Archiv der Kategorie: Sachbuch

Erik Larson – Isaacs Sturm

Die Zuversicht allumfassenden Wissens

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint der Mensch erstmals und endlich in der Lage zu sein, die Welt zu verstehen und nach seinem Willen zu formen. Details machen ihm noch zu schaffen, aber auch das wird sich binnen kurzer Zeit gewiss ändern. Der berechtigte Stolz darauf, was Technik und Wissenschaft in den geschaffen haben, geht freilich leicht in Hybris über. Diese Lektion muss die aufstrebende Weltmacht USA im Sommer des Jahres 1900 auf grausame Weise lernen.

Vielleicht ist gesunder Menschenverstand zu viel verlangt für ein nationalstolzes Land, das sowohl energisch als auch erfolgreich daran arbeitet, politisch und militärisch seine Konkurrenten auszuschalten. Gerade erst haben die Vereinigten Staaten einen Krieg mit Spanien vom Zaun gebrochen, mit geradezu spielerischer Leichtigkeit gewonnen und die karibische Kolonie Kuba in ihren Besitz genommen.

Isaac Cline ist der perfekte Repräsentant der neuen Zeit. Der junge Mann stammt aus relativ einfachen Verhältnissen, doch mit seinem messerscharfen Verstand, seiner nie versiegenden Energie und seinem unerhörten Arbeitseifer gelingt ihm die Realisierung des „Amerikanischen Traums“, der ihn binnen weniger Jahre zu Reichtum, Anerkennung und gesellschaftlichem Aufstieg führt. Clines Interesse gilt dem Wetter und vor allem der Möglichkeit, es vorauszusagen. Um 1900 beginnt sich die Meteorologie von einer Schwarzen Kunst in eine Wissenschaft zu verwandeln und in ein Politikum: Unter der Flagge der Vereinigten Staaten fährt um die Jahrhundertwende eine der mächtigsten Flotten der Welt.

Wissen ist tatsächlich Macht

Die größte Gefahr droht diesen Schiffen nicht von ihren Feinden, sondern von unvorhergesehenen Stürmen auf hoher See. Besonders in der Karibik, dem gerade gewonnenen Vorhof der jungen Großmacht, gehen auf diese Weise jährlich zahlreiche Schiffe und ihre Besatzungen buchstäblich zugrunde. Die besonderen Wetterverhältnisse führen über dem Golf von Mexiko in jedem Sommer zur Entstehung von Hurrikans, gewaltigen tropischen Wirbelstürme, die von ihrer Wiege, dem afrikanischen Kontinent, über den Atlantik kommend, entlang der Küstenlinie des nördlichen Südamerikas und Mittelamerikas eine Kurve nach Nordosten über die USA schlagen und dabei alles verwüsten, was ihren Weg kreuzt.

Zu den besonders gefährdeten Bundesstaaten gehört Texas, das dem Europäer eher durch Prärien und kleine Städte des Wilden Westens präsent ist, tatsächlich jedoch über eine lange Küste zum Golf von Mexiko verfügt. Hier liegen die beiden Städte Houston und Galveston, die um 1900 darum wetteifern, zur Hauptstadt ihres Staates zu werden. Die Waagschalen neigen sich allmählich zu Gunsten Galvestons. Das US Wetteramt siedelt seinen Chef Meteorologen für Texas hier an, da Galveston einen Logenplatz auf die labile Wetterlage der westindischen Region bietet.

Seit gut einem Jahrzehnt steht Isaac Cline der angesehenen Wetterstation in Galveston vor. Er gehört zur Prominenz der Stadt, hat nebenbei Medizin studiert, schreibt Artikel über seine Arbeit, gibt Vorlesungen und hat sogar die Zeit gefunden, eine Familie zu gründen. Alles ist planmäßig gelaufen im Leben Clines, der im Jahre 1900 auf der Höhe seiner Karriere steht. Er glaubt alles über das Wetter zu wissen, was die moderne Meteorologie, als deren hervorragender Vertreter er sich ohne falsche Bescheidenheit sieht, herausgefunden hat. Dass er sich quasi anmaßt, die Naturgesetze zu diktieren, ist ihm nicht bewusst. Hurrikans, davon ist Cline überzeugt, kündigen sich durch unverwechselbare Vorzeichen an. Solange er diese nicht am Himmel erkennt, wird es ergo auch kein Unwetter geben.

Ein verhängnisvoller Irrtum

Der große Hurrikan von 1900 will sich nicht in Clines Weltbild fügen. Eine Reihe klimatischer Ausnahmebedingungen lässt ihn direkten Kurs auf Galveston nehmen. Die Katastrophe naht nicht unbeobachtet, doch Cline, der den Himmel über Galveston und die Gezeiten beobachtet, kommt zu dem Schluss, dass der Sturm sich auflösen wird, bevor er die Stadt erreicht. So gibt es für die Bürger von Galveston keine Vorwarnung. Ahnungslos gehen sie ihren alltäglichen Geschäften nach, während der Hurrikan sich über dem Golfstrom nähert und dabei eine gewaltige Flutwelle vor sich aufzuschieben beginnt.

Galveston ist eine Boomstadt, die praktisch planlos und genau dort an der Küste errichtet wurde, wo es zwischen Meer und Land keinerlei Hindernis gibt, die eine Flutwelle brechen oder einen Sturm ablenken könnte. Die Bürger haben es aus Bequemlichkeit und Kostengründen nie für nötig befunden, einen schützenden Damm zu bauen. So nimmt das Verhängnis seinen ungehinderten Lauf: Binnen weniger Stunden wird Galveston ausgelöscht. Mindestens 6000 Menschen, vielleicht aber auch die doppelte Anzahl, verlieren ihr Leben. Genau wird man es niemals wissen, weil sich die Stadt in eine riesige Schlamm und Trümmerwüste verwandelt hat, unter der zahllose Opfer für immer begraben liegen.

Die verdrängte Katastrophe

Der Untergang der Stadt Galveston gehört zu jenen Ereignissen, die aus zunächst unerfindlichen Gründen zu einer Fußnote der Weltgeschichte herabgesunken sind. Bei näherer Betrachtung trifft man allerdings sehr alte Bekannte wieder, die dafür verantwortlich sind: Dummheit, Ignoranz, Selbstgefälligkeit, vor allem aber der tief verwurzelte menschliche Drang, unangenehme Erfahrungen zu verdrängen besonders dann, wenn man sie zwar verschuldet hat, aber selbst nicht betroffen ist.

Die wahre Tragödie ist weniger die Katastrophe selbst, sondern die Tatsache, dass sie in diesem Ausmaß hätte verhindert werden können. Dieser Erkenntnis mochte man sich bisher nicht einmal in Galveston selbst stellen. Dort sang man lieber das hohe Lied des Heldentums im Angesicht der drohenden Gefahr, und am lautesten erklang das Lob für Isaac Cline, den angeblichen Helden, der selbstlos seine Mitbürger noch vor dem Hurrikan warnte, als die Sturmflut bereits ganze Häuserzüge durch die Luft wirbelte. Cline hat persönlich an seinem Denkmal gearbeitet, und das gelang ihm angesichts seines publizistischen Geschicks hervorragend, zumal er so alt wurde, dass er jene, die es besser wussten, in der Mehrzahl einfach überlebte.

Erik Larson hatte es folglich nicht leicht, als er sich daran machte, die Geschichte Galvestons und des großen Hurrikans von 1900 zu rekonstruieren. Der Sturm hat die frühen Archive vor Ort vollständig vernichtet. Aber in den Familien der zahllosen Opfer fand Larson viele Augenzeugenberichte, die ein in dieser Klarheit bisher nicht gekanntes Bild der Katastrophe zeichnen. Die detaillierte Schilderung des Sturms und seiner Folgen ergänzt Larson durch einen ausführlichen Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Ohne würden die Ereignisse in Galveston unverständlich bleiben. Nicht fehlen darf eine Einführung in die Wetterkunde und hier naturgemäß in die Genese großer Wirbelstürme.

Der Leser als Zeuge

Larson wählt für sein Buch die Form des Tatsachenromans. Er schildert, was gewesen ist, scheut sich aber nicht, Lücken durch (allerdings gut abgesicherte) Vermutungen zu schließen. Wie der große Hurrikan vor der westafrikanischen Küste entstand und seinen verhängnisvollen Weg nahm, ist inzwischen geklärt. Larson präsentiert die komplizierten Mechanismen des Wetters verständlich und spannend zugleich. Dies gilt auch für die politischen Intrigen im und um das Wetteramt, die wohl hauptsächlich dafür verantwortlich sind, dass der Sturm ein völlig ahnungsloses Galveston traf.

„Isaacs Sturm“ ist nicht nur die Chronik einer Katastrophe, sondern auch die Tragödie eines Mannes, der (zu) viel wusste und doch unwissend war. Um 1900 benannte man große Stürme nach prominenten Opfern. Larson greift diese Tradition auf. Auch wenn Isaac Cline (1862 1955) das Unglück überlebte und niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, blieb er für den Rest seines langen Lebens gezeichnet: Mit seiner Frau kam sein ungeborenes jüngstes Kind um, und in Augenblicken echter, von Selbstbetrug freier Reflexion begriff Cline durchaus, dass er und sein verehrtes Wetteramt kapitale Fehler begangen hatten.

Eric Larson ist mit „Isaacs Sturm“ zu Recht ein Bestseller gelungen. Mit dem Talent des echten Erzählers behält er die Fäden seiner Geschichte, die den halben Erdball umspannen, jederzeit fest in der Hand. „Spannend wie ein Krimi“ ist ein Urteil, das (viel zu) oft über ein Buch gesprochen wird, doch auf „Isaacs Sturm“ trifft es
zweifellos zu. Wenn es etwas zu bemängeln gibt, dann das Fehlen von Bildern, die es in großer Zahl gibt. Aber das Internet gleicht dieses Manko aus. Die Eingabe der Begriffe „Galveston“ und „hurrican“ genügt, um zeitgenössische Fotos aus der dem Erdboden gleichgemachten Stadt betrachten zu können.

Autor

Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die University of Pennsylvania, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der Columbia Graduate School of Journalism. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.

Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. „Isaacs Sturm“) ihm den Durchbruch und Bestseller-Ruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.

Taschenbuch: 373 Seiten
Originaltitel: Isaac’s Storm. A Man, a Time, and the Deadliest Hurricane in History (New York : Crown Publishers 1999)
Übersetzung: Bettina Abarbanell
http://www.fischerverlage.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Ritter, Ulrike – Tuonuove II – Mering und die Nibelungen

Im mittelalterlichen Nibelungenepos wird die Ortschaft Mering in Schwaben namentlich genannt. Mering galt als Inbegriff einer erfolgreichen Kultivierung der mittelalterlichen Urlandschaft, welche die durchziehenden Nibelungen in fataler Weise missachteten. Die Künstlerin Ulrike Ritter hat dies zum Thema ihrer Bilder gemacht und legt eine experimentelle Dokumentation vor, in der sie die illustrativen Elemente eines Ausstellungskataloges mit der inhaltlichen Intensität wissenschaftlicher Forschung verbindet. Sie stützt sich in ihren Recherchen vor allem auf die Geschichte des Grafengeschlechts Ilsung von Möringen, das als Stifterfamilie der Hundeshagen`schen Nibelungenhandschrift in Frage kommt.

Das Nibelungenlied lässt die Burgunden genau die „tuonuove“ erreichen, wo die Südseite der Donau von der Paar als kleinerem Nebenfluss und moorigen oder auch schon damals kultivierten und landwirtschaftlich genutzten „Inseln“ bestimmt wird. Mit der Durch- und Überquerung von Donau und Paar, der Tuonuove, einer Art kleineres Zweistromland, mit Hilfe des Schiffes des erschlagenen Fährmanns und durch ihre kriegerische Auseinandersetzung mit dem Markgrafen Else und seinem Bruder wird das Vorhaben „Nibelungen“ negativ in einen blindwütigen Kriegszug verkehrt, der voraussichtlich allen das Leben kostet.

Der Markgraf Else, der im Gegensatz zu seinem Bruder Dankwart nicht von den Burgundern erschlagen wird, weist schon wegen seines schnellen Anritts aus Möringen eindeutig auf die Grafen Ilsung hin, auch wegen einer berühmten Kaiserurkunde, eine der Donauinseln betreffend, die Graf Adalbero Ilsung von Möringen und dessen „Moringa“ nennt. In der weiteren Recherche ihrer Familienchronik spricht noch mehr für die Zusammengehörigkeit der erforschten Familien zum Nibelungenlied. Aus einer alten Urkunde aus dem Besitz des Adelsgeschlechts Gossenbrot wurde eine Falzverstärkung für das Hundeshagen`sche Folio erstellt. Eine andere dortige Adelsfamilie, die Gumpenbergs, kaufte im Jahre 1554 die Ortschaft (Probstei) Pförring, die in den Nibelungen ebenfalls namentlich erwähnt wird.

Kriemhild überquert die Donau bei Pförring. Anhand der lang anhaltenden Beziehungen der Ilsungs zu der Hundeshagen`schen Handschrift um 1200, der frühesten der bekannten Handschriften (bis ins 16. Jahrhundert im Besitz der Ilsungs), geht die Künstlerin und Autorin auch auf wesentliche Inhalte des Nibelungenliedes ein. Diese Handschrift wurde im 15.Jahrhundert wahrscheinlich von Sigismund Ilsung neu gebunden. Die Rolle von Markgraf Else und seinem Bruder Dankwart ist in der gesamten Handlung sehr gering, dafür aber hochgradig signifikant. Wie der Bischof von Passau, der ebenfalls nicht mit einem historisch korrekten Namen benannt ist und eine wichtige, historisch-reale Randfigur darstellt, ist der Markgraf Else (für Ilsung) aus Möringen „fast“ korrekt betitelt und damit als Stifterfigur indiziert. Sie komm bei ihrer Untersuchung nebenbei auch zum Resultat, dass der häufig gemachte Unterschied zwischen der Klage als christlichem und dem Nibelungenlied als weltlichem Text nicht nachvollziehbar ist und aufgrund ihrem Hintergrund einer falschen Theorie entspricht. Angefügt sind dann die Bilderserie der Künstlerin in einer radikalen Stilmischung sowie eine CD-Rom.

|74 Seiten, 27 Farbabbildungen, 22 S/w-Abbildungen, mit CD-Rom (Bilder und Texte)
Format 29 cm x 20 cm, Paperback|

http://www.electroniclandscape.de/

Dava Sobel – Die Planeten

Sachlich und poetisch zugleich bringt uns Dava Sobel die Planeten unseres Sonnensystems (plus Sonne und Erdmond) nahe. Nicht wissenschaftliche Vollständigkeit ist das Ziel, sondern der neue Blick auf scheinbar Bekanntes. Sobel macht deutlich, dass neben dem naturwissenschaftlich erfassbaren Sonnensystem gleichwertig jenes Sonnensystem steht, das der Mensch sich in seiner Kunst, seiner Literatur, in seinen Mythen und in seinen Religionen schafft. Sie legt in eleganter, doch verständlicher Sprache schwierige Sachverhalte anschaulich dar und beschert uns eine ungewöhnliche Mischung aus Sachbuch und Gedankenspiel.
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Zeilinger, Anton – Einsteins Spuk

Der bekannte Physiker und Nobelpreisträger [Richard Feynman]http://de.wikipedia.org/wiki/Richard__Feynman prägte einst den Satz „Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass niemand die Quantenmechanik versteht“ und brachte damit die Schwierigkeiten der Quantenphysik auf den Punkt. Dennoch birgt dieses Teilgebiet der Physik eine Faszination, welche sogar auf Nicht-Wissenschaftler überspringt. So wird beispielsweise in |Star Trek|-Newsgroups heftig über Quantenmechanik diskutiert, denn dort gibt es zahlreiche Tüftler, die sich Gedanken darüber machen, unter welchen Bedingungen die Warp-Geschwindigkeit doch möglich ist, obwohl bereits Einstein feststellte, dass Lichtgeschwindigkeit die begrenzende Geschwindigkeit ist (zumindest für Materietransport).

Mit diesen Fragen und noch vielen anderen mehr beschäftigt sich der nicht minder berühmte [Anton Zeilinger,]http://de.wikipedia.org/wiki/Anton__Zeilinger der insbesondere bekannt ist für das Phänomen der „Quantenteleportation“ und der erst kürzlich mit der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität Berlin ausgezeichnet wurde. Ein besonderes Anliegen ist dem österreichischen Physiker aber auch die populärwissenschaftliche Vermittlung schwieriger quantenmechanischer Fragen, die sich oftmals dem gesunden Menschenverstand entziehen. So durfte ich selbst auf einer Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft erleben, wie der große Anton Zeilinger mit strahlenden Augen und einigen Geschichten aus dem Nähkästchen einem teilweise fachfremden Publikum seine Forschungsarbeit vorstellte, sodass jeder einzelne Zuhörer seine Aha-Erlebnisse hatte. Beeindruckt von dieser Leistung, freute ich mich umso mehr auf „Einsteins Spuk“, welches beginnend bei den Grundlagen der Quantenphysik das Feld aufrollt, bis Zeilinger sich auch komplizierten Vorgängen der Verschränkung widmet.

In „Einsteins Spuk“ beginnt Anton Zeilinger tatsächlich bei den grundlegenden Prinzipien der (Quanten-)Physik, er erklärt ausführlich den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes und stellt dabei die bahnbrechenden Experimente vor. Einen besonderen Schwerpunkt legt Zeilinger auf das Doppelspaltexperiment, welches er seine zwei imaginären Physikstudenten Alice und Bob auch durchführen und diskutieren lässt. In Exkursen erzählt Zeilinger über Glasfasertechnik oder auch die [Unschärferelation,]http://de.wikipedia.org/wiki/Heisenbergsche__Unsch%C3%A4rferelation die sich nicht ohne weiteres auf makroskopische Objekte wie ein Auto anwenden lässt. Später erklärt der Autor, was man sich unter der Polarisation von Licht vorzustellen habe und taucht dabei immer tiefer in die Physik ein.

Das Besondere an diesem Buch ist allerdings nicht nur der Inhalt an sich, welchen wohl jeder einigermaßen kundige Physiker hätte erklären können, sondern die Art, wie Zeilinger uns sogar schwierigste Physik präsentiert. In vielen Situationen lässt er seine jungen Studenten Alice und Bob zum Experiment treten und erzählt eigentlich „nur“ die Geschichte dieser beiden neugierigen jungen Studenten. Alice und Bob hören eine spannende Vorlesung bei Prof. Quantinger – dessen Name wohl nicht nur zufällig dem des Anton Zeilinger ähnelt – und führen angespornt von dem neuen Wissen eigene Experimente durch. Angeleitet durch Quantinger und seine Mitarbeiter arbeiten Alice und Bob an verschiedenen Versuchen und diskutieren die Erkenntnisse miteinander. Und genau dies sind die spannendsten Stellen im Buch. Anfangs wissen Alice und Bob nicht viel über die Probleme der Quantenmechanik, doch anhand von ausgewählten Experimenten kommen sie nach und nach der Natur des Lichtes und der [Quantenverschränkung]http://de.wikipedia.org/wiki/Quantenverschr%C3%A4nkung auf die Spur, die Einstein einst „spukhafte Fernwirkung“ genannt hat.

Während Alice und Bob also ihren Lernprozess durchmachen, haben wir teil an ihren Fragen und Gedankengängen. Durch gezielte Fragen und Versuche durchschauen die beiden Physikstudenten immer besser, was bei Quantingers Experimenten wirklich passiert. Und obwohl die beiden natürlich deutlich schneller lernen als der normale Student, helfen sie den Lesern dabei, selbst neue Erkenntnisse zu gewinnen. Alice und Bobs Fragen und Diskussionen sind es, an denen wir uns inhaltlich und fachlich entlang hangeln können und somit schließlich selbst der Quantenmechanik auf die Spur kommen. Fast schon wie ein Roman wird uns hier die Geschichte der Quantenphysik erzählt, sodass man bei der Lektüre zwischendurch sogar vergisst, dass man hier ein populärwissenschaftliches Buch in der Hand hält.

Doch Zeilinger erzählt mehr als nur diese Geschichte, in welcher Alice und Bob zwischen Vorlesung und Experiment hin- und herpendeln. Zwischendurch wohnen wir selbst Quantingers Vorlesung über die [Polarisation]http://de.wikipedia.org/wiki/Polarisation bei und lernen somit zeitgleich mit unseren beiden Protagonisten einiges mehr über das Licht. Methodisch erweist Zeilinger sich als sehr vielfältig, sein populärwissenschaftliches Buch wird aufgepeppt durch Cartoons und nette Anekdoten, außerdem helfen uns viele Bilder dabei, die teils komplizierten Gedankengänge Zeilingers nachzuvollziehen. Dennoch wird es wohl für jeden Leser irgendwann einen Punkt im Buch geben, an dem er fachlich aussteigen muss. Speziell die Bell’sche Ungleichung eignet sich wohl nicht sonderlich gut für die Vermittlung an fachfremdes Publikum.

Aber nichtsdestotrotz schafft Zeilinger es nicht nur, dem geneigten Leser inhaltlich eine Menge neues Wissen mit auf den Weg zu geben, er regt darüber hinaus zum verstärkten Nachdenken über philosophische Konsequenzen der Quantenmechanik an. So wird sich der Leser sicher einige Gedanken darüber machen, was bei der Teleportation eines Menschen passieren könnte oder was wäre, wenn wir wirklich alle keinen freien Willen hätten. Und wer am Ende immer noch nachvollziehen kann, was Anton Zeilinger hier schreibt, der wird sogar erfahren, wie Zeilingers Verschränkungsexperimente im Detail funktionieren und wie Quantenkryptografie prinzipiell abläuft. Inhaltlich hat der Autor hier also eine Menge hineingesteckt, was auf den ersten Blick vielleicht gar nicht auffallen mag. Doch „Einsteins Spuk“ ist nicht nur unglaublich lehrreich, sondern macht darüber hinaus richtig Spaß zu lesen, weil Physik hier nicht nüchtern dargeboten wird, sondern eingepackt wird in eine nette Geschichte, an der jeder interessierte Leser Gefallen finden wird.

So steigt am Ende meine Hochachtung vor Anton Zeilinger noch weiter an, denn wer ein so kompliziertes Teilgebiet der Physik wie die Quantenmechanik so lebendig und interessant darstellen und eingängig erklären kann, der beweist, dass er nicht nur ein begeisterter Physiker ist, sondern sein Wissen auch gerne an andere weitergeben möchte. In diesem Sinne freue ich mich auf seine weiteren populärwissenschaftlichen Werke, die sicherlich nicht minder spannend ausfallen werden!

Severin, Tim – weiße Gott der Meere, Der

Wer kennt ihn nicht – Moby Dick, den weißen Pottwal, ein arger Wüterich, der vom rachsüchtigen Kapitän Ahab, welchem er einst ein Bein abbiss, kreuz und quer über die Ozeane gejagt wird, bis er sich seinem Verfolger endlich stellt und ihn samt Schiff und Mannschaft auf den Grund des Meeres schickt? Hermann Melville gelang 1851 ein literarischer Klassiker erster Güte – ein Abenteuerroman mit psychologischer Tiefe, abgerundet durch ein profundes Wissen über die See. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten liest man [„Moby Dick“; 1144 es gibt mindestens drei Verfilmungen, Hörspiele, Comics und andere multimediale Inkarnationen.

Natürlich war Tim Severin nicht der erste Leser, der sich die Frage stellte, ob denn in Melvilles Geschichte ein wahrer Kern stecken könnte. Deshalb weiß man schon länger, dass in den Weltmeeren tatsächlich permanent missgestimmte Pottwale hausen, welche es denen, die sie mit der Harpune jagen, zu allen Zeiten ordentlich heimzahlten, indem sie deren Fangboote zerschmetterten und die Insassen zerkauten. Unvergesslich ist auch der Untergang des Walfangschiffes „Essex“, das 1820 von einem Pottwal planvoll gerammt und versenkt wurde.

Doch gab es auch einen weißen Pottwal – den wahren Moby Dick? Wie könnte Melville auf den Gedanken gekommen sein, Ahabs Nemesis zu bleichen? Tim Severin ist ein Mann, den man als Berufsabenteurer bezeichnen könnte. Also packte er wieder einmal seine Sachen und beschloss, vor Ort der Sache buchstäblich auf den Grund zu gehen. Herman Melville war mit Fakten nicht geizig. Er ließ die Jagd auf Moby Dick in den bekannten Fanggründen für Pottwale stattfinden. Die sind noch heute bekannt, zumal die Wale ihnen treu blieben. Ahabs „Pequod“ hat es irgendwo im Südpazifik erwischt. Genau dort begann Severin seine Suche. Auf malerischen Inseln mit Fernweh weckenden Namen wie Nuku Hiva, Pamilacan, Tonga und Lamalera stieß er auf wagemutige Männer, die seit Urzeiten Wale und große Fische mit kleinen Booten jagen. Unter Einsatz ihres Lebens springen sie wagemutig gigantischen Walhaien, Mantarochen und Walen ins Kreuz, um ihnen die Harpune direkt in den Leib zu rammen.

Severin erfährt relativ wenig über weiße Wale, umso mehr jedoch über den harten Alltag auf einsamen Inseln, die sich als recht lebensfeindliche Orte entpuppen, die zwar viel Sonne und Sand, aber wenig Nahrung oder Zukunftsperspektiven zu bieten haben. Die kühnen Meeresjäger sind ein aussterbender Menschenschlag; ihre Beute ist durch Überfischung und Umweltverschmutzung fast verschwunden. Mit den letzten Booten fährt Severin mit hinaus aufs Meer und fühlt sich zurück in die Zeit von Herman Melville versetzt. Er erlebt vieles, das von der Forschung anders oder noch gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Schließlich gelingt es ihm sogar, dem weißen Wal zumindest auf die Spur zu kommen …

Moby Dick ist natürlich vor allem ein Chiffre, eine Symbolgestalt, in die sich allerhand interpretieren lässt. Ihn als reales Lebewesen zu betrachten, ist deshalb ungewöhnlich; selbst Melville hat das nur innerhalb bestimmter Grenzen getan. Trotzdem ist die Suche nach dem weißen Wal als Aufhänger für eine Reise in die Ferne gut genug. Tim Severin muss schließlich Sponsoren finden, die ihm den Trip finanzieren … Der Erfolg steht in den Sternen, denn in den 150 Jahren, seit Melville seinen Klassiker schrieb, wurde nie ein weißer Pottwal entdeckt bzw. gefangen oder fotografiert und auf diese Weise unbestreitbar gemacht.

So ist es kein Wunder, dass Severin den vermeintlichen Grund seiner Reise oft aus den Augen verliert. Er lernt stattdessen eine hoch entwickelte Kultur am Ende ihres Weges kennen. Die Fischer und Jäger des Südpazifiks stellen sich ihrer riesenhaften Beute buchstäblich im Kampf Mann gegen Monster. So haben es die Walfänger zu Melvilles Zeiten auch getan. Nur in dieser Konstellation konnte ein Moby Dick zur mythischen Gestalt werden; hundert Jahre später hätten ihn die modernen Walschlächter mit der Harpunenkanone in Stücke geschossen.

Severin ist fasziniert und das teilt sich seinen Lesern auch mit, denn er besitzt die Gabe sowohl zu informieren als auch zu unterhalten. Da stört es nicht, dass er den roten Faden immer wieder aus den Augen verliert, denn er hat immer etwas Interessantes zu erzählen. Für sein Buch hat er ausgiebige Hintergrundrecherchen betrieben. Deshalb weiß er das, was er vor Ort beobachtet, in seinen historischen oder kulturellen Kontext einzuordnen.

Seine Fragen nach dem weißen Wal irritieren die Menschen, die er trifft. Sie haben Wichtigeres zu tun als sich müßig akademischen Fragen zu widmen. Stattdessen stehen sie im Lebenskampf. Severin ist überrascht, als ihm eher beiläufig bestätigt wird, dass es offenbar weiße Pottwale gibt. Sie gelten den Jägern als tabu, weil sie angeblich ihre schwarzen Artgenossen verteidigen oder sogar rächen, gelten aber trotzdem nicht als Sensation, sondern gehören zu einem insgesamt mühseligen Alltagsleben.

Severin kehrt in einem Ringschluss zu seiner Ausgangsfrage zurück: Streitbare Pottwale gab und gibt es, aber ein Moby Dick wie in Herman Melvilles Schilderung hat wohl nicht existiert. Weiße Pottwale mag es geben; Severin hat zwar keine Fotos vorzuweisen, doch es gelang ihm, durchaus überzeugende Berichte von Augenzeugen zusammenzutragen. Im Mittelpunkt seines Reiseberichts stehen indes Menschen, die er als Individuen in ihrer eigenen Lebens- und Glaubenswelt vorstellt, statt sie als glückliche Naturkinder zu verkitschen. Auch die Jagd auf den Wal, der eindeutig intelligent ist und recht grausam zu Tode kommt, wird für die Radikalen unter den Tierschützern nicht eindeutig genug verdammt. Severin sagt, wie es ist: Der Wal bietet den Menschen Nahrung in einer Region, in der es sonst kaum etwas zu essen gibt bzw. man es sich nicht leisten kann. Das ist eine zweckgebundene, archaische Philosophie, die jedoch in diesem Winkel der Welt noch ihre Berechtigung hat.

Nebenbei gelingt es dem Verfasser, dem großen Melville einige allzu menschliche Mogeleien nachzuweisen. Der Autor von „Moby Dick“ hat die Weltmeere befahren, aber er war niemals der große Abenteurer, der selbst mit der Harpune in der Hand Wale jagte oder vor den wilden Menschenfressern der Marquesas flüchten musste. Für solche und andere wüste „Erlebnisse“ hat er eigene Erfahrungen kräftig übertrieben, frühere Reise- und Expeditionsberichte tüchtig ausgeschlachtet und seine Fantasie spielen lassen. Severin betont freilich, worauf es wirklich ankommt: Melville nahm das, was er fand, und schuf daraus mit seinem schriftstellerischen Talent etwas Neues, Originäres. (Er hätte aus heutiger Sicht nur ein wenig offener mit den Quellenangaben sein müssen …)

Wie gesagt gibt es keine Fotos von weißen Walen. Severin hat dennoch seine Kamera mit auf die Reise genommen. „Der weiße Gott der Meere“ liefert in seinem Bildteil Beweise dafür, dass es tatsächlich Menschen gibt, die mit der Harpune in der Hand auf einen Riesenhai oder Wal springen, um ihn auf diese Weise an die Fangleine zu nehmen. Das ist mehr als verblüffend genug und rundet ein angenehmes Lektüreerlebnis ab.

Tim Severin, geboren 1940 und oxfordstudierter Berufsreisender, Autor, Dokumentarfilmer und Lektor, wusste seit jeher, sein Hobby (oder seine Berufung) geschickt zum Beruf zu machen. Klappern gehört zum Handwerk, dieses Motto berücksichtigt er bei der Planung seiner diversen Abenteuer. Seine [Website]http://www.timseverin.net listet sie auf und macht Severins Talent für PR deutlich. So ist er in einem nach zeitgenössischen Quellen rekonstruierten Lederhautboot durch den Atlantik geschippert, um auf diese Weise nachzuprüfen, ob der Hl. Brendan, ein Mönchsmissionar des 6. Jahrhunderts, womöglich schon lange vor den Wikingern und Columbus Amerika entdeckt hat. Von Oman nach China segelte Severin auf den Spuren Sindbads, des Seefahrers aus 1001er Nacht. Weitere Fahrten unternahm er in den Fußstapfen Jasons und Odysseus’, suchte nach dem Grab des Dschinghis Khan, fand die Insel des wahren Robinson Crusoe. Zu jeder Fahrt erschien ein Buch, so dass weitere Unternehmungen der beschriebenen Art folgen werden.

Für seine Taten wurde Severin u. a. mit der Goldmedaille der „Royal Geographical Society“ und der Livingstone Medaille der „Royal Scottish Geographical Society“ ausgezeichnet. Inzwischen ist er auch als Belletrist tätig geworden und hat die „Viking“-Trilogie veröffentlicht, die von den kühnen Taten kerniger Wikinger erzählt.

Radke, Reinhard – Krokodile. Expeditionen zu den Erben der Dinosaurier

Sie sind beileibe nicht nur die Erben der Dinosaurier, sondern bereits deren Zeitgenossen. „Schauplatz Mara“ beschreibt in einer Momentaufnahme, wieso Krokodile so erfolgreich in der Evolution waren und sind. Eindrucksvolle Bilder informieren über eine Stelle am Mara, einem afrikanischen Fluss, wo die Panzerechsen ihre Fähigkeiten als Jäger unter Beweis stellen.

„Komplexe Echsen“ zeigt dann Tiere, die weitaus mehr als Furcht erregende Tötungsmaschinen sind, sondern über ein komplexes „Gesellschaftsleben“ verfügen und durchaus gewisse soziale Kompetenzen unter Beweis stellen. Dazu gehört auch die Sorge um den Nachwuchs, wie die Kapitel „Wiegen im Sand“ und „Mutterpflichten“ belegen.

In „Saurier gegen Säuger“ kehren wir an den Mara zurück. Nun ist der Blick bereits geschärft, was uns Lesern hilft zu verstehen, dass auch Krokodile mit bestimmten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, für die ihre besondere Physis verantwortlich ist – sie sind halt „Archaische Jäger“, die aber aus dem, was die Natur ihnen zur Verfügung stellte, das Beste gemacht haben. Insofern sind sie tatsächlich die „Erben der Dinosaurier“, weil sie mehr als 60 Millionen Jahre Zeit hatten, bei aller Urtümlichkeit auf dem aktuellen evolutionären Stand zu bleiben und beileibe nicht identisch mit den Krokodilen der Erdfrühzeit sind.

Das größte Problem entsteht diesen Tieren ohnehin von anderer Seite. „Der Fänger der Echsen“ beschreibt die Jagd auf Krokodile, die trotz ihrer wundersamen Lebenstauglichkeit dem Menschen nicht wirklich etwas entgegenzusetzen haben. Dies vertieft Verfasser Radke später im Kapitel „Mensch und Krokodil“, wo wir erfahren, dass hier und da Echsen doch den Spieß umdrehen und für ihre menschlichen Opfer wahrlich Albträume wahr werden – böse Überraschungen inklusive, denn wie Radke in „Tödliche Tümpel“ zeigt, sind Panzerechsen auch an Land beweglicher, als man ihnen zugestehen möchte, wenn man sie gemächlich an Flussufern watscheln sieht.

Dennoch sind es primär die Krokodile, für die es hier und heute und in Zukunft um „Sein oder Nichtsein“ gehen wird, denn eines ist sicher: Eine enge Nachbarschaft zwischen Mensch und Krokodil ist ganz sicher nicht möglich, da Letzteres als Hausgast oder gar -tier absolut untauglich ist.

Das Werk schließt mit einer kurzen, aber erschöpfenden Systematik aller Krokodilarten, die es auf dieser Erde gibt. Die erstaunliche Vielfalt überrascht; weder Salzwasser noch Frost oder wüstenhafte Trockenheit können Krokodile dauerhaft aufhalten. Wir erfahren von Siebenmeter-Monstern, die wie Delfine aus dem Wasser springen – keine Erfahrung, die man als Passagier auf einem flachbordigen Boot machen möchte – oder bizarren Fischfängern mit Pinzettenkiefern.

Noch heute sieht man sie im B-Movie baumstammgleich und scheinheilig unauffällig vorzugsweise in afrikanischen Flussläufen treiben, bis sie urplötzlich unter den Nebendarstellern aufzuräumen beginnen: Krokodile, hässlich, unheimlich und folgerichtig heimtückisch und böse, wenn auch als Ledermantel oder -tasche wohl gelitten in der Damenwelt. Beides war und ist gar nicht bekömmlich für die großen Panzerechsen, die tatsächlich nur wollen, was wir alle uns wünschen – in Ruhe gelassen zu werden.

Gönnt man ihnen dies und beobachtet sie womöglich dabei, erschließt sich dem interessierten Betrachter die fremde, aber faszinierende Welt einer Lebensform, die seit stolzen 230 Jahrmillionen auf dieser Erde weilt und noch alles überstand, was diese in Form herabstürzender Riesenmeteore oder Sintfluten traf und immer wieder für |tabula rasa| sorgte. Wieso schafften die Krokodile, woran die ungleich weiter entwickelten Dinosaurier scheiterten? So „primitiv“ (weil doch so alt) können sie wohl nicht sein. Aber wie passen sie ins Darwinsche Evolutionskonzept, nach dem bekanntlich nur die Harten in den Garten kommen, d. h. die Schnellsten, Klügsten, sich ständig fortentwickelnden Lebewesen überdauern?

Solchen und vielen anderen Fragen (auf die man meist nicht kommen würde, die einen aber trotzdem interessieren) geht der Biologe und TV-Tierfilmer Reinhard Radke in diesem beispielhaften Sachbuch nach. Es liest sich wie ein Roman, obwohl es sich an die Fakten hält. Da diese nicht gerade allgemein bekannt sind – wer wusste denn beispielsweise, dass Krokodile sich wie Wale oder Elefanten per Infraschall verständigen können? -, faszinieren sie auch den biologischen Laien, der (oder die) wenigstens ein wenig Interesse für die Umwelt aufzubringen in der Lage ist. Krokodile sind (wie wir schließlich wissen) gut zu Fuß und gar nicht blöd, sie kennen und respektieren gesellschaftliche Regeln und dort, wo man ihnen wenigstens ein bisschen kugelfreien Raum belässt, praktisch so unverwüstlich, dass wie wahrscheinlich auch die Menschen überleben werden.

„Krokodile“ ist in der Präsentation ein sehr modernes Sachbuch. Reinhard Radke versucht das eigentlich Unmögliche: Er verbindet Information mit Unterhaltung. Anders als im Privat-TV ist das Ergebnis nicht „Infotainment“ (= vergnügliches Pseudo-Wissen für die Dummen & Denkfaulen), sondern – welches Risiko in heutiger Zeit! – eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Kette lehrreicher Lektionen, die ohne vorsätzliche Infantilisierung, aber auch ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger ihr Thema zum Leben erwecken.

Fazit: Ein nicht ganz preisgünstiger Bild-/Textband mit (über 100) sensationellen Farbfotos, der umfassend über die „Zeugen der Urzeit“ (wie das einleitende Kapitel überschrieben ist) informiert und jeden Cent wert ist.

Dash, Mike – Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Welt

Eine kleine Blume, hübsch anzusehen, als Bote des Frühlings geschätzt und selbst ohne grünen Daumen leicht zum Erblühen zu bringen: Das ist die Tulpe, die in ihrer farbenprächtigen Unschuld vergessen macht, dass sie vor knapp drei Jahrhunderten eine ganze Nation in den Ruin zu reißen drohte.

So verzaubert waren die Niederländer einst von der noch seltenen Blume, dass in den Jahren 1633 bis 1637 ein regelrechter Tulpenwahn ausbrach, der Reich und Arm, Bürger, Bauer, Kauf- und Edelmann in den Handel mit Blumenzwiebeln investieren und spekulieren ließ, bis schließlich Preise von umgerechnet bis zu 1,5 Mio. Euro pro Knolle erzielt werden konnten!

Noch spektakulärer war der anschließende Zusammenbruch des Zwiebel- und Schwindel-Imperiums. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum vom schnellen Geld ohne Arbeit und Risiko und hinterließ nicht nur Katzenjammer, sondern eine Gesellschaft, die vor dem Ruin stand.

Der Historiker Mike Dash erzählt diese seltsame Geschichte vom großen Tulpenwahn. Weil sich später sogar die Betroffenen fragten, wie es so weit hatte kommen können, holt der Verfasser weit aus. „Tulpenwahn“ ist auch eine Geschichte der Tulpe. Wer weiß schon, dass sie, die heute in jedem europäischen Frühlingsbeet zu finden ist, aus den Steppen und Hochtälern Zentralasiens kommt? Ausgerechnet die kriegerischen turkmenischen Nomaden, die zum Erobern und Plündern nach Asien kamen, fanden Gefallen an den damals noch schlichten, aber schon bunten „Ur-Tulpen“. Sie nahmen sie mit, um 1050 wurden sie schon in persischen Gärten gezogen, und dann rückten sie mit den Osmanen (oder Türken) über Kleinasien nach Nordafrika und Südeuropa vor.

Den gewickelten Turban – oder „dulbend“ – auf dem Kopf, kultivierten und veredelten türkische Gärtner die nun benamte Blume. Reisende aus dem Abendland fanden Gefallen an ihr. 1559 wuchsen Tulpen im bayrischen Augsburg. Drei Jahre später hatten sie Antwerpen in den Niederlanden erreicht – und dort beginnt unsere eigentliche Geschichte …

Die soll an dieser Stelle nicht vorab erzählt werden. Stattdessen rät Ihr Rezensent eindringlich, sie selbst nachzulesen. Sie beginnt trügerisch harmlos und entwickelt rasch eine Dynamik, der man sich schwer entziehen kann. Der Tulpenwahn ist ein Exempel, wie sich bodenständige und vernünftige Menschen in eine Lemminghorde verwandeln, die ihr Vermögen und ihre Zukunft auf Gedeih und Verderb an eine zerbrechliche Blumenzwiebel ketten, ohne die geringste Ahnung von dem zu haben, was sie da in Gang setzen.

Mike Dash gelingt das Kunststück, die scheinbar trockene Materie zum Leben zu erwecken. Geld verdient man gern, aber wenige Menschen verstehen wirklich, wie dies funktioniert, und kaum jemand interessiert sich dafür. Deshalb ist es dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er ein Kapitel Wirtschaftsgeschichte in ein Kriminalstück verwandeln kann, ohne darüber die Fakten zu vernachlässigen. „Tulpenwahn“ ist ein rundum überzeugendes Sachbuch. Es legt die Fakten schlüssig und spannend dar, räumt mit überlieferten Irrtümern auf (Die Niederländer überwanden den Wahn schneller als dies den Moralaposteln und Sensations-Historikern lieb war), erklärt und begründet, wieso ein solcher Irrwitz beinahe unvermeidlich war, überrascht mit historischen Parallelen vom „Hyazinthenwahn“ bis zum Run auf eine eher exotische Blume, die noch im 20. Jahrhundert diverse chinesische Landstriche erfasste.

Ein Abbildungsteil hilft dem Leser, den Tulpenwahn zu verstehen. So macht der Anblick wunderschön abgemalter Tulpen deutlich, dass die Zucht damals einen Standard besaß, der heute längst nicht mehr erreicht wird. Die niederländischen Tulpen des 17. Jahrhunderts waren Meisterwerke einer vergessenen Blumenzuchtkunst.

Weitere Bilder zeichnen den Siegeszug der Tulpe durch das Osmanische Reich nach, zeigen zeitgenössische Gemälde und Stiche, die verraten, wie präsent diese Pflanze nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kultur war. Faszinierend auch die Kommentare der Künstler, als der Tulpenwahn in sich zusammenbrach. Wer den Schaden hatte, musste schon damals für den Spott nicht sorgen – das übernahmen jene, die sich „klüger“ dünkten bzw. nicht den Mut aufgebracht hatten, sich an der Zwiebel-Spekulation zu beteiligen und nun gut Moralpredigen halten oder lachen konnten.

Immer wieder flicht Dash historische Anekdoten ein, die seine Darstellung meisterhaft kommentieren. Der Obergärtner am osmanischen Herrscherhof ist traditionell auch der Henker; ein hungriger Unglückswurm wird vor Gericht gezerrt, weil er eine Ladung unbezahlbarer Tulpenzwiebeln verspeist hat; vorsichtige Blumenhändler übernachten in ihren Beeten: Das sind die Randbemerkungen, die ein informatives Sachbuch zusätzlich veredeln.

Paturi, Felix R. – letzten Rätsel der Wissenschaft, Die

„Was ist überhaupt Wissenschaft?“ – dieser Frage versucht Felix R. Paturi im Vorwort seines aktuellen Buches auf den Grund zu gehen, denn wenn er schreibt, dass „tief in seinem Herzen so mancher Naturwissenschaftler bestreitet, dass die Geisteswissenschaften und die seit einiger Zeit dazugekommenen Sozialwissenschaften überhaupt einen Anspruch darauf erheben können, Wissenschaften genannt zu werden“, dann führt der Autor bereits einen aktuellen und schon lange brodelnden Konflikt an. Wissenschaft ist ein so weit gefasster Begriff, dass wir heutzutage nicht ohne Spezialisierung auskommen. Dies führt zwar zur Herausbildung zahlreicher Experten, aber auch dazu, dass die einzelnen Fachrichtungen sich immer weiter auseinander entwickeln. Doch Felix R. Paturi versucht in seinem aktuellen Wissenschaftsbuch den Brückenschlag zwischen den verschiedenen Disziplinen. Obwohl der Autor von Haus aus laut Verlagsinformation Physiker ist, öffnet er sich anderen Themen, zeigt sein weit gefächertes Interesse und wagt hier den mutigen Schritt, all diese Ideen und Rätsel in nur einem Buch aufzugreifen.

Schon der Wissenschaftsbegriff wirft unzählige Fragen auf, doch auch der Begriff des „Rätsels“ ist diskussionswürdig. Felix R. Paturi versteht darunter die ungeklärten Fragen der einzelnen Wissenschaftszweige, nicht aber die Rätsel aus Rätselzeitschriften, da diese bereits beantwortet sind und für die Wissenschaft kein Rätsel (mehr) darstellen. Den wirklichen Rätseln, für die noch kein Mensch eine Lösung gefunden hat, widmet sich der Autor im vorliegenden Buch.

Das Vorwort gibt einen guten Einstieg in die Thematik und macht bereits deutlich, welche Fragen sich in diesem Zusammenhang stellen. Paturi beantwortet sie jedoch nicht wirklich, sondern fordert seine Leser dazu auf, sich ihre eigene Meinung über den Wissenschaftsbegriff zu bilden. Ein Blick in das [Inhaltsverzeichnis]http://www.eichborn-verlag.de/s2/default.asp?SeID=&id=472&tid=1604&x=1&y=1 zeigt die Breite der vorgestellten Themen, wo so ziemlich jeder halbwegs interessierte und weltoffene Leser genug Aspekte finden dürfte, die ihn ansprechen.

Zunächst geht Paturi physikalischen Fragen auf den Grund. Obwohl in der Physik viele Rätsel gelöst werden konnten und mit der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik zwei umfassende Theorien zur Verfügung stehen, die beide für sich stimmig sind, widersprechen sie sich doch gegenseitig. Ein aktueller Lösungsansatz ist die mysteriös anmutende Stringtheorie, die sich jeder Vorstellungskraft entzieht. Dennoch schafft Paturi es ohne Formeln und auf nur wenig Raum, diese Theorie in Grundzügen vorzustellen und verschafft sich dadurch bereits meine Hochachtung. Auch die Frage nach der Dunklen Materie und woraus sie bestehen kann, wird thematisiert. Sogar die Quantenteleportation (also das „Beamen“ auf kleinster Ebene) und die merkwürdigen Folgen der Überlichtgeschwindigkeit werden uns verständlich gemacht; wobei ich mir in diesem Fall eine erläuternde Skizze gewünscht hätte, die sicherlich ohne Worte deutlicher gemacht hätte, was Paturi in einigen Sätzen zu erklären versucht.

Im Anschluss daran bringt der Autor uns Naturphänomene näher, von denen jeder schon einmal etwas gehört hat, aber über die wir oft noch nicht viel wissen. Hier erfahren wir, warum im sagenumwobenen Bermudadreieck zahlreiche Schiffe verschwunden sind, wir wundern uns über riesige Felsbrocken, die sich von ganz alleine zu bewegen scheinen, und wir grübeln darüber nach, wie die Maya einen Schädel aus Kristallstein schleifen konnten, der auch mit modernster Technik unmöglich herstellbar ist. Spätestens an dieser Stelle dürfte Paturi auch den letzten Leser fasziniert haben. Denn er schildert hier Phänomene, die leicht verständlich sind, aber doch unglaublich wirken. Niemand kennt eine plausible Lösung für den wundersamen Maya-Schädel, den es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Etwas weniger spektakulär muten Schleifspuren in der Wüste an, deren Ursprung ebenfalls ungeklärt ist. Sensationslüsterne Möchtegernwissenschaftler sehen selbstverständlich außerirdische Besucher als Verursacher der mysteriösen Spuren, doch kritisiert Paturi derlei Spinnereien ganz offen, seiner Meinung nach sind es genau solche Populisten, die die Wissenschaft und ihre seriösen Erkenntnisse in Verruf bringen. Allerdings gibt es viele Phänomene, die völlig unglaublich sind, aber dennoch wissenschaftlich erklärt werden wollen. Wie kann beispielsweise die Homöopathie heilen, obwohl kein Wirkstoff in einem homöopathischen Mittel mehr nachweisbar ist? Oder wieso wachsen und gedeihen Pflanzen besser, wenn man mit ihnen spricht und sie liebevoll behandelt? Und was ist es, das einen Geistheiler auszeichnet? In diesen Punkten berührt Felix R. Paturi Grenzwissenschaften, denen vor allem viele Naturwissenschaftler sehr kritisch gegebenüber stehen. Die Klärung und Vorstellung dieser esoterisch anmutenden Aspekte fand ich nicht immer überzeugend, zumal sich die Frage stellt, ob Geistheilung wirklich zu den Wissenschaften gezählt werden kann.

Natürlich darf in einer populärwissenschaftlichen Abhandlung nicht die Frage nach der Schöpfung und ihrem Ursprung fehlen. Von vielen Seiten beleuchtet Paturi dieses Problem und regt erneut seine Leser dazu an, sich ebenfalls ihre Gedanken über diese Fragestellungen zu machen. Zu diesen Rätseln gibt es keine Lösungen, folglich werden uns in „Die letzten Rätsel der Wissenschaft“ auch keine angeboten, sondern lediglich Lösungsansätze, zu denen wir unsere eigenen Überlegungen anstellen können und sollen.

Im Kapitel über Religionswissenschaft widmet der Autor sich den verschiedenen Gottesbeweisen oder auch der Theodizee, also der Frage nach Gottes Allmacht und der Existenz des Bösen auf dieser Welt. Dies erscheint mir der schwächste Abschnitt des Buches zu sein, da hier nicht nur ungelöste Rätsel auftauchen, sondern Gott an sich bereits ein Rätsel darstellt, das wohl nur jeder für sich selbst lösen kann. Auch scheint das Zahlenwunder des Koran nicht viel mehr als bloße Rechnerei zu sein; wenn sich ein Mathematiker mit einem beliebigen Buch lange genug beschäftigt, wird er in diesem sicherlich eine Menge Auffälligkeiten entdecken, die dem reinen Zufall entspringen. Diesem Kapitel merkt man deutlich an, dass es schwer ist, über ein Thema wie „Gott“ wissenschaftlich zu diskutieren, wenn dessen bloße Existenz bereits ein ungelöstes Rätsel darstellt.

Am Ende macht Paturi sich an die Präsentation aktueller mathematischer Rätsel, wie den Milleniumsproblemen. Mit Hilfe weniger Formeln versucht der Autor, uns zu erklären, was es mit der jeweiligen Fragestellung auf sich hat. Doch sind diese Probleme größtenteils nur für Leser interessant und halbwegs verständlich, die sich auch über die Schule hinaus mit der Mathematik beschäftigt haben. Als Schlusskapitel erscheint mir die Mathematik mit ihren abstrakten Rätseln daher ein gewagtes Unterfangen zu sein.

Rückblickend erstaunen die Fülle an Themen, die uns Paturi präsentiert, und die große Anzahl auftauchender Fragen. Paturi versucht den Brückenschlag zwischen den verschiedenen Disziplinen, außerdem möchte er seine Leser zum eigenen Nachdenken anregen, doch kann dies nicht bei jedem Thema gelingen. Hätte der Autor sich nur auf ein einziges Gebiet konzentriert, hätte er wahrscheinlich eine kleinere Leserschaft angesprochen, doch hätte diese womöglich das ganze Buch mit gleichbleibend großem Interesse gelesen. Bei dieser Fülle von Themen tauchen zwangsläufig Rätsel auf, die nicht jeden Leser ansprechen oder die auch nicht jedem erklärbar gemacht werden können. Für dieses Buch muss man als Leser schon viel eigenes Interesse an verschiedenen Disziplinen mitbringen, sonst werden auch Paturis engagierte Versuche, uns die Wissenschaft näher zu bringen, scheitern. Der Buchtitel verspricht etwas zu viel; natürlich kann es sich hierbei nicht um die „letzten Rätsel“ handeln, denn es gibt selbstverständlich noch mehr, zumal immer wieder neue Rätsel auftauchen werden, die nach einer Lösung suchen.

Für wissenschaftlich vielfältig interessierte Leser bietet Felix R. Paturi mit diesem Buch einen breiten Überblick über die verschiedenen Disziplinen, der erfolgreich zum Nachdenken anregt, da es dem Autor gelingt, auch komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen, sodass selbst Leser ohne spezielle Vorkenntnisse begeistert werden können. Das umfassende Literaturverzeichnis am Ende des Buches bietet die Gelegenheit, sich noch weiter in spezielle Themen zu vertiefen. „Die letzten Rätsel der Wissenschaft“ wirft Fragen auf und kann natürlich wenige klären, dennoch schafft das Buch Verständnis in vielen Bereichen und erweitert den Horizont seiner Leser. Dies kann man wohl nicht von vielen Büchern behaupten.

Ragnar Kvam jr. – Im Schatten. Die Geschichte des Hjalmar Johansen

Biografie eines aus der Geschichte quasi getilgten Mannes, der zu den Entdecker-Pionieren der großen Nord- und Südpol-Expeditionen zählte, diesen Ruhm jedoch nicht vermitteln wollte oder konnte und ins Abseits gedrängt wurde. Die außerordentlich spannende Lebensgeschichte wirft einen objektiven Blick auf ‚Helden‘, die diese Rolle nicht selten an sich gerissen und dabei wenig Menschenfreundlichkeit bewiesen haben: Nichts ist spannender als die Realität!
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Meijer, Fik – Gladiatoren. Das Spiel um Leben und Tod

Das Kolosseum in Rom, größte Gladiatorenarena der antiken römischen Welt, bildet Dreh- und Angelpunkt der Darstellung des Niederländers Fik Meijer. Er ist bemüht, sich einem der seltsamsten und auch düstersten Kapitel der an blutigen Episoden nicht gerade armen Menschheitsgeschichte objektiv zu nähern: Mehr als ein halbes Jahrtausend ergötzten sich die Bewohner des römischen Imperiums an perfekt auf Schauwert organisierten Tierhatzen, Massenhinrichtungen und Zweikämpfen auf Leben und Tod. Sie saßen bequem in riesigen, eigens für diesen Zweck er- und eingerichteten Arenen und schauten zu, wie Mensch und Tier im Sekundentakt grausam zu Tode kamen.

Keine einfache Aufgabe, wie Meijer bereits in seiner Einleitung deutlich macht. Er erläutert dem Leser deshalb eindringlich eine grundsätzliche Prämisse der historischen Forschung: Moralische Regeln sind wandelbar. Was heute in der Rückschau abgelehnt wird, war für die Zeitgenossen womöglich rechtens und ethisch begründbar. Sie hätten unsere Abscheu gar nicht verstanden. Das menschliche Handeln muss deshalb stets vor seinem jeweiligen zeitlichen Hintergrund betrachtet und gewertet werden.

In einem ersten Kapitel geht Meijer auf „Ursprung und Entwicklung der Gladiatorenspiele …“ ein. Ersterer liegt weitgehend im Dunkel, unser Wissen ist notgedrungen lückenhaft. Dennoch steht fest, dass Theateraufführungen und Wagenrennen am Anfang der späteren Schlachtfeste standen. Sie wurden zu Ehren der Götter oder verdienter Mitglieder der oberen Stände ausgerichtet und – der Mensch liebt Spektakel – allmählich immer größer und aufwändiger. Von sportlichen Wettkämpfen bis zum Kampf Mann gegen Mann ist der Weg gar nicht weit. Meijer beschwört das Bild einer römischen Gesellschaft herauf, für die Gewalt dem Feind und Härte sich selbst gegenüber zum Alltag gehörte.

Da der Mensch des 1. nachchristlichen Jahrhunderts keinesfalls dümmer als seine Nachfahren war, standen schließlich zweihundert Arenen in allen Teilen des Reiches. Bis ins Detail ausgefeilte Kämpfe fanden hier statt, für deren Realisierung eine ausgeklügelte Logistik erforderlich war, über die uns Meijer kundig ins Bild setzt. „Die Hauptdarsteller“ nennt er zu Recht jenes Kapitel, in dem er sich mit den Gladiatoren beschäftigt. Wer waren diese Männer (sowie einige Frauen!), die sich einer solchen Tortur unterziehen mussten oder gar freiwillig unterzogen? Herkunft, gesellschaftliche Stellung, Ausbildung, „Arbeitsalltag“ und Liebesleben sind nur einige Aspekte, die hier abgehandelt werden.

Dem „Spielfaktor Mensch“ wird das Tier als unbedingt erforderliches Element des Gladiatorenkampfes gegenübergestellt. Der „Verbrauch“ an Lebewesen aller Art war enorm und trug zum Aussterben ganzer Gattungen bei. Löwen, Leoparden, Bären, Elefanten, Nilpferde, Nashörner und alles, was beißen, kratzen und töten konnte, wurde von einschlägigen Spezialisten vor Ort gefangen und zu den Arenen gekarrt. Manchmal zu Tausenden mussten die Kreaturen dort ihr Leben lassen, wurden „gejagt“, aufeinander gehetzt, als Henker für renitente Sklaven, Christen und andere Feinde des Staates missbraucht.

„Der Ort der Handlung“ bezeichnet die Arena, in der gekämpft und gestorben wurde. Meijer wählt hier das Kolosseum in Rom als Beispiel. Er berichtet von dessen Bau, erläutert die Sicherheitsmaßnahmen – das Töten sollte gefälligst die Zuschauerreihen aussparen – und deckt die bemerkenswerten Einrichtungen auf, mit denen zahlreiche „Spezialeffekte“ realisiert werden konnten: Seeschlachten in einer Stadtarena würden wohl selbst heute Aufsehen erregen.

„Ein Tag im Kolosseum“ stellt den Versuch dar, ein „typisches“ Spiel in Roms größter Arena zu rekonstruieren. Zeitgenössische Texte, Mosaiken oder Vasenmalereien bilden die Grundlage; ergänzt werden sie durch Funde, die vor allen in den Gladiatorenschulen von Pompeji gemacht wurden, welche beim Ausbruch des Vesuvs 79 v. Chr. verschüttet wurden und praktisch im Originalzustand erhalten blieben.

Ein unappetitliches Kapitel beschäftigt sich mit der nahe liegenden Frage, wie denn mit den unzähligen Leichen und Kadavern verfahren wurde, die jedes Gladiatorenspektakel mit sich brachte. Wie Meijer deutlich macht, wurde hier ebenso rigoros wie praktisch verfahren, die umgekommenen Menschen „entsorgt“, die Tiere an die Armen der Stadt der verfüttert – der alte und angemessene Spruch von „Brot & Spielen“ bekommt hier eine neue Note.

Im vierten nachchristlichen Jahrhundert begannen Gladiatorenspiele aus der Mode zu kommen. Sie wurden für das in Bedrängnis geratende Römische Reich zu kostspielig. Die christliche Religion setzte sich durch; sie verdammte selbstverständlich die blutigen Frivolitäten, nachdem allzu viele frühe Christen dabei unfreiwillig als Darsteller fungieren mussten. Wiederum am Beispiel des Kolosseums schildert Meijer, wie die Spiele in Vergessenheit gerieten und die Arenen als Steinbrüche für spätere Bauwerke dienten.

Ein Exkurs beschäftigt sich mit „Gladiatoren im Film“. Zwei Beispiele werden vorgestellt: „Spartakus“ mit Kirk Douglas in der Hauptrolle, ein Meisterwerk und Höhepunkt der „Sandalenfilme“, die in den 1950er und 60er Jahren für volle Kinos sorgten, und „Gladiator“, jener Blockbuster des Jahres 2000, der die ungebrochene Attraktivität des Themas unter Beweis stellte. Meijer stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus und kommt zu dem gut begründeten Schluss, dass beide Filme fabelhaft unterhalten aber unter wissenschaftlichem Aspekt ein wüstes Gemenge fehlinterpretierter und ignorierter historischer Fakten darstellen.

Ein ausführlicher Anhang liefert ein Glossar der lateinischen Fachbegriffe, enthält den Anmerkungsapparat, bietet Bild- und Literaturnach- und Hinweise, präsentiert eine Zeittafel sowie ein Verzeichnis der bedeutendsten Amphitheater.

Das Thema Gladiatoren ist – Hollywood sei Dank – wieder im Gespräch. Es fasziniert und schreckt ab, lässt schaudern über eine glücklicherweise überwundene Phase der menschlichen Geschichte und bietet die gern genutzt Gelegenheit, in grausigen Details zu schwelgen. Vor allem solchem Halbwissen hat Fik Meijer den Kampf angesagt. Die Gladiatorenkämpfe sind integraler Bestandteil der Historie, kein isoliertes Element, und die Geister, die in der Arena geweckt werden, sind auch heute durchaus noch aktiv. Eindringlich beschwört der Verfasser mit Hilfe antiker Texte das Bild eines Menschen herauf, der den Spielen ablehnend gegenübersteht, sich widerwillig überreden lässt als Zuschauer teilzunehmen – und in einen Blutrausch gerät, der ihn begeistert und später beschämt zurücklässt: Der von der Gewalt berauschbare Voyeur steckt in uns allen und kurz ist der Schritt zum Täter, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Die nüchterne Feststellung und Begründung dieser wenig schmeichelhaften Tatsache ist ein großer Verdienst dieses Sachbuchs. Er geht über die reine Darstellung der antiken Gladiatorenspiele hinaus, welche jedoch ebenfalls in klaren Worten festhält, was nun einmal gewesen ist oder gewesen sein könnte – nicht alle Details sind geklärt. Meijer spielt mit offenen Karten, enthält seiner Leserschaft nicht vor, wo und wie er Lücken mit Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten füllt.

Ähnlichkeiten mit den zahlreichen Gladiatorenbüchern, die seit dem Filmerfolg von Ridley Scott im Jahre 2000 auf die Buchmärkte gebracht wurden (vgl. u. a. Thomas Wiedemann, „Kaiser und Gladiatoren. Die Macht der Spiele im antiken Rom“, in deutscher Übersetzung erschienen im Primus Verlag, Marcus Junkelmann, „Das Spiel mit dem Tod. So kämpften Roms Gladiatoren“, Zabern Verlag, oder Alan Baker, „Gladiatoren. Kampfspiele auf Leben und Tod“, Goldmann Verlag), bleiben natürlich nicht aus. Vor allem gegenüber dem letzten Titel kann Meijer punkten, weil er es konsequent vermeidet, die Geschichte künstlich zu dramatisieren. Sein „Tag im Kolosseum“ ist keine fiktive Nacherzählung, sondern bleibt sachliche Beschreibung ohne Personsalisierungen, was sehr zu empfehlen ist, zumal die meisten Sachbuchautoren keine verkannten Romanciers sind, wie sie selbst oft anzunehmen scheinen.

„Gladiatoren“ ist ein kostengünstiges Sachbuch. Das macht sich jedoch nur in einer Hinsicht negativ bemerkbar: Das Bildmaterial ist rar und ausschließlich schwarz-weiß, die Abbildungen sind zu klein, die Wiedergabequalität lässt zu wünschen übrig. Dass Meijer wie bereits erwähnt nur einen Überblick bieten kann und möchte, ist dagegen hoffentlich klar: Die Lektüre seines Buches stellt einen Einstieg in die Materie dar. Wer sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen will, kommt um weitere Lektüre nicht herum.

Fik Meijer ist Professor für Alte Geschichte an der Universität von Amsterdam. Als solcher veröffentlichte er eine Fülle wissenschaftlicher Artikel und Fachbücher, unter denen seine (mit Marius West besorgten) Übersetzungen von Flavius Josephus’ antiken Geschichten der Juden herausragen.

Daneben bemüht sich Meijer um die historisch interessierten Laien außerhalb des universitären Elfenbeinturms. Er hat keine Scheu, gesichertes aber schwer zugängliches Wissen in verständliche Worte zu fassen, ohne dabei an den Fakten zu rütteln. Dafür wurde er z. B. 2005 mit dem niederländischen OIKOS-Publikumspreis ausgezeichnet. Weiterhin ist ihm klar, dass sich der Mensch von Heute auch oder sogar vor allem für das Menschliche/Allzumenschliche oder das Alltägliche der Vergangenheit interessiert. Meijer trägt dem u. a. mit Büchern Rechnung, in denen er über Wagenrennen und Schifffahrt schreibt. Zu seinen großen Erfolgen gehört ein Sachbuch, das den verheißungsvollen Titel „Kaiser sterben nicht im Bett“ trägt und die römische Kaiserzeit aus einem Winkel betrachtet, der puristischen Altertumskundlern schwerlich behagen dürfte.

Miles Harvey – Gestohlene Welten. Eine Kriminalgeschichte der Kartographie

Landkarten waren und sind mehr als simple Wegweiser. Um das in ihnen fixierte Wissen entbrannten früher regelrechte Kriege. Heute sind alte Karten wertvolle Dokumente und begehrtes Diebesgut, das oft viel zu nachlässig geschützt wird … – Ein nur scheinbar papiertrockenes Thema der Historie wird kundig und spannend erläutert. Leider lassen die Abbildungen zu wünschen übrig, und der Autor wird ein wenig esoterisch; trotzdem ein Lern- und Lesevergnügen.
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Maas, Peter – Stunden der Angst. Die dramatische Rettung der USS Squalus

23. Mai 1939: Das gerade vom Stapel gelaufene Unterseeboot „USS Squalus“ verlässt die Marinewerft Portsmouth im US-Staat New Hampshire an der Atlantikküste Neuenglands und geht auf seine 19. Testfahrt. Routinemäßig geprobt werden soll das so genannte Alarmtauchen: Das mit voller Kraft an der Wasseroberfläche fahrende U-Boot taucht binnen 60 Sekunden bis auf Sehrohrtiefe (15 m). Zunächst gelingt das Manöver reibungslos, doch plötzlich dringt Meerwasser durch die offensichtlich nicht korrekt geschlossenen Belüftungsschächte der Dieselmaschinen ein. In kürzester Zeit laufen die Maschinenräume voll. Verzweifelt versucht die Besatzung, den Wassereinbruch zu stoppen, doch vergeblich. Drei der sieben durch Schotte voneinander zu trennenden Abteilungen des Bootes laufen voll. 26 von 59 Männern sterben sofort, und die „Squalus“ sinkt auf den Meeresboden. In 74 Metern Tiefe erwarten die Überlebenden ihr Schicksal – und das wird grausam sein: Obwohl Unterseeboote schon seit etwa einem halben Jahrhundert die Ozeane der Welt befahren, wurden in dieser Zeit niemals wirksame Methoden zur Unterwasser-Rettung von Seeleuten entwickelt! Die Havarie eines U-Bootes ist seit jeher identisch mit dem Ende seiner Insassen.

Allerdings gibt es in den Reihen der US-Marine einen energischen Offizier, der seit mehr als einem Jahrzehnt unermüdlich daran arbeitet, dies zu ändern. Charles Bowers „Swede“ Momsen, Leiter einer Tiefseetauchereinheit, ist zum Zeitpunkt der „Squalus“-Katastrophe auf der Marinewerft von Washington wie immer unermüdlich damit beschäftigt, mit seinem Team Methoden der Unterwasser-Rettung zu entwickeln. Der hoch engagierte Spezialist nimmt kein Blatt vor den Mund und ist bei seinen Vorgesetzten nicht gerade beliebt. Doch er ist der anerkannte Spezialist in seinem Fach, und so werden er und seine Leute sogleich nach Portsmouth geflogen.

Auf so eine Chance hat Momsen seit Jahren gewartet, die seiner wichtigsten Erfindung, der Rettungs-Tauchglocke, den Durchbruch verschaffen kann. Nun bietet sich ihm die Möglichkeit, die 33 Überlebenden der „Squalus“ zu retten, die auf dem Meeresgrund in Dunkelheit und Kälte verzweifelt aber diszipliniert warten. Auf der Oberfläche beginnt die größte Rettungsaktion der Seefahrtsgeschichte. Eine ganze Flotte steuert die Unglücksstätte an. Behindert von stürmischem Wetter, hohem, unberechenbaren Seegang und einer noch nie im Ernstfall erprobten Technik, entwickelt sich das Unternehmen zu einem dramatischen Wettlauf gegen die Zeit …

Ende der 60er Jahre erfuhr der Journalist und Schriftsteller Peter Maas zum ersten Mal von „Swede“ Momsen, dem Untergang der „USS Squalus“ und der Rettung ihrer Mannschaft. Dies ist eine Geschichte, die es zu erzählen lohnt; erstaunlich, dass dies bisher nicht geschehen war. Unter den Seeleuten der US-Marine genoss Momsen längst die Achtung, die ihm zukommt, doch in der breiten Öffentlichkeit war die „Squalus“-Katastrophe längst in Vergessenheit geraten. Sie hatte 1939 zwar landesweites Aufsehen erregt, wurde aber vom nur wenige Tage später erfolgenden Ausbruch des II. Weltkriegs rasch aus den Schlagzeilen verdrängt.

Drei Jahrzehnte später musste Peter Maas erfahren, dass auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges erneut niemand an einem längst vergessenen U-Boot-Unglück interessiert war. Er legte seine Aufzeichnungen beiseite und widmete sich anderen Projekten. Los ließ ihn die „Squalus“-Geschichte allerdings nie. Noch einmal dreißig Jahre später holte Maas, inzwischen durch seine Reportagen und Romane zu Welt- und Hollywoodruhm gelangt, sein Manuskript wieder hervor. Inzwischen war ihm nicht nur die Aufmerksamkeit seines Publikums sicher; das Wissen um die Geheimnisse der Tiefsee hatte enorm zugenommen und ermöglichte es ihm, die Ereignisse von 1939 zum Teil völlig neu zu bewerten. Ihren besonderen Wert gewannen natürlich auch jene Interviews, die Maas mit Charles Momsen vor dessen Tod noch hatte führen können.

Das Ergebnis ist ein spannendes Kapitel Seefahrtsgeschichte. Neben die Darstellung der enormen technischen Schwierigkeiten, mit denen die Retter konfrontiert wurden, tritt die Not der in ihrer sich mit Wasser und giftigem Chlorgas füllenden U-Boot-Röhre gefangenen Seeleute, die Entschlossenheit und der Wagemut ihrer Retter, die sich an ihre lebensgefährliche Aufgabe machen, die Angst der Angehörigen, die lange im Unklaren gelassen werden müssen, wer das Unglück überlebt hat und wer nicht.

Maas‘ Bericht über die erste „richtige“ Unterwasser-Rettungsaktion der Geschichte gewann unverhoffte, wenn auch traurige Aktualität durch das in der Barentssee havarierte russische U-Boot „Kursk“. Sämtliche 118 Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. Vom jämmerlichen Zustand der russischen Marine und der Menschenverachtung ihrer Führung einmal abgesehen, verdeutlicht dieses Unglück, dass sich seit 1939 eines nicht geändert hat: Auch im 21. Jahrhundert kann unter dem Meeresspiegel der erste Fehler leicht der letzte sein!

Gebhardt, Harald / Ludwig, Maria – Von Drachen, Yetis und Vampiren. Fabeltieren auf der Spur

Fabelwesen – seltsame Tiere oder Tiermenschen, die stets genau dort zu finden sind, wohin sich der Mensch normalerweise nicht zu gehen traut. Man „kennt“ sie nur vom Hörensagen, findet seltsame Spuren, stellt sich fantasiereich ihre Erzeuger vor. Manchmal ruft man sie sogar durch die Kraft der eigenen Vorstellung ins Leben. Vor allem im Alltag unserer eher von Mythen als von der Wissenschaft geprägten Vorfahren waren Fabelwesen wichtig: Ihr Wirken half unverstandene und gefürchtete, scheinbar übernatürliche Vorgänge zu „erklären“. Schiffe gehen auf dem Meer verloren? Da müssen Seeschlangen und Riesenkraken ihr Unwesen treiben! Auf einem Berg raucht, brennt und zischt es? Hier wohnt gewiss ein Drache! Im Dorf tobt eine Seuche, während auf dem Friedhof feist & rosig die Toten in ihren Särgen dösen? Holzpflock her, denn Vampire gehen um!

Sie halten sich zäh, die „Fabeltiere im Leben der Menschen“ (S. 9-36); noch in der Gegenwart begleiten sie uns, wobei sich natürlich ein gravierender Bedeutungswandel feststellen lässt, den uns die beiden Verfasser des hier vorgestellten Buches verdeutlichen. Die ältesten Fabelwesen stehen seit Ewigkeiten über uns: Starrt man lange genug in den Nachthimmel, lassen sich Sterne zu Bildern fügen, die in Beziehung zu Legenden und Sagen gesetzt wurden. Da gibt es Sternbilder wie Pegasus, benannt nach dem geflügelten Pferd, den Drachen, das Einhorn und viele andere. Sie alle besaßen große Symbolkraft, was ihnen feste Plätze in der Heilkunst, der Magie und in der Religion sicherte. Auch das Christentum ist keineswegs frei von solchen Wesen. Fabeltiere fanden ihren Platz auf Adels- und Stadtwappen, wo sie von der Stärke der auf diese Weise Ausgezeichneten kündeten. Recht prosaisch schlug man ihr Abbild in Münzen, würdigte sie freilich auch in der Kunst. Malerei und Architektur, Musik, Lyrik und Prosa, später Film und Werbung: Fabeltiere erwiesen sich erstaunlich lebensfähig, auch nachdem ihre rein mythische Natur enthüllt war.

Zu den wichtigsten Fabelwesen überhaupt gehören die „Drachen und ihre Vettern“ (S. 37-61). Sie existieren in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten, im Abendland und im Fernen Osten. Immer sehen sie erstaunlich ähnlich aus. Die Verfasser gehen der Frage nach, ob es reale Vorbilder für den Drachen gibt. Ausführlich stellen sie anschließend die fernöstlichen Drachen vor, die als Weltenschützer, Beschützer und Glücksbringer hoch in Ehren gehalten wurden, während um die Lind- und Tatzelwürmer und Basilisken des Abendlandes besser ein großer Bogen zu schlagen war.

„Klassische Fabelwesen“ (S. 62-114): Die meisten „Prototypen“ bekannter Fabelwesen finden sich in den Sagen des klassischen Altertums. Ob Sphinx, Hydra, Chimära und Zerberus, Phönix, Vogel Rock, Greif, Harpyien, Pegasus, Zentauren und Gorgonen: Sie plagten nach Homer oder Vergil die Menschen des Mittelmeerraums und standen zudem meist im Bunde mit den Göttern, welche keineswegs für ihren Gerechtigkeitssinn bekannt waren. Die Autoren stellen den „Werdegang“ dieser Wesen dar. Außerdem weisen sie darauf hin, dass die Naturwissenschaftler der Neuzeit die alten Fabelwesen „weiterleben“ ließen, indem sie realen, meist bizarr wirkenden Tiere oder Pflanzen ihre Namen gaben. So gibt es die Hydra, den Greif, die Harpyie oder Gorgonen tatsächlich, auch wenn sich dahinter meist harmlose Kreaturen verbergen.

Fabelwesen eher jüngeren Datums sind der Vampir, diverse Affenmenschen wie der Yeti, Bigfoot oder Almasty, der „Neandertaler aus dem Kaukasus“. Hier mischen sich Mystik und „wissenschaftlich“ begründeter Glaube (bzw. die Hoffnung), unbekannten Wesen aus der Urzeit sei es gelungen, sich auf der fast gänzlich erforschten Erde gewisse Nischen zu besetzen und auf diese Weise zu überleben.

Von dieser Theorie profitieren verständlicherweise vor allem die „Fabeltiere der Meere“ (S. 115-156). Sie existieren (vielleicht) dort, wo es in der Tat schwer ist, sie festzunageln. Zwar wurden das Meerpferd oder der Leviathan inzwischen als reines Seegarn entlarvt. Mindestens ebenso seltsame, zum Teil sehr reale Kreaturen sind an ihre Stellen gerückt. Die Verfasser berichten Neues über Haie, Seeschlangen (unter Berücksichtigung des Ungeheuers von Loch Ness), den Riesenkalmar, den Pottwal und über Sirenen (bzw. Seekühe). Jedem Kapitel folgt der Versuch einer Interpretation, wobei sich Fabel und Fakt oft erstaunlich gut trennen lassen, ohne dabei das Mysterium selbst zu beschädigen: Die Wahrheit, die bekanntlich immer irgendwo da draußen ist, wirkt mindestens ebenso faszinierend wie das Mutmaßliche.

„Reale Fabeltiere“ (S. 157-192): Der Kreis schließt sich, wenn wir zu den „echten“ Fabeltieren kommen. Jawohl, es gibt oder gab sie: den Quastenflosser, die neuseeländische Brückenechse, den Komodo-Waran, den Dodo, den riesigen Moa, das Okapi, das vietnamesische Dschungelrind Sao-La oder das Riesenfaultier Mapinguari. (Wobei Letzteres eher die Hoffnung auf eine mögliche Entdeckung symbolisiert: Der Mensch liebt es, Tiere neu zu entdecken, die er früher ausgerottet hat; es entlastet ihn ökologisch und moralisch.)

„Fabelwesen falsch gedeutet“ (S. 193-214): Das abschließende Kapitel macht deutlich, dass im Zusammenhang mit Fabeltieren Glauben oft Wissen bedeutet(e). Zwar verlangt der skeptische Mensch Beweise, aber die lassen sich (erschreckend) leicht finden. Um ein Narwal- oder Panzernashorn lässt sich problemlos ein Einhorn konstruieren, wenn man die eigentlichen Hornträger nicht kennt. Die massiven Schenkelknochen eines Mammuts geben vortreffliche Überreste böser Riesen ab, welche – noch besser! – in der biblischen Sintflut umgekommen sind und sich so zusätzlich als lehrreiche Kirchenpropaganda nutzen lassen. Für den Menschen der Gegenwart einfacher nachvollziehbar ist dagegen ein Irrtum, der den Glauben an vorzeitliche Zyklopen schürte: Wer hätte gedacht, dass es auf den Inseln des Mittelmeers vor gar nicht so langer Zeit Zwergelefanten lebten, deren Schädel sich wunderbar als Zyklopenköpfe deuten ließen?

Der reichhaltige Anhang (S. 215-223) umfasst die verwendete bzw. weiterführende Literatur sowie ein ausführliches Stichwort- und Quellenverzeichnis, mit deren Hilfe man sich sehr gut innerhalb des Buches orientieren kann.

Die „Geheimnisse der Natur“-Reihe des |BLV|-Verlags stellt ihren Lesern bekannte oder weniger bekannte Mythen vor, die auf ihren realen Kern abgeklopft werden. So gibt es Bände über „den Vogel“, „das Meer“, „das Pferd“ oder „den Baum“, die das breite Bedeutungsspektrum belegen, welches scheinbare Alltagsphänomene in der Menschheitsgeschichte einnehmen.

Die einzelnen Themen können aus Platzgründen einerseits überblicksartig und andererseits exemplarisch behandelt werden. Das vorliegende Buch stellt keine Ausnahme dar. Die Inhaltsangabe macht deutlich, welche Rolle Fabelwesen für den Menschen spielten und spielen. Dem Literaturverzeichnis ist zu entnehmen, dass über Kreaturen wie Riesenkraken, Drachen oder Riesen dickleibige Bücher geschrieben wurden. Mit solcher Informationstiefe können Gebhard & Ludwig nicht dienen; es liegt auch gar nicht in ihrer Absicht.

Ihnen ist es wie gesagt wichtig, das Thema in seiner Vielfältigkeit abzuhandeln. Das ist, wie immer, wenn Mythisches ins Spiel kommt, recht kompliziert. Leicht können Nachforschungen darüber, woher die Einhörner wirklich stammen, sehr fachspezifisch und – seien wir ehrlich – trocken ausfallen. Hier seien die Verfasser ausdrücklich für die Allgemeinverständlichkeit gelobt, mit der sie ihre Erkenntnisse unter steter Wahrung der Fakten einem möglichst breiten Publikum nahe bringen. Schließlich galt es zahlreiche, durchaus kontroverse Fachbereiche (Geschichte, Biologie, Archäologie, Psychologie u. a.) unter einen Hut zu bringen. Lobend hervorzuheben ist weiterhin die Gegenüberstellung des einzelnen Fabelmythos‘ mit der Realität. Hilfreich sind auch die zahlreichen, meist farbigen und sehr qualitätvollen Abbildungen, welche die Allgegenwärtigkeit der Fabelwesen nachdrücklich unterstreichen.

Eine gewisse themenspezifische Einseitigkeit sei dem Autorenduo verziehen. Auf sicherem Forschergrund bewegen sie sich, solange sie mythologische Fabelwesen präsentieren. Schwammiger wird es, wenn es um jene Wesen geht, von denen primär in der Folklore ethnisch-geografischer Randgruppen die Rede ist, während handfeste Existenzbeweise fehlen. Hier geraten wir in die Untiefen der Kryptozoologie. Sie ist keine anerkannte Wissenschaft. Ihre Anhänger bedienen sich der Methoden „richtiger“ Forscher, doch es gibt eine Grenze: Die Sehnsucht, diese Welt mit Fabelwesen zu bevölkern, lässt sie die strikte Beweispflicht, die aus Theorien Fakten werden lässt, gern vergessen. Dieser Vorwurf wird mit dem Argument gekontert, die Schulwissenschaft wisse auch nicht alles bzw. urteile zu streng oder sei verbohrt in ihren Ansichten. Das mag im Einzelfall zutreffen. Dennoch bleibt die (nicht immer vermerkte) Tatsache, dass die Argumente wider den Yeti, das Ungeheuer von Loch Ness oder wundersam überlebende Saurier in lauschigen Urwaldseen überzeugender sind als die kryptozoologischen Gegenbeweise: Die Autoren halten es bei aller Objektivität offenkundig mit Fox Mulder selig. („I want to believe!“)

Behält man dies im Hinterkopf, wird – und das zu einem heutzutage fairen Kaufpreis – ein wunderbarer Einstieg in ein (buchstäblich) bezauberndes Thema geboten. Wer sich ihm intensiver widmen möchte, findet in der Literaturliste manche Anregung.

Luciano Mecacci – Der Fall Marilyn Monroe und andere Desaster der Psychoanalyse

Sie gehört noch zu den vergleichsweise jungen Wissenschaften – und nicht wenige Kritiker zweifeln, ob sie sich überhaupt als solche bezeichnen darf: die Psychoanalyse, deren Vertreter davon ausgehen, dass das menschliche Hirn unerfreuliche Erlebnisse und Erfahrungen quasi „verschlüsselt“, um sich so vor größerem Leid zu schützen. Eine ausgiebige Analyse durch den Fachmann soll das Unterbewusste ans Licht bringen und den Betroffenen zur (Selbst-)Erkenntnis befähigen, wodurch seiner Störung oder Krankheit die „Lebensgrundlage“ genommen wird. (Dies ist hier natürlich überaus laienhaft und arg verkürzt ausgedrückt.)

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Lieckfeld, Claus-Peter/Rößiger, Monika – Mythos Meer. Geschichten – Legenden – Tatsachen

Was ist das Meer – und was bedeutet es dem Menschen? Diesen Fragen wird von den Autoren in vier Hauptkapiteln nachgegangen.

„Der blaue Planet“ (S. 8-54): Stolze 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt das Meer und verleiht ihr (neben der atmosphärischen Lichtbrechung) die berühmte blaue Färbung. Kein Wunder, dass Wasser diesen Planeten formt. Drei Ozeane prägen ihn und seine Bewohner, die seit Urzeiten am und vor allem vom Meer leben. Wir lernen die exotischen Nischen unserer feuchten Parallelwelt (Riff, Wellen, Küste, Watt, Eismeer) kennen und erfahren, wie der Mensch sich allmählich vorwagte (Schwimmen, Tauchen, Segeln).

„Die Kreaturen“ (S. 55-146): Das umfangreichste Kapitel beschäftigt sich erwartungsgemäß mit den faszinierenden, wohlschmeckenden und erschreckenden Wesen, die sich knapp über bis weit unter der Meeresoberfläche eingerichtet haben. Haie, Pinguine, Robben, Wale und Delfine gehören dazu, aber auch bizarre Tiefsee-Getüme oder eher halbseidene Wasserbewohner wie die Seeschlange oder der Riesentintenfisch. Unerwartet Interessantes gibt es auch über „Langweiler“ wie den Aal, das Seepferdchen oder die Muschel zu berichten.

„Die Schätze“ (S. 147-176): „Schatz“ ist ein mehrfach interpretierbarer Begriff. Klassisch geht es natürlich um Gold, Edelsteine und andere Kostbarkeiten, die an Punkt A geraubt und zusammengerafft und auf dem Weg nach Punkt B im Meer versanken. Wertvoll sind aber auch die natürlichen Ressourcen der Ozeane – die Fische, ohne welche die Ernährung der Menschheit ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Zu den ökologischen Schätzen des Meeres gehören die Korallen, welche dem Leben unter Wasser eine Basis bieten, die der zerstörungswütige Mensch vernichtet und eine tote, blaue Öde zurücklässt. Schließlich sind da die wissenschaftlichen Werte, die erfasst und ausgewertet buchstäblich Aufschluss über die Entstehung der Arten geben: Galapagos, die Inselgruppe im Pazifik, ist ein riesiges natürliches Versuchslabor.

„Mythen, Märchen und Legenden“ (S. 177-214): Was der Mensch nicht versteht oder fürchtet, das kleidet er (sie natürlich auch) gern in allgemein verständliche Bilder. Die Seeleute der Vergangenheit befuhren eine fremde, oft schrecklich feindselige Welt, die sie von Klabautern, Sirenen und Meerjungfern besiedelt sahen, die nur auf den Unglücklichen lauerten, der einen Fehler beging. So hielt man die Regeln ein und die Augen offen. Grundsätzlich hat sich an diesem Verhalten wenig geändert, wie die Autoren am Bespiel der berühmt-berüchtigten „Bermudadreiecks“ belegen. Atlantis findet selbstverständlich Erwähnung, die biblische Sintflut und andere antike Katastrophen, die als Mythen bis heute überlebten. Zwischendurch tauchen noch die Wikinger auf, die den Unbilden des Meeres mit erstaunlichen Methoden trotzten und so ihrerseits zur Legende wurden.

Mit einem ordentlicher Anhang (Literatur-, Stichwort- und Quellenverzeichnis, Autorenporträt und Bildnachweis), der „Mythos Meer“ als Buch „arbeitstauglich“ macht, klingt die Darstellung aus.

Kunterbuntes aus dem und über das Meer – dieser Titel würde „Mythos Meer“ sicher besser gerecht. Er klänge freilich leicht abwertend, was dieses Buch nicht verdient hätte. Eine grundsätzliche Sammlung aller Fakten war weder möglich noch beabsichtigt. Auch das Rad wurde nicht neu erfunden, wie der Blick ins Literaturverzeichnis beweist: Bereits bekanntes Sachbuchwissen wurde ausgewertet und neu arrangiert.

In Ausschnitten nähern sich die Autoren ihrem Thema. Über die Auswahl lässt sich sicherlich diskutieren – nur bedingt will sich beispielsweise erschließen, wieso das Unterkapitel „Seepferdchen“ volle sieben Seiten umfasst. (Aha, Verfasser Lieckfeld ist auch Mitautor eines Buches namens „Mythos Pferd“; ob das etwas damit zu tun hat …?) Und das Subkapitel „Terra – Meer- oder landgeboren“ gehört eindeutig in den ersten Buchteil.

Doch bei näherer Betrachtung finden wir die meisten Dinge, die wir mit dem Meer in Verbindung bringen, wenigstens angesprochen. Die einzelnen Kapitel lassen sich auch für sich sehr informativ lesen. Dabei wird der Leser vom angenehmen Plauderstil des Textes unterhalten, den man keineswegs mit inhaltsschwachem Geplapper verwechseln darf: Fakten werden klar dargestellt und harter Stoff ist es manchmal, der mit erfreulich klaren Worten allgemeinverständlich aufgerollt wird.

Ein Sonderlob verdienen die Abbildungen. Für „Mythos Meer“ wurde durchgängig schweres Kunstdruckpapier verwendet. Die zahlreichen, oft großformatigen, meist bunten und gut ausgewählten Fotos, Grafiken und Karten sind gestochen scharf. Sie dienen auch nicht dem Zweck, den Text „auf Länge“ zu bringen, sondern bilden ihrerseits zusätzliche „Informationsinseln“. Es sind aufregende, selten oder nie gesehene Aufnahmen darunter, die sichtlich jüngeren Datums sind.

Klaus-Peter Lieckfeld (geb. 1948) ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt „Belebte Natur“, schreibt aber auch historische Romane. Monika Rößinger ist Biologin und ebenfalls Wissenschaftsjournalistin in Hamburg.

Richardson, Hazel – Dinosaurier und andere Tiere der Urzeit

3,5 Milliarden Jahre Leben auf dem Planeten Erde, zusammengefasst auf 223 Text- und Bildseiten: Das funktioniert nur mit Hilfe einer klaren, streng durchgehaltenen Strukturierung. „Dinosaurier“ beginnt mit einer Einführung, welche den absoluten Anfang des Lebens umreißt. Dieses ist primitiv, die Kenntnisse sind dürftig, so dass die frühen erdgeschichtlichen Epochen nur summarisch bzw. als Überblick vorgestellt werden.

Ab dem Mesozoikum beginnt es sich im Wasser, auf dem Land und schließlich in der Luft zu tummeln. Mit der Konzentration auf die Wirbeltiere, deren Körper ein Knochengerüst stützt und die Luft atmend sind, präsentiert „Dinosaurier“ im Hauptteil ca. 200 der für ihre Zeitalter wichtigsten Tierarten, die auf der Erde lebten. Das schließt Dinosaurier ebenso ein wie ihre „Nachfolger“, die Säugetiere und Vögel. (Amphibien und Fische, die ebenfalls Wirbeltiere sind, glänzen durch Abwesenheit.) Sie dominieren das Känozoikum, das bis in die geologische Gegenwart reicht.

Über jede Zeitperiode wird auf einer Doppelseite informiert. Klima, Geologie, Vegetation, Tierwelt insgesamt werden charakterisiert. Die „Steckbriefe“ der einzeln vorgestellten Tiere umfassen eine halbe bis zwei Seiten und fassen die Schlüsselinformationen zusammen. Eine fotorealistische, auf aktuellen Forschungsergebnissen fußende Rekonstruktion setzt die Kreaturen der Vorzeit lebensecht ins Bild. Pfeile weisen auf besondere körperliche Beschaffenheiten hin. Eingefügte Fotos echter Fossilien (Knochen, Schädel, Zähne etc.) werden ihnen zum Vergleich gegenübergestellt.

Stets gibt es eine Karte, auf der die wichtigsten Fundstellen von Fossilien des Tiers verzeichnet sind. Eine Schemazeichnung zeigt es im Größenvergleich mit dem Menschen. Größe, Gewicht und Nahrung werden in einer Fußleiste angegeben. Auch eine Kopfleiste gibt es; sie hält den wissenschaftlichen Namen der Tierordnung und der Familie sowie den Zeitraum fest, in dem das jeweilige Tier lebte. Kopf- und Fußleiste sind farbcodiert. Oben lässt sich die jeweilige Zeitperiode erkennen, in der das Tier existierte, unten sein Lebensraum (Land, Wasser oder Luft).

Darüber hinaus gibt es Extra-Doppelseiten, die Tiergattungen zeigen, welche einer besonderen Erwähnung wert sind. Der Text geht über die Standardinformationen hinaus, das Bild zeigt die einzelne Tierform in seiner zeitgenössischen Umgebung. Ein erster Anhang listet mehr als 300 weitere Dinosaurier (und nur Dinosaurier) auf, die im Hauptteil keine Berücksichtigung fanden. Anhang 2 ist ein Glossar, das die reichlich Verwendung findenden naturwissenschaftlichen Fachausdrücke „übersetzt“. Ein Register, mit sich das Buch erschließen lässt, fehlt selbstverständlich auch nicht.

Das Buch weist eine solide Fadenheftung auf, das Cover ist indes flexibel: Auch in Gestalt und Format gibt sich „Dinosaurier“ als „Bestimmungsbuch“, ideal für den interessierten Tierbeobachter, der damit den abgebildeten Wesen in der freien Natur nachpirscht, was sich hier freilich als frustrierendes Vorhaben herausstellen könnte …

Oh ja, sie haben sich schon sehr verwandelt, die „Tierbücher“, mit denen Ihr Rezensent groß geworden ist! Auch damals – die exakte erdgeschichtliche Epoche bleibt besser verschwiegen – galten Bücher über Dinosaurier schon als Renner. Ihre Wirkung mussten sie jedoch als vergleichsweise primitiv wirkende Zeichnungen entfalten, die nicht selten sogar schwarzweiß ausgeführt waren. Im Vergleich mit den modernen, fotorealistischen, digital bearbeiteten Rekonstruktionen wirken diese altehrwürdigen Abbildungen wie Höhlenzeichnungen. Dass sie ihre Wirkung dennoch nicht verfehlten, spricht für die Faszination des Dinosaurier-Themas.

So wird auch dieses sich arg trocken lesende Werk seine Leser finden. Wie ich aus eigener Beobachtung weiß, finden beispielsweise Kinder die enzyklopädische Auflistung möglichst vieler Donnerechsen fabelhaft. Sie schätzen die kurzen Texte, deren Informationen sie förmlich aufsaugen, und lieben die Bilder. Das geht uns anspruchsvoll gewordenen Erwachsenen genauso. In einer Zeit, da die Tricktechnik völlig überzeugende Urweltlandschaft samt Bewohnerschaft erstehen lassen kann, werden dem Zuschauer oder Leser grandiose Rekonstruktionen geboten. Besonders die „Sonder-Doppelseiten“, auf denen die Urzeittiere in ihre Umwelt integriert werden, sind von enormer Suggestionskraft. Ob diese „Fotos nach dem Leben“ eine Wirklichkeit vorgaukeln, die spätere Forschergenerationen ganz oder teilweise revidieren müssen, steht auf einem anderen Blatt und soll hier undiskutiert bleiben.

Wegen seiner fragmentarisch anmutenden Struktur kann „Dinosaurier“ an jeder beliebigen Stelle aufgeschlagen und gelesen werden. Andererseits ist es durchaus möglich, sich von der ersten zur letzten Seite durchzuarbeiten. Es gibt einen roten Faden, den Erdgeschichte und Evolution vorgeben. Die Konzentration aufs Wesentliche bedingt komprimierte Texte, die sich alles andere als spannend lesen. Informativ sind sie auf jeden Fall und sollen sie sein – diese Entscheidung gegen das heute so beliebte „Infotainment“, die oftmals mit einer freiwilligen Beschränkung auf das angebliche Typische, vor allem Spektakuläre einhergeht, kann nur begrüßt werden.

Noch ein Pluspunkt: Trotz der guten Ausstattung und der Vielzahl fast ausschließlich farbig wiedergegebener Abbildungen ist der Preis für „Dinosaurier“ erfreulich moderat. Da nimmt man in Kauf, dass einige Bilder nicht wirklich „kommen“, weil sie doch ein größeres Format benötigten. Manchmal muss man sich auf briefmarkengroße Motive konzentrieren, die davon ganz sicher nicht profitieren. Allzu intensiv vermittelt sich darüber hinaus oft der Eindruck drangvoller Enge. So viele Abbildungen werden gezeigt, dass der Raum für Text darunter leidet. Besonders die vom Hintergrund freigestellten Saurier- und Säugerrekonstruktionen bohren sich förmlich in die Textblöcke, die dann abenteuerlich flatternde Ränder aufweisen. Bedenkt man den ohnehin klein gewählten Schriftgrad, so müssen die Leseraugen ordentliche Leistungen erbringen …

Dennoch überwiegen die Vorteile, die „Dinosaurier“ zu einem kompakten, handlichen Buch machen, das aktuell und zeitgemäß sein Thema angeht und deshalb weiterempfohlen werden kann und gern wird.

Lothar Seiwert – Die Bären-Strategie: In der Ruhe liegt die Kraft

In der heutigen Arbeitswelt zählt jede Minute und auch in der Freizeit setzt sich der Stress fort. So haben die meisten Menschen das Gefühl, mit ihrer Zeit nicht auszukommen und wünschen sich am besten jeden Tag 25 Stunden. Dabei ist Zeitmanagement eigentlich gar nicht so schwer, die Bären machen es uns vor. Denn in der Ruhe liegt die Kraft und genau diese Arbeitspausen sind es, die unsere Arbeit effektiver gestalten. Nun müssen wir nur noch etwas mehr Bär in unseren Alltag bekommen …

Gestatten, mein Name ist Bär

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Richard Panek – Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit

Panek Auge Gottes Cover 2004 kleinDas Teleskop sorgte ab 1609 nicht nur für den Blick in die Ferne, sondern setzte auch eine durch Wissen untermauerte und nicht mehr einzudämmernde Entwicklung in Gang, die ein durch die Religion verkrustetes Weltbild durch wissenschaftliche Realität ersetzte … – Dieser dramatische Prozess wird ebenso knapp wie kundig von einem Wissenschaftsjournalisten geschildert. Das scheinbar trockene Thema wird zu einem lebendigen Panorama realer Geschichte: ein Sachbuch mit Vorbildcharakter!

Kleines Rohr mit großer Wirkung

Früher war zwar keineswegs alles besser. Trotzdem ging es in jenen Momenten, in denen Weltgeschichte geschrieben wurde, ein wenig geruhsamer zu. In einer zwar kalten aber klaren Novembernacht des Jahres 1609 war es keine atomspaltende Hightech-Höllenmaschine, die das Universum aus den Angeln hob, sondern eine scheinbar simple Röhre aus Metall, in der zwei Stückchen Glas steckten. Nachdem man diese durch sorgfältiges Schleifen in Linsenform gebracht und in einem gewissen Abstand voneinander innerhalb besagter Röhre befestigt hatte, war ein Instrument entstanden, für das sich alsbald die Bezeichnung „Teleskop“ einbürgerte. „Fern-Sehen” im buchstäblichen Sinne war es, das dem Menschen plötzlich möglich wurde – der Blick auf weit Entferntes, das bisher verborgen und Objekt der Spekulation und des Rätselratens geblieben war.

Dabei galt es zu unterscheiden zwischen dem ‚gewöhnlichen‘ Fernrohr und dem Teleskop. Während ersteres in der Seefahrt oder im Krieg als nützliches Werkzeug sogleich begeistert angenommen und eingesetzt wurde, erschloss sich der Sinn des Teleskops lange Zeit nur einem kleinen Kreis wissenschaftlich interessierter und ausgebildeter Spezialisten. So stark vergrößerten nämlich schon die ersten Teleskope, dass sie für den einfachen Blick in die irdische Nachbarschaft eigentlich unbrauchbar waren. Da der Mensch von Natur neugierig bzw. an seiner Umwelt interessiert ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Forscher auf den Gedanken kam, sein Teleskop gen Himmel zu richten.

Auf einen Schlag wurde alles anders. Seit vielen Jahrtausenden beschäftigt sich der Mensch mit den seltsamen Lichtern, die er besonders des Nachts hoch droben am Firmament stehen sieht. Weil er schon immer Ungewissheit hasst und das Spekulieren liebt, bemüht er sich sehr jeher, den Himmel in sein Weltbild zu integrieren. Im christlichen Abendland der frühen Neuzeit war man zufrieden mit dem, was man schon seit der Antike ‚wusste‘: Das Universum war die von Gott als Höhepunkt der Schöpfung geschaffene Erde im und als Zentrum, umkreist von der Sonne, dem Mond und vielen Sternen, von denen man nur wusste, dass sie offenbar klein, kalt und weit entfernt ihre Bahnen zogen und des Nachts dem Reisenden zur Orientierung dienen konnten. So hatte der HERR es eingerichtet, so stand es in der Bibel vermerkt. Kirche, Könige & wer sonst das Sagen hatte auf Erden, war damit zufrieden und achtete darauf, dass diese Welt geozentrisch blieb. Dem Skeptiker musste genügen, dass sich das Establishment inzwischen immerhin dazu bequemt hatte, die Kugelgestalt der Erde als Tatsache anzunehmen.

Jenseits beruhigend überschaubarer Grenzen

Buchstäblich über Nacht war es vorbei mit dem Frieden. Zwar hatte Galileo Galilei (1564-1642), Naturwissenschaftler in der italienischen Universitätsstadt Padua, das Teleskop nicht erfunden. Auch war er nicht der Erste, der damit den Himmel betrachtete. Aber er gehörte zu jenen raren Menschen, denen es in die Wiege gelegt wird, Grenzen zu sprengen und hinter die Kulissen zu blicken. In der eingangs erwähnten Novembernacht schaute deshalb ein Mensch in die Sterne, der nicht nur das Teleskop unter Berücksichtigung bisher wenig bekannter physikalischer Prinzipien entscheidend verbessert hatte, der nicht nur sah und staunte, sondern begriff, was sich in unglaublicher Ferne abspielte. Er war der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. In kürzester Zeit entdeckte, erkannte und beschrieb Galilei neue und fremde Welten, schied Planeten von Sternen, identifizierte Monde und begriff die Milchstraße als Ansammlung unendlich vieler Sterne.

Immer neue Sterne fanden Galilei und jene, die es ihm in der nächtlichen Himmelsbeobachtung nachtaten. Das alte Weltbild stürzte ein, als die Erde als Planet und die Sonne als Stern unter Sternen erkannt wurde. Die Einmaligkeit des geozentrischen Sonnensystems konnte nicht länger gehalten werden. Die neuen Erkenntnisse ließen sich nicht in Einklang mit dem biblischen Weltbild bringen. Das war fatal für die Forscher einer Zeit, in der Naturwissenschaftler immer auch Philosophen waren, die ihr Wissen als Teil der von Gott gegebenen Weltordnung betrachteten. Auch Galilei war kein Rebell im Namen der Wissenschaft. Lange Zeit bemühte er sich, seine Beobachtungen ins Gebäude der traditionellen Lehre zu integrieren. Allerdings war dies irgendwann einfach nicht mehr möglich: Was Galilei sah, sprach eine andere Sprache als das, was er zu sehen erwartete und auch sehen sollte. Dies war endgültig der Startschuss zur wissenschaftlichen Revolution, in der er wider Willen eine so prominente Rolle einnehmen würde.

Wissen ist Macht. Kein Wunder, dass es die Diktatoren und selbst ernannten Führer der Geschichte stets sorgfältig unter Verschluss ge- und dem Volk vorenthalten haben. Das Teleskop hat das politische und geistliche Establishment jedoch schlicht überrascht. Es schien nur eine Spielerei zu sein, aber es war tatsächlich das Auge Gottes: Der Mensch konnte ins All blicken, begriff dessen unendliche Weite und wurde sich der eigenen Nichtigkeit bewusst. Vorbei war es mit der eigenen Größe; nicht einmal im eigenen Planetensystem war man mehr Herr im Haus, denn das Teleskop brachte es bald an den Tag, dass sich die Sonne beileibe nicht um die Erde drehte. Stattdessen war es umgekehrt und der Mensch abermals eine Stufe des universellen Throns hinabgepurzelt.

Zäher Kampf um wahre Erkenntnisse

Diese Revolution verlief bekanntlich nicht friedlich. Galileis Schicksal dokumentiert nur eines von vielen Gefechten in diesem Krieg der Weltanschauungen, den die Wahrheit schließlich für sich entscheiden konnte. Wieder trug das Teleskop seinen Teil dazu bei. Wer Augen hatte zu sehen, konnte sich selbst davon überzeugen, dass die ketzerischen Astronomen in der Tat Recht hatten, während die von ihren Gegnern düster prophezeite Anarchie ausblieb. So trugen sie schließlich den Sieg davon und stiegen sogar in eine eigene Forscher-Elite auf: Der nächtliche Sternengucker an seinem Teleskop wurde zum Idol der Massen, die begierig auf neue Sensationen aus dem nahen und fernen All warteten.

Friedrich Wilhelm Herschel (1738-1822), geboren in Hannover aber schon in jungen Jahren nach England emigriert, erntete die Früchte, die Galilei und andere Pioniere gesät hatten. Ihm gelang eine Bilderbuch-Karriere, er wurde in den Adelsstand erhoben und mit Ehren überhäuft. Das Wissen an sich stand nun im Vordergrund; Streit und Kämpfe fanden höchstens in den eigenen Reihen statt, denn auch Forscher sind nur Menschen, die um des Ruhms, der Eitelkeit und des Geldes willen raufen. Das Fundament für das Haus des astronomischen Wissens aber war gelegt, und unter seinem Dach stand das Teleskop, das in den Jahrhunderten nach Galilei imposante Ausmaße angenommen hatte und entsprechend tiefere Einblicke ermöglichte.

Herschel steht für die nächste Stufe der Himmelsforschung: Neben die Suche nach dem Neuen trat die quantitative Auswertung des inzwischen Bekannten. Herschels systematische, sich über Jahrzehnte hinziehende Kartierung des Sternenhimmels ließ einen Sternenkatalog oder Atlas entstehen, der Ordnung in das galaktische Chaos brachte. Der Mensch konnte den Weltraum zwar noch immer nicht bereisen, aber er verirrte sich nunmehr nicht mehr darin, wenn er ihn von der Erde aus musterte – bis sich herausstellte, dass er nur einen mikroskopisch kleinen Teil des Gesamtgefüges kannte. Aktuelle Schätzungen gehen von einem Universum mit 100 Milliarden Galaxien aus, die ihrerseits aus vielen Milliarden Sternen bestehen, um die wiederum Planeten, Monde u. a. Himmelskörper kreisen.

Rekonstruktion des nur scheinbar Selbstverständlichen

Galilei, Herschel, Isaac Newton und anderen Helden der Forschungsgeschichte setzt Richard Panek, Wissenschaftsjournalist für das „New York Times Magazine“ u. a. Zeitschriften ein Denkmal. Der wahre ‚Held‘ ist allerdings jenes Gebilde aus Metall und gläsernen Linsen (später Spiegeln, Parabol- und Deflektor-Antennen etc.), das den Quantensprung des menschlichen Geistes ermöglichte. Eine „Ode an das Teleskop“ nannte die „Berliner Morgenpost“ Paneks Werk (in der Ausgabe vom 11. Oktober 2001).

Wer meint, Sachbücher über ein recht dröges Thema müssten zwangsläufig trocken und langweilig zu lesen sein, wird hier eindrucksvoll eines Besseren belehrt. Panek weiß genau, wie er sein Publikum ködern muss. Virtuos verquirlt er vorzüglich recherchiertes Wissen mit klug ausgewählten historischen Anekdoten zu einem fabelhaft geschriebenen (und übersetzten) Sachbuch. „Gegen den Frost rieb er [F. W. Herschel] sich mit rohen Zwiebeln ein, während sein Atem am Teleskop und die Tinte im Faß gefror …“: Das waren noch Zeiten! Bemerkenswert ist auch die Geschichte des Teleskop-Veteranen George Ellery Hale, der sich in Zeiten übergroßen Forscherstresses von einer Elfe beraten ließ.

Da ist kein Wort zu viel, wird nie der gefürchtete pädagogische Zeigefinger sichtbar, fehlt völlig die erbauliche Verklärung einsam-entschlossener Heroen der Wissenschaft, mit der hierzulande die lesende Jugend gar zu vieler Jahrzehnte für dumm verkauft wurde. Galilei war eben nicht der Cary Cooper der Forschung, der von der bösen Kirche 12 Uhr mittags in die Kerker der Inquisition geworfen werden sollte. Die geistige Revolution der frühen Neuzeit fand auf einem ganz anderen Niveau statt. Sie zu veranschaulichen ist keine leichte Aufgabe, denn die Prozesse, die dabei abliefen, waren höchst komplex, Aber Panek schafft es mit Leichtigkeit und bereichert das gar nicht so breite Spektrum von Sachbüchern, die man gern liest, weil sie ebenso kompetent wie leicht verständlich – den echten Fachmann erkennt man daran, dass er sich nicht hinter Fachausdrücken & Zitaten verstecken muss – die Welt als Wundertüte der Natur schildern und jene, die wissen wollen, wie sie denn tickt, in ihren Bann ziehen.

Taschenbuch: 197 Seiten
Originaltitel: Seeing and Believing – How the Telescope Opened Our Eyes and Mind to the Heavens (London : Penguin 1998)
Übersetzung: Dieter Zimmer
http://www.dtv.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Cadbury, Deborah – Dinosaurierjäger. Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt

Lyme Regis, ein kleines Städtchen an der Südküste Englands (Grafschaft Dorset), zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wie praktisch an jedem Tag ihres an Mühen und Nöten reichen, aber ansonsten bitter armen Lebens durchstreift die junge Handwerkertochter Mary Armstrong die Kalk- und Schieferklippen, die sich über der Stadt erheben. Dort findet sie manchmal eingebettet im Gestein merkwürdige Abdrücke, „Fossilien“ genannt, die an Muscheln oder Schnecken erinnern, sowie versteinerte Knochen wesentlich größerer Kreaturen. Die Touristen schätzen solche Kuriositäten und zahlen dafür, worin sich Marys Interesse an besagten Fossilien zunächst erschöpft.

An einem (leider historisch nicht genau einzugrenzenden) Tag des Jahres 1811 zieht Mary (scheinbar) nicht nur das große Los, sondern gibt gleichzeitig den Startschuss zur Entstehung eines neuen Zweigs der Naturforschung: Im Gesteinsschutt oben erwähnter Klippe entdeckt sie das perfekt erhaltene Skelett einer bizarren Kreatur, die man später zutreffend als „Fischechse“ (Ichthyosaurus) bezeichnen wird.

Bis es so weit ist, werden aber einige Jahre ins Land gehen, denn noch gibt es keine Wissenschaft, die sich mit der Erdgeschichte beschäftigt. Kein Wunder, denn es gilt als der Weisheit letzter Schluss, was im biblischen Buch Genesis geschrieben steht: Gott schuf die Welt in sieben Tagen mit allen ihren Bewohnern – und Punkt: Was damals aus dem Urschlamm geknetet wurde, kreucht & fleucht auch heute unverändert umher; Ausfälle lassen sich höchstens durch die Sintflut erklären, die einiges sündhafte Getier vom Erdboden tilgte.

Wehe dem Frevler, der es wagt, am biblischen Wort zu rühren! In Oxford oder Cambridge und an den übrigen Universitäten Großbritanniens gehören die Dekane stets der mächtigen anglikanischen Kirche an. Auch der Naturwissenschaftler William Buckland sieht sich als Geistlicher Zeit seines Lebens in der verzwickten Lage, die „Untergrundkunde“ oder Geologie, die er in seinem Heimatland quasi gründet, mit der Bibel in Einklang zu bringen; ein elendes Unterfangen, das die junge Wissenschaft immer wieder auf ein totes Gleis zu zwingen droht, während die immer zahlreicheren Funde eine ganz andere Sprache sprechen.

Da haben es die Franzosen besser. Selbstbewusst schüttelt Napoleon die geistigen Fesseln der Kirche ab. Zwar schmachtet er schon wenig später im Inselexil von St. Helena, aber die Saat ist aufgegangen: In Paris feiert die Naturwissenschaft Triumphe. Der große Georges Cuvier, eine auch auf den britischen Inseln bald anerkannte Koryphäe, akzeptiert die Beweise für eine Welt, die nicht nur weitaus älter ist als man sich das bisher vorstellen mochte, sondern auch bevölkert wurde von Wesen, die es heute nicht mehr gibt.

In Lewes, einer kleinen Stadt im ländlichen Sussex, steht derweil der Schuhmachersohn Gideon Mantell in den wissenschaftlichen Startlöchern. Ein gutes Stück abseits der akademischen Zentren Englands wird er zwar von der Gelehrtenwelt lange schnöde mit Missachtung gestraft, kann sich aber andererseits autodidaktisch zu einem echten Fachmann der Geologie heranbilden, ohne dass ihm die argwöhnische Kirche Knüppel zwischen die Beine wirft. Die Kreidefelsen der South Downs stellen eine unerschöpfliche Fundgrube für Fossilien dar, so dass sich die Beweise für eine urzeitliche Welt schließlich nicht mehr unterdrücken lassen. Womöglich belegen die versteinerten Überreste noch eine weitere ketzerische Theorie: Die „Evolutionisten“ behaupten, dass Lebewesen sich im Laufe langer Zeiträume verändern, wobei – Schock! – Gottes lenkender (oder strafender) Arm nicht zwangsläufig vonnöten sei.

Der arme Buckland ist zwar ein Freigeist (und Exzentriker, der seinen Hausgästen gern gebutterte Mäuse auf Toast kredenzt und einen echten Bären hält, den er bei akademischen Feierlichkeiten als Student verkleidet auftreten lässt), aber kein Rebell. Immer schwerer fällt es ihm, Wissenschaft und Religion in Einklang zu bringen, ohne seine geistlichen Gönner vor den Kopf zu stoßen. Doch obwohl die Fossilienforschung nun in ihre zweite Phase eintritt, kann sie sich weiterhin nicht von der biblischen Schöpfungsgeschichte lösen.

1825 betritt der Mann die Szene, der frischen, aber auch fauligen Wind in die Naturwissenschaft bringen wird: Richard Owen ist kein Geologe, sondern Anatom. Er geht bei seinen Untersuchungen von einem anderen Ansatz aus und kann sich außerdem auf die Grundlagenforschung seiner Vorgänger stützen. Diesen Vorgang gilt es mit Bedacht zu erwähnen, denn Owen ist nicht nur ein brillanter Geist, der maßgeblich die „normale“ Geologie um die eigentliche Paläontologie erweitert, sondern auch ein skrupelloser Karrierist. Aus einfachen Verhältnissen stammend, eignet er sich neben einem bemerkenswerten Fachwissen auch die Fähigkeit an, den Reichen und Mächtigen zu gefallen. Das lässt ihn ganz nach oben kommen und geht einher mit dem systematischen „Abschuss“ aller, die ihm auf seinem Weg in den Olymp der Naturwissenschaftler hinderlich oder gar gefährlich werden könnten. Jedes Mittel ist dem jungen Aufsteiger recht, der auch vor übler Nachrede, bewusstem Missbrauch der ihm verliehenen Vorrechte und offener Manipulation keineswegs zurückschreckt.

Erst sind es nur direkte Konkurrenten, die Owen zum Opfer fallen, aber bald wagt er sich auch an kapitaleres Gelehrtenwild. Der ebenfalls ehrgeizige, aber grundehrliche Gideon Mantell hat sich in langen, entbehrungsreichen Jahren zu einem der führenden und auch in London den wissenschaftlichen Ton angebenden Fossilkundlern entwickelt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm; während Owen Stein für Stein das Fundament seiner Karriere setzt und dabei ebenso mächtig wie angesehen und vor allem reich wird, erleidet Mantell Schiffbruch. Sein Traum vom eigenen Fossilienmuseum endet im Ruin, seine Frau verlässt ihn, ein schwerer Unfall macht ihn zum Krüppel, eine unheilbare Krankheit verurteilt ihn zu Depression und elendem Siechtum. Mit eisernem Willen setzt er seine wissenschaftliche Arbeit fort – und kommt dabei ohne bösen Willen Richard Owen in die Quere. Dieser bedient virtuos die Instrumente der Macht und setzt erbarmungslos alles daran, den geschwächten Konkurrenten nicht nur zu verdrängen, sondern vorsichtshalber zu vernichten. Der unglückliche Mantell gehört anders als Owen nicht zu „den Jungs“ und beherrscht die Regeln dieses Spiels nicht. Allzu lange bleibt ihm unklar, dass Talent, Fleiß und Erfahrung längst nicht die wichtigsten Stützpfeiler einer Karriere sind. Auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind Verbindungen alles, und der Rest ist PR in eigener Sache. Auch hier legt Owen echtes Naturtalent an den Tag und lädt gebauchpinselte Sponsoren und potenzielle Gönner schon einmal pressewirksam zum Dinner in der Bauchhöhle eines lebensgroßen Saurier-Modells ein.

Bald beherrscht Richard Owen unangefochten die britische Paläontologen-Szene. Auch auf dem Kontinent hat er sich ein Netzwerk von Verbündeten und einen ihm ergebenen Hofstaat geschaffen. Der Wunsch nach wissenschaftlicher Allmacht und Unsterblichkeit treibt ihn zum Äußersten: Owen errichtet ein akademisches Terrorregime, das der forschenden Konkurrenz praktisch eigene Aktivitäten verbietet. Außerdem beginnt er, die Erfolge von Kollegen zu unterdrücken oder gar für sich zu beanspruchen. Für den unglücklichen Mantell ist der Tag der endgültigen Niederlage gekommen, als nicht er, der als verlachter und ignorierter Pionier in aufopferungsvoller Kleinarbeit die Skelette prähistorischer Riesen-Reptilien geborgen und beschrieben hat, diesen ihren Namen geben darf, sondern Owen: „Dinosaurier“ – Schreckensechsen – lautet seit 1841 der nun, da dieses traurige Kapitel der Paläontologie allmählich bekannt wird, recht doppeldeutige Ordnungsname.

Die Rechnung geht auf: Schon lange bevor Gideon Mantell 1852 starb, war er, der sich nicht mehr wehren konnte, fachlich ins Abseits gedrängt, während der robuste Richard Owen als hell strahlender, aber einsamer Stern alles überstrahlte. Mit zunehmendem Alter nahmen seine intellektuellen Fähigkeiten ab, während sein politisches Geschick ungebrochen blieb. Kühne Genialität und wissenschaftliche Klarsicht wurde erst durch Cäsaren- und dann durch Verfolgungswahn ersetzt. Owen schadete der Naturwissenschaft letztlich so, wie er sie in jungen Jahren zu ihrem Nutzen geprägt hatte – eine tragische, vor allem aber düstere Geschichte, die lange unter den Teppich gekehrt wurde, denn die unheilvollen Folgen der Owen-Ära sollten die britische Paläontologie noch lange begleiten.

Dass heute dieser Schleier auch vor den Augen des Laien, dessen Kenntnisse in Sachen Dinosaurier sich auf den Besuch der drei „Jurassic Park“-Kinofilme beschränken, fortgerissen wird, verdanken wir der englischen Wissenschafts-Journalistin Deborah Cadbury. In guter alter, im MTV- und Privat-TV-Zeitalter fast schon vergessen geglaubter BBC-Tradition und Güte präsentiert sie eine Geschichte, die nur den absoluten Ignoranten kalt lassen dürfte. Wissen ist immer faszinierend, wenn es denn nicht nur papageienhaft nachgeplappert, sondern strukturiert und fesselnd vorgetragen wird. Wo sich in diesem Punkt die Spreu vom Weizen trennt, markiert Cadbury mit dem vorliegenden Werk, das im angelsächsischen Sprachraum nicht ohne Grund zum Bestseller avanciert ist.

Ohne Furcht vor staubigem Kalk und alten Knochen steigt Cadbury hinab in die Gewölbe der Forschungsgeschichte – und recherchiert nicht nur fesselnd den dornenreichen Weg zu der Erkenntnis, wie die Welt und ihre Bewohner wurden, was sie heute sind, sondern auch einen echten Krimi um Betrug, Intrige und (Ruf-)Mord in einem Umfeld, das gewöhnlich nicht mit solchen Untaten in Zusammenhang gebracht wird. Die Wissenschaft bzw. jene, die sich ihr widmen, gelten als hehre Geister, die im Dienst ihrer Sache dem kleinlichen Hader des normalsterblichen Alltags weit enthoben sind. Wer einmal selbst in der Forschung tätig war, kann über diese Haltung freilich nur laut oder müde (je nachdem ob mehr Owen oder mehr Mantell) lachen. Forscher sind auch nur Menschen, und vielleicht trifft dieser Spruch sogar noch mittiger ins Schwarze, da im akademischen Elfenbeinturm über dem hamsterhaften Sammeln von Wissen die Entwicklung sozialer Kompetenzen nicht selten zu kurz kommt. Der Fall Richard Owen – und das ist er tatsächlich – ist ein Paradebeispiel für die Pervertierung von Privilegien, für Vetternwirtschaft und das Versagen jener Selbstregelmechanismen, die in der Wissenschaft angeblich die Wahrheit immer ans Licht kommen lassen. Das ist mitnichten so, und dies nachzulesen ist deprimierend, aber höllisch spannend, weil Cadbury ihren Stoff so fabelhaft im Griff hat. Wenn man im Jahr nur ein Sachbuch liest, gehört dieser Band auf die Liste der möglichen Kandidaten!

p. s.: Noch eine weitere Lektion über die Ungerechtigkeit gefällig? Im Jahr 1847 starb in Lyme Regis Mary Armstrong. Vier Jahrzehnte hatte sie Wind und Wetter getrotzt, war in den Kalkklippen umhergeturnt, hatte mit der Findigkeit des echten Entdeckers wunderbare Fossilien zum Vorschein gebracht und sich selbst zu einer versierten Expertin ausgebildet. Und doch starb sie als arme Frau, deren Verdienste zu würdigen nie einer der hohen Herren und Sammler ihres Landes für nötig fand, eine bittere Ungerechtigkeit, die ihr sehr wohl bewusst war und die ihr die späten Jahre vergällte.

Ballard, Robert D. / Archbold, Rick – Entdeckung der Bismarck, Die

Sie galt als der Stolz der Reichsmarine, 260 Meter lang, 32 Meter breit. Ein Ehrfurcht gebietender Stahlkoloss, gepanzert mit dreizehn Zentimeter starken Platten, ausgerüstet mit vier Waffentürmen zu je zweimal 380-mm-Geschützen, auch die „mittlere Artillerie“ entsprach in ihrem Kaliber in etwa dem, was auf anderen Schiffen großteils schon als Hauptbewaffnung galt. Ein Monstrum, gebaut und vom Stapel gelaufen zu nur einem Zweck: Tod und Vernichtung zu speien – vorzugsweise auf den Handelsrouten der Briten, um England im zweiten Weltkrieg auszuhungern. Die Rede ist von Deutschlands damaligem Prestige-Schlachtschiff „Bismarck“. Ihre einzige Fahrt der Operation „Rheinübung“ sollte gleichzeitig ihre letzte sein.

Auch ihr Schwesterschiff „Tirpitz“ stand unter keinem guten Stern und liegt heute – versenkt von Flugzeugen und Kleinst-U-Booten – im skandinavischen Osta-Fjord. Mit dem Verlust der Titanen fror Hitlerdeutschland den Bau weiterer Superschlachtschiffe ein, deren Ära eigentlich schon längst mit Erfindung des trägergestützten Flugzeugs ohnehin obsolet geworden war. Die alliierte Hetzjagd auf die |Bismarck| ist legendär und sie endete mit ihrer Versenkung im Ostatlantik. Der umtriebige Meeresgeologe Robert D. Ballard machte sich in den Achtzigern auf die Suche nach dem berühmtesten deutschen Wrack.

_Historisches_

19. Mai 1941 – Die |Bismarck| und ihr Begleitschiff |Prinz Eugen| versuchen in einer Nacht-und-Nebelaktion, unbemerkt von ihrem Stützpunkt im norwegischen Grimstadfjord zu ihrem Einsatzort im Atlantik zu gelangen. Operation „Rheinübung“ hat begonnen. Kurz zuvor wird das Kommando vom erfahrenen und besonnen Kapitän Lindemann an den bärbeißigen und großkotzigen Admiral Lütjens übertragen. Der wohl erste fatale Fehler in diesem Einsatz überhaupt. Zu ihrem weiteren Unglück bemerkt eine Aufklärungs-Spitfire der britischen Admiralität zufällig und trotz dichter Bewölkung die Kampfgruppe bei Bergen am Nachmittag des 22. Mai. In London schrillen verständlicherweise die Alarmsirenen: Die Hunnen haben ihr Monster tatsächlich von der Kette gelassen und es ist klar, dass es über Scapa Flow und die Dänemark-Straße (bei Grönland) durchzubrechen versucht.

24. Mai 1941 – Die Kreuzer |Suffolk| und |Norfolk| halten Fühlung mit dem Gegner, das gefürchtete Schlachtschiff |Hood| – der Nationalstolz der Briten – und sein Pfadfinder, die neue (und sehr unerprobte) |Prince of Wales|, preschen heran, um die deutsche Kampfgruppe zu stellen, nehmen aber versehentlich zuerst das Führungsschiff – die |Prinz Eugen| – statt des Hauptgegners |Bismarck| am frühen Morgen aufs Korn. Diese bleibt wie durch ein Wunder jedoch fast unbeschädigt. Nach sechs Minuten des Distanzgefechts erzielt eine Salve der |Bismarck| auf der |Hood| einen schweren Treffer, der das Schiff innerhalb von Sekunden auseinanderreißt und versenkt.

Doch auch die |Bismarck| kommt nicht ungeschoren davon. Nachdem die britischen Schiffe ihren Irrtum bemerken, können sie einige Treffer landen, die sie auf etwa 28 Knoten verlangsamen und ihren Treibstoffvorrat drastisch reduzieren. Der Einsatz des britischen Flugzeugträgers |Victorious| verläuft wie das Hornberger Schießen: Weder gelingt es den Briten, einen „Aal“ ins Ziel zu bringen, noch schafft es das frenetische Abwehrfeuer der |Bismarck|, einen der zerbrechlichen Flieger herunterzuholen. Pattsituation einstweilen. Die |Bismarck| ermöglicht durch eine Finte das Entkommen der |Prinz Eugen|.

25. und 26. Mai 1941 – Die britische Admiralität detachiert starke Kampfverbände, um die waidwunde |Bismarck| endgültig zu versenken, auch die britischen Träger |Ark Royal| und |Victorious| sind mit von der Partie, zudem das neue Flaggschiff |King George V| sowie kleinere Einheiten der Homefleet – genannt „Force-H“. Zwischendurch verliert man die Fühlung zu beiden Deutschen, doch Gevatter Zufall schlägt ein weiteres Mal zu: Ein Catalina-Flugboot der Coastal Guards spürt die beiden Schiffe auf, wird vom erbitterten Flak-Feuer zwar erwischt, jedoch nicht abgeschossen.

Die |Ark Royal|, der zweite Flugzeugträger im Operationsgebiet, entsendet ihre Doppeldecker des Typs Swordfish, diese sind je mit einem einzelnen Torpedo ausgerüstet. Die ersten Angriffswellen schlagen fehl, doch ein einziger Aal trifft die |Bismarck| an ihrer empfindlichste Stelle: dem Ruder. Es verkeilt sich und der ohnehin angeschlagene Titan kann nur noch im Kreis fahren – ganz wehrlos ist er deswegen noch nicht. Durch die Biskaya zu kommen und den rettenden Hafen von Brest zu erreichen, scheint immer unwahrscheinlicher.

27. Mai 1941 – Am frühen Morgen sichten das Großkampfschiff |King George V| und sein schwerer Begleit-Kreuzer |Rodney| dank des Fühlungshalters |Norfolk| die |Bismarck| und preschen heran. Das Gefecht startet auf 25 Seemeilen Entfernung und zieht sich über knapp drei Stunden hin, wobei die Distanz der Kontrahenten auf wenige Meilen schrumpft, sodass gegen Ende die Geschossbahnen sogar waagerecht ausfallen statt – wie sonst üblich – ballistisch. Während Treffer an oder unterhalb der Wasserlinie aufgrund des schweren Panzergürtels wirkungslos zu verpuffen scheinen, zeitigen die Einschläge auf dem Deck ihre Wirkung auf der |Bismarck|.

Ihr Abwehrfeuer verstummt nach und nach, je mehr die Aufbauten schweren Granatenbeschuss wegstecken müssen, um irgendwann gänzlich zu schweigen. 10:22 Uhr stellen die Briten das Feuer ein, die |Bismarck| ist ein loderndes, glühendes Wrack – doch sie schwimmt unvermindert. Lütjens erteilte unlängst den Befehl zur Selbstversenkung. Die |Dorsetshire| eilt heran, um aus nächster Nähe drei Torpedos abzufeuern, welche dem Schiff endgültig den Garaus machen sollen. Ob diese für den Untergang maßgeblich waren, erhitzte die Gemüter seither – Fakt: Um 10:39 kentert die |Bismarck| nach Backbord und sinkt Bug voran auf den 4,5 Kilometer tiefen Grund und ins Reich der Legenden.

_Meinung_

Robert D. Ballard – der Entdecker der |Titanic| – überkam es, eine weitere Expedition zu einem berühmten Wrack zu unternehmen, und die Duplizität der Ereignisse ist erstaunlich, denn wieder erweist sich ein verdammt fetter Pott als überaus scheues Reh, das sich den Blicken des Forscherteams zu entziehen vermag, gleichwohl sind auch wieder zwei Anläufe nötig, bis sich der Erfolg einstellt. Die erste Exkursion 1988 war ein Schlag ins Wasser und brachte bis auf das Wrack eines alten Segelschiffes nicht viel mehr als Hohn und Spott. Davon ab ist der Meeresgrund mit seinen Bergen, Tälern, tiefen Schluchten und Schlickfeldern – und das in ewiger Finsternis der Tiefsee in 4700 Metern – auch kein leicht zu erkundendes Terrain. Das Wetter und der Seegang in der Biskaya tun ihr Übriges. Expedition I wird gefrustet gecancelt. 1989 bricht das Team erneut auf – mit weiteren erbettelten Geldern. Natürlich gebraucht Ballard sein Rasenmäher-System, um die vermutete Sinkposition Streifen für Streifen abzufahren, diesmal jedoch mit einem anderen und moderneren Forschungsschiff. Am 8.6.1989 ist Neptun mit ihnen: Das bemerkenswert gut erhaltene Wrack taucht vor den Kameralinsen auf.

Ballards Bücher zeichnen sich vor allem durch eines aus: Das Hohelied auf die US Navy (deren Equipment er benutzt), die nicht enden wollende Litanei technischer Pannen und Erklärung seiner Suchmethode, also in der Summe: Ballard, Ballard und nochmals Ballard. Das kann ganz schön nervig sein auf die Dauer, denn kennt man eines seiner Bücher, kennt man, was das angeht, alle (mit wenigen Ausnahmen) – ein ausgesprochen publicitygeiler Selbstdarsteller und deswegen auch oft in die Kritik geraten. Dennoch: Ein fähiger Experte auf seinem Gebiet, dessen Suchoperationen im Endeffekt immer von Erfolg gekrönt werden. Das muss man ihm lassen. So nimmt leider auch in diesem Band das Drumherum ungebührlich viel Platz in Anspruch. Dabei meine ich jedoch nicht die historische Aufarbeitung seitens Co-Autor Rick Archbold, die gewohnt akkurat und neutral ausfällt. Bis das Wrack endlich auch bildtechnisch untersucht wird, sind gut zwei Drittel des Buches herum. Der Anfang zieht sich wie der sprichwörtliche Kaugummi, sieht man – wie gesagt – von den historischen Fakten zur Schiffsgeschichte einmal ab, die sehr interessant sind.

Ab dem Fund kann der Bildband dann auch endlich richtig punkten, denn auch das ist Ballard: Die Analyse der Schäden, Rekonstruktion der Ereignisse nach dem Untergang sowie die Verpflichtung seines Illustratoren Ken Marschall, ein exaktes Abbild des Ist-Zustandes grafisch festzuhalten, sind superb. Mit dabei sind auch wieder die ausklappbaren, großformatigen Panoramaansichten, welche die |Bismarck| damals und heute gegenüberstellen. Marschall zeichnet ein stimmungsvolles Bild des aufgefundenen Ground-Zero, sowohl auf dem Cover als auch später im Inneren des Buches. Die verwendeten Fotos sind selbst gemessen an heutigen Standards scharf und aussagekräftig, allerdings reichte die restliche Zeit der Expedition nicht ganz dafür aus, alle wichtigen Punkte zu klären, die für den Untergang der |Bismarck| verantwortlich gewesen sein mögen.

Ballard resümiert jedoch aus den gewonnen Daten, dass die Selbstversenkung und nicht die Torpedos letztendlich verantwortlich waren. Dass er damit Recht gehabt hat, beweist James Camerons ausführliche Dokumentation, dessen jüngst auf DVD erschienene Tauchfahrt zum Wrack die Thesen Ballards untermauert. Somit ist klar: Ballard mag ein Brusttrommler sein, ein unfähiger Idiot ist er ganz sicher nicht – im Gegenteil: Seine Analysen treffen trotz der spärlichen Informationen ins Schwarze. Obwohl Ballard diesmal nicht – anders als bei der |Titanic| – selbst in einem bemannten Tauchboot dem Wrack einen Besuch abstattet, sind seine Schlussfolgerungen aufgrund der gelieferten Bilder seines Tauchroboters sehr präzise und gelten heute als Lehrmeinung. Vollkommen zu Recht.

_Fazit_

Die Aufarbeitung des Bildbandes kann nicht an allen Stellen überzeugen, für mich ist da ab und zu ein wenig zu viel Brimborium drin, das nur mäßig interessant ist – zumindest für diejenigen, die den Sermon mit dem ballardschen Suchsystem schon kennen. Hier und da blitzt auch ein wenig unnötiger Pathos auf, darüber kann man aber hinwegsehen. Lichtblick ist Co-Autor Rick Archbold, der in späteren Werken gottlob auch mehr Gewicht bekommt. Klasse sind wie immer die Illustrationen Ken Marschalls und die Fotos von Wrack und Trümmerfeld. Leider ist dieser Tage nur noch die inhaltlich identische Taschenbuchausgabe problemlos erhältlich, der großformatige Bildband ist derzeit leider out of print und rarer. Schade, denn grade die Bilder wirken im Taschenbuch nicht annähernd so gut, dafür ist es wesentlich billiger zu haben. Als Nachschlagewerk sehr empfehlenswert, bekommt es aber leichte Abzüge in der B-Note.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_

Originaltitel: „The Discovery Of The Bismarck“
Ersterscheinung: 1990 – Madison Publishing Inc. / NY
Deutsche Ersterscheinung: 1990 – Ullstein / Berlin
Übersetzung: Karl-Otto von Czernicki und Ralf Friese
Zugrunde liegende Version: Hardcover / 8. Auflage 1994
Seiten: 236 / durchgängig bebildert + 2 ausklappbare Panoramen
ISBN: 3-550-06443-8 (Hardcover)
ISBN: 3-548-23298-1 (Taschenbuch)