Archiv der Kategorie: Rezensionen

Anika Flock – Die Kristallwandler

_Die Autorin_

Anika Flock wurde 1974 in Worms geboren, wuchs in der Nibelungenstadt am Rhein auf und machte dort 1994 ihr Abitur. In Mannheim studierte sie Diplom-Anglistik mit den Schwerpunkten Amerikanistik und Betriebswirtschaft. Gleich nach dem Studium schrieb sie eine erste, grobe Fassung der „Kristallwandler“, bis sie eine Stelle als Online-Redakteurin antrat. Ende 2002 wechselte sie wieder in eine geringfügige Beschäftigung, um wieder mehr Zeit für das Schreiben zu finden. Im Februar 2005 veröffentlichte Anika Flock ihre eigene Anthologie namens „Das Auge der Elster“, eine Sammlung tierisch-phantastischer Kurzgeschichten.

_Story_

Die Völker der Koldaren und der Aeniren leben beide in der Welt Naru, wissen aber nichts von der Existenz des jeweils anderen Volkes. Zwischen der Heimat der einzelnen Stämme liegt nämlich ein als lebensgefährlich verrufener Streifen Land namens Sturmbann, der die beiden Seiten trennt. Während die Koldaren auf der vulkanischen Tagseite Narus leben, müssen sich die Aeniren mit der eiseskalten, ungemütlichen Nachtseite dieser Welt zufrieden geben.

Eines Tages mischen sich das Wetter und die Götter, gleichermaßen aber auch die Politiker in das Leben der dort lebenden Menschen ein, und beide Völker sehen sich dazu gezwungen, den gefürchteten Landstreifen aufzusuchen und endlich zu erkunden, was sich darin und dahinter verbirgt. Mittendrin in dieser Bewegung: die Koldarin Meruna und der Aenire Elderas, die unfreiwillig miterleben müssen, wie das Weltbild der beiden Völker unwiderruflich erschüttert wird und sich die Geschichte der Welt Naru komplett ändert.

_Meine Meinung_

Eines muss man vorab schon mal sagen: Ganz unabhängig von der eigentlichen Geschichte ist es manchmal eine ziemliche Qual, dieses unförmige, seltsam aufgebaute Buch zu lesen. Nicht nur das ungewöhnliche Format, sondern vor allem die kleine Schrift auf den recht großen Seiten bereiten einem ständig Probleme, was dazu führt, dass man immer wieder in der Zeile verrutscht und zwischendurch auch schon mal Kopfschmeren bekommt, weil das alles die Wirkung einer absoluten Reizüberflutung entwickelt. Warum nicht einfach die Geschichte auf eine größere Seitenzahl erweitern und den Leser schonen? Das wäre weitaus angenehmer gewesen …

Davon mal abgesehen, ist die Geschichte zwar nicht wirklich genial, aber immerhin recht gut gelungen und auf einem stets guten Niveau angesiedelt. Ein Problem besteht lediglich darin, dass sich Anika Flock immer sehr lange daran aufhält, Landschaftsbilder und Personen ausufernd zu charakterisieren, so dass die Handlung manchmal stockt und zu schleppend vorankommt. Das Erzähltempo ist folglich (gerade zu Beginn) auch ziemlich gering, weshalb man öfter mit sich ringen muss, die Lektüre fortzusetzen.

Die Erzählung als solche hingegen kann sich dann aber doch sehen lassen. Die Geschichte um die Koldarin Meruna und den Aeniren Elderas entwickelt sich nach anfänglichem Stocken sehr gut und bekommt nach gut hundert Seiten dann endlich auch ein gesundes Maß an Spannung verpasst, wobei natürlich erst einmal alles auf die Begegnung mit dem mysteriösen Sturmbann bzw. dem Treffen der beiden unabhängigen Völker hinausläuft. Irgendwann kommt der Moment, da findet man sich endlich in der Phantasiewelt Naru zurecht und bekommt einen Zugang zu den beiden Hautfiguren, ohne dass dieser durch exzessiv betriebene Personen- und Lokalbeschreibungen unterbrochen oder gestört wird. Und so wächst das Ganze dann bis hin zu einem irgendwann schon zu erahnenden, aber dennoch sehr gut inszenierten Finale, das weiterhin einige Fragen offen lässt, den Leser aber dann nach dem harten Kampf durch die anstrengenden Seiten entsprechend belohnt.

Es gibt zwar sicher bessere Romane als „Die Kristallwandler“, und der Aufbau des Buches spricht auch nicht gerade dafür, sich einmal mit dem neuen Roman von Anika Flock auseinander zu setzen, aber insgesamt betrachtet, hat sich das Buch dann doch noch gelohnt und die vielen, zwischendurch aufgekommenen Zweifel ob der Rahmenbedingungen für den Leser vergessen lassen. Mit der entsprechenden Konzentration wird man jedoch die hier aufgeworfenen Hürden meistern – aber auch nur dann!

E.-E., Marc-Alastor – Kinder der fünften Sonne, Die (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 3)

Band 1: [Der ewig dunkle Traum 1899
Band 2: [Kuss der Verdammnis 1900

Dilara und ihr kleinwüchsiger Diener Cippico steigen in dem Hotel |Maison de Vervins| in Avignon ab, um ein wenig Zerstreuung zu finden. Doch der Frieden währt nicht lange, denn zum einen verschwindet die Leiche eines von Dilaras Opfern spurlos und zum anderen verlangt Antediluvian, der Ur-Nosferatu, nach seiner „Tochter“. Dilara soll nämlich für ihn ein geheimes Dokument aus den Archiven des Vatikans holen. Ihr zur Seite steht dabei die Rosenkreuzerin Gelophee Roche, vor der Antediluvian aber eindringlich warnt, denn die Rosenkreuzer sind angeblich Diener der Lichtgöttin Methalumina, welche als Todfeindin aller Vampire bekannt ist und als unbezwingbar gilt.
Gemeinsam mit Cippico und Gelophee macht sich Dilara auf den Weg nach Lugano, wo ein abtrünniger Priester leben soll, der über den Aufenthaltsort des Dokumentes Bescheid weiß. Doch kaum dort angekommen, erscheint Methalumina und es kommt zur Konfrontation mit der Lichtgöttin. Dilaras Auftrag scheint vereitelt, bevor er richtig begonnen hat, und das Schicksal der Vampirin besiegelt …

Mit dem dritten Beitrag zur Schattenchronik gibt der Autor Mark-Alastor E.-E. seinen Einstand, hat er bislang doch nur für seine eigene Serie „Geisterdrache“ im |BLITZ|-Verlag seine Spuren hinterlassen. Doch mit „Die Kinder der fünften Sonne“ beweist er, dass er auch einfühlsame, stimmungsvolle und historische Vampirromane zu schreiben versteht. Band 3 der Schattenchronik ist eine echte Gothic-Novelle der Superlative und gibt der Heldin dieser Serie, Dilara, noch mehr Tiefe und noch mehr Hintergrund. Der Roman führt die Geschehnisse aus dem zweiten Band „Kuss der Verdammnis“ nicht unmittelbar fort, denn Dilara erzählt zunächst ihrem Gefährten Calvin eine Episode aus ihrer Vergangenheit. Dies geschieht so stilecht und fesselnd, dass man sofort in die Geschichte eintaucht. Der Autor hat hervorragend recherchiert und sich darüber hinaus auch der blumigen Sprache des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts bedient, was dieses Buch zu einem besondern Lesevergnügen macht. Der Leser macht außerdem nebenbei die Bekanntschaft historischer Persönlichkeiten wie Renoir und Monet, zweier bekannter französischer Maler.

Der Diener Cippico und die Rosenkreuzerin sind schillernde und bewegende Figuren, ebenso wie ihre Gegenspieler, allen voran Antediluvian, der Ur-Nosferatu. Insbesondere den kleinwüchsigen Diener Dilaras habe ich lieb gewonnen und hoffe noch öfter von ihm zu lesen, auch wenn er bisweilen arg unter seiner temperamentvollen Herrin zu leiden hat. Die Vampirin selber offenbart dieses Mal auch ein wenig ihrer bisexuellen Neigungen und einmal mehr ihre Rücksichtslosigkeit. Stimmig vervollständigt der Autor das Bild Dilaras, das wir von Wolfgang Hohlbein und Alisha Bionda her kennen. Die Tochter Antediluvians ist keine menschenfreundliche Zeitgenossin, die sich selbstlos für Andere einsetzt, das würde auch nicht zum Charakter der Vampire passen. Doch kann sie im Gegensatz zu anderen Nosferati auch zärtliche Gefühle hegen.

Doch der Plot der Geschichte dreht sich um ein geheimnisvolles Dokument, welches in den Archiven des Vatikans schlummert. Dieses Dokument will der Ur-Nosferatu Antediluvian in die Hände bekommen und einmal mehr soll Dilara die Kastanien aus dem Feuer holen. Hier wird schon der Grundstock für die Abneigung und die Aufsässigkeit der Vampirin gegenüber ihrem Schöpfer gelegt. Zudem wird ein kleiner Vorstoß zu den Anfängen der Vampire gewagt. Auch eine mächtige Feindin der Blutsauger hat ihren ersten Auftritt: Methalumina, eine Lichterscheinung, die durch ihre bloße Anwesenheit die Vampire zu vernichten vermag. Diese Wesenheit ist weder greifbar noch wirklich einer Seite zu zuordnen, sie erscheint und verschwindet, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Und das ist auch schon alles, was von dieser Gestalt preisgegeben wird. Man erfährt weder, wo sie herkommt, noch was sie wirklich ist oder was sie beabsichtigt.

Einen weiteren interessanten und geheimnisvollen Aspekt der Geschichte bilden die Rosenkreuzer und ihre Verbindung zu Methalumina, wenn es denn eine gibt. Laut Antediluvian sind die Rosenkreuzer Diener der Lichtgöttin, doch Dilara schenkt ihrem „Vater“ schon länger keinen uneingeschränkten Glauben mehr, so dass seine Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind.

Vom Stil her liest sich der Roman flüssig und ohne unnötige Längen, auch wenn die Action recht sparsam eingesetzt wurde, was eine herausragende Eigenschaft der Serie zu werden scheint. Die Spannung baut sich schleichend und subtil auf.

Die Innenillustrationen lockern das Buch angenehm auf, auch wenn sie nicht alle meinem Geschmack entsprechen und teilweise ein wenig comichaft wirken. Das Titelbild gehört zum Durchschnitt: Es ist nicht wirklich schlecht, aber auch kein Highlight. Aber die allgemeine Aufmachung der Serie sucht ihresgleichen und ist wie immer genial. Der düstere Rahmen, die charakteristischen Fledermausschwingen auf jeder Seite und die verschnörkelte Schrift machen die Bücher der Schattenchronik zu edlen Sammlerstücken.

_Florian Hilleberg_

Stewart, Paul / Riddell, Chris – Twig im Dunkelwald (Die Klippenland-Chroniken 1)

„Die Klippenland-Chroniken“ – da denkt man sofort an Fantasy, doch genau dies steckt nicht hinter dieser Geschichte von Paul Stewart und Chris Ridddell. Vielmehr haben die beiden Autoren ein recht modernes Märchen mit witzigen Hauptfiguren, einer recht einfachen (und daher auch für Kinder geeigneten) Handlung und klassischen Genre-Elementen gezaubert, über dessen Hauptfigur man im Laufe der Erzählung noch das ein oder andere Mal wird lachen können. Keine schwere Kost, aber eben auch kein voreilig inszeniertes Projekt – die Geschichte um den jungen Troll Twig, der auszieht, um die Welt zu entdecken, bietet Spaß für Jung und Alt!

_Story:_

Twig lebt bei seiner Familie im Reich der Waldtrolle, die mit dem jungen Tolpatsch allerdings nicht so viel anfangen können. Selbst diejenigen, die Twig anfangs für seine Freunde hält, stellen sich ihm in entscheidenden Situationen in den Weg und lassen ihn fallen. Als seine Mutter Spelda ihm dann auch noch eröffnet, dass er ein Findelkind ist, scheint die Katastrophe perfekt. Doch kurz vor seinem 13. Geburtstag, dem Tag, an dem man als Waldtroll erwachsen wird, schickt ihn Spelda fort, damit ihn die gefürchteten Himmelspiraten nicht holen können. Sie erklärt ihm noch den Weg durch den Dunkelwald und fordert ihren Stiefsohn auf, diesen Pfad niemals zu verlassen, doch dann lässt sie Twig auch schon losziehen, damit er sich in Sicherheit bringen kann.

Und so zieht Twig auf seinem einsamen Weg los, verläuft sich aber alsbald und trifft fortan auf immer seltsamere Gestalten. Da begegnet ihm der gefährliche Schwebewurm, dem er gerade noch so entkommen kann, er trifft auf einen fiesen Schlächter, dem er das Leben rettet, entwischt Skalpell und Bluteiche, eilt einem Banderbären zur Hilfe und lebt eine Zeit lang als Schoßhündchen bei den Höhlenfurien.

Twig sammelt eine Menge Erfahrungen, doch seine Abenteuerlust treibt ihn schließlich genau zu den Menschen, vor denen er sich eigentlich verstecken soll. Und so stößt er eines Tages auf das wohl prächtigste Piratenschiff, das je den Himmel befuhr …

„Die Klippenland-Chroniken“ und ihre Hauptfigur Twig sind in ganz Deutschland beliebt. Bereits 10.000 Leser haben sich dafür entschieden, zusammen mit Twig durch die gefährliche Welt des Dunkelwaldes zu reisen, was schließlich dazu führte, dass man die Geschichte auch als Hörbuch auflegte. Und hier, wo die Story jetzt zum Leben erweckt wird, fängt der Spaß erst richtig an, was hauptsächlich auch daran liegt, dass die Erzählstimme von Volker Niederfahrenhorst wirklich einmalig ist. Von einem Moment auf den nächsten wechselt er von der hohen in die tiefe Stimmlage und übernimmt einen völlig anderen Charakter. Der Mann verfügt tatsächlich über einen enormen Stimmumfang und lässt den Dunkelwald von der ersten bis zur letzten Sekunde mit all seinen Stimmungen aufleben.

In der Geschichte selber bekommt der Erzähler allerdings auch genügend Anlässe geboten, um sich richtig auszutoben, sei es nun bei der Begegnung mit dem Schlächter oder im Reich der Höhlenfurien, beim Anblick des Piratenschiffes oder beim traurigen Abschied von der Stiefmutter. Niederfahrenhorst durchlebt den Charakter des jungen Waldtrolls in der Erzählung, und das verhilft diesem Hörbuch natürlich auch zu einem großen Teil zu seiner Klasse.

Die Handlung an sich ist jedoch auch sehr schön. Natürlich finden sich viele Parallelen zu anderen Märchen (Thema: ein Junge wird verstoßen und kommt auch noch vom rechten Weg ab …), stellenweise auch zu bekannter Fantasy-Literatur, was aber kaum Einfluss auf den sehr eigenwilligen Charakter dieser Erzählung hat. Mit viel Wortwitz und nicht wenigen flotten Sprüchen begegnet Twig seinen neuen Freunden und Bekannten und kann so die Traurigkeit über sein trostloses Leben leicht überspielen. Aus dem eigentlich ernsten Stück wird so eine bunte, teils schillernde und allseits fröhliche Geschichte, deren Darsteller man sofort lieb gewonnen hat. Auf der ereignisreichen Reise durch den Dunkelwald findet man eine Menge Spaß, so dass die drei CDs mit einer Gesamtspielzeit von 215 Minuten wie im Flug vergehen. Kein Wunder also, dass der erste Teil der „Klippenland-Chroniken“ bereits einige Kritikerpreise hat einheimsen können – vor allem dank Volker Niederfahrenhorst. Von meiner Seite aus gibt es aber auch eine richtig dicke Empfehlung für dieses farbenfrohe und effektreiche (sehr schöne Sounds von Percussionist Olaf Normann) Märchen!

Wer sich einmal einen kleinen Eindruck verschaffen möchte, kann sich [hier]http://www.patmos.de/title/23/349124073/mode/quick/singleBook.htm eine kurze Hörprobe zu Gemüte führen.

_Details:_

Erzähler: Volker Niederfahrenhorst
Percussion & Sounds: Olaf Normann
Ton: Georg Niehusmann, Sonic Yard Studio, Düsseldorf
Illustrationen: Chris Riddell
aus dem Englischen von Wolfram Ströle

CD 1
1. Die Schnappholds
2. Der Schwebewurm
3. Die Schlächter
4. Das Skalpell

CD 2
1. Die Bluteiche
2. Der Banderbär
3. Der Faulsauger
4. Die Höhlenfurien I

CD 3
1. Die Höhlenfurien II
2. Garble, Plapperdrude und der Herzzauber
3. Die Himmelspiraten
4. Der Schleimschmeichler
5. Jenseits des Dunkelwaldes

Andrew Huebner – Rache für Little Bighorn

huebner-little-bighorn-cover-kleinDie Schlacht am Little Bighorn hebt den Krieg zwischen den indianischen Ureinwohnern und der ‚weißen‘ Bevölkerung auf eine neue, grausame Ebene. Nur wenige Beteiligte bemerken, wie sie kontinuierlich verrohen, ohne sich dem verhängnisvollen Sog indessen entziehen zu können … – Am Beispiel dreier junger Männer zeichnet der Verfasser diesen fatalen Weg literarisch nach. Während der deutsche Titel teilweise irreführend die Rache in den Vordergrund stellt, geht es primär um ein (weiteres) blutiges Kapitel im Werden der US-Nation, dessen Nachwirkungen längst nicht Geschichte sind.
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Meißner, Tobias O. – dunkle Quelle, Die (Im Zeichen des Mammuts 1)

_Odyssee einer Idee._

Das Mammut ist ein spannendes Projekt, ein ehrgeiziges Projekt, und hat eine äußerst ungewöhnliche Entstehungsgeschichte: Meißner hatte das Universum des Zyklus schon in den Neunzigerjahren skizziert, im Alter von 23 Jahren, ohne nennenswerte schriftstellerische Erfahrung, und ohne eine Vorstellung, wie ein Projekt von der angestrebten Größe bewältigt werden könnte.

Daher beschritt er andere Wege und rief eine Fantasy-Rollenspiel-Kampagne ins Leben, die auf seiner Skizze basierte, eine Kampagne für sieben Mitspieler, mit einer Laufzeit von sieben Jahren (!!!). Am Ende der Kampagne hatte Meißner 230 handbeschriebene Seiten, ein voll entwickeltes Universum, einen voll entwickelten Plot und Figuren, die über sieben Jahre in unterschiedlichen Köpfen reifen konnten. Die Geschichte ruhte. Wiederum sieben Jahre, bis Meißner [„Das Paradies der Schwerter“]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=35 veröffentlichte und damit, wie er sagt, das Mammut geweckt hatte.

Und ich habe nun die Ehre, dem Mammut bei seinen ersten Schritten über die Schulter zu lugen:

_Von Bürokraten und Schmetterlingsmenschen._

Es ist auf den ersten Blick ein recht übliches Szenario: Schwerter, Pferde, Magier, Räuber, Ritter, Götter und Zauberwesen bevölkern eine vorindustrielle Welt, die man via Zeigefinger über eine detailreiche Landkarte bereisen kann.

Von jenem glitzernden Fantasy-Zauber bekommt Rodraeg Delbane aber wenig zu spüren. Seine Abenteuerlust ist verpufft, er hat sich als Turnierkämpfer versucht und ist durch den Kontinent gezogen, hat dabei erfahren, dass „Abenteuer“ aus frieren, hungern und weglaufen bestehen, und landete schließlich im Rathaus der kleinen Stadt Kuellen, um als Schreiber des Bürgermeisters höfliche Antragsablehnungen zu verfassen und scheußliche Gedichte für Ehrenbürger.

Dann plötzlich taucht Naenn bei ihm auf. Das zierliche Schmetterlingsmädchen zieht Rodraeg in ihren Bann. Sie erklärt ihm, dass die Menschen des Kontinents nicht mehr auf das Gleichgewicht der Natur achteten, es würde geerntet, was nie gesäht wurde, erklärt sie ihm, und deswegen bräuchte es eine Gruppe, die die Wahrung dieses Gleichgewichts gewährleistete. Er, Rodraeg Talavessa Delbane, sei als Einziger übrig geblieben, der in Frage kommt, eine solche Gruppe zu gründen und zu leiten.

Rodraegs Abenteuerlust befreit sich aus ihrer Gruft, und er willigt ein: Er lernt den |Kreis| kennen, den Geheimbund, der hinter allem steckt, zieht dann mit Naenn in die Stadt Warchaim und errichtet dort den Stützpunkt des Mammuts, wie er seine Gruppe zu nennen beschließt. In Warchaim findet er auch seine ersten Mitstreiter, und die hat er auch bitter nötig, denn schon bald flattert der erste Auftrag des Kreises in die Basis des Mammuts:

Der Lairon-See hat unter schrecklichen Verschmutzungen zu leiden, und das Mammut soll dem einen Riegel vorschieben. Voller Tatendrang macht sich die Gruppe auf den Weg, doch was sich wie ein harmloser Routineauftrag anhört, gerät außer Kontrolle; Rodraeg beginnt allmählich zu begreifen, welche Bürde er sich aufgeladen hat – aber auch wie wichtig das Mammut ist.

_Die sanfte Beschleunigung eines Riesen._

Die Spannungskurve lässt sich Zeit, ehe sie in die Gänge kommt. Im ersten Drittel des Buches erfährt man viel über Rodraeg und über das Schmetterlingsmädchen, man lernt den Kontinent kennen, seine Regeln, seine Götter, seine Rituale, seine Gesetze und seine Geschichte, man lernt den Kreis kennen, die Motive der Auftraggeber und die Auftraggeber selbst.

Man bekommt die Möglichkeit, Rodraeg dabei zu beobachten, wie er in seine Rolle hineinwächst, wie seine naiven Vorstellungen von der Realität verdrängt werden, und wie er wiederum darauf reagiert. Ebenso genau kann man die Gefährten betrachten, die er um sich schart: Bestar und Migal, zwei sympathische Großmäuler, junge Soldaten ohne Kriegserfahrung, die das Herz aber am rechten Fleck tragen, und Hellas, der geheimnisvolle Bogenschütze, der ein düsteres Geheimnis mit sich herumschleppt.

Spannung will dabei nicht wirklich aufkommen, all das erfährt man in der entspannten Atmosphäre der Stadt Warchaim, wo das Mammut ohne jeglichen Druck seinen Stützpunkt errichtet. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, langweilig liest sich das deswegen noch lange nicht. Rodraeg tastet sich an seine Aufgabe heran, der Leser nimmt an seinen Zweifeln und Ängsten teil, spürt die Unsicherheit jeder Entscheidung, die Rodraeg fällt, und wenn er sich einmal sicher ist, bringt ihn das Schmetterlingsmädchen mit ihren Einwürfen wieder ins Wanken. Genauso verhält es sich mit seinen Mitstreitern: Sie öffnen sich nicht sofort, tasten ab, suchen Nähe, ziehen sich wieder zurück, Misstrauen und Vertrauen streiten ständig gegeneinander, und die Motive, warum sie sich der Gruppe angeschlossen haben, könnten unterschiedlicher nicht sein: das Mammut ist alles, nur keine idealistische Heldenvereinigung.

Dann muss sich der zusammengewürfelte Haufen plötzlich dem ersten Auftrag stellen. Die Spannungskurve steigt allmählich. Obwohl sich die Aufgabe trivial anhört, spürt man genau, dass das Mammut keine Ahnung hat, was es anstellen soll, wenn es erst einmal an seinem Ziel angelangt ist. Schließlich steht die Gruppe vor der geheimen Fabrikation am Lairon-See. Jedes Mitglied des Mammuts hat eine eigene Vorstellung davon, wie der Situation zu begegnen ist. Rodraeg setzt die seine durch, er ist der Anführer. Und dann bricht das Chaos los.

_Die Erfahrung eines Rollenspielers._

Auch wenn die Spannung spät anzieht, sie tut es deftig. Plötzlich bekommt nämlich auch die gemächliche Vorgeschichte ein unerwartetes Gewicht: Man fürchtet um jeden einzelnen Gefährten, jetzt erst bemerkt man, wie lieb man sie alle gewonnen hat und man kann das Buch nicht auf die Seite legen, obwohl die Uhr schon lange mahnend in Richtung Schlafzimmer zeigt.

Meißner lässt die Figuren alleine Regie führen, ob das nun Rodraeg betrifft, der sich voll und ganz auf seine Diplomatie verlässt, oder Migal, der seine Wut unkontrolliert aufbrausen lässt: Niemand trifft eine Entscheidung, die nicht seiner tiefsten Überzeugung entspricht, welche fatalen Folgen das auch für den Rest der Gruppe haben mag.

Die Erfahrungen am Lairon-See kehren das Wesen der Figuren heraus, sie tragen Narben davon, schwere, leichte, wenig körperliche und viele seelische. Am Ende des Buches weiß man, dass mit der „dunklen Quelle“ ein Auftakt verglommen ist. Er hinterlässt einen grellen Nachhall und viele Fragen: Was hat es, Teufel auch, mit dem Kreis auf sich? Was ist die tatsächliche Aufgabe des Mammuts? Denn eines ist bis zur letzten Seite spürbar: Jede Information, die Meißner uns gibt, hat einen Sinn, und man kratzt nur an der Oberfläche des Abenteuers, in das die Gefährten geraten sind.

_Also_: Auch wenn sich die Spannung zu Beginn noch in Grenzen hält, oder wenn sich der Plot anfangs wie Öko-Fantasy mit Greenpeace-Botschaft liest, ist dieses Buch eine echte Bereicherung für die Fantasy-Landschaft. Daran ändert auch nichts, dass Meißner recht viel erzählt und es nicht seine Stärke ist, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen.

„Die dunkle Quelle“ ist ein solides Stück Fantasy, das sich den Konventionen genau an den Stellen verweigert, wo das dringend notwendig ist, ohne dabei den verträumten Elfenstaub vollends zu missachten, den dieses Genre ausmacht. Meißners besondere Stärke sind die Figuren, die einem einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Auch wenn das Mammut noch lange nicht am Thron eines George R. R. Martin rütteln kann, hat es einen spannenden und unterhaltsamen Weg beschritten, dem zu folgen sich lohnt. Respekt, Herr Meißner!

Lewis, Clive Staples – Ritt nach Narnia, Der (Die Chroniken von Narnia, Band 3)

[Das Wunder von Narnia 1858
[Der König von Narnia 1758
[Der König von Narnia 356 – Hörbuch

Der dritte Teil der „Chroniken von Narnia“ ist für meinen Geschmack der bisher beste, weil einerseits Clive Staples Lewis hier ein wenig von seiner Rolle als Kinder- und Jugendbuchautor abgewichen ist, und andererseits die Geschichte noch ein ganzes Stück spannender ausfällt als der Plot in den vorherigen beiden Bänden. Neue Charaktere werden in die Handlung integriert, das Anfangsszenario ist komplett neu und der Verlauf noch weitreichender als in „Das Wunder von Narnia“ und „Der König von Narnia“, aber dennoch findet sich der Leser sofort wieder in der Welt von Narnia zurecht und wird, selbst wenn er die beiden anderen Bücher noch nicht gelesen hat, kein Problem damit haben, einen Einstieg zu finden.

_Die Geschichte:_

In Kalormen ist das Leben ganz anders als in Narnia. Die Menschen leben nicht dringend in Frieden miteinander, und auch nicht jedes Lebewesen wird gleich behandelt. Zudem besitzen die Tiere nicht die Gabe zu sprechen. Mitten in diesem Land, das südlich von Narnia gelegen ist, wohnt der junge Shasta bei seinem Adoptivvater, einem Fischer, der seinen Jungen lediglich für die harte Arbeit rund um seine Hütte benötigt. Natürlich fühlt sich Shasta mit seinem derzeitigen Leben nicht erfüllt, meckert aber nicht herum, weil er dankbar ist, dass Arsheesh ihn seinerzeit aufgenommen hat. Als jedoch eines Tages ein adliger Arashin die Hütte des Fischers aufsucht, um den Jungen als Burschen zu erwerben, sieht Shasta die Möglichkeit, andrenorts ein neues, glücklicheres Leben zu beginnen. Da jedoch meldet sich das Pferd des Arashin zu Wort und erzählt Shasta von den grausamen Bedingungen, unter denen der Junge im Falle des Falles leben würde. Noch bevor Shasta seinem Erstaunen über die besonderen Fähigkeiten des Tieres Ausdruck verleihen kann, schließt er sich dem Gaul bei der Flucht an und tauft es bei seinem ersten Ritt auf den Namen Bree.

Gemeinsam wollen die beiden in die ursprüngliche Heimat des Pferdes nach Narnia reisen, um dort ihr Glück zu finden. Doch der Weg dorthin ist nicht gerade leicht zu bewältigen. Sie werden von Rittern gejagt, von Löwen verfolgt und müssen diverse Hindernisse nehmen. Als sie eines Tages auf die Königstochter Aravis und ihr ebenfalls sprechendes Pferd Hwin teffen, schließen sich die beiden Gruppen zusammen und reiten gemeinsam nach Narnia.
Doch schon in Tasbaan werden Shasta und die anderen voneinander getrennt. Der fliehende Junge wird mit Corin, dem Sohn des Königs vom Archenland, verwechselt und auf direktem Wege in dessen Kammer geführt.

Natürlich genießt er den plötzlichen Luxus als potenzieller Königssohn, entschließt sich bei Corins Rückkehr aber wieder Fersengeld zu geben, bevor man ihn als Betrüger entlarvt, und macht sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt mit Aravis und den beiden Pferden. Doch auch diese Gruppe kommt nicht ungeschoren durch die Stadt und muss sich verstecken. Als man schließlich wieder vereint ist, steht Shasta aber auch schon wieder die nächste Gefahr bevor. Prinz Rabadash will das friedliche Land Narnia angreifen und Königin Suse ehelichen. Nur Shasta ist in der Lage, den König rechtzeitig zu warnen, und macht sich alsbald allein auf den Weg zum Palast von Narnia. In einer großen Schlacht entscheidet sich schließlich das Schicksal des Landes von Löwenkönig Aslan.

_Meine Meinung:_

Wie ich bereits sagte, ist „Der Ritt nach Narnia“ das mit Abstand spannendste Narnia-Buch bislang, gleichzeitig aber auch das härteste (in Bezug auf die Handlung). In Form des jungen Shasta, der eigentlich der Zwillingsbruder von Prinz Corin ist, findet man auf Anhieb eine Identifikationsfigur, mit der man sich auf den Weg nach Narnia und durch spannende Abenteuer begibt und den man sofort in sein Herz geschlossen hat. Die Tatsache, dass er nicht gerade der geschickteste Vertreter seiner Art ist, macht ihn umso sympathischer. Dagegen wirkt die weibliche Hauptfigur Aravis stets kühl und zickig, was ihre sehr wechselhafte Beziehung zu ihrem männlichen Gegenpart aber erst besonders reizvoll macht. Shasta hat nicht nur damit zu kämpfen, überhaupt nach Narnia zu gelangen, nein, er muss gleichzeitig auch noch um die Gunst von Aravis buhlen – zumindest bis man gemeinsam am Ziel angelangt ist. Auch hier arbeitet Clive Staples Lewis wieder mit moralischen Inhalten. So muss Aravis am Schluss erkennen, dass sie mit ihren Vorurteilen bezüglich Shasta nicht Recht hatte. Dieser wiederum muss erkennen, dass er die Fehler anderer nicht als Maßstab für sein eigenes Verhalten nehmen darf, während der Hengst Bree später bei der Begegnung mit Aslan feststellt, dass er mit seiner Ehrlichkeit immer am weitesten kommt.

Wie auch schon zuvor, so gibt es auch hier immer wieder einige Parallelen zur Bibelgeschichte, die aber keine missionarische Funktion übernehmen, schließlich war es die Hauptintention des Autors, eine spannende Geschichte zu schreiben, und genau das ist ihm hier erneut vortrefflich gelungen!
Ich habe mit diesem Band mehr Freude denn je an den „Chroniken von Narnia“ bekommen und kann „Der Ritt nach Narnia“ aus diesem Grunde vor allem auch Neueinsteigern empfehlen – zumal jene, die bereits bei den ersten beiden Bänden ‚Blut geleckt‘ haben, auch mit dieser Fortsetzung ganz sicher am Ball bleiben werden. Viel Spaß mit diesem Buch, denn den werdet ihr garantiert haben!

Die Reihe in der chronologischen Erzählfolge:
* 1956 Das Wunder von Narnia (engl. The Magician’s Nephew)
* 1950 Der König von Narnia (engl. The Lion, the Witch and the Wardrobe)
* 1954 Der Ritt nach Narnia (engl. The Horse and His Boy)
* 1951 Prinz Kaspian von Narnia (engl. Prince Caspian)
* 1952 Die Reise auf der Morgenröte (engl. The Voyage of the Dawn Treader)
* 1953 Der silberne Sessel (engl. The Silver Chair)
* 1956 Der letzte Kampf (engl. The Last Battle)

Veröffentlichungsreihenfolge:
* 1950 Der König von Narnia (engl. The Lion, the Witch and the Wardrobe)
* 1951 Prinz Kaspian von Narnia (engl. Prince Caspian)
* 1952 Die Reise auf der Morgenröte (engl. The Voyage of the Dawn Treader)
* 1953 Der silberne Sessel (engl. The Silver Chair)
* 1954 Der Ritt nach Narnia (engl. The Horse and His Boy)
* 1956 Das Wunder von Narnia (engl. The Magician’s Nephew)
* 1956 Der letzte Kampf (engl. The Last Battle)

Verlags-Website zur Narnia-Welt: http://www.narnia-welt.de/

Narnia-Filmseite: http://www.narnia.de

[Der Reiseführer durch Narnia 1664

Joseph Conrad – Der Geheimagent

Mr Verloc besitzt einen kleinen, überteuerten Krämerladen in Londons unvorteilhaftem Viertel Soho. Die Treppe hoch hinter dem schäbigen Laden wohnt er mit seiner Frau Winnie, deren geistig behindertem Bruder Stevie und ihrer Mutter.

Mr Verloc ist fett und faul.

Als Mieter von Winnies Mutter erflirtete er sich zunächst vor allem deren Gunst, und die alte Dame war froh darüber, dass dieser ruhige Mann, der ihrem schwierigen Sohn, dem Schuhputzer, immer so großzügig Trinkgeld gab, ihrer Tochter den Hof machte. Und als Winnies Liebschaft mit einem jüngeren Mann zerfiel, wandte sie sich eben Verloc zu, der ihren einzigen vom toten Vater ungeliebten Bruder wenigstens akzeptierte. Und so heirateten die beiden, und Verloc eröffnete mit dem Geld der Schwiegermutter seinen kleinen Laden und nahm dafür die bettlägerige Alte und Winnies debilen Bruder bei sich auf.

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Michael Pearce – Im Schatten des Feigenbaums

Das geschieht:

Kairo, Nordägypten, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts: Vor dreißig Jahren rief ein vom Thronsturz bedrohter Khedive (so lautet der Titel des Monarchen, der königlich über das Land herrscht) die Briten zur Hilfe. Freudig nutzten diese ihre Chance, ihrem Empire ein Sahnestück einzuverleiben, ohne zuvor einen Großteil der einheimischen Bevölkerung abzuschlachten. Das uralte Wüstenland am Nil hätten sich auch die Franzosen gern unter den Nagel gerissen; in Afrika gehören sie zu den ärgsten kolonialen Konkurrenten, die es tunlichst nicht zu brüskieren gilt. Daher ist Ägypten offiziell keine britische Kolonie; die Regierung lässt sich von den Briten nur ‚beraten‘.

Selbstverständlich weiß jeder um die wahren Verhältnisse. Die Briten halten das Heft fest in der Hand. Die örtlichen Herrscher sind mehr oder weniger Marionetten. Es herrscht zwar Ruhe im Land, aber nationalistische Gruppe schüren immer wieder und seit einiger Zeit verstärkt Unruhen. Dafür zu sorgen, dass diese nie offen ausbrechen, obliegt dem britischen Geheimdienst, der in der ägyptischen Hauptstadt stark präsent ist. Gareth Owen steht ihm vor, ein besonnener Mann, der die komplexen politischen und vor allem religiösen Verhältnisse vor Ort kennt. Offiziell arbeitet er für den Khedive, aber jeder Bürger Kairos weiß, dass tatsächlich der „Mamur Zapt“ – so Owens Amtstitel – das Sagen hat.

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Sternmut, Norbert – Marlies

|Marlies ist wieder da!|
So beginnt der zweite Teil der (Krimi-)Trilogie von Norbert Sternmut (nach „Der Tote im Park“). |Ich| beginne: Norbert Sternmut ist wieder da. Erneut sprachlich prägnant, mit teilweise kurzen minimalistischen Sätzen, keinem Einheitsblabla, mit viel Liebe zum sprachlichen und szenischen Detail und immer noch – oder noch mehr? – mit einer gewohnt exzentrischen Mischung aus Sex, Crime und einem Hauch von Entrücktsein, Anderssein.

Ich leugne es nicht, ich habe ein Faible für Norbert Sternmuts Texte, weil sie so anders sind. Weniger vom Stil her, als vielmehr von der Umsetzung seiner Themen, seiner Plots, seiner Figuren. Sternmuts Charaktere haben etwas Alltägliches, etwas, das in uns allen steckt, uns sofort mit ihnen vertraut macht. Aber auch – und das macht die interessante Mixtur aus – etwas, das uns fremd ist, uns teilweise erschreckt, das wir – vor allem – nicht sehen wollen, das uns aber auch einen Spiegel vorhält. Etwas über uns Menschen, unsere Gesellschaft, unser eigenes Verhalten und unsere Bigotterie.

Norberts Sternmuts Romane sind keine reinen Unterhaltungstexte. Wenn man sie auf sich wirken lässt, erkennt man darin vielschichtige psychologische Aspekte, besonders dort ,wo wir als Menschen an unsere Grenzen stoßen. So ist es in „Marlies“ ein Mann, der z. B. erst dann erkennt, dass er das wahre Glück, die wahre Liebe längst an seiner Seite hat, nachdem er sie betrogen und hintergangen hat und jener Frau, Marlies, die ihm schon einmal zum Verhängnis wurde, wieder erliegt, sich ihrem sexuellem Reiz nicht entziehen kann. Nicht entziehen will. Aber auch seine Selbstzweifel, sein offensichtliches menschliches Versagen ist uns nicht fremd, wenn wir ehrlich in uns horchen.

Wieder wird in diesem Krimi – wie in dem Vorgänger – nicht klar: Ist die Handlung real oder fiktiv, ist sie nur dem Gehirn des Schriftstellers entsprungen oder nicht? Und genau das macht einen zusätzlichen Reiz dieses Buches aus! Es lässt uns Raum für unsere eigene Interpretation und Phantasie. Daher: lesen, lesen, lesen!

Nun muss ich leider, so ist das im Leben, auch zum Negativen kommen. Wie immer hat jede Medaille zwei Seiten – schauen wir uns daher das Handwerkliche an:
Zuerst ist es von Verlagsseite nicht optimal gewählt, eine Trilogie in gänzlich abweichender Aufmachung zu präsentieren. Band eins kam als recht unscheinbares Paperback daher – preislich für einen Kleinverlag angemessen. „Marlies“ präsentiert sich nun als Hardcover zum entsprechend stolzen Preis von 18,80 €. Da erwarte ich als Käufer natürlich auch eine erstklassige Lesekost. Leider ist schon das Cover nicht optimal gewählt, aber darüber ließe sich ja noch streiten, |aber| – das große ABER – über den Satz lässt sich nicht streiten! Da werden Szenen, sogar Dialoge auseinandergerissen und man fragt sich: Wird hier auf Seitenzahl geschunden? Was letztendlich ärgerlich ist, umso mehr, da dies auch noch erheblich den Lesefluss stört. Ganz katastrophal ist aber, wenn dann auch noch Hurenkinder, Hammellücken und Ähnliches den Satz verunzieren. Da war kein Meister seines Fachs am Werke. Auch das Lektorat – soweit überhaupt eines erfolgt ist – hat keine gute Arbeit geleistet. Da hat der Verlag ganz offensichtlich am falschen Ende gespart. Er hätte besser ein gutes Paperback mit noch besserem Inhalt angeboten. So ist es eine Mogelpackung geworden, was mich gerade im Falle Norberts Sternmuts ärgert, denn ich wünsche einem Ausnahmeautor wie ihm bessere Verlagsarbeit. Er hat es verdient!

Fazit: Ein äußerst lesenswertes Buch mit verlegerischen Mängeln, die dem Autor nicht angelastet werden sollten. Also: |Kaufen!|

http://www.wiesenburgverlag.de/
http://www.sternmut.de

Elrod, P. N. – Blutjagd. Ein Vampir-Krimi

Auf die Idee muss man erstmal kommen: Ein Vampir als Detektiv. Bereits 1990 hatte die amerikanische Autorin P. N. Elrod den Einfall für diesen genialen Kunstgriff. (Und war damit dem vampirischen Detektiv Nick Knight in der gleichnamigen Serie um zwei Jahre voraus.) Im Auftaktroman zu ihrer Serie um den „Vampirdetektiv Jack Fleming“ machte sie Jack kurzerhand zum Vampir und ließ ihn im Chicago der 30er Jahre mit Hilfe seines neu gewonnenen Freundes Escott seinen eigenen Mord aufklären. Da Jack sich in Luft auflösen und Menschen durch Hypnose beeinflussen kann und darüber hinaus ziemlich unverwüstlich ist, wäre Escott – der eigentliche Detektiv – ein Dummkopf, würde er sich nicht Jacks Hilfe bei einigen brenzligen Fällen bedienen.

Doch ein klassischer Fall präsentiert sich in der Fortsetzung „Blutjagd“ zunächst nicht. Stattdessen beobachten wir Fleming dabei, wie er es sich in seiner vampirischen Existenz gemütlich macht. Bobbi, die Barsängerin aus dem Vorgängerroman, ist nun Jacks Freundin und erfreut sich an den speziellen Zuwendungen, die man von einem untoten Bettgenossen erfährt. Jack fühlt sich so wohl in dieser neuen Beziehung, dass er die Zeit für gekommen hält, seine Suchanzeige in den großen Zeitungen des Landes zu stoppen und Maureen aufzugeben. Sie war nämlich die Vampirin, die Jack durch ihren Biss verwandelt hat. Die beiden verband eine heiße Affäre, bis Maureen sich plötzlich absetzen musste. Seit fünf Jahren nun sucht Jack per Annonce nach ihr – bisher ohne Erfolg. Nun jedoch beschließt er, diesen Abschnitt seines Lebens als erledigt zu betrachten und die wöchentlichen Anzeigen einzustellen.

Doch offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass dies einigen windigen Gestalten auffallen würde. So hängen sich plötzlich zwei unfähige Vampirjäger à la „Tanz der Vampire“ an seine Fersen, fuchteln mit Holzkreuzen vor seiner Nase herum und belästigen seine Familie. Außerdem taucht ganz plötzlich Maureens Schwester auf – mittlerweile über 70 Jahre alt und ebenfalls auf der Suche nach Maureen. Wie soll Jack die Vampirjäger loswerden, ohne sie zu töten? Und sagt Maureens Schwester tatsächlich die Wahrheit? Man kann sich sicher sein, dass Elrod im Verlauf einige Kehrtwendungen für den Leser parat haben wird. Langweilig wird es also garantiert nicht!

Wer zu Beginn des Romans den echten und geradlinigen Mordfall vermisst, der wird schnell entschädigt. P. N. Elrod legt mit „Blutjagd“ zwar erst den zweiten Teil ihrer Serie um Jack Fleming vor, doch schon hier taucht sie tief in die Geschichte der Vampirliteratur ein und flicht viele mehr oder minder auffällige Anspielungen in ihre Handlung ein. So verschlägt es (einen noch menschlichen) Jack Fleming in New York in den Buchladen eines Spinners, der okkulte Bücher sammelt. Fleming ist auf der Suche nach „Varney, the Vampire“ und zwischen ihm und dem Buchhändler entspinnt sich ein unterhaltsames Gespräch über die Existenz von Vampiren, die Frage, ob es Dracula wirklich gab und diverse Klassiker der Vampirliteratur. Ein echtes Fest für Fans des Genres!

Ebenso erheiternd ist das Zusammentreffen von Jack mit den beiden Vampirjägern, die offensichtlich Ted Brownings „Dracula“ einmal zu oft gesehen haben und vor Theatralik nur so strotzen. Vermutlich können sie es Jack auch nicht verzeihen, dass er nicht ständig im Theatercape herumläuft. Die beiden heften sich wie zwei Zecken an die Fersen des Vampirs, der eher amüsiert als wirklich verängstigt ist. Die Attacken des dynamischen Duos wehrt er mit Sarkasmus und Gutmütigkeit ab, doch die selbst ernannten Retter der Menschheit geben einfach keine Ruhe und schrecken schließlich auch nicht davor zurück, Unschuldige mit in den Tod zu reißen. Elrod rechnet hier mit dem Bild des Vampirjägers nach dem Muster von van Helsing ab. Für sie ist der Vampir nur ein Mensch mit besonderen Eigenschaften. Der Jäger aber ist das eigentliche Monster – nur fähig zu zerstören, was nicht so ist wie er, anstatt das Potenzial in dieser Andersartigkeit zu erkennen, wie z. B. Jacks Freund Escott es tut.

Und schlussendlich wird der treue Elrod-Leser auch den Protagonisten ihrer anderen, ebenfalls bei |Festa| veröffentlichten, Vampirserie hier wiederfinden. Jonathan Barrett nämlich, der sensible Gentleman-Vampir aus Long Island, taucht in den Erinnerungen von Maureens Schwester auf, da er bei Maureens Vampirwerdung eine entscheidende Rolle spielte. Man darf hoffen, dass er auch in zukünftigen Romanen kleine Auftritte haben wird, trägt dies doch zu der Attraktivität beider Romanserien bei.

P. N. Elrod ist ein echtes Phänomen. Jeder ihrer Romane ist ein Treffer mitten ins Schwarze und jedes Mal denkt man aufs Neue, dass man so gut schon lange nicht mehr unterhalten worden ist. Doch mit jedem Roman übertrifft sie sich selbst. Ihre Charaktere sind farbenfroh und nicht ohne Humor, ihre Handlung flott und immer vorwärts strebend. Neben Laurell K. Hamilton ist Elrod wohl die amerikanische Autorin, die dem Vampirgenre im Moment die meisten neue Impulse gibt. Es gilt hier also nicht, eine Leseempfehlung auszusprechen. Nein, stattdessen gibt es einen Lesebefehl! Kaufen, lesen, lieben!

|P. N. Elrod bei Buchwurm.info:|

[„Der rote Tod“ 821

[„Der endlose Tod“ 863

[„Der maskierte Tod“ 1582

[„Vampirdetektiv Jack Fleming“ 432

http://www.festa-verlag.de/

Armin Rößler (Hrsg.) – Golem & Goethe

»Golem & Goethe« ist die vierte Science-Fiction-Anthologie aus dem Wurdack-Verlag. Hier soll neuen Talenten die Möglichkeit gegeben werden, neben erfahrenen Autoren veröffentlicht zu werden. Angesichts der Schwierigkeiten auf dem Buchmarkt und in der Science Fiction, speziell im Sektor der Kurzgeschichten, ist allein die Regelmäßigkeit und steigende Qualität der Reihe bewundernswert und zu würdigen. Denn die Vorlieben deutscher Leser liegen ganz klar bei allem anderen als bei Kurzgeschichten. Schade, ist doch gerade dieses Forum eine wichtige Spielwiese für neue Autoren, um ihre Fertigkeiten zu testen.

In »Golem & Goethe« melden sich 21 Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Wort. Hören wir, was sie zu sagen haben:

Golem & Goethe – Stefan Wogawa
Die Titelstory lebt von ihren unwahrscheinlichen Zufällen, aus denen sich neue Wendungen ergeben. Allein schon die Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Frachterkommandanten und seinem Schiffsrechner ist ungewöhnlich und lädt zum Schmunzeln ein. Auf diesem guten Einstieg findet die Erzählung eine sichere Basis. Unterhaltsame Zerstreuung für zwischendurch.

Ball des Anstoßes – Axel Wichert
Phantastische Konflikte zwischen Menschen und Nicht-Menschen, Wichert bezeichnet sie als »Virtuelle« (möglicherweise Roboter, Androiden, …) – ein Meister dieses Themas war zweifellos Isaac Asimov. Schon lange kommt es immer wieder zu Verdrängungen von Arbeitskräften durch Werkzeuge. Was geschieht mit den Menschen in so einem Fall? Wichert gewährt uns einen Blick in die Zukunft hinsichtlich dieses Details: »Virtuelle hielten sich an Vorschriften, aber die besten Hacker blieben die Menschen.« Hervorragend gezeichnete Entwicklung.

Interferenz – Bernhard Schneider
Was mit der harmlosen Zerstreutheit eines Quantenphysikers zu beginnen scheint, entwickelt sich schnell zu unglaublichen Interferenzerscheinungen, die sich die Protagonisten über Paralleluniversumstheorien zu erklären versuchen. Entgegen Einsteins »Gott würfelt nicht!« reichen wissenschaftliche Erklärungen nicht aus. Möglicherweise hat Gott doch seine Finger im Spiel, wenn es um die letzten Geheimnisse des Universums geht. Die Frage bleibt nur, wie durch Interferenzen die Erkenntnis verhindert werden kann.

Berechtigte Fragen – Arnold H. Bucher
Tatsächlich ist völlig unwichtig, was ein Kesslok ist. Und warum man ihn weder beschäftigen noch unterbringen darf. Wichtig sind allein die Berechtigungsnachweise, die uns unsere deutsche Zukunft im Bürokratenland aufzeigen. Absolut vorstellbar, gar so weit weg sind wir davon nicht mehr. Vor einigen Tagen ging die »Berliner Hundehölle« durch die Medien. Ein deutliches Beispiel für die Aktualität der Problematik, selbst wenn die mediale Aufschauklung des Höllenthemas offensichtlichen BILD-Charakter hatte.

Echos – Heidrun Jänchen
SETI ist ein Begriff. Damit im Zusammenhang ergibt der Titel allein schon einen Sinn und bewirkt die Einbildung des Storyverlaufs. Immerhin erweist sich die Assoziation teilweise als Trugschluss und die fragmentarische Erzählweise bewirkt gleichzeitig eine Spannung, so dass es doch noch den Aha-Effekt am Ende gibt. Wie schon bei Jänchens Beitrag zum Vorgänger »Überschuss« ist das Stückwerk der Geschichte etwas schwierig lesbar, summiert sich aber endlich zu einem sinnvollen Gesamtbild.

Trichterbecher wachsen – J. Th. Thanner
Nachbarskonflikte sind die eine Sache, der sich Thanner widmet. Tragisch sind ihre Auswirkungen. Interessant ist die Darstellung der anderen Sache, der Konflikte zwischen Spezies, die sich zumindest einseitig nicht als intelligent erkennen.

Die heilige Mutter des Lichts – Frank W. Haubold
Haubold entwirft eine erschreckende Zukunftsvision, die nur allzu logisch die Fehler der menschlichen Entwicklung ausmerzen will. Nach einer großen Katastrophe kommt es zu einem Neuanfang. Welche menschliche Unart führte zu allem Elend? Krieg. Darum organisiert die PACEM das Leben der Überlebenden. Aber wäre diese Vision mehr als eine Utopie? Ist wirklich der Schrecken aller Kriege nur auf Männer zurück zu führen? Man erinnert sich vielleicht nur des Nibelungenlieds, in dem Krimhild aus Rachegelüsten ein grausiges Gemetzel verursacht. Haubolds Vision liest sich drastisch und zeigt mit unwahrscheinlich kalter Logik einen möglichen Weg.

Die Abteilung für kosmische Täuschungen – Uwe Hermann
Belustigende Unterhaltung für zwischendurch, eine auf die absolute Spitze getriebene Verschwörung.

Kontrolle – Petra Vennekohl
Das alte Lied in neuem Gewand: Privilegierte Gruppen versuchen immer und überall, ihre Privilegien zu verteidigen – um jeden Preis. Was sich als Lösung anbahnt, ist im Vorfeld spürbar, aber durch die Erkenntnis der Protagonisten erhält die Geschichte eine dramatische Note.

Der Schwamm – Axel Bicker
Diese Geschichte kann richtig berühren in ihrer Ausdrucksstärke: Aus Todesangst geborener Forscherdrang führt zu brutalen Methoden und ethischer Unverantwortlichkeit, im Endeffekt doch aus Selbstsucht. Bicker lässt uns an dieser Entwicklung aus der Sicht des Opfers teilhaben. Es scheint wie eine lebendige Abstraktion von Tragödien, die sich in Verbindung von Wissenschaft und Habsucht unter Menschen abspielen.

Weiße Elefanten – Marlies Eifert
Was nicht sein darf, ist nicht. Und nach gegenteiliger Erkenntnis die historische Ausrichtung auf einen völlig nebensächlichen Aspekt. Tragisch.

Roda – Edgar Güttge
Äußerst unterhaltsam, mit viel Witz und Kreativität geschrieben! Güttge wird den Erwartungen voll gerecht. Sein Hang zur Übertreibung macht aus seinen Geschichten wundervolle Komödien, die sich doch an gesellschaftlichen Eigenarten orientieren.

Zwischenstopp auf Prox – Armin Möhle
Gut erzählte Geschichte über Beziehungen – leider kommt ihre Pointe nicht klar zum Ausdruck.

Tod einer Puppe – Nina Horvath
Die Handlungsumgebung ist etwas unvollständig, das tut der Geschichte aber keinen Abbruch: Hier entsteht eine aufwühlende Stimmung. In ihrer Kürze ist die Geschichte perfekt.

Redpointer – Alexander Kaiser
Eine umfangreiche Geschichte, deren Knackpunkt sich in der Darstellung gegen Ende befindet. Die Handlung der Erzählung dient eher der Verschleierung als der Auflösung, es werden aber gleichzeitig gute Einblicke in die Aufgaben der Protagonisten gewährt. Im Endeffekt ordnet sich also die Verschleierung der Erkenntnis unter, so dass eine sehr spannende Geschichte entsteht, deren Umfeld großräumig ausbaufähig ist. Hervorragende Ideen stapeln sich hier.

Hinaus in die freie Natur – Olaf Trint
Nachdem sich die Menschheit vor einer vergifteten Umwelt zurückziehen musste, gelingt Wissenschaftlern die Erneuerung außerhalb der von Menschen bewohnten Bereiche. Dem normalen Menschen ist ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände inzwischen unvorstellbar geworden. Ist er so anpassungsfähig, wie immer behauptet wird? Würde er sich nicht eher von einer völlig fremden Umgebung überfordert sehen? Trint zeigt ironisch und mit guter Erzähltechnik, was eine Flucht vor der Natur nach sich ziehen könnte. Dabei geht er noch radikaler vor als sein großer Vorgänger Isaac Asimov in seinen »Baley«-Romanen.

E T A 7 – Christian Savoy
Die Bedeutung von E T A 7, »Estimated Time of Arrival: sieben Jahre«, geht ziemlich unter in der kompakten Erzählung. Davon abgesehen, entwickelt Savoy die Menschheit unter dem Druck einer potenziellen, unaufhaltsamen Bedrohung und wirft dabei Streiflichter auf Persönlichkeiten der Entwicklung und auf wegweisende Geschehnisse. Sehr fesselnd geschrieben und mit einem der Menschheit entsprechenden dramatischen Ende.

Reproduktion – Melanie Metzenthin
Knackige Geschichte über das Thema der Akzeptanz künstlicher Menschen als echte Individuen.

Cinema Mentale – Thomas Kohlschmidt
Dramatischer Verlauf eines Versuchs, mit einer andersartigen, blutrünstigen außerirdischen Intelligenz Kontakt aufzunehmen. Die thematische Ähnlichkeit zu Bickers »Schwamm« ist erstaunlich und nicht zu übersehen. Fehlgeschlagene Erstkontakte beschäftigen uns anscheinend stark – ein Zeichen unserer unvollkommenen Bereitschaft oder unserer Angst? Eindrucksvoll geschrieben.

Die nach uns kommen – Birgit Erwin
Ein Endzeitszenario aus der Sicht eines Kindes. Das Mädchen versteht nicht die Beweggründe seines älteren Bruders, der die Welt noch vor dem Krieg kannte. Aber durch ihre Augen erhaschen wir einen Hauch der neuen Welt und der brutalen Ausweglosigkeit. Bedrückend.

Der Gravo-Dom – Armin Rößler
Geradlinige Story, deren Entwurf höchst interessant ist. Lowes Gedanke »Ich habe Zeit« widerspricht allerdings seiner Infektion durch die Auftraggeber. Was genau ist mit ihm passiert, als er seinem Ziel so nahe war? Der Umschwung ist schwer verständlich. Unterhaltsam ist die Story aber allemal.

Fazit

Was in dieser Anthologie an Ideenvielfalt und technischen Fertigkeiten zusammenkommt, ist beachtenswert. Dieses Mal gibt es keinen einsamen Favoriten, alle Geschichten sind auf einem sehr hohen Niveau angesiedelt. Fünf Erzählungen heben sich nochmals ein wenig ab. Sie berühren den Leser richtig und stehen für den jeweiligen Charakter ihrer Art: Schneiders »Interferenz« für die Wissenschaft, Bickers »Schwamm« für den Erstkontakt, Güttges »Roda« für überbordenen Humor, Horvaths »Tod einer Puppe« für erschreckende Versuche, Savoys »E T A 7« schließlich für das Kosmische.

Nicht zu vernachlässigen ist das Vorwort zu diesem Band! Selten war ein Vorwort so lesenswert wie dieses; damit hat Rößler scharf vorgelegt, was schwer zu toppen sein wird.

Insgesamt bietet die Sammlung spannende, tief gehende, lustige, düstere und ergreifende Unterhaltung, der sich niemand entziehen sollte. Zwar bleibt das Gefühl von vorwiegend pessimistischen Visionen geprägt, wird aber von humor- und wundervollen Erzählungen gut aufgelockert. Mehr davon!

broschiert, 196 Seiten
ISBN-13: 978-3938065136

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Dash, Mike – Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Welt

Eine kleine Blume, hübsch anzusehen, als Bote des Frühlings geschätzt und selbst ohne grünen Daumen leicht zum Erblühen zu bringen: Das ist die Tulpe, die in ihrer farbenprächtigen Unschuld vergessen macht, dass sie vor knapp drei Jahrhunderten eine ganze Nation in den Ruin zu reißen drohte.

So verzaubert waren die Niederländer einst von der noch seltenen Blume, dass in den Jahren 1633 bis 1637 ein regelrechter Tulpenwahn ausbrach, der Reich und Arm, Bürger, Bauer, Kauf- und Edelmann in den Handel mit Blumenzwiebeln investieren und spekulieren ließ, bis schließlich Preise von umgerechnet bis zu 1,5 Mio. Euro pro Knolle erzielt werden konnten!

Noch spektakulärer war der anschließende Zusammenbruch des Zwiebel- und Schwindel-Imperiums. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum vom schnellen Geld ohne Arbeit und Risiko und hinterließ nicht nur Katzenjammer, sondern eine Gesellschaft, die vor dem Ruin stand.

Der Historiker Mike Dash erzählt diese seltsame Geschichte vom großen Tulpenwahn. Weil sich später sogar die Betroffenen fragten, wie es so weit hatte kommen können, holt der Verfasser weit aus. „Tulpenwahn“ ist auch eine Geschichte der Tulpe. Wer weiß schon, dass sie, die heute in jedem europäischen Frühlingsbeet zu finden ist, aus den Steppen und Hochtälern Zentralasiens kommt? Ausgerechnet die kriegerischen turkmenischen Nomaden, die zum Erobern und Plündern nach Asien kamen, fanden Gefallen an den damals noch schlichten, aber schon bunten „Ur-Tulpen“. Sie nahmen sie mit, um 1050 wurden sie schon in persischen Gärten gezogen, und dann rückten sie mit den Osmanen (oder Türken) über Kleinasien nach Nordafrika und Südeuropa vor.

Den gewickelten Turban – oder „dulbend“ – auf dem Kopf, kultivierten und veredelten türkische Gärtner die nun benamte Blume. Reisende aus dem Abendland fanden Gefallen an ihr. 1559 wuchsen Tulpen im bayrischen Augsburg. Drei Jahre später hatten sie Antwerpen in den Niederlanden erreicht – und dort beginnt unsere eigentliche Geschichte …

Die soll an dieser Stelle nicht vorab erzählt werden. Stattdessen rät Ihr Rezensent eindringlich, sie selbst nachzulesen. Sie beginnt trügerisch harmlos und entwickelt rasch eine Dynamik, der man sich schwer entziehen kann. Der Tulpenwahn ist ein Exempel, wie sich bodenständige und vernünftige Menschen in eine Lemminghorde verwandeln, die ihr Vermögen und ihre Zukunft auf Gedeih und Verderb an eine zerbrechliche Blumenzwiebel ketten, ohne die geringste Ahnung von dem zu haben, was sie da in Gang setzen.

Mike Dash gelingt das Kunststück, die scheinbar trockene Materie zum Leben zu erwecken. Geld verdient man gern, aber wenige Menschen verstehen wirklich, wie dies funktioniert, und kaum jemand interessiert sich dafür. Deshalb ist es dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er ein Kapitel Wirtschaftsgeschichte in ein Kriminalstück verwandeln kann, ohne darüber die Fakten zu vernachlässigen. „Tulpenwahn“ ist ein rundum überzeugendes Sachbuch. Es legt die Fakten schlüssig und spannend dar, räumt mit überlieferten Irrtümern auf (Die Niederländer überwanden den Wahn schneller als dies den Moralaposteln und Sensations-Historikern lieb war), erklärt und begründet, wieso ein solcher Irrwitz beinahe unvermeidlich war, überrascht mit historischen Parallelen vom „Hyazinthenwahn“ bis zum Run auf eine eher exotische Blume, die noch im 20. Jahrhundert diverse chinesische Landstriche erfasste.

Ein Abbildungsteil hilft dem Leser, den Tulpenwahn zu verstehen. So macht der Anblick wunderschön abgemalter Tulpen deutlich, dass die Zucht damals einen Standard besaß, der heute längst nicht mehr erreicht wird. Die niederländischen Tulpen des 17. Jahrhunderts waren Meisterwerke einer vergessenen Blumenzuchtkunst.

Weitere Bilder zeichnen den Siegeszug der Tulpe durch das Osmanische Reich nach, zeigen zeitgenössische Gemälde und Stiche, die verraten, wie präsent diese Pflanze nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kultur war. Faszinierend auch die Kommentare der Künstler, als der Tulpenwahn in sich zusammenbrach. Wer den Schaden hatte, musste schon damals für den Spott nicht sorgen – das übernahmen jene, die sich „klüger“ dünkten bzw. nicht den Mut aufgebracht hatten, sich an der Zwiebel-Spekulation zu beteiligen und nun gut Moralpredigen halten oder lachen konnten.

Immer wieder flicht Dash historische Anekdoten ein, die seine Darstellung meisterhaft kommentieren. Der Obergärtner am osmanischen Herrscherhof ist traditionell auch der Henker; ein hungriger Unglückswurm wird vor Gericht gezerrt, weil er eine Ladung unbezahlbarer Tulpenzwiebeln verspeist hat; vorsichtige Blumenhändler übernachten in ihren Beeten: Das sind die Randbemerkungen, die ein informatives Sachbuch zusätzlich veredeln.

Ian Rankin – So soll er sterben

Das geschieht:

Das Revier St. Leonard‘s im schottischen Edinburgh wurde umstrukturiert, die Kriminalpolizei ausquartiert. Detective Inspector John Rebus hat es nach Gayfield Square verschlagen. Dort ist er im Grunde überflüssig, denn seine Vorgesetzten möchten den querköpfigen Ermittler, der innerhalb der traulichen Filzokratie der Stadt immer wieder für Unruhe sorgt, endlich loswerden und aus dem Job ekeln. Wenigsten ist Detective Sergeant Siobhan Clarke, Rebus‘ Vertraute, mit ihm versetzt worden.

Sein aktueller Fall bringt Rebus nach Knoxland, ein heruntergekommenes Stadtviertel von Edinburgh. Die Ärmsten der Armen hausen in verkommenen Betonbauten. Noch weiter unten in der gesellschaftlichen Hackordnung stehen die Einwanderer und Asylanten, die von einer überforderten und gleichgültigen Verwaltung mit Rassisten und Fremdenhassern zusammengepfercht werden. Einen der ungeliebten Fremdlinge hat es erwischt: Stef Yurgii, ein kurdischer Regimekritiker, der vor der Ausweisung stand, wurde erstochen. Niemand hat etwas gesehen, will der Polizei etwas sagen oder wagt dies zu tun. Ian Rankin – So soll er sterben weiterlesen

Koch, Boris – Dionysos tanzt

_Boris Koch_, Jahrgang 1973, debütierte als Schriftsteller mit einer Erzählung in der Anthologie „Der Alp“ (Hrsg.: Jörg Bartscher-Kleudgen). Das war 1993. Inzwischen hat er mehrere Bücher publiziert, darunter „Ein Mann ohne Gesicht“ (|Festa|-Verlag, 2004) und „Dionysos tanzt“ (|Medusenblut|, 2003). Mit seinem Beitrag „Der Tod im Maisfeld“ ist er in der deutsch-italienischen Anthologie „Psycho Ghost“ vertreten (hierzulande 2004 im |UBooks|-Verlag erschienen).

Boris Koch hat sich auf unheimliche, groteske und sciencefictoide Geschichten spezialisiert. Zwei davon – „Terraforming“ und „Der Tod im Maisfeld“ – haben ihm viel Lob und Anerkennung gebracht (Deutscher Phantastik-Preis, Kurd-Laßwitz-Preis, Deutscher Science-Fiction-Preis). Er ist das Herz des kleinen Phantastikverlags |Medusenblut|, sitzt in der Redaktion des Magazins [Mephisto]http://www.dunkle-welten.de und spielt in der Dada-Pop-Combo AKW zusammen mit Eddie M. Angerhuber und Thomas Wagner.

Koch lebt als freier Autor in Berlin. Näheres auf http://www.boriskoch.de und http://www.medusenblut.de.

„Dionysos tanzt“ ist die dritte Sammlung mit phantastischen Erzählungen von Boris Koch.

_Storys:_
Dionysos tanzt
Ich war dabei
Monoleben
Lesen bildet
Manneskraft
Jo
Die Knochenfrau
Spiegel
Psiegel II – Epilog
Martina

_“Dionysos tanzt“_ war der erste komplexe Band von Boris Koch, den ich gelesen habe. Er startet mit einer „Art Vorwort“, das sich als Titelstory entpuppt und den Leser sofort an den Band fesselt. Dionysos ist der griechische Fruchtbarkeitsgott, aber auch der des Rausches, der Lust & der Musik, der Antagonist von Apollon, der sich für Intellekt und Vernunft verantwortlich zeichnet. Der sehr gelungener Auftakt einer erfreulich unterhaltsamen Kurzgeschichtensammlung.

Dionysos tanzt … mit ihm der Leser in einen Band, der seinen ganz eigenen „Rhythmus“ hat. Geschickt verquickt Boris Koch dabei alte Mythen mit der Moderne, die Plots sind voll aus dem Leben gegriffen, ebenso die Protagonisten. Sie sind keine Helden à la Hollywood, sondern Menschen wie du und ich, mit allen Fehlern und Schwächen, in allen Facetten geschildert. Denn Boris Koch vermag es vortrefflich, mehrdimensionale Charaktere zu erschaffen. Seine Protagonisten sind lebendig, fast greifbar, was zeigt, dass hier ein Autor am Werk ist, der zu schreiben versteht und von dem man gern mehr lesen möchte.

Boris Koch schreibt kurz und fesselnd, was mich persönlich besonders erfreut. Hier ist kein schwafelnder Seitenfüller am Werke, hier sitzt (fast) jedes Wort, hier schreibt einer mit viel Liebe zum Detail. Seine erotischen Szenen sind freimütig und dynamisch, ebenso die übernatürlichen Passagen. Dennoch wirkt nichts an seinem Stil „aufgesetzt“ oder „bemüht“ oder „betont forsch“. Er ist eigenwillig, geprägt von manchmal recht grotesken Ideen, mit einer Prise skurrilem Wortwitz. Und er ist eindeutig |gut|.

Für mich zählen „Manneskraft“, „Jo“ und „Die Knochenfrau“ zu den besten Geschichten, aber im Grunde – und auch das macht die Qualität dieses Bandes aus – gibt es keine wirklichen Schwächen.

In „Manneskraft“ greift der Autor zwar ein gängiges Thema auf: den Pakt mit dem Teufel, verbindet es aber – mit einem Augenzwinkern – mit einem Problem, das jeden Mann in die Bredouille bringen kann: dem vorzeitigen Samenerguss. Was dem Protagonist nach dem Pakt, der bezeichnenderweise mit Sperma und nicht mit Blut geschlossen wird, bleibt, ist eine Dauererektion, die ein fast noch größeres Problem wird und zu einer Lösung führt, die sich als ganz persönliche Hölle für den „Heimgesuchten“ entwickelt …

„Jo“ ist der etwas „eigenartige“ Freund von Tom, der beim Sex seine Frauen durch Halsbisse tötet und somit ein Vampir ist. Aber keiner, der nur auf das Blut seiner Opfer bedacht ist, sondern dessen spezieller Kick der Sex ist. Tom setzt mehr als einmal sein Leben aufs Spiel, als er versucht, seinen Freund davon abzuhalten, bei Vollmond weiteren Opfern ans Leben zu gehen – auf seine ganz spezielle Art und Weise. Das Besondere dieser unterschwellig homoerotischen Vampirgeschichte ist, dass selbst das Böse darin menschlich wirkt.

„Die Knochenfrau“ ist eine völlig „durchgeknallte“ Traumwelt-Geschichte, in der es um den Wunsch nach der wahren sexuellen Befriedigung geht. In dieser Story stellt Boris Koch meines Erachtens seine außerordentliche Phantasie am deutlichsten unter Beweis. Ich will nichts vorwegnehmen, man muss sie einfach |lesen|!

Fazit: Der Kurzgeschichtenband ist großartig und hebt sich durch seine lebendige Erzählkraft von vielen anderen Titeln dieses Genres ab. Kaufen – und vor allem |lesen|!!!

Crouch, Blake – Blutzeichen

Zu schade, dass ich den ersten Teil von „Blutzeichen“, „Bruderherz“ betitelt, noch nicht kenne. Ein Umstand, den ich nach dem Konsum von „Blutzeichen“ schleunigst ändern werde, da die literarische Niederschrift seelischer Abgründe aus der Feder von Blake Crouch fesselnder nicht sein könnte. Meine Herren! Selten zuvor habe ich ein Buch derart verschlungen und dabei mehr als nur Blut und Wasser geschwitzt.

Andrew Thomas, Schriftsteller, geriet im Erstling in die psychopathischen Fänge seines Zwillingsbruders Orson, denen er nur mit viel Glück entrinnen konnte. Orson ist tot und Andrew mittlerweile in Alaska abgetaucht, da er für die begangenen Morde verantwortlich gemacht und polizeilich gesucht wird. Eines Tages erfährt Andrew, dass seine Ex-Freundin bestialisch ermordet wurde und in ihm keimt ein böser Verdacht: Orsons Helfer muss zurück sein, um die Arbeit seines Mentors zu vollenden. Luther Kite ist wieder da, und er wird seinen Weg unbarmherzig zu Ende gehen, wenn sich ihm niemand in selbigen stellt.

So weit die Rahmenhandlung des schweißtreibenden Nervenkitzlers, uns spätestens nach dem ersten Drittel des Buches nicht mehr aus seinen Pranken entlässt. Dabei lässt die Eiseskälte, mit der Luther seine Arbeit verrichtet, ein ums andere mal die Magensäfte brodeln. Es sei also zartbesaiteten Personen abgeraten, sich auf „Blutzeichen“ einzulassen.

Nach einem relativ besinnlichen Beginn dreht Crouch im Verlauf des Buches erbarmungslos an der Spannungsschraube. Wann und wie wird der Psychopath zuschlagen? Was wird Andrew dem entgegen setzen können und wird er am Ende sein Leben lassen müssen? In düsterer, nein, abgrundtief finsterer Atmosphäre graben sich die Seiten ins Gedächtnis und man kämpft unweigerlich gegen den inneren Schweinehund an, der einem das Ende des Tages befiehlt, da man am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrüh zur Arbeit muss. Ich konnte den Kampf eigentlich immer gewinnen, verschlang „Blutzeichen“ gierig bis zum Ende der Storyline. Und die hat es in sich …

Blake Crouch versteht es blind, eine psychologisch bedrückende Atmosphäre zu erschaffen, die im filmischen Sinne Meisterwerken wie etwa David Finchers „Sieben“ in nichts nachsteht. Desillusionierende Alltagsszenarien, Düsternis, Regen und ein Held, der scheinbar übermächtigen Gegebenheiten immer einen Schritt hinterherzuhinken droht. Nichts kann Luther aufhalten! Oder etwa doch?

„Blutzeichen“ ist eines dieser Bücher, die ich Thrillerfans blind ans Herz legen kann. Die Zeichen und Worte spielen geschickt auf der Klaviatur des Grauens und wälzen sich flächendeckend in der Bildsprache des Ekels. Hier ist ein kleiner Minuspunkt zu verzeichnen. Denn auch wenn ich die plastische Darstellung von exzessiver Gewalt als durchaus sinnvoll und dramaturgisch wirksam empfinde, denke ich dennoch, dass „Blutzeichen“ für das Gros der Leserschaft eine deutliche Spur zu heftig ist. Denn „Blutzeichen“ ist ein Paradebeispiel für literarische Grausamkeit und Brutalität in Wort und Schrift.

Wer einen starken Magen hat, nachts gut schlafen kann und mal wieder Bock auf eine wirklich deftige Thriller-Schlachtplatte hat, sollte die paar Kröten auf jeden Fall ausgeben und sich in eine Parallelwelt des Grauens schießen lassen, der man am besten in einem Lesemarathon am Stück erliegt. Ein Tipp noch am Rande: Kauft euch auch gleich noch den Erstling „Bruderherz“. Selbiges werde ich jetzt jedenfalls auch tun!

http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteintb/

Schnett, Beverly – Völker der Sonne. Der Aufbruch der Menschheit in das Sonnensystem

Edition Kaitain ist ein Verlag für Erotik, Phantastik und Wissenschaft. Eine seltsame Kombination, wie sicher nicht nur ich finde, und beim Blick in das dort erschienene Werk „Völker der Sonne“ werde ich auch darin bestätigt, dass das Buch von Beverly Schnett aufgrund der skurillen Verbindungen aus erotischer Freizügigkeit und moderner Science-Fiction nicht ganz so funktioniert, wie man sich dies vielleicht gewünscht hätte.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen bei diesem Buch verschiedene Figuren, die infolge von aneinandergereihten Episoden in den Themenbezug eingeflochten werden. Da wäre als Erste Amal, ein Mädchen deutsch-arabischer Abstammung, das als erste schwerelose Tänzerin Karriere macht. Ihre Geschichte ist recht zügig erzählt. Sie trifft einen guten Freund, tanzt vor ihm, zieht sich aus und schläft mit ihm. Davon selber schwer beeindruckt, startet sie eine Reise in den Weltraum, wo sie ihrer Begabung weiter nachgehen und Karriere machen möchte.

Im nächsten Kapitel wird der Schwerpunkt der Brisanz anderweitig verlagert: Maurice und Manuel leben irgendwo in der Gegend um den Planeten Merkur. Maurice hat sich in seinen Freund verliebt und lässt, um desen Gunst zu erlangen, eine Geschlechtsumwandlung an sich vollziehen. Gemeinsam bekommen sie den Sohn Mari Jose. Während dieser erwachsen wird, geht andernorts der wilde Beischlaf weiter. Mal hier, mal da eine Runde Sex, aber alles total billig dargestellt und wenig sinnlich – von knisternder Erotik keine Spur!

Wie auch immer, Mari Jose wird zum Hauptakteur des nächsten Plots und angelt sich eine recht alte Dame als Partnerin. Aber dies hält nicht für lange, denn wiederum wenige Zeit später unterwirft er sich einem Mann, der vorher schon eine ‚Sicherheitskopie‘ bzw. einen Klon von Mari Jose erstellt hat …

Oh Mann, das hier ist wirklich kein Buch, das man einfach so mal liest. Ziemlich durchgeknallt, was die Autorin hier so alles zusammenschmeißt. Im Grunde genommen geht es allerdings nur um eins, nämlich billige Effekthascherei in Form von vielen bildlichen Sexszenen, die im Endeffekt jedoch mehr abschrecken als antörnen – oder was immer der Zweck dieser Handlungen sein soll. Jeder darf hier mal mit jedem in die Kiste, Tabus gibt es keine. Und dementsprechend wird die komplette, immer wieder zweirangige Handlung vollkommen in den Hintergrund gedrängt, weil gerade wieder Figur A ein Techtelmechtel mit Person B hat.

Ich habe echt keine Ahnung, wer so etwas ernsthaft gut finden soll, denn warum sollte man sich als Liebhaber pornographischer Inhalte die Mühe machen, dieses wirre Buch zu lesen? Die rein visuelle Variante ist da doch weitaus leichter konsumierbar und erforder viel weniger Mühe. Und außerdem: Meistens ist dort die Handlung auch noch sinniger …

Tut mir Leid, aber Beverly Schnett bekleckert sich hier ganz und gar nicht mit Ruhm und überantwortet das eh schon bizarre Thema der vollkommenen Absurdität. Das Ganze dann auch noch mit schlechter Science-Fiction zu mischen, schlägt dem Fass schließlich den Boden aus und zerstört auch noch das letzte bisschen Atmosphäre. Nein, nein, das hier zu lesen gleicht purer Zeitverschwendung – und diese vertane Zeit bereue ich im Nachhinein ganz deutlich!

http://www.edition-kaitain.de/

Walters, Minette – Im Eishaus

Dieser Roman wurde 1992 ausgezeichnet mit dem |John Creasey Memorial Dagger|. In diesem Jahr erschien die Originalausgabe unter dem Titel „The Ice House“. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1994 bei |Goldmann|. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Mechtild Sandberg-Ciletti.

|Handelt es sich bei der Leiche im Eishaus des englischen Landsitzes Streech Grange um die sterblichen Überreste des Hausherrn David Maybury? Seit zehn Jahren fehlt von ihm jede Spur und für die Dorfbewohner gibt es nur eine Erklärung: Phoebe Maybury hat ihren Mann umgebracht. Dass sie sich seit damals mit zwei Freundinnen zu einer geheimnisvollen Lebensgemeinschaft auf dem Landsitz zurückgezogen hat, erhöht das Misstrauen der Leute noch zusätzlich. Und auch Inspector Walsh ist überzeugt, Phoebe endlich den Mord von damals nachweisen zu können. Doch schon bald stellt sich heraus, dass der Fund der Leiche nicht genügt, um das dunkle Geheimnis von Streech Grange zu lüften.|

Minette Walters bewies bereits in diesem Debütroman „Im Eishaus“ ihre Fähigkeit, mehrdimensionale Charaktere zu erschaffen, und lässt darüber hinaus immer wieder geschickt Überraschungsmomente einfließen. Die Lebendigkeit ihrer Texte wird auch durch die Dialoge untermauert, die humorvoll immer eine Prise Ironie erkennen lassen.

„Im Eishaus“ war – nach [„Die Bildhauerin“ 1908 – der zweite Krimi von Minette Walters, den ich las, und hatte daher nach dem großartigen Bildhauerin-Band einen schweren Stand. So gut „Im Eishaus“ auch ist, er hat mich nicht gleichermaßen gefesselt. Dabei fängt er routiniert an:

Ein geheimnisvoller Leichenfund im alten Eishaus raubt den Bewohnern des Landsitzes Streech Grange die Ruhe. Ist der bis zur Unkenntlichkeit verweste Tote etwa David Maybury, der Gutsbesitzer, der vor zehnn Jahren spurlos verschwand und nie mehr auftauchte? Der seinerzeit ermittelnde Inspektor Walsh vermutete, dass die Ehefrau, Phoebe Maybury, ihren Gatten ermordete, konnte ihre Schuld aber nicht beweisen – eben weil keine Leiche gefunden wurde. Nun aber scheint er Phoebe Maybury endlich überführt zu können. Zur Seite steht ihm sein Assistent Sergeant Andy McLoughlin, der gerade von seiner Frau verlassen wurde.

Die Gerüchte um Mrs. Maybury werden immer weitgreifender. So soll sie nicht nur ihren Ehemann, sondern auch ihre Eltern beseitigt haben und mit ihren Freundinnen, der Innenarchitektin Diana Goode und der Journalistin Anne Cattrall, die seit knapp zehn Jahren mit in ihrem Haus leben, eine lesbische Beziehung haben. Auch gottlose Praktiken wie Hexenrituale und Satanskult werden den Frauen nachgesagt.

Einer Vorverurteilung steht also nichts im Wege. Die Dorfbewohner glauben allzu bereitwillig das, was sie glauben wollen. Nur die Aussage des Dorfplayboys passt nicht in das konstruierte Bild. McLoughlin beginnt an der Schuld der Verdächtigten zu zweifeln. Zu undurchsichtig ist das Gutachten des Gerichtsmediziners und zu einseitig sind die Ermittlungen seines Vorgesetzten Walsh. Als wäre das nicht genug, verliebt sich der Sergeant auch noch in die eigenwilligste der drei Frauen. Doch er behält den Überblick. Mit Verstand und Spürsinn gelingt es ihm in letzter Sekunde, einen Mord zu verhindern, und er entdeckt, welches Geheimnis Streech Grange verbirgt.

Dieser spannende, psychologisch vielschichtige Roman enthält alles, was der Leser von einem Krimi erwarten kann. Minette Walters weiß es vortrefflich zu unterhalten und den Leser auf falsche Fährten zu locken. Mal webt sie Indizien ein, die zu beweisen scheinen, dass der Tote der verschollene Maybury ist. Dann aber kommen Fakten ans Tageslicht, die genau das Gegenteil beweisen. Das hält den Spannungsbogen des Romans weitgehend konstant. Und das ohne bluttriefende Knalleffekte.

Die Charaktere sind interessant und mehrdimensional, besonders die Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten! Ihre Stärken und Schwächen beleben den Roman zusätzlich. Aber auch McLoughlin ist ein wandlungsfähiger Charakter. Anfangs verspürt man noch ständig Lust, ihm die spitzen High-Heels in den Allerwertesten zu rammen, so verquer ist sein Auftreten. Und er hat den Spitznamen, den ihm Diana Goode gibt, redlich verdient. Er ist in der Tat ein „Muffel Macho“ – doch dem „Schrumpfhirn“ steht er tapfer entgegen. Denn gerade der Sergeant entpuppt sich als besonders gelungene Schlüsselgestalt der Handlung und wird immer mehr zur Hauptfigur, was dem Plot außerordentlich gut bekommt – besonders als McLoughlin beginnt, Walshs Arbeit kritisch zu beäugen, auch dessen Versuch, ihn zu manipulieren.

Minette Walters zeigt deutlich die menschlichen Abgründe auf, die wohl in jedem von uns schlummern – mehr oder weniger. Auch, wie schnell der „gute“ Nachbar von nebenan mit Verleumdungen und Vorurteilen bei der Hand ist. Ebenso bekommt die Yellowpress ihr Fett weg. Was mir bei Minette Walters immer wieder gefällt, ist die Tatsache, dass sie sich einer leicht verständlichen, wortwitzigen, aber nicht wortverliebten Sprache bedient. Dafür haben es ihre Handlungen und Charaktere umso mehr in sich. Und so sollte es sein.

Wer intelligente Krimilesekost konsumieren möchte, ist bei Minette Walters und somit auch bei diesem Titel an der richtigen Adresse!

Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das geschieht:

Dendales in der englischen Grafschaft Yorkshire, Sommer 1982: In dem abgelegenen entsteht ein Staudamm; in dem See wird der kleine Ort untergehen. Die Einwohner haben sich lange gewehrt, mussten letztlich aufgeben. Ihr Unmut wird jedoch nebensächlich, als in kurzem Abstand drei junge Mädchen spurlos verschwinden und ein viertes angegriffen wird. Angst und Misstrauen wachsen zu Panik und offenem Zorn, als es der Polizei nicht gelingt, die Kinder zu finden.

Für die Dorfbevölkerung ist der Schuldige bald gefunden: Benny Lightfoot, ein eigenbrötlerischer, wunderlicher junger Mann, der sich abseits der Gemeinschaft hält. Die Polizei vernimmt ihn, kann ihm aber nichts nachweisen. Wieder in Freiheit, setzt Benny sich ab. Niemand hat ihn seither gesehen. Dendales wird wie geplant geflutet. Die Einwohner ziehen in den Nachbarort Danby. Langsam gerät die Tragödie in Vergessenheit. Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder weiterlesen

Lehr, Thomas – 42

Die 42 ist eine Zahl, mit der man gerne Gutes verbindet. Man denkt unweigerlich gleich an Douglas Adams, bei dem 42 die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ist, wenngleich diese sonderbare Antwort natürlich ganz neue Fragen aufwirft. Ironischerweise wohnt auch Agent Mulder aus der Mystery-TV-Serie „Akte X“ in Appartement Nr. 42. Sinnbildlich kann man die 42 also auch für die Suche nach dem Unbekannten, nach den unbeantworteten Fragen der Menschheit sehen. Und nun hat der deutsche Autor Thomas Lehr sein eigenes Stück zum Mythos der 42 beigetragen – einen Roman mit eben diesem Titel, in dem es ebenfalls um ein unerklärliches Phänomen geht.

Das Szenario, das Lehr in „42“ entwickelt, ist faszinierend: An einem wunderschönen Sommertag besichtigt eine Gruppe von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern das Schweizer Forschungszentrum CERN, vor den Toren von Genf. Doch es ist kein gewöhnlicher Sommertag. Als die Besuchergruppe um genau 12:47:42 Uhr aus dem Fahrstuhl des DELPHI-Schachtes tritt, ereignet sich ein erschreckend verstörender Störfall: Die Zeit bleibt stehen.

Die Welt rund um die Besuchergruppe wird zur Ewigkeit, alles wirkt wie eingefroren. Nur unsere Besuchergruppe bleibt von den Auswirkungen verschont und kann sich weiter bewegen. Auf die Verwirrung erfolgt schon bald die Ernüchterung. Der Stillstand der Welt ist kein vorrübergehender. Auch am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat hält dieser Zustand an. Fünf Jahre verbringt die Gruppe der „Chronofizierten“ in der Mittagshitze des ewigen 14. August 2000, bevor die Welt sich für magische drei Sekunden weiterdreht, um dann wieder wie erstarrt anzuhalten.

Die Jahre vergehen, die Wissenschaftler des CERN suchen nach einem Grund für den temporalen Kollaps, versuchen zu verstehen und rückgängig zu machen, was die Welt ins Stocken brachte. Derweil richten sich die übrigen Mitglieder der Gruppe ein, lernen mit Stille und Einsamkeit umzugehen. Menschen sterben, Kinder werden geboren. Die „Chronofizierten“ lernen mit der Macht und Ohnmacht der Situation umzugehen. Doch dann sorgt eine Reihe von Mordanschlägen für Unruhe und Seuchen kommen auf …

Der Stillstand der Zeit, das Gefangensein in einer eingefrorenen Wirklichkeit und die Suche nach einem Ausweg, das ist eine für sich genommen faszinierende Vorstellung. Man stelle sich vor, die Zeit würde wirklich, zumindest für einen Moment, still stehen. Alles wäre in der Bewegung eingefroren, alle Menschen in einer Art Wachkoma gefangen, nur man selbst könnte sich durch die Welt bewegen und sie anfassen – als würde man durch eine Fotografie wandeln.

Dass bei Thomas Lehr dieser Zustand obendrein über mehrere Jahre anhält, wirft neben der wissenschaftlichen Begreifbarkeit einige weitere interessante Fragen auf, die sich vor allem auch auf sozialer Ebene stellen. Wie gehen die Bewegungsfähigen mit ihrem Schicksal in einer bewegungsunfähigen Welt um? Wie arrangieren sie sich mit ihrer komatös erstarrten Umwelt? Wie entwickeln sie sich als Gruppe? Und wie fühlt man sich, wenn nach fünf Jahren der lange herbeigesehnte Ruck einsetzt, der die Welt wieder in Gang setzt, nur um drei Sekunden später wieder alles anzuhalten? Es sind die wissenschaftlichen und sozialen Fragen, die das Ereignis aufwirft, die „42“ so faszinierend machen. Zumindest, solange man sich nur mit dem grundlegenden Ereignis und dem Klappentext befasst.

Lehr erzählt die Geschichte aus der Sicht des Journalisten Adrian, der einerseits die Versuche der Wissenschaftler beobachtet, die Zeitpanne rückgängig zu machen, und andererseits auch seine eigenen Wege durch die im Dornröschenschlaf liegende Welt geht. Ganz wissenschaftlich erzählt er den Werdegang der Gruppe und den Verlauf der Ereignisse anhand von fünf Phasen, die die Gruppe durchlebt:
|“1. Schock
2. Orientierung
3. Missbrauch
4. Depression
5. Fanatismus“| (S. 18)
Diese Phasen bestimmen ganz wesentlich die Entwicklung der Gruppe auf sozialer Ebene und zeichnen den Handlungsverlauf vor.

Ein großer Teil der Faszination des Ereignisses verliert sich aber leider schon nach wenigen Seiten. Die aufgeworfenen Fragen beschäftigen uns als Leser weiterhin, doch die Art, wie Lehr den Leser mit seinen Figuren, dem temporalen Kollaps und der daraus resultierenden Handlung konfrontiert, dürfte so manchen Interessierten ziemlich vor den Kopf stoßen. Lehr macht es dem Leser alles andere als leicht, in die Handlung einzusteigen und seinen Schilderungen zu folgen.

Ich persönlich war schon gleichermaßen erstaunt und verwirrt, als ich den Anfang des Buches, für den Lehr bereits 2002 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet wurde, hinter mich gebracht hatte. So richtig begreifen konnte ich nicht, was Lehr dort schildert. Vieles ergibt erst wesentlich später Sinn, denn im Grunde wirft Lehr dem Leser die Puzzleteile zum Verständnis nur bröckchenweise hin. Der Klappentext lobt „42“ gerade auch wegen der |“funkelnden und souveränen Sprache“|. Aus meiner persönlichen Sicht wirkt das schon fast ironisch, denn für mich ist gerade die Sprache die größte Barriere zwischen Leser und Autor – eine Barriere, an der so mancher Leser scheitern dürfte.

Die ganze Geschichte wirkt wie durch eine halbtransparente Gardine betrachtet. Der Leser steht draußen vor dem Fenster und versucht einen Blick auf die drinnen sich im Licht bewegenden Figuren zu erhaschen. Schattenhafte Schemen lassen sich erkennen, Bewegungen und Aktivitäten erahnen, aber so sehr man sich die Nase auch an der Fensterscheibe platt drücken mag, die Gardine schluckt sämtliche Blicke und die Handlungen bleiben diffus. Diese halbtransparente Gardine ist Lehrs |“funkelnde und souveräne Sprache“|.

Er wirft mit Fremdwörtern um sich, konstruiert verschachtelte Sätze, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen suchen und sich auch schon mal über Zweidrittel der Seite erstrecken, um an anderer Stelle dann mit unvollständigen Dreiwortsätzen daherzukommen. Obendrein verwirrt er den Leser mit seiner abstrakten Symbolik. Manche Passagen muss man zwei- oder dreimal lesen, nur um sie dann immer noch nicht so ganz verstanden zu haben.

Es wirkt so, als wäre es Lehr gar nicht so wichtig, ob der Leser ihn versteht oder nicht. Er scheint in irgendeiner abgehobenen Sphäre sprachlicher Selbstverliebtheit seinem Ego zu frönen. Und so kann man es eigentlich keinem Leser verübeln, wenn er das Buch nach wenigen Kapiteln bereits entnervt aus der Hand legt. Lehr verlangt dem Leser enorm viel ab, sowohl mit seinen sprachlichen Mitteln und dem verwirrenden, ironischerweise in der Zeit sprunghaften Erzählstil, als auch mit den vielen unverständlichen Begriffen, für die er nicht einmal ein Glossar anhängt. Während der Lektüre hin und wieder den Fremdwörterduden zu konsultieren, ist also durchaus ratsam.

Was den potenziellen Leser sprachlich erwartet, sei an einem Beispiel verdeutlicht: |“Dass ich für Karins Aufenthalt die gesamte deutsche Ostseeküste in Erwägung ziehen musste, gab ich den anderen preis, nicht aber – und wie auch? -, dass ich ein zerrissener Mann war, verschlagen auf die calvinistische Insel der Zeitschiffbrüchigen mitsamt einem befreundeten Arbeitskollegen und dessen Frau, die ich wenige Wochen zuvor in einem Fotolabor aus beruflichen Gründen aufgesucht und unversehens geküsst hatte in einem diffus glättenden, plötzlich mitleidlosen und pornografischen Rotlicht, das uns die Geschlechtsorgane freilegen ließ und hastig bearbeiten, für beide Seiten wohl erschreckend professionell, wie routinierte Lustnotfallhelfer, die vor nichts zurückschrecken dürfen (das aus der Hülle gleitende stumpfe Skalpell, der Tränengeschmack deiner klaffenden violetten Wunde, später, auf meinen Fingerkuppen) und keine Zeit zu verlieren zu haben, zu Recht, denn wir hatten nur wenige Minuten, bevor Annas Handy uns zur Vernunft brachte oder zur Feigheit bis auf den heutigen Tag, an dem uns kein elektrisches Klingeln mehr aufschrecken kann und nichts an Zeit mehr zu versickern oder wegzudriften scheint, wenigstens in dem enormen räumlichen Außerhalb jenseits unserer Körper.“| (S. 102/103) Das war in der Tat nur ein einziger Satz …

Lehrs sprachliche Mittel erschaffen in jedem Fall eine Distanz zum Leser. Man tut sich nicht nur schwer, die Handlung nachzuvollziehen, auch die Figuren rund um die Hauptfigur Adrian bleiben einem seltsam fremd, fast schon gleichgültig. Man fiebert nicht mit, staunt höchstens über die Welt, durch die die Protagonisten wandeln. In manchen Momenten kommt man nicht umhin, Lehrs Umschreibungen der eingefrorenen Welt als treffend zu bezeichnen. In Momenten, in denen man ihm folgen kann, geht von seinen Worten in der Tat eine gewisse Sprachgewalt aus. Doch das sind eher seltene Glanzpunkte in einem ansonsten oft fast hoffnungslos verworrenen Erzählstil.

Auch der Spannungsbogen hat darunter zu leiden. Ist es erst noch die Betrachtung der Menschen, die teils auf wirklich groteske Weise erstarrt sind, die den Leser fasziniert, so verliert sich dieser Effekt mit der Zeit und die Handlung dahinter tut sich etwas schwer damit, in Fahrt zu kommen. So wenig, wie der Leser anfangs in die Handlung eintauchen kann, so wenig wird er auch durch einen spannenden Handlungsverlauf bei der Stange gehalten.

Das ist alles sehr bedauerlich, in Anbetracht eines preisgekrönten Autors, eines prämierten ersten Kapitels und eines immerhin für den Deutschen Buchpreis 2005 nominierten Romans. „42“ ist in jedem Fall ein Paradebeispiel dafür, wie Lesereindruck und hochrangige Literaturkritik in ihrer Einschätzung divergieren können.

„42“ dürfte die Meinungen sehr stark spalten, denn entweder man bewegt sich als Leser in der gleichen Sphäre wie der Autor und kann ihm folgen, oder man findet erst gar keinen Zugang zu seinem Werk. Hier scheint es nur diese beiden Extreme zu geben (wie beispielsweise auch ein Blick auf die Kundenrezensionen bei Amazon.de offenbart) und in meinem Fall ist bedauerlicherweise das Letztgenannte zutreffend. Schade, denn das gesamte Szenario ist für sich genommen außerordentlichen vielversprechend.

[Verlagsseite zum Buch]http://www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=5326

Diociaiuti, Walter & franc´O´brain (Hrsg.) / Gruber, Andreas / Koch, Boris / von Aster, Christian / – Psycho Ghost

|Diese Anthologie mit Horrorgeschichten deutscher und italienischer Autoren hat es in sich. „Psycho Ghost“ vereint einige der wohl bekanntesten und vielversprechendsten Schriftsteller aus diesem Genre mit zum Teil exklusiven Geschichten in einem Buch.|

Die Anthologie „Psycho Ghost“ war der erste Titel, den ich von |UBooks| unter die Lesefuchtel bekam, und ich muss sagen: Er ist sehr ordentlich geraten! Diese Horroranthologie mit deutschen und italienischen Autoren ist besser als manch andere, die ich in letzter Zeit lesen „durfte“. Dafür verbürgen sich vor allem die deutschen Autoren wie u.a. Andreas Gruber, Boris Koch, Jörg Bartscher-Kleudgen, Thomas Wagner, Christian von Aster, Malte S. Sembten, Eddie M. Angerhuber, frank’O’brain …

Allzu häufig denke ich beim Rezensieren einer Anthologie, in der der Herausgeber auch als Autor auftritt: „Hätte er sich das doch erspart“ (und den Lesern!). Da mache ich künftig auch bei meinen selbst herausgegebenen Anthologien keine Ausnahme. Aber auch hier ist „Psycho Ghost“ eine Ausnahme. Die Story „Villa Süßertod“ des Herausgebers frank’O’brain brilliert mit dem interessantesten Plot über eine sehr sexhungrige und mordlustige Pipi Langstrumpf. Aber auch „Nachtfalter“ von Christian von Aster weiß zu faszinieren. „Geistzeit“ von Jörg Bartscher-Kleudgen, ein Meister des filigranen Grusels, ist zwar nicht unbedingt der pure Horror, aber die Story bringt eine melancholische Stimmung und Aura herüber, die mich an den „Schimmelreiter“ erinnerte.

„Ein Wurm namens Ewigkeit“ von Thomas Wagner ist vielleicht die beste Story des Bandes. Da stimmt einfach alles: Stil, Plot, Atmosphäre … „Kein Netz“ von Jörn Zander war die erste Story, die ich von dem Autor gelesen habe, und sie ist wirklich gelungen und macht Lust auf mehr. „Rock the Road“ von Malte S.Sembten erinnerte mich zwar ein wenig an „Christine“ von Stephen King, aber die Story ist grandios erzählt! Hier beweist Sembten einmal mehr, dass er zu schreiben versteht. „Die Enthüllungen des Raupenwolfs“ von Eddie M. Angerhuber verdeutlicht die morbide Erzählkunst der Autorin.

Die Geschichten der italienischen AutorInnen sind teilweise vom Plot her interessant, aber hier hätte bei einigen ein strengeres Lektorat gut getan. Positiv dabei: Das Lektorat ist zwar nicht fehlerfrei (aber welches Buch ist das schon?), aber im Vergleich mit Titeln anderer Kleinverlage, die ich in der letzten Zeit rezensiert habe, deutlich sorgfältiger. Dennoch hätte aus den ausgezeichneten Storys ein strengeres Lektorat noch mehr gemacht. Dazu kann ich |UBooks| für zukünftige Veröffentlichungen nur raten – es würde sich bezahlt machen!

_Unterm Strich_: Ein lesens- und kaufwertes Buch, das manch andere Horror-Anthologie locker in den Schatten stellt.

_Übersicht:_

„Krähenschreie“ von Kathleen Weise
„Superbaby“ von Walter Diociaiuti
„Medusa“ von Andreas Gruber
„Durchsichtige Welten“ von Riccardo Coltri
„Der Tote im Maisfeld“ von Boris Koch
„Unendliche Liebe“ von Gianfranco Nerozzi
„Geistzeit“ von Jörg Bartscher-Kleudgen
„Bissige Küsse“ von Andrea G. Colombo
„Kein Netz“ von Jörn Zander
„Yuri“ von Massimo Perissinotto
„Ein Wurm namens Ewigkeit“ von Thomas Wagner
„Komm mit uns!“ von Gaetano Ristretta
„Nachtfalter“ von Christian von Aster
„Ein Kinderspiel“ von Nicola Lombardi
„Der Pool“ von Ulla Schill
„Beghy“ von Massimo Ferrara
„Rock the Road“ von Malte S. Sembten
„Die Graue“ von Barbara Becheroni
„Der Auftrag“ von Thomas Gleich
„Villa Süßertod“ von franc´O´brain
„Die Enthüllungen des Raupenwolfs“ von Eddie M. Angerhuber
„Der Würmertanz“ von Paolo Di Orazio

http://www.ubooks.de