlich nicht nur Briten teilnahmen. Der Verfasser beschäftigt sich mit jeder Expedition, wobei er sich verständlicherweise auf die verhängnisvollen Versuche der 1920er Jahre, den Mythos George Mallory sowie den in Etappen errungenen Erfolg nach dem II. Weltkrieg konzentriert.

„Die Sherpa: Tiger im Schnee“, S. 199-218: Ohne sie läuft nichts im Himalaja – die Sherpas mauserten sich vom reinen Gepäckschleppern für weiße „Sahibs“ zu gleichberechtigten Bergkameraden, von denen einer sogar zu den Erstbesteigern des Everest gehört. Tashi Tenzing, Enkel des legendären Norgay Tenzing, und seine Ehefrau Judy erzählen die Geschichte der zähen Bergbewohner, die eine seltsame Gunst des Schicksals vor einem Dasein als ausgebeutetes Drittweltvolk bewahrte.

„Die ewige Herausforderung“ (Stephen Venables im Gespräch mit Reinhold Messner), S. 219-243: Selbstverständlich endet die Geschichte des Everest-Alpinismus’ nicht mit der Erstbesteigung des Gipfels. In den Jahrzehnten nach 1953 suchten und fanden zahlreiche Bergsteiger weitere Herausforderungen am höchsten Berg der Erde. Sie erschlossen neue Routen, erstürmten den Gipfel im Alleingang, im Winter, blind, mit Holzbein, ohne künstliche Sauerstoffzufuhr, fuhren auf Skiern oder auf dem Snowboard ab, flogen mit dem Drachengleiter zu Tal – dem Erfindungsreichtum (sowie dem Schwachsinn) waren und sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig verkam der Everest zum Protzberg für Amateur-Abenteurer, die sich heute für viel Geld auf den Gipfel hieven lassen und daheim ordentlich angeben können. An den Hängen türmt sich der Müll, die Sherpas entfremden sich der eigenen Kultur. Andererseits bietet der moderne Massentourismus auch die Möglichkeit, eine Infrastruktur für die sonst in Armut gefangene einheimische Bevölkerung zu schaffen, welche die Tradition und die Welt des 21. Jahrhunderts harmonisch verbindet.

Eine Liste der „Mount-Everest-Expeditionsteilnehmer 1921-53“ (Sue Thompson und Mike Westmacott), S. 244-248, bietet kurze Biografien derselben, welche klarstellen, dass sich das Leben dieser Männer nicht auf das Besteigen möglichst hoher Berge beschränkt. Auf Namen beschränkt bleibt eine Liste der „Besteigungen seit 1953“, S. 249-251. Sie belegt den zunehmenden Sturm auf den Everest-Gipfel. Anmerkungen und weiterführende Literatur schließen auf S. 252 das Buch ab.

Bücher über den Mount Everest oder den Himalaja gibt es auch auf dem deutschen Buchmarkt viele; wieso also noch eines publizieren bzw. an dieser Stelle rezensieren? „Everest. Die Geschichte seiner Erkundung“ präsentiert in der Tat kaum neue Fakten, sondern fasst Bekanntes noch einmal zusammen. Dies geschieht freilich in einer Form, die vor allem den Laien mit der Landschaft, ihren Menschen und den seltsamen Fremden, die auf Leben & Tod möglichst hohe Felsen erkriechen, vertraut machen kann: lesbar, informativ, kompakt.

Doch das eigentliche Pfund, mit dem diese Jubiläumspublikation wuchern kann, sind die Abbildungen. Bemerkenswerte Schätze kommen aus dem RGS-Archiv ans Tageslicht. Da sind nie gesehene frühe Aufnahmen des Everest; der Fotoapparat dokumentiert, wie die „Sahibs“ dem lange nicht zugänglichen Objekt ihrer begehrlichen Aufmerksamkeit allmählich immer näher rücken.

Dann gibt es da Aufnahmen von Expeditionen, die ulkig gewandete Männer mit gewickelten Beinen und in schweren Mänteln zeigen, die mit aus heutiger Sicht völlig unzureichenden Mitteln Unglaubliches leisten, per Baumstamm klaffende Gletscherspalten überbrücken, von Eisstürmen gebeutelt lotrechte Steinwände ersteigen und in winzigen Zelten in einer unwirtlichen Mondlandschaft ausharren. (Auffälliges Lieblingsmotiv aller Everestreisenden: gewaltige Bergpanoramen, darin suchspielartig & ameisengleich Menschen.) Dabei sind die berühmten letzten Bilder von George Mallory und Andrew Irvine, die 1924 bei dem Versuch, den Gipfel unbedingt zu erreichen, spurlos verschwanden, ohne dass jemals klar wurde, ob es ihnen gelungen ist, bevor sie starben. (Mallorys Leiche wurde 1999 am Berg gefunden; das Rätsel bleibt bestehen.)

Nebeneinander gestellt verraten die Fotografien von Everestmannschaften viel über die Entwicklung des Himalaja-Bergsteigens vor und nach dem II. Weltkrieg. Kleidung, Ausrüstung, Verpflegung – alles ändert sich, während die einheimischen Sherpas aus dem Hintergrund vom Lastenträger zum gleichberechtigten Kameraden in den Vordergrund rücken. Am Tag des Triumphes, dem 29. Mai 1953, ist es Tenzing Norgay, der die Gipfelfahne in die Luft hält; von Edmund Hillary existiert kein Foto auf der Everestspitze.

„Everest“ dokumentiert aber auch ein Interesse der Himalajareisenden, das sich nicht nur grimmig auf die Besteigung von Bergen richtete, sondern auch auf die fremde Welt, die man auf dem Weg dorthin durchreiste. Einmalige Aufnahmen der Natur sowie der tibetischen und nepalesischen Menschen entstanden, die einen Lebensalltag dokumentieren, der spätestens seit der chinesischen Besetzung Tibets und dem Einbruch der „modernen“ Zivilisation auch in diesen entlegenen Winkel des Erdballs endgültig der Vergangenheit angehört.

Mit fast 50 Euro ist „Everest“ kein kostengünstiges Buch. Das lässt sich damit begründen, dass hier nichts „billig“ geraten ist. Feines Kunstdruckpapier, sauberes Layout, kräftige Fadenbindung, großartige Abbildungsqualität: Der Preis kommt nicht von ungefähr. Der sparsame Leser sei indes darauf hingewiesen, dass Restbestände dieses Bandes u. a. im Weltbild-Verlag für ca. 20 Euro angeboten werden – einer möglichen Neuausgabe verkleinerten Maßes ist dieses Original allemal vorzuziehen, denn nur auf den ursprünglichen 30,5 x 29,3 cm lassen sich die Fotos wie vorgesehen genießen!

Stephen Venables (geb. 1954) gehört zur alpinistischen Prominenz. Auf der ganzen Welt hat er Berge erklommen, dabei neue Routen entdeckt und in der Antarktis Gipfel gefunden, die noch unbestiegen waren. Seine große Liebe gehört indes dem Himalaja, den er im Verlauf von mehr als einem Dutzend Expeditionen ausgiebig bereiste. Seine Kletterleidenschaft führte ihn hier zu den weniger hohen, dafür jedoch unbekannten Bergen. 1988 gehörte Venables jenem Vier-Mann-Team an, das eine spektakuläre Route durch die Mount-Everest-Ostwand erschloss. Als Publizist ist Venables auf dem Buchmarkt und in praktisch allen einschlägigen Zeitschriften für Bergsteiger vertreten.

Irving, John – Bis ich dich finde

Nach dem für Irvingsche Verhältnisse recht dünn geratenen Buch „Die vierte Hand“ ist Anfang des Jahres der elfte Roman des amerikanischen Erfolgsschriftstellers in deutscher Übersetzung erschienen. Zumindest äußerlich wird es seine Fangemeinde erfreuen, denn es ist mit 1140 Seiten mal wieder ein richtiger Wälzer geworden. Doch ist das Lesevergnügen ebenso groß, wie der Einband dies verheißt?

_Wovon es handelt_

Im Mittelpunkt des Romans steht die Geschichte des Schauspielers Jack Burns von seiner Geburt in den Sechzigern bis ins Jahr 2003.

Typisch für Irving, dass die Kindheit seines Helden weit mehr Raum einnimmt, als es üblicherweise der Fall ist, knapp die Hälfte des Romans beschäftigt sich mit Burns‘ Jugendjahren.

Mit ihrem vierjährigen Sohn und diversen Tätowierutensilien macht sich Jacks Mutter Alice auf eine ausgedehnte Europareise, um Jacks Vater und ihre Jugendliebe, den Kirchenorganisten Williams Burns, ausfindig zu machen. Alice ist Tätowiererin und heuert in nahezu allen Studios in europäischen Hafenstädten an: Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg, Helsinki. Denn William ist ein „Tintensüchtiger“, einer, der sich von Kopf bis Fuß tätowieren lässt, bis sein ganzer Körper wie ein einziges Notenblatt aussieht. Doch wo immer die beiden auch ankommen, heißt es, William sei bereits wieder abgereist. Die Suche bleibt erfolglos und die beiden kehren ins heimische Toronto zurück, wo Jack bald eingeschult werden soll und Alice sich als Tätowiererin niederlässt.

Die nächste Station in Jacks Leben ist die Mädchenschule St. Hilda, die seit kurzem auch Jungs aufnimmt, wenn auch nur sehr wenige. Er findet sich wieder in einem „Meer von Mädchen“ und dort ist er keineswegs so sicher, wie ihn seine Mutter glaubt. Schon nach kurzer Zeit findet er sich von einer Clique älterer Mädchen umringt, die seine sehr langsam erwachende Sexualität im Auge behalten. Seine kindliche Unschuld verliert Jack noch im Grundschulalter, ausgerechnet in einem Selbstverteidigungskurs an die kräftig gebaute Mrs. Machado. Doch auch seine viel ältere „Sandkastenfreundin“ Emma zeigt frühzeitig Interesse an Jacks Penis, macht ihn zum Hauptinteresse des Jungen in einem Alter, in dem er normalerweise noch keine allzu große Rolle spielt.

„Mr. Penis“ steht hier auf eine Weise im Mittelpunkt, die für den Leser die Grenzen des Erträglichen zuweilen überschreitet. Damit meine ich nicht Pornographie, davon ist Irving zum Glück meilenweit entfernt. Viel schockierender ist die Perspektive eines Kindes, welches nicht begreift, dass es sich um sexuellen Missbrauch handelt. Eine Perspektive, welche die widerstrebenden Gefühle dabei schildert, und zwar nicht nur die negativen. Natürlich entbehrt diese sehr tragische Situation auch nicht einer gewissen Komik, zum Beispiel dann, wenn die älteren Mädchen Jack nötigen, ein Mädchen mit Zahnspange zu küssen, was zu Verletzungen führt. Die liebenswert-schrullige Emma weist Jack daraufhin zurecht: „Was machst du da, Zuckerbär? […] Sie haben ihre Lippe mit vier Stichen genäht! Da haben wir ja einen ganzen Berg Hausaufgaben vor uns. Du kannst doch ein Mädchen nicht so küssen, als wäre es ein Steak!“
Zugleich macht Jack in St. Hilda erste zweifelhafte Erfahrungen mit Religiosität und wird von seiner verehrten Lehrerin Caroline als Schauspieler entdeckt – in Frauenrollen.

Dass Jacks Jugend und sein Eintritt ins Erwachsenenalter nicht eben komplikationslos verlaufen, ahnen wir schon. Aus dem „Meer von Mädchen“ gerade entstiegen, schickt ihn seine Mutter auf ein Jungeninternat, wo er Ringen lernt und ein paar andere Dinge fürs Leben; er vermisst jedoch dort gelegentlich „sein früheres Leben als missbrauchtes Kind“. Diese Sehnsucht nach sexuellen Aktivitäten dauert nicht lange an. Scheinbar magisch fühlen sich ältere Frauen von dem gut aussehenden Teenager angezogen – und umgekehrt. Zugleich tut sich der Junge schwer mit gleichaltrigen Mädchen – der in ihren Anfängen gescheiterten Beziehungen mit der geradezu perfekten Michele Maher jedenfalls trauert er noch lange hinterher.

Als junger Erwachsener und Student verfestigt sich Jacks nicht ganz platonische Freundschaft zur immer noch ziemlich eigenwilligen Emma. Jack feiert als Travestiestar erste Erfolge, während Emma als Romanschriftstellerin weitaus berühmter wird. Doch Emma stirbt früh, ebenso wie Jacks Mutter.

Nach dem Tod der beiden Menschen, die ihm am meisten bedeutet haben, macht sich Jack auf die Suche nach seiner Vergangenheit – und nicht zuletzt auf die Suche nach seinem Vater. Und stellt fest, dass seine Erinnerung nicht immer das war, wofür er sie gehalten hat, und dass seine Mutter daran nicht ganz unschuldig war – um es einmal milde auszudrücken und den eigentlichen Wendepunkt des Romans nicht vorwegzunehmen.

_Die Rose von Jericho_

Eine Rose von Jericho ist im Tätowierer-Jargon eine Rose, die erst bei genauem Hinsehen zwischen den Blütenblättern ihr Geheimnis offenbart: Eine weibliche Vulva, die nur demjenigen auffällt, der danach sucht. Jacks Mutter beherrscht diese Kunst geradezu perfekt, und obwohl Jack schon als kleiner Jack gelernt hat, wie eine Rose von Jericho aussieht, muss er später feststellen, dass jede Vulva einzigartig und nicht vergleichbar ist.

Auch die Geschichte dieses Romans birgt eine weitere Geschichte in sich, so wie eine Rose von Jericho. Die eine Seite der Geschichte kennt Jack in- und auswendig, aus seiner trügerischen Erinnerung und dem, was seine Mutter erzählt hat, seit er denken kann. Die andere Seite der Geschichte erfährt der erwachsene Jack, als er die Stationen seiner Europareise noch einmal abklappert. Dazwischen bleibt trotz der detailreichen Schilderung noch Platz für die eigene Phantasie des Lesers. Für Mutmaßungen und Spekulationen. Ganz klar, John Irving gehört zu den ganz großen zeitgenössischen Geschichtenerzählern und stellt hier seine Kunst erneut eindrucksvoll unter Beweis.

Ein paar Widerhaken hat das Buch trotzdem, vielleicht sogar ein paar Längen. Angeblich hofft ein wahrer Irving-Fan laut Verlagswerbung, das Buch möge niemals zu Ende gehen. Ich muss gestehen, manchmal habe ich das Gegenteil gehofft. Manchmal gerät das ausufernd Fabulierende eben doch einen Tick zu langatmig, stellenweise wiederholt er sich gar. Ganz abgesehen davon, dass die für seine Romane typische Kombination aus Sex, Ringen und Identitätssuche so manchem Irving-Leser ohnehin bekannt vorkommen dürfte.

Manchmal berührt sie einen einfach nicht genug, die Geschichte des Schauspielers, der darunter leidet, dass ihn eigentlich nichts so richtig berührt. Die eindrucksvollsten und auch witzigsten Szenen finden rund um die beiden Beerdigungen statt. Bei denen war ich voll und ganz im literarischen Irving-Taumel, war begeistert, lachte, weinte, fühlte mit. Witzig und berührend zugleich, wie die Rockerfreunde von Jacks Mutter Alice deren Beerdigung in der Kapelle der Mädchenschule durcheinander bringen. Außerdem ist es einfach eine tolle Idee, Jack dieselbe Geschichte gewissermaßen zweimal durchleben zu lassen. Genial, wie er im ersten Teil die Köder dafür auslegt, wir ihm auf den Leim gehen und schließlich … nein, das verrate ich natürlich nicht. Nur so viel: Dafür haben sich dann auch die seitenlangen … ähm … Ergüsse über Jacks Penis gelohnt.

Angeblich ist „Bis ich dich finde“ Irvings persönlichster Roman. Irving selbst hat seinen Vater nie kennen gelernt und als Erwachsener noch Kontakt zu seinen Halbgeschwistern aufgenommen. Somit ist die Vatersuche als Sinnsuche ein Thema, mit dem sich der Autor intensiv auseinander gesetzt haben wird. Kann sein, dass er in seiner literarischen Verarbeitung ein klein wenig zu sentimental wird.

Dennoch ist und bleibt Irving natürlich ein fantastischer Geschichtenerzähler, dem man gern und meistens atemlos lauscht. Immer wieder.

Taschenbuch ‏ : ‎ 1152 Seiten

Asensi, Matilde – verlorene Ursprung, Der

Mit ihrem Verschwörungsthriller „Wächter der Kreuzes“ schaffte die spanische Autorin Matilde Asensi den internationalen Durchbruch. Mit dem „verlorenen Ursprung“ legt sie nun einen neuen Spannungsroman vor, der sich der geheimnisvollen Geschichte der Inkas angenommen hat. Auch in ihrem aktuellen Roman hat sich Asensi ein faszinierendes Thema herausgegriffen, das ein packendes und interessantes Buch vermuten oder zumindest doch erhoffen ließ. Leider kann Asensi diese Erwartungen mit dem vorliegenden Buch jedoch nicht erfüllen. Dabei beginnt „Der verlorene Ursprung“ zunächst äußerst viel versprechend:

Den Programmierfreak und Internetspezialisten Arnau Queralt („Root“) erreicht die Nachricht, dass sein Bruder Daniel mit merkwürdigen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Daniels Frau Mariona ist verzweifelt, denn Daniel reagiert nicht mehr und bittet um seine eigene Bestattung, da er sich für tot hält. Auch die Ärzte wissen nicht, was mit Daniel los ist, seine Symptome entsprechen zwei verschiedenen, wenig untersuchten Krankheitsbildern. Als kein Medikament eine Verbesserung hervorruft und Daniel immer wieder unbekannte Worte von sich gibt, beginnt Arnau, eigene Nachforschungen anzustellen.

Von seiner Schwägerin Mariona lässt er sich zeigen, woran der Archäologieexperte Daniel vor Auftreten seiner Krankheit gearbeitet hat. Daniels Forschungsunterlagen führen Arnau auf die Spuren der Inkas und einer perfekten Sprache, dem Aymara. In seiner Verzweiflung wendet Arnau sich an Daniels Chefin Marta Torrent, die behauptet, Daniel habe die Aymara-Dokumente ohne ihre Erlaubnis entwendet. Arnaus Misstrauen wächst, da er seinen Bruder für absolut vertrauenswürdig hält, doch muss er im Laufe seiner Nachforschungen feststellen, dass er seinen Bruder wohl doch nicht so gut gekannt zu haben scheint …

Zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern Marc („Jabba“) und Lola („Proxi“) findet Arnau immer mehr faszinierende Details über die Inkas heraus, die sein Weltbild ins Schwanken geraten lassen. Die Drei entdecken schier unglaubliche Dinge und Dokumente, die sie auf die Spur einer in Vergessenheit geratenen Zivilisation bringen. Schließlich fliegen die drei Computerspezialisten zusammen nach Bolivien, um ihre Entdeckungsreise im geheimnisvollen Tiahuanaco fortzusetzen. Dort begeben sich Arnau, Marc und Lola zum „Grab des Reisenden“, wo sie gefährliche Rätsel zu lösen haben, doch dann stellen sie fest, dass sie nicht die Einzigen sind, die das Rätsel um das Volk der Yatiri lösen wollen …

Im Grunde genommen hat sich Matilde Asensi vielversprechende Zutaten für ihren neuen Roman herausgesucht, die zusammen sicherlich ein packendes Ganzes hätten ergeben können, doch ist Asensis Mischung in diesem Fall nicht ganz gelungen. Dabei beginnt alles positiv und lässt auf einen spannenden Fortgang der Geschichte hoffen. Zu Beginn werden wir der Hauptfigur Arnau Queralt vorgestellt, der als erfolgreicher Jungunternehmer und Internetspezialist bekannt ist, sich in seiner Freizeit allerdings gerne zusammen mit Jabba und Proxi in fremde Rechner einhackt. Arnau wohnt in einer faszinierenden High-Tech-Welt, nämlich in einer Wohnung, in der er sprachgesteuert für seinen eigenen Luxus sorgen kann.

Spannend wird es, wenn diese technisierte Zukunftswelt zusammenprallt mit der alten Inka-Kultur, die viele tausend Jahre in die Vergangenheit zurückreicht und dennoch nicht minder perfekt und modern anmutet. So müssen schließlich Root, Jabba und Proxi im finsteren Dschungel Boliviens Abschied nehmen von ihren technischen Errungenschaften; dort beginnt Arnau schließlich, sein Leben und seine Einstellung zu überdenken, sodass er aus seinem spannenden Abenteuer fast schon als geläuterter Mensch hervorgeht. Dies ist auch bereits einer der wesentlichen Kritikpunkte, denn Asensis Romanfiguren bieten wenig Angriffsfläche, ihre Charaktere wirken glatt und oberflächlich. Allen voran wären hier die beiden so unterschiedlichen Brüder zu nennen: Auf der einen Seite steht der reiche und erfolgreiche Besitzer einer hochdotierten Internetfirma, auf der anderen sein nicht minder intelligenter Bruder, der sich als Dozent für Archäologie einen Namen gemacht hat. Doch schwelt die Eifersucht zwischen den Brüdern, da Daniel neidisch ist auf Arnaus finanziellen Erfolg. Dies ist abgesehen von Daniels plötzlicher Krankheit allerdings die einzige Gewitterwolke, die am Queralt’schen Himmel aufzieht.

Auch Arnaus Angestellte Jabba und Proxi wirken wenig authentisch, zu perfekt und mutig agieren sie, obwohl sie ihren Tag ansonsten vor dem Computermonitor verbringen und dem Dschungel vorher höchstens mit dem Finger auf der Landkarte näher gekommen sind. Dennoch meistern sie die Schwierigkeiten und Gefahren des Dschungels fast schon meisterhaft, was uns beim Lesen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann, wenn man sich den beleibten Jabba (der seinen Spitznamen aufgrund seiner Ähnlichkeit mit der bekannten Figur Jabba the Hutt aus „Star Wars“ erhalten hat …) vorstellt, wie er sich mit seiner Machete bewaffnet einen Weg durchs Dickicht freikämpft. Natürlich darf auch nicht die Liebesgeschichte fehlen, die sich im Dschungel zwischen zwei einstmals verfeindeten Menschen entspinnt, als sie erkennen müssen, dass doch alles ganz anders ist, als es zuvor den Anschein hatte.

Zentrum der Romanhandlung sind schließlich die gut recherchierten Informationen über die Inkazeit und die Dokumente der Yatiri und ihrer Sprache Aymara. Hier offenbart Matilde Asensi, dass sie sich wahrlich meisterhaft in das Thema eingelesen zu haben scheint. Doch ist hier das wohl größte Manko des vorliegenden Buches festzumachen, da Asensi eine wahre Informationsflut über ihre Leser ergießt und damit auch den ausdauerndsten Leser zwangsläufig überfordern muss. Wer nicht gerade die Inkazeit als persönliches Steckenpferd auserkoren hat und demnach besonderes Interesse an diesen Details mitbringt, wird bei der Lektüre des Buches mit ziemlicher Sicherheit oftmals gelangweilt sein. Fast die Hälfte des Buches handelt von den Yatiri und ihrer verlorenen Kultur, sodass die eigentliche Rahmengeschichte über weite Strecken so sehr in den Hintergrund tritt, dass man fast schon vergessen kann, dass man eigentlich kein Sachbuch liest, sondern einen Roman. Erst zum Ende hin fängt Asensi sich wieder, wenn sie von der Dschungelexpedition berichtet und ihre Romanfiguren wieder in den Mittelpunkt der Erzählung stellt.

Hinzu kommt, dass man lange Zeit nicht weiß, worauf Matilde Asensi eigentlich hinaus will; so liest man etwas ziellos weiter und vermisst leider auch einen Spannungsbogen. Die Geschichte fließt ziemlich zäh dahin und man muss immer wieder geduldig warten, bis man neue Informationshäppchen vorgeworfen bekommt, die nicht nur die historischen Ausführungen vorantreiben, sondern die eigentliche Romanhandlung. Zum Ende hin entwirft Asensi schließlich einige Ideen bzw. Theorien (Fantasien?) über die Entstehung des Lebens auf der Erde, die für meinen Geschmack doch etwas zu abenteuerlich ausgefallen sind.

Sprachlich dagegen gefällt Asensis aktuelles Buch wieder einmal sehr gut, denn die Autorin beweist, dass sie schreiben und wohlakzentuiert formulieren kann. Ihre Schreibweise wirkt auf den ersten Seiten zwar etwas schwerfällig, ist dann aber sehr angenehm zu lesen und positiv hervorzuheben, da Asensi nicht auf den Zug derjenigen Autoren aufspringt, die einem Hauptsatz allerhöchstens noch einen knappen Nebensatz widmen, um ihre Bücher bloß nicht zu kompliziert wirken zu lassen.

Insgesamt bleibt jedoch ein eher mittelmäßiger Eindruck zurück und vor allem Enttäuschung darüber, dass Asensi aus diesem spannenden und faszinierenden Thema nicht mehr herausgeholt hat. Und dabei hätte im Prinzip nicht viel gefehlt, um den „verlorenen Ursprung“ zu einem genialen Buch zu machen. Die Zutaten waren wirklich vielversprechend, doch hätte ich mir eine deutlich straffere Erzählweise in den historischen Exkursen gewünscht und dazu Romanfiguren mit Ecken und Kanten, denen man den Überlebenskampf im Dschungel auch abgenommen hätte. So aber hat Asensi leider viel Potenzial ungenutzt gelassen; vielleicht hätte sie ihre langen Inka-Ausführungen lieber für die besonders interessierten Leser in einen Anhang packen sollen, das hätte ihrem Roman sicher gut getan und vor allem auch dafür gesorgt, dass „Der verlorene Ursprung“ ein breiteres Publikum erreicht.