Archiv der Kategorie: Thriller & Krimis

Grangé, Jean-Christophe – schwarze Blut, Das

|“Beginne nie eine Brieffreundschaft mit einem Serienkiller. Sobald er frei ist, wird er dich kennen lernen wollen…“|

Ein schlauer Ratschlag, den uns der |Ehrenwirth|-Verlag zum Roman des französischen Bestsellerautors Jean-Christophe Grangé mit auf den Weg gibt. Der Journalist Mark Dupeyrat hätte sich wohl auch besser an den Ratschlag gehalten, als ihm während seiner Recherchen in dem Fall Jacques Reverdi jemand den Tipp gab, dass nur eine Frau Reverdi sein Geheimnis entlocken könnte.

Reverdi, früher ein viel umjubelter Champion im Freitauchen, arbeitet seit seinem Rückzug aus dem Sport als Tauchlehrer in Asien. Eigentlich ist er unauffällig, doch die Fischer des kleinen Dörfchens Papan in Malaysia überraschen ihn eines Tages, als er gerade dabei ist, eine junge Touristin auf bestialische Art zu töten: Er lässt sie in einem luftleeren Raum ausbluten.

Nun wartet Reverdi in einem malaysischen Gefängnis darauf, zum Tode verurteilt zu werden, und Mark, der wittert, dass Reverdi seine Frage nach dem „Gesicht des Bösen“ beantworten kann, beginnt eine Brieffreundschaft mit dem eiskalten Mörder, indem er sich die Identität einer jungen Psychologiestudentin schafft. Sie schreibt an Reverdi, weil sie ihn zum Thema ihrer Diplomarbeit machen möchte, und trotz anfänglicher Skepsis gelingt es Mark, einen regen Kontakt zustande zu bringen. Er merkt dabei nicht, dass Reverdi ein perfides Spiel mit ihm spielt. Beinahe naiv folgt er seinen Anweisungen, als Reverdi ihn nach Asien dirigiert, damit er dort die Spur seiner blutigen Verbrechen nachvollziehen kann. Er füttert Mark mit kleinen Häppchen und es kommt zu einer Art Detektivspiel, das ein schlimmes Ende nimmt, als Reverdi sich eines Tages befreien kann. Denn nun ist nicht nur Mark in Gefahr, sondern auch das junge Model Khadidscha, dessen Foto er Reverdi geschickt hat, denn selbiger ist schon längst auf dem Weg nach Paris …

Was sich wie ein spannender Thriller anhört, ist auf weiten Strecken leider ziemlich vorhersehbar. Es ist klar, dass Mark mit dem Feuer spielt, doch anstatt sein Hauptaugenmerk darauf zu legen, erzählt der Autor Dreiviertel des Buches davon, wie der Kontakt zustande kommt und von Marks Reise entlang der „schwarzen Linie“. Dadurch geht eine Menge Spannung verloren, denn der Leser ahnt von Anfang an, worauf das Buch hinauslaufen wird.
Es geht also viel um das Motiv Reverdis, doch selbst dieses ist nicht besonders spannend und klingt wirklich sehr psychopathisch. Am Ende gelingt es Grangé durch eine überraschende Wendung für einen kurzen Moment Spannung aufzubauen, doch diese verflüchtigt sich zu schnell, denn auch über dieser Wendung liegt ein Hauch Irrealität, mit dem ich mich überhaupt nicht anfreunden konnte.

Dabei hatte alles sehr gut angefangen – nämlich in medias res. Der Leser wird anhand Reverdis Perspektive Zeuge, wie die Fischer ihn zusammen mit der halbtoten Frau in der luftleeren Bambushütte entdecken. Dadurch, dass der Mörder selbst nicht ganz bei Sinnen ist, wirkt dieses erste Kapitel sehr konfus, aber schmerzhaft authentisch. Es wird auf lange Erklärungen verzichtet, der Autor wirft nur ein paar Köder aus, die das Interesse wecken. Man möchte erfahren, was da los ist. Ist Reverdi Opfer oder Täter und was hat er überhaupt für eine Rolle in diesem Buch?

Im Gegensatz zu diesem kargen Anfang steht der Rest des Buches, der in einem dichten, flüssigen Stil geschrieben ist, der sehr viele ausschweifende Geschichtchen einwebt. Die beiden Protagonisten Mark und Khadidscha werden zum Beispiel gleich bei ihrem ersten Auftauchen zusammen mit ihrer Biografie vorgestellt. Wider Erwarten bekommt das Buch dadurch keine Längen, da Grangé seinen Charakteren viel Tiefe verleiht und einige ihrer Wesenszüge durch die Vergangenheit erklärt werden müssen.

Doch gut ausgearbeitete Charaktere alleine machen einen Roman, der sich Thriller nennt, leider nicht aus. Dazu gehören auch noch einige andere Dinge, vor allem Spannung, doch gerade das ist der Knackpunkt. Das Buch weist in dieser Hinsicht eine entscheidende Länge auf, und das ist die Suche nach dem Motiv Reverdis, die zwar interessant, aber nicht besonders spannend ist. Dadurch sind überraschende Wendungen stark nach hinten verlagert und zum großen Teil vorhersehbar. Das Ende weiß zwar noch einmal zu überzeugen, kann das Ruder aber natürlich nicht mehr herumreißen.

Deshalb ist „Das schwarze Blut“ in meinen Augen ein eher durchschnittlicher Thriller, dessen Stärken die Protagonisten und der Erzählstil sind.

Peace, David – 1977

Mit [„1974“ 1483 hat der Engländer David Peace nicht nur ein außerordentlich vielversprechendes Debüt hingelegt, sondern wurde obendrein kürzlich noch mit dem |Deutschen Krimi Preis 2006| ausgezeichnet. Düster und beklemmend liest sich „1974“. Ein Thriller, der sich durch seine atmosphärische Dichte und das rasante Erzähltempo auszeichnet. Das Buch stellt den Auftakt zu einer Tetralogie dar, die nun in „1977“ ihre Fortsetzung findet. Ein Buch, an das der Leser von „1974“ mit allerhand großen Erwartungen herangehen dürfte.

Wir schreiben also das Jahr 1977, wie auch der Romantitel schon vermuten lässt. Robert Fraser, Polizeisergeant aus Leeds wird einer Sondereinheit zugeteilt, deren Aufgabe die Aufklärung des grausamen Mordes an einer Prostituierten ist. Schon bald zeichnen sich Parallelen zu früheren Morden ab. Die Polizei arbeitet auf Hochtouren und kann schon bald die ersten Verdächtigen festnehmen.

Doch das Morden findet kein Ende. Angst und Schrecken machen sich in der Bevölkerung Yorkshires breit und in der Presse schlagen die Morde hohe Wellen. Einer derjenigen, die über die Mordfälle berichten, ist Jack Whitehead, Journalist der „Yorkshire Post“. Er ist es, der dem Mörder einen Namen gibt: „Yorkshire Ripper“. Auf eigene Faust schaltet Whitehead sich in die Ermittlungen ein und ehe er sich versieht, steckt er genau wie Sergeant Fraser auch schon mittendrin in einem schmutzigen Geflecht aus Intrigen und Korruption …

„1977“ bezieht sich eindeutig auf die realen Hintergründe des Yorkshire Rippers, der Ende der 70er Jahre vierzehn Frauen in Yorkshire ermordete. Auch David Peace ist in Yorkshire aufgewachsen und die fünf Jahre, in denen die dortige Bevölkerung durch den Ripper in Angst und Schrecken versetzt wurde, überschneiden sich genau mit seiner Kindheit. Für Peace ist der Yorkshire Ripper eine Art Kindheitstrauma, das er sich mit seiner Tetralogie „Red Riding Quartet“ von der Seele schreibt.

Insofern dürfte „1977“ den ersten Höhepunkt seiner Selbsttherapie darstellen. Der Ripper tritt in Aktion und ist das alles dominierende Thema des Romans. Diesem Kernthema nähert Peace sich dank wechselnder Ich-Erzähler (mal Jack Whitehead, mal Robert Fraser) aus unterschiedlichen Perspektiven. Mal begleitet der Leser den Journalisten, mal den Polizisten – ein Wechsel, der durchaus seinen Reiz hat und der immer wieder für Spannung sorgt.

Das Markanteste an David Peaces Romanen dürfte sein Stil sein. Er schreibt sehr eigenwillig – temporeich, leidenschaftlich und mit einer Portion Wut im Bauch, wie es scheint. Schon in „1974“ hat er einen atemberaubenden Stakkato-Rhythmus vorgelegt und in „1977“ schlägt sein Metronom noch eine etwas schnellere Taktfrequenz an. Wie Peitschenhiebe knallt Peace dem Leser so manchen Satz um die Ohren. Knappster Satzbau, minimalistische Dialoge und Einwortsätze markieren seine sprachlichen Mittel. Das ist ganz sicher nicht jedermanns Sache. Man muss sich schon auf den Rhythmus einlassen können, um in diesem rasanten Tempo nicht vom Autor abgehängt zu werden.

„1977“ ist ein Roman, der dem Leser einiges abverlangt. Es ist keine leichte Kost und sowohl inhaltlich wie auch der äußeren Form nach ein schwer verdaulicher Brocken. Ohne vorherige Lektüre von „1974“ braucht man gar nicht einsteigen zu wollen. Ohne Vorkenntnisse in den Roman hineinfinden zu können, ist völlig ausgeschlossen. Es begegnen einem viele Bekannte wieder. Peace konfrontiert den Leser mit einem ganzen Sammelsurium an Figuren, die erst einmal gedanklich sortiert werden wollen. Wie schon in „1974“ setzt Peace auch in der Fortsetzung wieder auf ein außerordentlich komplexes Romangebilde.

Und wo sein Roman ohnehin schon recht komplex ausfällt, da wird er diesem Anspruch auch in seiner Figurenzeichnung voll und ganz gerecht. Peace lässt die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und macht es dem Leser damit schwer, seine Sympathien zu verteilen. Er fordert den Leser, indem er es ihm nicht ermöglicht, einfach dem strahlenden Helden der Handlung zu folgen. Strahlende Helden gibt es bei Peace nicht.

Peace skizziert eine sehr düstere Atmosphäre. Man beneidet seine Protagonisten nicht, will sich nicht mit ihnen identifizieren müssen und ist so manches Mal froh über die Distanz zu ihnen. Peaces Welt sieht brutal aus und kann kaum mit schönen Momenten locken. So spannend die Geschichte auch sein mag, am Ende ist man doch irgendwie froh, diese Welt hinter sich lassen zu können, nachdem man das Buch zugeschlagen hat – zu illusionslos, kalt und hart ist die Welt von „1977“.

So sehr man besonders an „1974“ Peaces Stakkato-Rhythmus loben mag, so muss man ihn im zweiten Teil leider auch in Ansätzen kritisieren. Auf mich persönlich wirkte der Stil manches Mal ein wenig zu abgehackt. Hier und da hat man als Leser ein wenig Schwierigkeiten, bei diesem Rhythmus der Handlung zu folgen. Peace scheint sich sprachlich in seinen Rhythmus hineinzusteigern, was nicht immer zum Vorteil ist.

Man muss viel zwischen den Zeilen lesen und oft in blauen Dunst hinein spekulieren, ohne von Peace eine Bestätigung zu bekommen. Ein wenig mag dieser Eindruck auch darin begründet liegen, dass „1977“ ein ziemlich offenes Ende hat. Das mag sich mit Kenntnis des nächsten Bandes des „Red Riding Quartet“ ein wenig relativieren, für den Augenblick bleibt man als Leser aber leider etwas unbefriedigt zurück und kommt nicht umhin sich zu fragen, ob man in Anbetracht des hohen Tempos und der abgehackten Erzählweise irgendwo ein paar wichtige Details nicht mitbekommen hat. Das schmälert ein wenig das Lesevergnügen, das Peace noch mit „1974“ zu bereiten wusste. Bleibt zu hoffen, dass er sich stilistisch ein wenig fängt und der nächste Teil der Reihe wieder etwas lesefreundlicher ausfällt.

Bleibt als Fazit festzuhalten, dass „1977“ teils recht zwiespältige Gefühle hervorruft. Zum einen überzeugt David Peace mit seiner Figurenskizzierung und seiner atmosphärischen, düsteren und beklemmenden Inszenierung, zum anderen wirkt seine Erzählweise aber teils etwas zu abgehackt und undurchdringlich. Er verlangt dem Leser viel ab, erzeugt dafür zwar auch ordentlich Spannung, dürfte aber mit seinem Stakkato-Stil sicherlich nicht den Geschmack eines jeden Lesers treffen.

Link, Charlotte – fremde Gast, Der

Auch ein Jahr nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes hat Rebecca Brandt den Verlust noch nicht überwunden. Einsam und zurückgezogen lebt die attraktive Frau Anfang vierzig in ihrem Ferienhaus in Südfrankreich. Während sie früher aktiv am Leben teilnahm und mit großem Einsatz eine Kinderschutzorganisation leitete, ergeht sie sich nun in Depressionen. An einem Julimorgen beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Doch genau an dem Tag treffen unerwartete Besucher ein. Maximilian Kemper, der beste Freund ihres verstorbenen Mannes, hat beschlossen, aus Deutschland vorbeizukommen. Dabei hat er zwei Tramper mitgenommen, deren Weg in die gleiche Richtung führte. Inga und Marius sind ein junges Ehepaar auf Abenteuerurlaub. Da Inga sich von den Strapazen erholen muss, gestattet Rebecca den beiden, für ein paar Tage zu bleiben. Auf Maximilians Vorschlag hin überlässt sie ihnen ihr Segelboot für einen Ausflug übers Mittelmeer.

Der Segeltörn endet jedoch in einer Katastrophe. Das Ehepaar gerät in einen Sturm, Marius verliert die Nerven, stößt unklare Drohungen gegen Rebecca aus, bedroht seine Frau und geht über Bord. Nur mit größter Mühe gelingt es der verletzten Inga, das Segelboot zurück in den Hafen zu steuern. Von Marius fehlt jede Spur. Genauso unklar ist, was ihn zu seiner plötzlichen Agressivität veranlasste und was er gegen Rebecca hat. Weder sie noch Inga haben eine Ahnung, warum Marius ihr feinselig gegenübersteht und ob er überhaupt noch lebt. Langsam ahnt Inga, dass das Geheimnis ihres Mannes mit seiner dunklen Vergangenheit zusammenhängen muss …

In Deutschland ereignet sich währenddessen ein brutales Verbrechen. Nachdem die junge Karen sich tagelang darüber wundert, dass ihre Nachbarn überraschend verreist zu sein scheinen, findet sie die beiden in ihrem Haus ermordet auf. Das ältere Ehepaar wurde tagelang gefangen gehalten und zu Tode gefoltert, vom Täter fehlt jede Spur. Parallel dazu erhalten drei junge Frauen anonyme Drohbriefe, die sich auf ihre frühere Arbeit bei Kinderschutzorganisationen beziehen. Irgendjemand fühlt sich offenbar unrecht behandelt. Die Polizei tappt im Dunkeln, während der Täter die Hauptfigur seiner Aktionen ins Visier nimmt: Rebecca …

Bereits die Inhaltsangabe des Romans lässt gewisse Parallelen zu ihren anderen Spannungsromanen, allen voran „Die Täuschung“ erkennen: Ein Ehepaar mit dunklen Geheimnissen, eine verschleierte Vergangenheit, verunsicherte junge Frauen, parallele Handlungen in Deutschland und Frankreich, ein abgelegenes Ferienhaus als Schauplatz. Aus diesen Zutaten würfelt Erfolgsautorin Charlotte Link einen soliden Thriller zusammen, der bis zum Schluss gut zu unterhalten weiß, wenn man von ein paar kleinen Unschönheiten absieht.

|Drei Frauen, drei Handlungsstränge|

Wie so oft in ihren Werken lässt Link auch hier verschiedene Handlungen parallel zueinander ablaufen, deren Wege sich am Ende überschneiden. Der Hauptaugenmerk liegt auf den Erlebnissen von Rebecca Brandt und dem Ehepaar Marius und Inga im südlichen Frankreich. Zunächst deutet nichts auf kriminelle Vorfälle hin; Rebecca ist eine depressive Frau, deren Leben durch das plötzliche Auftauchen des jungen Ehepaares eine unerwartete Wendung erfährt. Erst nach und nach kristallisiert sich heraus, dass es hier um mehr geht als den Aufschub ihres Selbstmordes und dass das Zusammentreffen nicht so zufällig ist, wie es den Anschein hat …

Sehr viel unheilvoller erscheinen die beiden anderen Handlungsstränge in Deutschland. Die schüchterne Hausfrau Karen ahnt bereits früh, dass ihre Nachbarn nicht einfach heimlich verreist sind. Ihr ansonsten gut erzogener Hund bellt das scheinbar verlassene Haus an, die heruntergezogenen Rollläden bewegen sich ab und zu, der Briefkasten quillt über, die Blumen vertrocknen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Karen die Leichen des Ehepaares findet und die Polizei ihre Ermittlungen aufnimmt. Ähnlich sieht es mit dem dritten Handlungsstrang aus, in dem die ehemaligen Mitarbeiterinnen einer Kinderschutzorganisation wochenlang mit Drohbriefen terrorisiert werden.

Charlotte Link erschafft keine makellosen Heldinnen, dafür aber Fauen, mit denen sich die Leserin leicht zu identifizieren weiß. Da ist zum einen Rebecca, die sympathische Frau, deren Verlust ihres Mannes sie in eine Depression getrieben hat. In kleinen Gesten des Alltags bekommt der Leser vorgeführt, wie diese einstmals so starke und aktive Frau ihr Leben nur noch an der Oberfläche führt und innerlich schon lange gestorben ist. Es braucht nicht vieler Worte, um den Leser die stille Trauer, in die Rebecca versunken ist, spüren zu lassen.

Noch stärker als der vermeintlichen Hauptperson Rebecca fühlt man sich jedoch Karen verbunden. Karen ist eine durchschnittliche Hausfrau mit zwei Kindern und einem berufstätigem Mann, deren Leben hinter der Oberfläche aus einem Scherbenhaufen besteht. Ihre wachsende Unsicherheit verwandelt sie regelmäßig in ein schüchternes Häuflein Elend, das sich vor jedem Konflikt fürchtet und bei einfachsten Anlässen den Tränen nah ist. Der Hauptanlass dafür ist ihr ständig gereizter Ehemann Wolf, der seine Frau als hysterisch bezeichnet und jeder ihrer vorsichtig geäußerten Kritik mit Zynismus begegnet.

Die bodenständigste Figur ist die junge Inga, mit der sich wohl jede Leserin identifizieren kann. Sie ist der ruhende Pol in der Ehe mit dem sprunghaften Marius, dessen spontaner Abenteuerurlaub nach Südfrankreich nur eine von vielen ungeplanten Aktivitäten ist, in die Inga notgedrungen mit hineingerissen wird. Diesmal jedoch muss Inga erkennen, dass die immer wieder aufblitzende Unzuverlässigkeit und Ungeduld ihres Mannes eine weit tiefere Bedeutung besitzt als angenommen. Seine dunkle Vergangenheit holt nicht nur ihn, sondern auch seine Frau ein, die gemeinsam mit Rebcca um ihr Leben kämpfen muss …

|Nicht nur Thriller, sondern auch Drama|

Der Fokus des Romans liegt unzweifelhaft auf seinem Thrillerwesen und der Frage nach dem Mörder und seinen Motiven. Dennoch ist die Wirkung dann am größten, wenn sich Charlotte Link auf die psychodramatischen Elemente konzentriert, was vor allem die Beziehungen zwischen Inga und Marius sowies Karen und Wolf betrifft. In beiden Fällen müssen zwei Ehefrauen realisieren, dass ihre Ehen gescheitert sind. Während für Inga die Vergangenheit ihres Mannes tödliche Gefahr bedeutet, geht es für Karen „nur“ darum, endlich wieder zu einem selbstbewussten Leben zurückzukehren. Sie ist ein Musterbeispiel für die unzähligen Frauen, deren Ehemännern jeden Widerstand im Keim ersticken und jeden berechtigten Vorwurf wie eine haltlose Nörgelei aussehen lassen. Für jede seiner Launen müssen seine Arbeit und sein Stress herhalten, so dass Karen nicht wagt, weiter vorzustoßen. Als Leser fühlt man schmerzlich, wie alles, was sie versucht, im Endeffekt gegen sie verwendet wird, so dass man nur zu gut versteht, dass sie sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurückzieht. Ironischerweise wird gerade der Mord an ihren Nachbarn zu dem notwendigen Schockerlebnis, das sie endlich aus ihrer Lethargie reißt und ihr den Mut gibt, sich ihrem Mann zu widersetzen.

Gleichzeitig wirft der Roman die Frage auf, wie viel Zivilcourage man in der heutigen Zeit aufbringen sollte. Mehrere Personen müssen sich im Verlauf der Handlung den bitteren Vorwurf machen, dass sie durch ihre Passivität einen Menschen ins Unglück getrieben haben. Handeln statt wegsehen, engagieren statt zurücklehnen, lautet die sanfte Mahnung zwischen den Zeilen, der sich wegen ihres Wahrheitscharakters weder die Romanfiguren noch der Leser ganz zu entziehen vermögen.

|Übertrieben konstruierter Schluss|

Die überraschenden Wendungen halten den Leser bis zum Schluss in Atem, doch leider sorgen übertriebene Zufälle dafür, dass dieser Spannungsgenuss geschmälert wird. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, ist es vor allem ärgerlich, wie leicht es einem designierten Opfer gelingt, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Ein anderes Mal sorgt ein gefundenes Handy dafür, dass in letzter Minute Rettung verständigt werden kann. Zu guter Letzt begeht der Mörder einen der klischeehaftesten Fehler überhaupt, indem er sein Opfer nicht direkt tötet, sondern sich erst noch reichlich Zeit für Erklärungen und Ausführungen nimmt. Da all diese Zufälle zusammengenommen sehr entscheidend für den Ausgang des Romans sind, bleibt am Ende ein fader Beigeschmack, dass es der Autorin nicht gelungen ist, einen realistischeren Ausgang zu kreieren, der nicht von Konstrukten, sondern von den Handlungen der Figuren lebt.

|Flüssiger Stil|

Umso erfreulicher präsentiert sich die einfache und ungekünstelte Sprache, die keine weiteren Anforderungen an den Leser stellt. Charlotte Link verwendet einen sehr flüssigen Stil, der es möglich macht, das Buch innerhalb weniger Tage herunterzulesen. Da keine großartige Konzentration gefordert ist und auch die Handlung keine weiteres Nachdenken braucht, eignet sich dieser Thriller wunderbar zum Nebenherschmökern im Urlaub, auf Zugfahrten oder in Wartezimmern. Es gelingt der Autorin mühelos, die drei Handlungsebenen so übersichtlich zu gestalten, dass der Leser trotz der verschiedenen Schauplätze nie durcheinander gerät. Bei einer etwaigen Lesepause findet man sofort wieder den Anschluss, obwohl das Buch eher dazu reizt, in einem Rutsch gelesen zu werden. Trotz der fast 500 Seiten Umfang lässt sich der Roman aufgrund seiner zügigen Schreibweise und der durchgehenden Spannung locker in zwei bis drei Tagen verschlingen.

_Insgesamt_ erwartet den Leser ein solider Psychothriller, der sich trotz seines Umfangs sehr rasch durchlesen lässt und keine besondere Konzentration erfordert. Während die Thrillerhandlung durch ein paar konstruierte Unglaubwürdigkeiten, vor allem gegen Ende, geschmälert wird, überzeugt vor allem der psychodramatische Teil, der sich mit der Frage nach der Unterlassungsschuld befasst. Kein herausragender, aber dennoch empfehlenswerter Unterhaltungsroman für alle Freunde der Spannungsliteratur.

_Charlotte Link_, Jahrgang 1963, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen der Gegenwart. Fast alle ihre Bücher wurden zu Bestsellern. Ihre Spezialgebiete sind historische Romane sowie Psychothriller. Zu ihren bekanntesten Werken zählen: „Das Haus der Schwestern“, „Verbotene Wege“, „Die Sünde der Engel“ und die Sturmzeit-Trilogie („Sturmzeit“, „Wilde Lupinen“, „Die Stunde der Erben“). Mehrere ihrer Bücher wurden fürs Fernsehen verfilmt.

Hammesfahr, Petra – Lüge, Die

Susanne Lasko ist eine einsame Frau Mitte dreißig. Seit drei Jahren ist sie geschieden, ihre blinde Mutter lebt in einem Pflegeheim. Nach zwei miterlebten Überfällen ist Susanne für ihren Beruf als Bankangestellte nicht mehr geeignet, findet jedoch auch keine neue Arbeit und lebt in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung. Um vor allem gegenüber ihrer Mutter den Schein zu wahren, verzichtet sie auf Sozialhilfe und bedient sich stattdessen heimlich an der anvertrauten Reserve ihrer Mutter, in der Hoffnung, das Geld eines Tages zurückzahlen zu können.

In dieser aussichtslosen Lage trifft sie eines Tages im Aufzug ihre Doppelgängerin. Nadia Trenkler ist von kleinen Abweichungen abgesehen ihr genaues Ebenbild. Ihr Leben könnte allerdings nicht verschiedener sein: Nadia ist finanziell unabhängig und seit sieben Jahren mit Michael verheiratet. Susannes Entbehrungen und Unsicherheiten kennt die selbstbewusste Frau nicht. Auf ihr Drängen hin lernen sich die beiden Frauen besser kennen. Nadia erkennt Susannes missliche Lage und bietet ihr Unterstützung an.

Bald stellt sich heraus, dass ihre Handlung nicht uneigennützig war, denn für Nadia ist dieser Zufall ein Glücksgriff. Sie macht Susanne ein atemberaubendes Angebot: Jedes zweite Wochenende soll Nadja in ihre Rolle schlüpfen und sie zuhause vertreten, damit sich Nadia ungestört mit ihrem Liebhaber treffen kann. Zunächst hält Susanne diesen Vorschlag für undurchführbar, doch kleine Tests mit Bekannten beweisen, dass die Täuschung perfekt ist. Die Versuchung ist groß und Susanne willigt ein. Das Geld kann sie gut gebrauchen und es reizt sie, wenigstens für kurze Zeit Nadias luxuriöses Leben zu führen.

Wider Erwarten geht der Plan auf. Von kleinen Pannen abgesehen, wird Susanne immer sicherer in ihrer neuen Rolle. Für Nadias Ehemann Michael empfindet sie sogar ehrliche Gefühle und wünscht sich manchmal, sie könnte für immer in dieser Rolle bleiben. Doch nach kurzer Zeit kommt Misstrauen auf. Es häufen sich die Anzeichen dafür, dass Nadia ein böses Spiel mit ihr treibt und Susannes Identität für dunkle Geschäfte missbraucht …

Petra Hammesfahr ist eine Autorin, die für zerrissene Frauencharaktere, das Spiel zwischen Schein und Sein sowie überraschende Wendungen bis hin zur Undurchsichtigkeit steht. Alle drei Komponenten finden sich auch in diesem Roman wieder, der sowohl Stärken als auch Schwächen ihrer vorangegangenen Werke in sich vereint.

|Altbewährtes Motiv|

Das Bild des Doppelgänger ist eines der ältesten Motive in der Literaturgeschichte überhaupt und taucht im Laufe der Jahrhunderte in den unterschiedlichsten Varianten auf. Sei es im gleichnamigen Werk von Dostojewski, bei „Prinz und Bettelknabe“ von Mark Twain, in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ oder in seinen „Elixiere(n) des Teufels“, in Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ oder in Poes „William Wilson“. Nicht umsonst ist es ein so beliebtes Motiv, denn bei seiner Verwendung sind Verwirrspiele und Spannung vorprogrammiert. Wie so häufig haben denn auch in diesem Fall die beiden Charaktere außer ihrem identischen Aussehen nichts miteinander gemeinsam und ihre Leben sind so verschieden wie Tag und Nacht. Das erhöht für beide Frauen den Reiz, die Rollen für kurze Zeit zu tauschen – und dem Leser ist klar, dass diese Aktion folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen wird. Deutlich wird das schon im Prolog, in dem ein Junge die Leiche einer Frau in einem Müllcontainer findet. Schon auf den ersten Seiten ist also offensichtlich, dass dieses perfide Spiel für mindestens eine der beiden Frauen tödlich endet …

|Identifikation mit Protagonistin|

Der Leser fühlt sich schnell zu Susanne Lasko hingezogen, obwohl oder gerade weil es sich bei ihr eher um eine Anti-Heldin handelt. Susanne Lasko ist eine gescheiterte Existenz, die sich mühevoll über Wasser hält. Ihrer Mutter fühlt sie sich moralisch verpflichtet und bringt es daher nicht über das Herz, ihr von ihrer Armut zu erzählen. Soziale Kontakte beschränken sich auf Gespräche mit der Nachbarin, ein neuer Job ist nicht in Sicht, der Ex-Ehemann neu verheiratet. Nadia Trenkler ist auf den ersten Blick ein Gewinnertyp. Finanziell unabhängig mit sicherem Job, Luxushaus und großem Freundeskreis. Ihr Leben besteht aus Börsengeschäften, Partys und Vergnügungen. Dennoch gehören nicht ihr, sondern der gebeutelten Susanne die Sympathien. Ihr Leben ist eine Verkettung von ungünstigen Umständen. Sogar für das heimliche Geldabheben bei ihrer Mutter hat der Leser Verständnis, denn Susanne leistet sich davon nur das Nötigste, verzichtet unter anderem auf eine Krankenversicherung und ernährt sich wochenlang nur von Nudeln, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Niemand kann es ihr verdenken, dass sie sich auf den gewagten Rollentausch, der ihr immerhin mehrere tausend Euro einbringt, einlässt. Und obwohl man nicht alle ihre Handlungsweisen gutheißen kann, fiebert man mit ihr und hofft, dass ihr Leben eine positive Wendung erhält.

|Abstriche durch Verwirrung und Unglaubwürdigkeit|

Leider gibt es gleich zwei Punkte, die den Lesegenuss schmälern. Der eine ist die offensichtliche Unglaubwürdigkeit, ausgelöst ausgerechnet durch den eigentlichen Aufhänger, durch das Doppelgängermotiv. So faszinierend der Gedanke auch ist, dass man seinen genauen Ebenbild gegenübersteht, so unrealistisch erscheint es auch. Sicher gibt es Menschen, die einander verblüffend ähneln, aber Susanne und Nadia sehen sich, ohne dass sie miteinander verwandt wären, offenbar so ähnlich wie ein eineiiges Zwillingspaar. Auf die Täuschung fallen nicht nur flüchtige Bekannte wie Nadias Hausarzt herein, sondern sogar die engsten Freunde und schließlich auch ihr Ehemann. Susanne verbringt ganze Tage mit Michael Trenkel, an denen die beiden letztlich auch miteinander schlafen. Es ist schwer vorzustellen, dass selbst in dieser Intimität Susanne ihre wahre Identität verbergen kann. Dazu kommt, dass Susanne nicht viel Zeit hat, sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten und mit vielen Gesichtern, Namen und Anekdoten, die ihr als Nadia Trenkler präsentiert werden, nichts anfangen kann. Immer wieder tritt sie ins Fettnäpfchen, immer wieder kommt sie mit Mühe davon – so oft, dass man ins Zweifeln gerät, ob das noch wahrscheinlich oder ihr Umfeld einfach nur verblendet und begriffstutzig ist. Auf der anderen Seite muss man zugute halten, dass man wohl kaum zuverlässig einschätzen kann, wie man selbst auf einen Doppelgänger reagieren würde und ob man tatsächlich in der Lage wäre, ihn zu enttarnen.

Der andere Schwachpunkt des Romans ist die starke Zeitraffung im letzten Drittel und das rasch abgehandelte Ende. Immer mehr Personen treten auf, die Schauplätze scheinen auf jeder Seite zu wechseln und die Ereignisse überstürzen sich. Nicht nur Susanne Lasko, auch der Leser fühlt sich anhand der Entwicklung auf den letzten hundert Seiten hin und wieder überfordert. Fast automatisch baut sich angesichts der vielen undurchsichtigen Charaktere eine Distanz zum Roman auf, weil man nie sicher sein kann, wer auf welcher Seite steht und welche Enthüllungen als nächstes folgen mögen. Erschwerend kommt hinzu, dass die erste Hälfte des Romans deutlich ausführlicher erzählt wird, während man im zweiten Teil sich dahingehend umgewöhnen muss, dass alles mit erhöhter Geschwindigkeit und mit damit einhergehender Oberflächlichkeit geschildert wird. Zeitweise wirkt es so, als habe die Autorin einfach versucht, möglichst viele Ereignisse auf möglichst engem Raum abzuhandeln – was leider auf Lasten der Aufmerksamkeit des Lesers geht.

Unterm Strich fällt auf, dass die Autorin wieder einmal nicht darauf verzichten kann, es mit Doppelbödigkeiten und überraschenden Wendungen zu übertreiben. „Die Lüge“ liest sich dabei jedoch gefälliger als manch anderer ihrer Romane. Der Leser verfolgt nicht nur das Schicksal der Protagonistin, sondern stellt sich automatisch selbst die Frage, wie er angesichts eines Doppelgängers und eines Rollentausches reagieren würde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt sich das Werk flüssig lesen, ohne größere Ansprüche zu stellen. Hin und wieder fallen ein paar abgehackte Sätze, die auf Vollständigkeit verzichten oder unorthodoxen Satzbau mit sich bringen. Dabei gerät man aber nie aus dem Lesefluss, so dass der Stil insgesamt gut zu konsumieren ist.

„Die Lüge“ ist ein Psychothriller über Versuchungen und Intrigen mit einer interessanten Grundidee und einer angenehm unperfekten Protagonistin, die zur Identifizierung einlädt. Nach einer starken, spannenden ersten Hälfte sorgen die sich häufenden Unglaubwürdigkeiten und die sich überschlagenden Ereignisse für eine zunehmende Verflachung bis hin zum allzu abrupt endenden Schluss. Trotz dieser Mankos bleibt ein unterhaltsamer und über weite Strecken fesselnder Roman. Für Petra Hammesfahr-Fans ein Muss und eine Empfehlung für alle Krimifreunde mit Spaß an überraschenden Wendungen.

_Petra Hammesfahr_ wurde 1951 geboren. Bereits mit 17 Jahren begann sie zu schreiben, doch anstatt zu veröffentlichen, arbeitete sie zunächst als Einzelhandelskauffrau. 1991 erschien ihr erster Roman, weitere Kriminalromane folgten. Ab Mitte der Neunziger schrieb sie u.a. auch Drehbücher fürs Fernsehen. Weitere Werke sind u.a.: „Das Geheimnis der Puppe“ (1991), „Merkels Tochter“ (1993), „Die Sünderin“ (1999), „Der Puppengräber“ (1999), „Die Mutter“ (2000), „Lukkas Erbe“ (2000), „Meineid“ (2001) und „Das letzte Opfer“ (2002).

Adair, Gilbert – Blindband

Der einstmals gefeierte Schriftsteller Sir Paul verlor vor vier Jahren bei einem schweren Unfall seine Augen. Zusätzlich trug er am ganzen Körper Verbrennungen davon. Seitdem lebt der entstellte Mann zurückgezogen in der tiefsten Provinz Englands. Nach dem Tod seines treuen Freundes Charles bildet seine Haushälterin Mrs. Kilbride den nahezu einzigen Kontakt zur Außenwelt.

Sein finales Werk sollen seine Memoiren werden, philosophische Betrachtungen seiner eigenen Lage. Dafür braucht er einen Gehilfen. Er setzt eine Anzeige in die Zeitung und findet in dem jungen John Ryder einen geeigneten Kandidaten. Gegen eine großzügige Bezahlung soll John für ein Jahr – die Wochenenden ausgenommen – bei Paul einziehen, ihm optische Beschreibungen liefern und die diktierten Worte auf dem Computer tippen. Darüberhinaus ersetzt er Paul seinen verstorbenen Freund, macht Bersorgungen und begleitet ihn bei Spaziergängen.

Die Zusammenarbeit der beiden grundverschiedenen Männer gestaltet sich nicht einfach. Paul ist ein gnadenloser Zyniker, der einen verbalen Hieb nach dem anderen austeilt. John erscheint dafür umso unsicherer im Umgang mit einem Blinden und tappt von einem Fettnäpfchen ins nächste. Erst allmählich gewöhnen sich beide aneinander.

Doch je weiter sie mit dem Buch vorankommen, desto misstrauischer wird Paul. Die Indizien, dass etwas nicht stimmt, häufen sich. Treibt jemand ein böses Spiel mit ihm? Oder ist er nur bereits so sehr an Einsamkeit gewöhnt, dass er in Paranoia verfällt?

Bereits ein flüchtiger Blick in den Roman zeigt, was ihn von anderen unterscheidet: Das Buch besteht komplett aus Dialogen, hauptsächlich zwischen John und Paul. Es existiert kein Erzähler, der dem Leser Hintergrundinformationen liefert. Stattdessen entsteht durch diese komprimierte Erzähltechnik eine starke Identifizierung mit den Personen, noch unterstützt durch eine aufgrund der spärlichen Ortswechsel kammerspielartige Armosphäre. Der Großteil der Handlung spielt sich in Pauls Haus ab. Wie ein heimlicher Mithörer belauscht der Leser die Gespräche zweier grundverschiedener Männer, deren Verhältnis wechselhafter und uneindeutiger nicht sein könnte. Was als Arbeitsverhältnis eines Schriftstellers und seines Gehilfen begann, wächst sich zu einem perfiden Spiel um Machtverhältnisse und Abhängigkeiten aus. Der ahnungslose Leser wird mitgerissen in diesen Strudel aus Ränkeschmieden, Doppelbödigkeit und Verfolgungswahn …

|Bildhafte Charaktere und Verwirrspiel|

Trotz des auf die wörtliche Rede beschränkten Textes nehmen beide Hauptfiguren im Geist des Lesers rasch konkrete Gestalt an. Jeder der beiden besitzt einen ihm eigenen, unverwechselbaren Tonfall, der es einem selbst bei einer willkürlich ausgesuchten Textstelle möglich macht, den Sprecher jeweils sofort zuzuordnen. Paul ist dabei der Exzentriker mit der spitzen Zunge. Trotz oder gerade wegen seiner grausamen Entstellung und Erblindung präsentiert er sich als aggressive Persönlichkeit, die zielsicher in jede sich bietenden Wunde sticht, schonungslos offen mit seinem Gegenüber redet und keine Gelegenheit zur Beleidigung auslässt. John Ryder dagegen entschuldigt sich fast unentwegt, betont seine Unsicherheit und fällt immer wieder auf Pauls Frotzeleien herein. Wie in einem Theaterstück sieht man sie vor sich sitzen: Den alternden Schriftsteller mit seinen unwirschen Bewegungen und den knapp gebellten Befehlen und den ratlos dreinblickenden Gehilfen, der mit seinem neuen Partner überfordert ist.

Eine große Stärke des Buches liegt in den wechselnden Sympathien zu den beiden Figuren. Mal bemitleidet man Paul aufgrund seines schweren Schicksals, doch sein Zynismus stößt wiederum ab. John erscheint anfangs als zurückhaltender und hilfsbereiter Mann, aber gemeinsam mit Pauls Unsicherheit wächst auch das eigene Misstrauen. Immer wieder verschieben sich die Zu- und Abneigungen hinsichtlich der Charaktere, immer wieder muss der Leser aufs Neue seine Stellung zu ihnen überprüfen. Was ist Schein und was ist Sein? Verfolgt einer der beiden einen eigenen Plan?

Der Titel „Blindband“ ist hier Programm: Ist es vordergründig betrachtet eine Geschichte über einen Blinden, dreht es sich gleichzeitig um ein doppelbödiges Spiel, sowohl zwischen den Figuren als auch zwischen Autor und Leser. Blind ist nicht nur Sir Paul, blind ist auch der Leser, der erst nach und nach erfährt, was sich unter den Oberflächen verbirgt und welche Ereignisse aus der Vergangenheit plötzlich wieder hervorbrechen.

|Galgemhumor|

Auch wenn man es zunächst nicht vermutet, besticht der Roman darüberhinaus durch eine ordentliche Portion Galgenhumor. Vor allem Pauls sarkastische Äußerungen, mit denen er sich über sich selber ebenso wie über andere lustig macht, sorgen für amüsante Momente. Seine trockenen Bemerkungen sitzen so zielsicher, dass man hier wirklich keine zusätzlichen Erzählinformationen braucht, sondern sich Tonfall und Gesichtsausdruck beider Beteiligter perfekt vorstellen kann. Nur zu gut kann man sich mit John identifizieren, der ein ums andere Mal konsterniert mit Pauls Bissigkeit konfrontiert wird. So erwähnt Paul beispielsweise, dass er nicht gerade höflich zu John war. Dieser beeilt sich zu versichern, dass Paul sich nicht entschuldigen müsse, woraufhin der nur erwidert, dass das auch gar nicht seine Absicht war.

|Kleine Kritikpunkte|

Zu kritisieren gibt es in diesem außergewöhnlichen Roman wenig. Dennoch: Der in zweifacher Hinsicht überraschende Schluss sollte wohl die Krönung dieses spannungsgeladenen Psychodramas darstellen. Es wirkt, als habe der Autor eine möglichst wirkungsvolle und beeindruckende Pointe gesucht – dabei fällt das Ende leider einen Hauch zu unglaubwürdig aus. Insgesamt verhalten sich die Charaktere auf beiden Seiten zu unvorsichtig und zu wenig vorausschauend.

Die Dialoge lesen sich leicht und locker, da weder ellenlange Sätze noch komplizierte Formulierungen verwendet werden. Etwas langatmig sind jedoch die Passagen, die Paul seinem Adlatus in den Computer diktiert. Paul greift dabei vorwiegend auf metaphorisch-poetische Beschreibungen zurück, die auf Dauer ermüden, zum Glück aber nur einen kleinen Teil des Romans einnehmen. Etwas nervig ist zudem der Dialekt der Haushälterin Mrs. Kilbride, der in der deutschen Übersetzung bayrisch anmutet und lautmalerisch geschrieben ist.

_Insgesamt_ ist „Blindband“ ein spannendes und flott geschriebenes Psychodrama über Abhängigkeit und Paranoia. Bis zur letzten Seite bieten sich dem gefesselten Leser überraschende Wendungen. Nach kurzer Eingewöhnung liest sich die Dialogform flüssig herunter und man verfolgt gebannt das Wechselspiel zwischen den Protagonisten. „Blindband“ ist ein böser Roman in außergewöhnlicher Form, der den Leser auf eine emotionale Achterbahn führt. Eine unsichtbare Schlinge zieht sich um den Hals der Protagonisten immer enger, bis zum unerwarteten Schluss, der für alle Beteiligten anders ausfällt als erwartet …
Nur der allzu dramatische Schluss wirkt ein wenig aufgesetzt und schmälert den Gesamteindruck ein wenig.

_Gilbert Adair_, Jahrgang 1944, lebt in London. Neben seinen Romanen schreibt er als Kolumnist für die „Independent on Sunday“. Weitere Werke von ihm sind u. a.: „Der Schlüssel zum Turm“, „Träumer“, „Liebestod auf Long Island“ und „Wenn die Postmoderne zweimal klingelt“.

Indriðason, Arnaldur – Kältezone

In Island gibt es pro Jahr nur drei Mordfälle, dennoch hat dieses Land einen Erfolgsautor hervorgebracht, der bereits zweimal den begehrten „Nordic Crime Novel’s Award“ bekommen hat. Arnaldur Indriðason schreibt spannende und tiefgründige Kriminalromane, die sich weit über sein Heimatland hinaus erfolgreich verkaufen. Ähnlich wie Kathy Reichs widmet er sich meist mysteriösen Knochenfunden, die auf weit zurückliegende Mordfälle hinweisen. Doch im Gegensatz zu seiner amerikanischen Kollegin widmet Indriðason sich hierbei weniger dem Skelett und seiner forensischen Untersuchung als vielmehr der Tragödie, die sich hinter diesem Kriminalfall verbirgt.

In Indriðasons aktuellem Roman „Kältezone“ steht der See Kleifarvatn im Zentrum des Geschehens. Innerhalb kürzester Zeit hat sich der Wasserspiegel des Kleifarvatn so weit gesenkt, dass die Hydrologin Sunna bei einer ihrer Kontrollmessungen ein Skelett entdeckt, das bereits seit vielen Jahren auf dem Grund des Sees gelegen haben muss. Für einen solchen Fall kommt natürlich nur Kommissar Erlendur Sveinsson in Frage, der sich mit Vorliebe ungelösten Kriminalfällen widmet, da vor vielen Jahren sein eigener Bruder bei einem Schneesturm verschwunden ist und Erlendur dieses Erlebnis immer noch nicht verarbeitet oder gar abgeschlossen hat.

Bei seinen Ermittlungen wühlt sich Erlendur zunächst ziellos durch unaufgeklärte Vermisstenfälle aus den 70er Jahren. Schließlich trifft er dabei auf eine Frau, deren Verlobter im fraglichen Zeitraum spurlos verschwunden ist. Die beiden wollten damals heiraten, doch findet Erlendur schnell heraus, dass die Frau ihren Verlobten „Leopold“ kaum gekannt haben kann. Sie besitzt kein Foto von ihrem Verlobten und weiß wenig über sein Leben, nicht einmal, dass es sich bei „Leopold“ gar nicht um seinen richtigen Namen handelt. Hat Erlendur mit dem verschwundenen Leopold die richtige Spur entdeckt?

In einem zweiten Handlungsstrang erzählt Indriðason uns die Geschichte von Tómas, der in seiner Jugend leidenschaftlicher Anhänger der sozialistischen Partei war und sich daher für ein Studium der Ingenieurswissenschaften in Leipzig entschieden hat. Schnell wird klar, dass es zwischen dem gefundenen Skelett und Tómas eine Verbindung geben muss, die vor dem Hintergrund des Sozialismus spielt und bis in Tómas’ Studentenzeit zurückreicht. In Leipzig lernt Tómas am eigenen Leibe die Auswirkungen des Überwachungsstaats kennen. Seine Freunde und er selbst werden bespitzelt und riskieren ihre eigene Zukunft, wenn sie sich gegen den Sozialismus stellen. Als Tómas sich in die Ungarin Ilona verliebt, gerät er in einen Strudel von Ereignissen, der sein ganzes Leben verändern wird.

In gewohnt überzeugender Art klamüsert Arnaldur Indriðason einen Kriminalfall auseinander, der viele Jahre zurückliegt, für Erlendur Sveinsson allerdings alles andere als abgeschlossen ist. Der sympathische Kriminalkommissar, der seit fünf Jahren keinen Urlaub mehr genommen hat und zu Beginn des Buches daher im „Zwangsurlaub“ ist, macht sich hocherfreut an die Ermittlungen und lenkt sich dabei auch von seinen persönlichen Problemen ab. Seine Tochter Eva Lind ist seit einem tätlichen Angriff auf Erlendurs Kollegen in Therapie, versucht allerdings nur halbherzig, ihr Leben wieder in rechte Bahnen zu lenken. Zu diesem Zeitpunkt taucht auch noch Erlendurs Sohn Sindri Snaer auf und möchte bei seinem Vater wohnen. Hinzu kommt Erlendurs Beziehung zu einer verheirateten Frau, die nicht minder schwierig ist als das Verhältnis zu seinen beiden Kindern. Privat sieht es bei Erlendur daher trotz neuer Frau an seiner Seite alles andere als rosig aus, sodass er froh ist, wieder einen zurückliegenden Mordfall lösen zu können, der ihn von seinen eigenen Problemen ablenkt.

Erlendur sieht sich mit einem Fall konfrontiert, der ihn erneut in die Vergangenheit führt. Dort ist ein Verbrechen aufzuklären, das seine Ursprünge in Leipzig genommen hat, wo junge Studenten aus ihrer jugendlichen Unbefangenheit gerissen werden und erkennen müssen, dass der Sozialismus nicht die erwartete glorreiche Zukunft verspricht. Die Lehrjahre der ausländischen Studenten in Leipzig sind hart, einer wird ohne Studienabschluss des Landes verwiesen, doch es kommt noch schlimmer.

Arnaldur Indriðason widmet sich in „Kältezone“ den Problemen und Auswirkungen des Kalten Krieges sowie Islands Situation in dieser politisch schwierigen Zeit, er führt uns die Beklemmung vor Augen, die unter den Leipziger Studenten geherrscht haben muss, als sie erkannt haben, dass sie sogar von ihren eigenen Freunden bespitzelt werden. Mit viel Feingefühl und psychologischem Geschick erzählt Indriðason diese Geschichte aus der Vergangenheit, die zu einer Tragödie geführt hat, die uns betroffen und das zurückliegende Verbrechen verständlich macht.

Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, denn auch ein Mörder kann bei Indriðason ein Opfer sein, das über erlittene Schicksalsschläge nicht hinwegkommen kann. Erlendur erfährt wieder einmal, dass auch längst vergangene Mordfälle nie ganz vergessen sind und es immer noch Menschen gibt, die trauern – um geliebte Menschen und um eine verloren gegangene Zukunft.

„Kältezone“ ist ein packender Kriminalroman mit hochinteressantem politischem Hintergrund, den Indriðason für uns aufdröselt. Der isländische Erfolgsautor nimmt uns an die Hand und schickt uns fast 40 Jahre in die Vergangenheit. Zusammen reisen wir nach Leipzig und fühlen uns plötzlich selbst verfolgt.

Bei Indriðason ist nicht so sehr die Tat an sich von Interesse, sondern die Motive sind es, die zu dieser Tat geführt haben und auch die Menschen und Schicksale, die sich hinter einem solchen Mord verbergen. So ist es auch im vorliegenden Roman, der uns wieder von Anfang an gefangen nimmt und auch noch lange beschäftigt, selbst wenn das Buch längst ausgelesen ist. Indriðason fasst thematisch ein heißes Eisen an und scheut sich nicht davor, politische Meinungsbildung zu betreiben, die hier in einen brisanten Mordfall verpackt wurde.

Doch „Kältezone“ hat noch mehr zu bieten als diesen Handlungsstrang rund um den aufzuklärenden Kriminalfall. Gekonnt formt Indriðason seine Charaktere aus, sodass bereits bekannte Figuren wie Erlendur, Sigurđur Óli und Elínborg immer mehr Gestalt annehmen und bei der Lektüre fast schon zu vertrauten Bekannten werden. Ganz nebenbei erzählt Indriðason Geschichten, die im Grunde genommen nichts mit dem Kriminalfall zu tun haben, die sich aber doch überzeugend in das Gesamtkonzept einfügen. Wenn Indriðason von Erlendurs familiären Problemen erzählt oder von Sigurður Ólis nächtlichem Anrufer, rückt die Ermittlung in den Hintergrund, ohne dass jedoch der Erzählfluss ins Stocken geriete. Indriðason beweist erneut, dass er über großes Erzähltalent verfügt und dass seine Romane erst durch derlei Nebenschauplätze abgerundet werden.

So bleibt am Ende festzuhalten, dass Arnaldur Indriðason mit „Kältezone“ sein hohes Niveau halten kann und erneut alle Erwartungen erfüllt. Indriðason bietet uns mehr als die bloße Aufklärung eines Mordfalles, er verwebt viele verschiedene Komponenten: Indriðason erzählt von persönlichen Schicksalen, er gibt seinem Roman ein politisches Grundgerüst und lebensnahe Charaktere, die uns von Buch zu Buch immer näher gebracht werden. So entführt uns der Autor in ein Island, in dem zwar nur drei Mordfälle pro Jahr geschehen, in dem es aber offensichtlich viele ungeklärte Mordfälle aus vergangenen Tagen aufzuklären gibt – und dies ist ein Glück für den Leser.

Jeffery Deaver – Das Teufelsspiel (Lincoln Rhyme/Amelia Sachs 6)

Hartnäckig und höchst einfallsreich verfolgt ein Mietkiller eine junge Schülerin, die einem historischen Rätsel von hoher politischer Brisanz auf die Spur gekommen zu sein scheint, und liefert sich ein mörderisches Wettrennen mit einem genialen aber körperbehinderten Detektiv … – Der sechste Lincoln Rhyme/Amelia Sachs-Thriller liefert die deavertypische Mischung aus rasanter Action und penibel geschilderter Ermittlungsarbeit im CSI-Stil. Gleich vier Finallösungen sollen Originalität erzwingen, doch der Leser bemerkt Unstimmigkeiten. Trotzdem gehört dieses kriminalistische Abenteuer zu den gelungeneren Bänden der Erfolgsserie.
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Finder, Joseph – Auf höchsten Befehl

Claire, eine erfolgreiche Anwältin, unterrichtet in Harvard, ist seit drei Jahren glücklich mit Tom Chapmann in zweiter Ehe verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter. Eines Tages bricht ihr idyllisches Leben jäh auseinander: Bei einem gemeinsamen Einkaufsbummel verhaften FBI-Agenten ihren Ehemann Tom. Nach kurzer, dramatischer Flucht wird er erneut gefasst und inhaftiert. Claire erfährt, dass sein richtiger Name Ronald Kubik lautet. Vor mehr als dreizehn Jahren soll er als Mitglied einer militärischen Spezialeinheit ohne Einsatzbefehl ein Massaker in einem mittelamerikanischen Dorf angerichtet haben. Dank einer neuen Identität und mehreren Gesichtsoperationen gelang ihm die Flucht, bis er jetzt durch einen Zufall überführt werden konnte.

Tom bestätigt Claire seine Vergangenheit als militärischer Undercover-Agent. Er beteuert jedoch, an dem Massaker unschuldig zu sein. Laut seiner Version nutzt ihn die Army als Sündenbock, um einen Schuldigen für das grausame Verbrechen zu haben und seinen damaligen Vorgesetzten zu schützen.

Claire weiß nicht, was sie glauben soll. Ist ihr Mann, der ihr sein früheres Leben bis eben verschwiegen hat, tatsächlich ein kaltblütiger Killer? Oder hat er Recht und Tom ist Opfer einer perfiden Intrige, in die höchste Militärkreise verwickelt sind? Trotz ihrer Zweifel übernimmt Claire Toms Verteidigung. Gemeinsam mit dem schwarzen Ex-Militäranwalt Grimes und dem unerfahrenen, aber engagierten Pflichtverteidiger der Army Terry Embry versucht sie alles, um die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. Dabei scheint ein Sieg fast aussichtslos: Alle möglichen Zeugen für Toms Version sind untergetaucht oder verstorben, Claires Haus wird von Wanzen überwacht und sogar vor einem Mordanschlag schrecken ihre Gegner nicht zurück …

Unschuld oder Verschwörung, was steckt wirklich hinter Toms Vergangenheit? Nicht nur seine Ehefrau Claire wird auf eine rasante Jagd nach der Wahrheit geschickt, auch der Leser muss sich immer wieder fragen, wessen Seite er Glauben schenkt …

|Gefühlsmäßige Achterbahnfahrt|

Da ist zum einen der sympathische Tom, mit dem Claire bis vor kurzem eine unbeschwerte und glückliche Ehe führte und der sich rührend um seine Stieftochter Annie kümmerte. Und zum anderen gibt es die ungeheuerlichen Vorwürfe, die aus Tom einen abgebrühten Mörder machen. Claire scheint es unglaublich, dass der liebevolle Mann an ihrer Seite zu so einer Tat fähig sein sollte. Andererseits hat er jahrelang seine wahre Identität verschwiegen – warum sollte sie ihm jetzt glauben können? Es scheint keine Möglichkeit zu geben, sich entgültig Klarheit zu verschaffen. So wird beispielsweise ein Lügendetektortest zu Hilfe gezogen. Doch kaum ist das Ergebnis da, hat die Gegenseite einen Sachverständigen parat, der bestätigt, dass Tom alias Ronald im Verlauf seiner Ausbildung auf das Manipulieren eines solchen Testes trainiert wurde.

So hin- und hergerissen wie sich die Hauptfigur präsentiert, empfindet auch der Leser. Dadurch wird unweigerlich eine hohe Spannung aufgebaut, denn jedes Ende scheint denkbar. Der Autor geizt auch nicht mit überraschenden Wendungen, die den Prozess immer wieder in verschiedenen Richtungen kippen lassen.

Allerdings übertreibt Finder es vor allem gegen Ende ein wenig mit dieser Wechselhaftigkeit. Es hat den Anschein, als habe er sich immer wieder selber übertrumpfen wollen mit einer noch spektakuläreren Enthüllung. Mal sind es neue Details aus Toms Vergangenheit und mal schmutzige Lügen von der Gegnerseite. Unverhoffte Zeugen tauchen auf, andere ebenso unverhofft unter und auch das Gericht spart nicht an unberechenbaren Bestimmungen. Und natürlich fehlt auch nicht der unvermeidliche anonyme Informant, der Claire mit nächtlichen Anrufen aus dem Schlaf reißt. Auf den letzten Seiten überschlagen sich die Ereignisse dann wie erwartet mit einer derartigen Heftigkeit, dass hier die Geduld des Lesers arg auf die Probe gestellt wird. Versöhnlich ist dafür, dass der Schluss ins Gesamtkonzept passt und nicht mit einem ärgerlichen Deus ex machina, sprich einer völlig aus der Luft gegriffenen Lösung, aufwartet. Im Gegenteil: Trotz aller Wendungen tritt am Ende doch die Pointe ein, die dem Leser insgesamt am wahrscheinlichsten erscheint und immer schon erschien.

|Stärken und Schwächen in den Figuren|

Die Stärken in den Charakterisierungen der Hauptfiguren liegen eindeutig in der Sympathie, die der Leser für sie empfindet. Claire erscheint als starke Persönlichkeit, deren Leben von einer Sekunde auf die andere aus den Fugen gerissen wird. Verzweifelt muss sie mitansehen, wie ihrem Mann entweder eine lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe droht, wenn es ihr nicht gelingt, seine Unschuld zu beweisen. Allein ihr zuliebe wünscht man dem Roman einen guten Ausgang und einen Beweis für Toms Unschuld. Allerdings geht ihre Stärke auch mit mangelndem Realismus einher. Trotz dieser Katastrophe gestattet sich Claire keinen Zusammenbruch, wie es wohl bei so ziemlich jeder anderen Frau der Fall wäre. Das gilt vor allem für den Anfang der Geschichte, als Tom noch vor dem FBI auf der Flucht ist und Claire trotz ihrer Unsicherheit, ob er überhaupt noch lebt, ihr normales Leben so gut es geht aufrechterhält.

|Humor ist, wenn man trotzdem lacht|

Humorvolle Dialoge sind normalerweise ein Gewinn für jeden Roman. Angesichts der dramatischen Lage der Figuren ist es hier jedoch eher unangebracht, dass sie sich trotz allem immer wieder ironische Bemerkungen erlauben. Spitzenreiter in dieser Beziehung ist Claires Co-Anwalt Charles Grimes, der den Zynismus für sich gepachtet hat. Sein Gerechtigkeitssinn und sein Sarkasmus machen ihn zwar einerseits zu einem sympathischen Charakter. Andererseits erscheint es doch unrealistisch, wenn er sich sogar unmittelbar nach dem Lügendetektortest seines Mandanten zu einem witzig gemeinten „Nun? Ist er ein verlogener Schweinehund?“ gegenüber dem Gutachter hinreißen lässt. Egal wie ernst die Lage gerade ist, Grimes lässt keine Gelegenheit zu einem schlechten Scherz aus und stellt damit manchmal nicht nur die Geduld seiner Kollegen, sondern auch die des Lesers auf die Probe.

|Nicht nur für Experten|

Sehr angenehm bei diesem Roman ist, dass man keine besonderen Vorkenntnisse in Sachen Justiz oder Army benötigt, um der Handlung folgen zu können. Die nicht übermäßig zahlreichen Fachausdrücke werden erklärt. Claire ist zwar eine brillante Anwältin, aber kein Spezialist auf militärischem Gebiet, so dass ihr Co-Anwalt ihr mit Hinweisen und Erklärungen zur Seite stehen muss. Geschickterweise werden dadurch sowohl Claire als auch dem Leser die nötigen Informationen über das System vermittelt.

Auch die Sprache ist einfach zu lesen und stellt keine besonderen Anforderungen an den Leser. Trotz gewisser Mängel ergibt sich unterm Strich eine unterhaltsame Lektüre für Fans von Justiz- und Militärthrillern. Wer sich bei Filmen wie „Im Namen der Ehre“ und Autoren wie John Grisham und David Baldacci gut aufgehoben fühlt, der wird auch mit „Auf höchsten Befehl“ gut bedient sein.

_Als Fazit_ bleibt ein unterhaltsamer und vor allem im Mittelteil fesselnder Thriller über Wahrheit und Verschwörungen in der Army. Der Gesamteindruck wird durch ein paar übertriebene Wendungen, vor allem gegen Schluss, ein wenig getrübt. Dennoch empfiehlt sich dieser leicht zu lesende Roman vor allem für Freunde von Spannungsliteratur à la Grisham oder Baldacci.

_Joseph Finder_ wurde 1958 in Chicago geboren und lebte mehrere Jahre in Afghanistan und auf den Philippinen. Nach seinem Studium in Harvard und Yale dozierte er am Russian Research Center von Harvard. Als Journalist schrieb er für die großen amerikanischen Zeitungen. Seine Spezialgebiete sind russische und internationale Politik und Geheimdienste. Weitere Werke sind u. a.: „Goldjunge“, „Die Moskau-Connection“, „Jobkiller“ und „Die Stunde des Zorns“.

Craig Russell – Blutadler [Jan Fabel 1]

Kommissar Jan Fabel jagt in Hamburg einen Serienmörder, Kein irrer, sondern ein gut organisierter Mann Killer begeht diese Taten, die möglicherweise einen erbitterten Bandenkrieg begleiten, der um die Herrschaft im Rotlichtmilieu der Hansestadt tobt … – Der Auftaktband einer neuen Krimiserie entpuppt sich als Designer-Krimi, der mit allen einschlägigen Bestseller-Elementen bestückt wurde. Splatter-Morde, Terroristen, Mafiosi, Neonazis und Neo-Wikinger addieren sich zu einem schneckenlahmen, pseudoliterarisch gestelzten Machwerk, das immerhin durch eine Fülle missglückter Aphorismen amüsieren kann.
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Mainka, Martina – Satanszeichen

Es sind nur noch drei Tage bis Weihnachten, als kurz vor Mitternacht eine Frauenleiche auf dem verlassenen Gelände des Güterbahnhofs gefunden wird. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass der oder die Täter den Körper der jungen Frau mit einem Pentagramm, dem Satanssymbol, versehen haben. Die Ermittlungen ergeben, dass es sich bei der Toten um Delia Landau handelt, die als freie Journalistin arbeitete. Da weder im beruflichen noch im privaten Umfeld jemand sagen kann, mit welchem Thema bzw. welchen Recherchen sich Delia Landau vor ihrem Tod befasste, liegt die Vermutung nah, sie sei okkulten Kreisen, Satanisten, auf die Spur gekommen, die eine Enthüllungsreportage verhindern wollten. Allerdings ergeben die Untersuchungen im Mordfall Landau ein seltsam zerrissenes, ambivalentes Persönlichkeitsbild der Toten, die in gleich mehrfacher Hinsicht ein Doppelleben geführt zu haben scheint. Kaum deuten die Spuren darauf hin, dass es sich bei der Tat eventuell doch um ein Beziehungsdrama handeln könne und das Symbol des Pentagramms die Polizei nur in die Irre führen sollte, werden zwei weitere junge Frauen ermordet – und auch ihre Leichen sind mit dem Satanszeichen versehen …

Mit Elza Linden hat Martina Mainka eine herrlich nikotin- und koffeinsüchtige Kommissarin ins beschauliche Freiburg geschrieben, die sich mit ihrer leicht unkonventionellen, spröden Art eigentlich problemlos eine größere Fan-Gemeinde ermitteln sollte! (Ein wenig verwirrend ist der Untertitel: ‚Der erste Fall für Elza Linden‘, da ich bislang annahm, besagte Kommissarin Linden habe bereits in Mainkas Erstling „Angelika ist tot“ ihr Debüt gegeben). In dem angenehm zurückhaltend erzählten Privatleben der Protagonistin und einem in der Vergangenheit liegenden tragisch-traumatischen Ereignis liegen so viel Substanz, dass man sich – ich nehme es vorweg – wohl auf weitere spannende Fälle um Elza Lindens Team freuen darf. Elzas Kollegen sind ebenfalls authentisch und skurril genug, um im Laufe der Ermittlungen für Abwechslung zu sorgen.

Eine besondere Stärke der Autorin liegt vor allem darin, Situationen wie auch Dialoge lebendig werden zu lassen, Atmosphäre zu kreieren. Nur selten wirkt der Stil etwas gesucht pathetisch, und manchmal treffen die Formulierungen knapp daneben – es sei denn, man mag z. B. Männer, deren Augen ‚an Honig auf warmem Toast‘ erinnern – Appetit macht es ja … Ansonsten liest sich der Text aber durchweg flüssig und, obwohl oder gerade weil die Autorin ihre Protagonistin aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, nehmen die anderen Figuren mit ihrem jeweils eigenen Stil und Charakter Form an. So werden die Szenerie Freiburgs wie auch die Figuren überzeugend lebendig. Und auch der Fall ist glaubwürdig. Einerseits wirkt er im Nachhinein betrachtet extrem konstruiert, andererseits aber auch raffiniert gesponnen. Ganz massiv werden Spuren gelegt, die auf sehr unterschiedliche mögliche Verdächtige und mögliche Motive deuten. Der Haken an dem Ganzen ist jedoch, dass Martina Mainka offensichtlich ihrem Fall eine Botschaft unterlegt. Die darf hier natürlich nicht verraten werden – sie wirkt allerdings leider der Spannung von „Satanszeichen“ entgegen. Eine m. E. ganz bewusste Entscheidung der Autorin, die jedoch damit aus der spannenden Story mit ihren okkulten Ansätzen letztlich das Geheimnisvolle, Mysteriöse wieder herausschreibt. Denn gerade der Zweifel und das Ungewisse hätten die Spannung verstörend zuspitzen können.

So ist „Satanszeichen“ ein klassischer Polizeikrimi, der allein seiner Protagonistin und den Ermittlungen sowie den damit einhergehenden Irrungen folgt. Ein Krimi, der allerdings auch immer nur an der Oberfläche der (psychologischen) Abgründe kratzt, die sich der Text vor allem durch die unzähligen Spuren, die er legt, selbst eröffnet. Das abschließende Fazit kann jedoch nur zur Lektüre raten, denn auch wenn die Autorin wesentlich skrupelloser im Sinne der Spannung hätte vorgehen können und trotz meiner leichten Vorbehalte bezüglich einiger Formulierungen – die übrigens ein etwas gewissenhafteres Lektorat herausgearbeitet(, dafür einige Kommata eingefügt) hätte – gereicht die Grundidee zum Bestseller. Daraus wird in der Ausführung ein sehr passabler Krimi, der wiederum vor allem durch seine Protagonistin besticht.

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Andrews, Russel – Anonymus

Carl Granville, von seinen Freunden „Granny“ genannt, ist ein junger, ambitionierter, aber erfolgloser Schriftsteller. Überraschenderweise lädt ihn ausgerechnet Maggie Peterson, die bekannteste Verlegerin New Yorks, zu einer Besprechung ein. Dabei macht sie ihm ein unglaubliches Angebot: Statt seines verfassten Romans über einen Basketball-Trainer soll Carl für Maggie einen komplett neuen Roman nach ihren Anweisungen schreiben. Bei „Gideon“, so der Titel des geplanten Werkes, handelt es sich um ein hochbrisantes Projekt. Basierend auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, hat Carl die Aufgabe, als Ghostwriter binnen drei Wochen einen Enthüllungsroman zu schreiben, der kurz darauf erscheinen soll. Die Geschichte handelt von einem damals elfjährigen Jungen, der unter schwierigen Bedingungen in den Fünfzigerjahren aufwuchs und eines Tages seinen zweijährigen, behinderten Bruder mit einem Kissen erstickte. Offenbar ist dieser Junge heute eine wichtige Persönlichkeit, die zu Fall gebracht werden soll. Maggie Peterson verspricht, dass der Roman die Bestsellerlisten stürmen und Carl für seine Aufgabe fürstlich entlohnt wird.

Carl willigt ein, ohne die Brisanz der Geschichte zunächst zu erahnen. Doch schon bald zeigt sich, dass hinter der Sache ein großes Geheimnis steckt – spätestens, als er sein Vorlagen-Material persönlich überreicht bekommt, von einem bewaffneten Mann, der nach Belieben in seine Wohnung eindringt und sein tägliches Schreibpensum akribisch überwacht. Harry, so sein Name, begegnet Carl friedlich, weigert sich jedoch, ihm weitere Informationen zu geben. Carl vertieft sich in die Geschichte und erhält den versprochenen Vorschuss von 50.000 Dollar. Kurz darauf wird Maggie Peterson ermordet. Carl wendet sich an ihren Verlag, doch dort muss er entsetzt feststellen, dass niemand von seinem Projekt weiß. Je mehr er seinen Geheimauftrag beteuert, desto mehr Misstrauen schlägt ihm entgegen, bis er plötzlich als Hauptverdächtiger für Maggies Mörder gilt.

Carl flieht zu der einzigen Person, der er noch vertraut: Seine Ex-Freundin Amanda, Journalistin in Washington. Gemeinsam versuchen sie, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Wer ist die offenbar hochprominente Persönlichkeit aus dem Buch, die einst ihren Bruder ermordete? Wer steckt hinter den Enthüllungen und wer hat Maggie Peterson getötet? Schon bald geschehen weitere Morde. Carl und Amanda werden von allen Seiten gejagt – für das FBI sind sie Mörder, für die unbekannten Drahtzieher gefährliche Mitwisser, die ausgeschaltet werden müssen. Die Suche nach der Wahrheit führt die beiden quer durch die USA …

Wer temporeiche Hollywoodthriller mit politischen Verschwörungen mag, der wird an diesem Roman seine helle Freude haben. Das ist das Kurzfazit, das sich dem Leser nach Beendigung des Romans stellt. Damit reiht sich das Werk ein in die Riege jener unterhaltsamen Bücher, die allerdings bei näherer Betrachtung nicht ohne den einen oder anderen Makel daherkommen.

|Sympathie mit Hauptcharakter|

Einer der wichtigsten Punkte für einen guten Roman sind zweifelsfrei die Charaktere. Dem Autor gelingt es gleich zu Beginn, den Leser für seine Hauptfigur Carl Granville einzunehmen, was sich als großes Plus für das Werk erweist. Carl ist eine Sympathiefigur; kein strahlender Held, sondern ein sensibler Mann mit einem Hang zum Chaos, ein jungendlich gebliebener Dreißiger mit dem Charme eines Teenagers. „Granny“, wie sein humorvoller Spitzname schon beweist, erinnert Mitmenschen und Leser in seiner Harmlosigkeit an einen tapsigen Welpen, gepaart mit Intelligenz und Schlitzohrigkeit. Er ist der nette Junge von nebenan, dem man nicht lange böse sein kann und auf dessen Seite man sich fast automatisch stellt. Insofern eignet sich Carl erst recht perfekt für eine Verschwörungsgeschichte, in der man atemlos das Schicksal des Protagonisten verfolgt und eine Identifizierung mit ihm notwendig ist.

Obwohl sie charakterlich fast das Gegenteil von Carl zu sein scheint, schließt man auch seine Ex-Freundin Amanda recht bald ins Herz. Die toughe Reporterin mit dem weichen Kern, der schnellen Auffassungsgabe und dem forschen Auftreten mag sich oft wie eine Kratzbürste verhalten, zögert aber nicht, sich für ihren ehemaligen Lebensgefährten in Gefahr zu begeben. Spätestesn auf der gemeinsamen Flucht der beiden ahnt der Leser natürlich, dass es nicht beim Zweckbündnis der Verfolgten bleibt, sondern dass alte Gefühle wieder auflodern. Dieser Handlungsverlauf ist mehr als offensichtlich, bleibt aber angenehmerweise im Hintergrund. Gerade in Verfolgungsromanen ist es oft ärgerlich zu beobachten, wie das Heldenpaar trotz aller Widrigkeiten noch Zeit für prickelnde Erotik findet. Hier dagegen ist das Szenario in dieser Hinsicht realistisch gestaltet. Es braucht fast zwei Drittel des Buches, bis sich Carl und Amanda romantische Anwandlungen erlauben und auch dann arrangiert sie der Autor in sorgfältiger Zurückhaltung, die ihrer Umgebung angemessen ist.

|Action ohne Längen|

Die Handlung verläuft in einem rasanten Tempo, das den Leser förmlich mitreißt und ihn dazu bringt, das Buch trotz seines nicht geringen Umfangs in kurzer Zeit durchzulesen. Dazu trägt auch der flüssige Stil bei, der keine weiteren Anforderungen an den Leser stellt. Die Wortwahl ist unkompliziert, die Sätze sind übersichtlich und eher kurz gehalten, so dass man keine nennenswerte Konzentration benötigt, um dem Geschriebenen zu folgen.

Spätestens wenn sich herausstellt, dass niemand außer der ermordeten Maggie Peterson von Carls Roman gewusst zu haben schien, niemand im Verlag seine Version glaubt und sogar die Polizei auf ihn als Tatverdächtigen aufmerksam wird, findet man sich in einer hitchcockesken Situation wieder, der man sich nicht entziehen kann. Für viele Menschen ist Carls Lage ein Horror-Szenario – allein auf sich gestellt mitten in einer Verschwörung, von der man weder Hintergründe noch Sinn oder Drahtzieher kennt, ohne einen Menschen, dem man vertrauen kann. Dieser Plot ist alles andere als neu, doch er hat nichts von seiner Wirksamkeit verloren. Der Protagonist steht vor dem Nichts und allein die Vorstellung, es könne einem ebenso ergehen, weckt Gänsehaut und unwohle Gefühle. Es ist ein dankbarer Ausgangspunkt, für den man nicht einmal eine besonders ausgefeilte Handlung braucht, damit der Leser gefesselt ist. Dieser will einfach wissen, wie es weitergeht und wie sich letztlich alles klärt. Genau nach diesem kathartischen Effekt, nach der erlösenden Klärung aller Ereignisse, sehnt sich der Leser, so dass es keiner großer schriftstellerischer Kunst bedarf, um ihn bei der Stange zu halten.

|Humor ist, wenn man trotzdem lacht|

Kleine Abzüge gibt es dagegen für den hin und wieder aufgesetzten Humor, der zwar den Unterhaltungseffekt verstärkt, aber in seiner Dosierung sparsamer und gezielter hätte verwendet werden sollen. So strotzen die Dialoge, vor allem zwischen Carl und Amanda, nur so vor Schlagfertigkeit und Esprit, was dem Ernst der Lage nicht immer angemessen ist. Als sich Carl beispielsweise in höchster Not in Amandas Wohnung vor einem FBI-Beamten verstecken muss, hat er unmittelbar darauf nichts Besseres zu tun, als Amanda bissig darauf hinzuweisen, dass sie „gottverdammte Mäuse“ in ihrer Wohnung hat, die ihm über die Beine gekrabbelt sind. Gleiches gilt für Amanda, die einen Vorwurf Carls sarkastisch kommentiert, dass es ihr an Übung fehle, Leute zu verstecken und sie „Bonnie und Clyde“ schon zu lange nicht mehr gesehen habe. Beinah nervig wird es beim virtuellen Austausch zwischen Amanda und einer befreundeten Kollegin, die den beiden als Hackerin wichtige Informationen verschafft. Zum einen erscheint es konstruiert, dass Amanda ausgerechnet ein journaliastisches Ziehkind kennt, dem sie hundertprozentig vertrauen kann und das in Minutenschnelle alle angeforderten Daten per Computerhack besorgt, so dass Amanda und Carl stets eine gute Chance haben, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Zum anderen sprühen auch die Computer-Dialoge zwischen Amanda und ihrer Freundin Shaneesa nur so vor Flapsigkeit und pseudo-witzigen Sprüchen, für die realistisch betrachtet definitiv kein Spielraum sein dürfte. Diese Dialoge im Stil einer Screwball-Komödie ziehen sich durch die gesamte Handlung und erinnern fatal an diverse Hollywood-Reißer, in denen der Held in jeder noch so brandgefährlichen Lage einen flotten Spruch auf den Lippen trägt.

Dadurch verliert der Roman allerdings zwangsläufig auch ein wenig von seiner Brisanz, denn ebensowenig, wie der coole, sprücheklopfende Held eines Hollywood-Reißers am Ende mit seiner Mission scheitert, fürchtet man ernsthaft um das Leben von Carl und Amanda. Dazu ist das Pärchen einfach zu sehr auf Sympathie ausgelegt, dazu verläuft die Geschichte nach zu konventionellem Muster. Der Leser soll sich mit den Protagonisten identifizieren, ihnen ihr Glück gönnen und sich auf das Happy-End freuen, ohne daran zu zweifeln, dass die Gerechtigkeit siegen wird. Dadurch erhält der Roman ein gewisses Fastfood-Flair. Man konsumiert ihn und fühlt sich dabei für den Moment befriedigt, ohne dass er eine nachhaltige Wirkung hinterließe.

_Als Fazit_ bleibt ein unterhaltsamer Thriller über Verschwörungen, Geheimnisse, Verfolgungsjagden und den Kampf gegen einen gesichtslosen Gegner, kombiniert mit einer zarten Liebesgeschichte. Mit viel Tempo und Humor jagen die sympathischen Protagonisten quer durch Amerika, wobei es die Autoren (s. u.) hin und wieder mit den witzig gemeinten Dialogen übertreiben. Die Handlung ist zwar nicht originell, aber solide inszeniert und bietet ein kurzweiliges Lesevergnügen ohne Längen.

_Russell Andrews_ ist das Pseudonym zweier US-Autoren, Peter Gethers und David Handler. Beide arbeiten auch als Drehbuchschreiber, Gethers ist seit 1980 Lektor bei |Random House|. Von „Russell Andrews“ erschienen desweiteren die Thriller „Midas“, „Icarus“ und „Das Aphrodite-Experiment“.

Max Allan Collins – CSI Las Vegas: Tödlicher Irrtum

Das geschieht:

Zwei Fällen beschäftigen das bewährte „Crime-Scene-Investigation“-Team (CSI) dieses Mal. Gil Grissom, der Chef, und seine Kollegen Sara Sidle und Nick Stokes bearbeiten gemeinsam mit Captain Jim Brass vom Las Vegas Police Department das seltsame Verschwinden der Rita Bennett. Die reiche Autohändlerin ist vor einem Vierteljahr gestorben und wurde nach Ansicht der Tochter von ihrem Lottergatten umgebracht. Eine Exhumierung sollte Klärung bringen. Stattdessen findet sich in Ritas Sarg eine fremde Leiche: Kathy Dean, gerade 19 Jahre alt, wurde ganz sicher ermordet, denn in ihrem Hinterkopf findet der aufmerksame CSI-Pathologe Robbins ein Einschussloch.

Wie wurden die Leichen vertauscht? Die Vorschriften für das Bestattungswesen sind in Las Vegas streng. Entweder ist die Tat auf dem Friedhof oder im Bestattungsinstitut begangen worden. Dort streitet man eine Schuld natürlich energisch ab. Doch die CSI-Mannschaft erkennt eine Verbindung zwischen der verstorbenen Kathy Dean und dem aalglatten Dustin Black, dem Leiter der „Desert Haven Mortuary“. Mann und Mädchen kannten sich, was Black den Ermittlern verschwieg. Nachdem eine Untersuchung der Leiche ergab, dass Kathy zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger war, erregt dieses Verhalten Verdacht und bedingt intensive Nachforschungen. Max Allan Collins – CSI Las Vegas: Tödlicher Irrtum weiterlesen

John Connolly – Das dunkle Vermächtnis [Charlie Parker 2]

Ex-Polizist Charlie Parker gerät ins Schussfeld der Mafia, die nach verschwundenen 2 Mio. Dollar sucht. Gangster, schießfreudige Hinterwäldler und ein gruseliges Killerpärchen mischen sich ein, aber erst als auch noch ein mythischer Serienmörder auftaucht, bekommt Parker echte Schwierigkeiten … – Der 2. Parker-Thriller verbindet abermals gekonnt Thriller-‚Realität‘ und Jenseits-Mystik. Obwohl die Eindringlichkeit des Vorgängerbandes fehlt, bleibt „Das dunkle Vermächtnis“ ein ausgezeichneter, weil spannender und gut geschriebener Roman.
John Connolly – Das dunkle Vermächtnis [Charlie Parker 2] weiterlesen

Montanari, Raul – Rückkehr eines Mörders

„Rückkehr des Mörders“ ist eines dieser Bücher, von denen man anfangs nichts Spektakuläres, sondern einfach nur gute Unterhaltung erwartet, dann aber vom Inhalt total umgehauen wird. Ein unscheinbares Cover, ein dürftiger Klappentext und ein fast schon belangloser Titel – was soll an diesem Buch schon so besonders sein? Nun, besonders ist diese beklemmende, teils auch schon fast furchterregende Atmosphäre, die von den Charakteren in der Story ausgeht. Raul Montanari hat einige sehr brutale Figuren erschaffen und lässt diesen innerhalb der Erzählung auch weitestgehend freie Hand, was die Action anbelangt. Was dabei herausgekommen ist, ist schließlich weitaus mehr als das, was der kurze, unscheinbare Text auf dem Buchrücken vermuten lässt. „Rückkehr eines Möders“ bohrt nämlich um einiges tiefer und geht dabei bisweilen tief in die menschliche Psyche und ihre erschreckendsten Auswüchse hinein – nur um am Ende so simpel und direkt zu wirken, dass man, wahrlich fasziniert vom effektreichen Stil des Autors, Beifall klatschen muss!

_Story_

13 lange Jahre hat Andrea in Kanada verbracht, und in all dieser Zeit hat sich der ursprünglich aus einem kleinen italienischen Dorf stammende Mann wie ein Aussätziger gefühlt. Weggeekelt hat man ihn einst, als die junge Ilaria gestorben und Andrea des Mordes beschuldigt wurde. Und bis heute ist sich das gesamte Örtchen sicher, dass der langhaarige Schönling hinter dem Verbrechen steht. Andrea hat diesen Gedanken nie aus seinem Kopf vertreiben können, selbst wenn er nun in Kanada als Polizist ein ganz neues Standbein aufgebaut hat.

Eines Tages treibt ihn der Tod seiner Mutter zurück in seine Heimat, in der sich allerdings nichts verändert hat. Bereits bei seiner Ankunft schlägt ihm Feindseligkeit entgegen, als Ilarias Bruder Loris ihn erkennt, und nur wenige Stunden später muss Andrea bereits den Zorn der versammelten Dorfgemeinschaft spüren. Ganz anders hingegen reagiert die jugendliche Dora auf die Ankunft des verhassten Verdächtigen. Die Tochter des damals ermittelnden und mittlerweile an den Rollstuhl gefesselten Polizisten ist fasziniert von der Ausstrahlung Andreas – ganz zum Unmut ihres Vaters und ihrer Stiefmutter Antonella, die damals eine Affäre mit Andrea hatte. Je mächtiger der Hass der Anderen wird, desto größer wird auch ihr Verlangen nach Andrea, dem dies ebenfalls nicht entgeht. Immer wieder treffen die beiden aufeinander, doch die flüchtigen Momente reichen nicht aus, um ihre Begierde zu befriedigen. Außerdem lebt es sich für Andrea immer gefährlicher. Nicht nur Loris und sein Bruder Gianni haben sich gegen ihn verschworen; auch der brutale Sportstar Mauro schreckt vor keiner Grausamkeit zurück und stellt sich kompromisslos gegen Andrea. Dieser bewahrt jedoch die Ruhe und begibt sich daran, das Verbrechen von damals auf eigene Faust aufzudecken. Speziell der mysteriöse und um lehrreiche Geschichten nie verlegene Pfarrer Don Alfio scheint mehr zu wissen, als er zunächst zugibt. Doch bevor Andrea richtig klarsieht, wird auch schon ein weiterer Mensch tot aufgefunden, und es scheint, als würden die Emotionen von damals nun noch in weitaus schlimmerer Form wiederbelebt werden …

_Meine Meinung_

Die ersten Kapitel dieses Buches waren eine echte Qual, weil Montanari durch die Aufdeckung sehr vieler Tatsachen schon enorm schnell auf den Punkt kommt und die Geschichte bereits gelöst zu sein scheint, bevor sie richtig anfängt. Entsprechend habe ich mich bis zum Ende des ersten Fünftels dann auch eher gelangweilt, bis dann endlich mal so richtig Fahrt in die Sache kam und die wahren Hintergründe bzw. die echten Persönlichkeiten der Hauptcharaktere zum Vorschein traten. Oder zumindest das, was man hinter Leuten wie Mauro, Don Alfio, der Wahrsagerin Anna und dem körperlich eingeschränkten Werner vermutet. Und ab diesem Zeitpunkt ist „Rückkehr eines Mörders“ auch eine echte Berg- und Talfahrt, bei der sich die Rollen der beteiligten Hauptpersonen ständig ändern, so dass sich gleichzeitig auch die Perspektive des Lesers von Sinneinheit zu Sinneinheit wieder komplett erneuert.

Montanari hat sich am Anfang recht viel Zeit gelassen, den Schauplatz und den gesamten Rahmen vorzustellen, und die Folge ist, dass man sich recht schnell in Sicherheit wiegt, weil man glaubt, bereits alles über die einzelne Charaktere zu wissen. Doch das genaue Gegenteil trifft letztendlich zu; wirklich jede einzelne Person nimmt in diesem Buch mehrfache Wandlungen vor und gerät unerwartet in ein ganz anderes Licht. Hinter jedem schwebt ein unantastbares Mysterium, das sich absolut nicht ergründen zu lassen scheint und dem man während des gesamten Buches stets auf der Spur ist. Und dabei ist man sich ja doch eigentlich immer sicher zu wissen, wie es damals abgelaufen sein muss und wer genau dahintersteckt, da Montanari ohne jegliche Wertung schon ganz klar die ‚Guten‘ von den ‚Bösen‘ trennt. Doch dann wieder verliert man die Sicherheit des einstweiligen Verdachts und grübelt erneut darüber, wie der Tathergang gewesen sein muss.

Die Aufdeckung des Mordes von damals ist jedoch nur die Rahmenhandlung dieses Buches; weit wichtiger ist hier die eigentliche Rückkehr Andreas mit all ihren unschönen Nebenwirkungen. Und hier geht der Autor selber auch keine Kompromisse ein; vor allem auf die Beschreibungen der vielen Schlägereien lässt er sich sehr detailliert ein und rutscht nicht nur einmal mit seinen Schilderungen in übelsten Gossen-Slang ab. Vor allem die Bearbeitung des Genitalbereichs bei diesen Aggressionen haben es ihm angetan und tauchen gerade in den gewaltreichen Szenen gehäuft auf. Die einzige Schwäche stellt diesbezüglich auch die Wortwahl dar. Montanari liebt anscheinend den Begriff ‚Schwanz‘ und verwendet ihn auch gerne in jedem Zusammenhang der Gefühlslage des Protagonisten. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen, das deutlich machen soll, mit welch simplen sprachlichen Mitteln der Autor in diesem Buch arbeitet. Simplizität ist in diesem Fall aber auch ganz klar mit Effektivität gleichzusetzen, und das in allerlei Hinsicht.

Raul Montanari hat nämlich durch die vielfältigen Nebenstränge dafür gesorgt, dass die Geschichte von allen Seiten immer wieder neue Impulse bekommt, ohne dafür ein großartiges Brimborium veranstaltet zu haben. Die Fakten liegen immer klar auf der Hand, und dennoch liegen dem Autor zahlreiche Möglichkeiten offen. So spielt er zum Beispiel mit der erotischen Anziehungskraft zwischen Dora und Andrea und mit der scheinbaren Überlegenheit des Dreiergespanns Loris/Gianni/Mauro und setzt diese immer wieder perfekt ein. Gleiches gilt für den Pfarrer, oder aber für Anna und nicht zuletzt für die unglücklich verheirateten Werner und Antonella. Alle Personen haben markante Eigenheiten und offenkundige Motive, lassen sich aber trotzdem in kein ersichtliches Schema einordnen. Und um diese ständige Ungewissheit auf Seiten des Lesers zu erreichen und ggf. noch zu verstärken, greift der Autor fast ausschließlich auf sehr simple Mittel zurück, aber das mit Bravour.

„Rückkehr des Mörders“ ist ganz sicher kein komplexes Buch und überzeugt durch einen sehr gradlinigen, gut durchstrukturierten Ablauf. Trotzdem aber ist die Story enorm reich an Wendungen und Spannung, speziell im letzten Drittel, bei dem es wirklich Schlag auf Schlag geht. Wenn hier überhaupt etwas stören könnte, dann die oftmals bemühte umgangssprachliche Wortwahl, doch im Grunde genommen passt diese sich auch nur der skrupellosen Umgangsart der jungen Italiener innerhalb der Geschichte an. Man sollte sich jedenfalls auf keinen Fall von den nichts sagenden Worten auf dem Rücken des Buches irritieren lassen, denn in „Rückkehr des Mörders“ steckt letzten Endes eine ganze Menge mehr als das, was man auf den ersten Blick vermutet.

_Fazit_

Raul Montanari hat eine sehr intensive, fesselnde Story kreiert und sich dafür einen nahezu perfekten Schauplatz ausgesucht. Dass nicht immer alles den gängigen Konventionen entspricht, ist dabei das innovative Momente dieses eigentlich einfach gestrickten, in letzter Konsequenz aber durch und durch genialen Buches. Ganz klare Empfehlung meinerseits!

Wilson, Robert – Toten von Santa Clara, Die (Javier Falcón 2)

Es ist ein altbekanntes Dilemma: Männer mittleren Alters verändern sich nicht mehr!
Diese Behauptung könnte auf Erfahrungswerten beruhen, stammt in diesem Falle aber nicht von mir, sondern ist ein Zitat des Autors Robert Wilson. Und dieser stand somit vor einem Problem: Denn eine glaubwürdige Figur eines Leiters der Mordkommission bedarf einiger (Dienst-)Jahre und einer gewissen Lebenserfahrung – ist somit ein Mann ‚in den besten Jahren‘. Ein interessanter Protagonist jedoch braucht die Chance, sich zu entwickeln, sich von festgefahrenen Gewohnheiten und dem Alltagstrott zu befreien. Um diese komplexe Kernfrage zu lösen und seinem Protagonisten die Möglichkeit eines Neuanfangs zu bieten, ließ Wilson seinen Inspector Jefe Javier Falcón in „Der Blinde von Sevilla“ ein sehr persönliches, traumatisches Ereignis durchleben, das sein gesamtes Selbstbild bis in die Grundfesten erschütterte und einen Nervenzusammenbruch auslöste.

„Der Blinde von Sevilla“ wurde zu einem kleinen Meisterwerk, das sich jedoch vorrangig durch die tragischen Familienverhältnisse und den Seelenstriptease des Protagonisten Falcón auszeichnet. Es ist außergewöhnlich, wie es Wilson gelingt, das Große im Kleinen zu spiegeln – also Weltgeschichte im persönlichen Drama einzufangen. Die Demontage der Persönlichkeit Falcóns, die Zerstörung der übergroßen Vaterfigur, des Künstlers Francisco Falcón, reflektiert die Zerstörungswut und Tragik eines gesamten Jahrhunderts. Dabei tritt jedoch der überaus brisante Fall der eigentlichen Todesermittlung etwas in den Hintergrund, sodass Wilson zwar vollendet, mit großem Anspruch und überaus spannungsvoll das Krimi-Genre erweiterte – seine Aufmerksamkeit aber für meinen Geschmack zu sehr auf seinen gebrochenen Protagonisten richtete.

Im vorliegenden Folgeband „Die Toten von Santa Clara“ begegnet man einem immer noch etwas instabilen Falcón, der sich über die aktuelle Lage seiner Psyche nicht ganz sicher zu sein scheint und der sein ’normales‘ Auftreten tragikomisch auf seinen Tablettenkonsum zurückzuführen weiß. Nichtsdestotrotz scheint Falcóns Selbstbild wieder gefestigter und selbstsicherer, sodass er gleich zu Beginn der Ermittlung einen komplexen Kampf an mehreren Fronten aufnehmen kann.

Zunächst einmal begegnet er Consuelo Jimenéz, einer überaus beeindruckenden Frau, die in „Der Blinde von Sevilla“ eine bedeutende Rolle spielte. Weiterhin trifft er zum ersten Mal nach einem Jahr auf den Staatsanwalt Esteban Calderón, der mit Falcóns Exfrau Inés verbandelt ist und diese Beziehung demnächst vor dem Traualtar legalisieren will. Allein diese beiden Begegnungen bieten genug Zündstoff, um Falcóns aufgewühltes (Innen-)Leben auf Trab zu halten. Aber dann ist da letztlich noch dieser seltsame Todesfall, den die Staatsanwaltschaft allzu rasch als Selbstmord abhaken möchte.

Gerufen wird Falcón in das gepflegte barrio (Vorort) Santa Clara, wo der Bauunternehmer Rafael Vega nach der Einnahme von Abflussreiniger tot in der Küche aufgefunden wurde. Im Schlafzimmer findet man seine ermordete Frau Lucía. Die Tat wirkt wie ein typischer Selbstmordpakt, bei dem der Mann zunächst seine Frau und dann sich selbst tötet. Doch bei genauerer Betrachtung will nicht jedes Detail in dieses Szenario passen, und Falcón entschließt sich zu ermitteln.

Überaus seltsam scheint die Notiz, die bei dem Toten gefunden wird: ‚… in der dünnen Luft sein, die ihr atmet, vom 11. September bis zum Ende…‘ Mit diesem kryptischen, fast poetischen Hinweis auf das Datum eines Terroranschlags macht Falcón sich auf die Suche nach den Hintergründen im Umfeld der Toten, nach einem Motiv für einen eventuellen Mörder. Dabei trifft er in der Nachbarschaft der Vegas nicht nur auf besagte Consuelo Jimenéz, sondern auch auf das amerikanische Pärchen Krugman und den alternden Schauspieler Pablo Ortega.

Während sich im Verlauf der Ermittlungen Falcón immer wieder der Frage stellen muss, ob sein Instinkt ihn trügt und der Todesfall Vega vielleicht doch ’nur‘ ein Selbstmord war, offenbaren seine Befragungen die seltsamsten Erkenntnisse: So erfährt Falcón nach und nach, dass der Tote Vega in seiner Freizeit gern schlachtete, offensichtlich Kontakte zur Russenmafia pflegte und ein obskures Doppelleben zu verbergen schien. Falón erfährt, dass die Fotografin und femme fatale Madeleine Krugman ein Foto von einem völlig verstörten Falcón in ihrer Sammlung präsentieren kann. Desweiteren stürzt sich ein Nachbar in die Jauchegrube, die einst sein eigenes Haus war, und Falcón glaubt, er müsse sich um dessen Sohn kümmern. Ein Polizist begeht Selbstmord. Und wie auch noch der moderne Sklavenhandel, ein Netzwerk Pädophiler, die Russenmafia und Geheimdienste ins Spiel kommen, scheint schwer vorstellbar und wäre wohl bei vielen Autoren in eine schier unglaubliche Farce abgedriftet. Doch kann man beruhigt Robert Wilson vertrauen, der, wie es wohl die wenigsten Autoren vermögen, grandios aktuelles Weltgeschehen wie Historie in den Alltag seiner Figuren einflechten kann und dabei an Glaubwürdigkeit noch gewinnt.

Wer am Ende alle Ereignisse auf Haupt- und Nebenschauplätzen chronologisch zusammensetzt, erkennt, welcher Fülle an Verbrechen und Tätern Falcón auf die Spur kommt. Das aber gelingt Wilson in einem erstaunlich gemächlichen Tempo, bei dem die Kunst der Konversation im Vordergrund steht, sodass die Figuren an ungeahnter Tiefenschärfe gewinnen.

Einen minimalen Einwand möchte ich allerdings nicht verschweigen: Wilsons Frauenfiguren irritieren mich. Allesamt ein wenig überzeichnet und durchweg alle so reizvoll und lockend, wie das Weib nun einmal sein soll. (Die Ex-Nonne Ferrera, die nun in Falcóns Team ermittelt, einmal ausgenommen.) Zwar differenziert Wilson den Grad der Verlockung, doch bleiben die Frauenfiguren zu sehr Statistinnen, an denen sich die Herren abarbeiten dürfen. So kann man Falcón moralisch bald auf die Schulter klopfen, wenn er die Spielchen der femme fatale, die ihn eben noch reizte, schnell angewidert ablehnt. Und wer könnte nicht einen heißblütigen Staatsanwalt ob seiner tragischen Obsession ebenso beneiden wie bedauern oder gar verurteilen? Für Maddy Krugman zumindest, der wir von Beginn an nur ‚auf den Hintern schauen‘, hätte ich mir gern etwas mehr Substanz als das alte Spiel des Jagens und Gejagtwerdens gewünscht.

Der Stil von „Die Toten von Santa Clara“ scheint simpel, ist aber gesucht präzise und abgründig im Hinblick auf Details, die vor allem ein Panorama aufgewühlter Seelen unter der normal anmutenden Oberfläche offenbaren. Es ist famos, mit welcher subtilen Ruhe Falcón an den glänzenden Fassaden kratzt, bis der Schein von Glück, Frieden und Normalität einstürzt. Ein gekonnter Schachzug ist dabei die gewählte Kulisse des maravillosa Sevillas – der Stadt der Lebensfreude, die dem Leser sehr plastisch und verlockend vor Augen tritt, gerade weil Wilson hinter die Front der Fröhlichkeit schaut.

Die Bücher aus der Javier-Falcón-Serie bieten spannungsreiche Einsichten in weltliche Abgründe und sind ein absoluter Garant für beste Unterhaltung auf überdurchschnittlichem Kriminalroman-Niveau. Was das Genre Krimi betrifft, sind „Die Toten von Santa Clara“ eindeutig eine Steigerung zum ersten Band der Serie!

„Die Toten von Santa Clara“ sind im neu gegründeten Verlag |Page & Turner| als schön und einfallsreich gestaltetes Hardcover erschienen; ein spannendes Interview mit dem Autor zu diesem Text findet sich hinter folgendem Link: http://www.curledup.com/intrw2.htm.

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Henry Kolarz – Nachts um 4 wird nicht geklingelt

Im Jahre 1959 sitzen im Zuchthaus Ivy Bluff, gelegen im US-Staat North Carolina, 37 Kapitalverbrecher der unverbesserlichen Sorte ein. Hier sollen sie nicht rehabilitiert, sondern weggeschlossen und mit jenem Eifer bestraft werden, der für die gesetzestreuen und frommen Bewohner der Südstaaten typisch ist. Die Männer hinter Gittern müssen im Steinbruch schuften, werden mit einem Brei aus Schweineleber und Maismehl gefüttert, dürfen nicht lesen, rauchen oder entspannen, werden von abgestumpften, tückischen Wächtern misshandelt. Ihre berechtigten Proteste verhallen ungehört.

An einem kalten Dezembertag wagen 19 Männer den Ausbruch. Mörder, Vergewaltiger, Bankräuber, Psychopathen sind es, die Ivy Bluff den Rücken kehren. Wie Tiere hat man sie gehalten, sie haben nichts zu verlieren, sind zu allen entschlossen. Blitzschnell zerstreuen sie sich in alle Himmelsrichtungen, springen auf Güterzüge, stehlen Autos oder verkriechen sich in abgelegenen Schlupfwinkeln. Sie nehmen Geiseln, sie rauben und töten.

Angst greift unter den braven Bürgern Amerikas um sich. 19 tollwütige Teufel treiben ihr Unwesen! Starke Männer schlafen mit der Waffe in der Hand, Mütter, Hausfrauen und behütete Töchter weinen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Glücklicherweise ist das Gesetz stark in Amerika. Gottes kriminalistische Zuchtrute auf Erden – FBI-Chef J. Edgar Hoover – setzt seine besten Männer auf den Fall an. Sie rasten und ruhen nicht, treiben die Strolche, denen die Knie zittern, wenn das Wort „FBI“ fällt, in die Enge. Aber der Teufel sorgt trotzdem für die Seinen: Obwohl Polizisten jeden Stein umdrehen und auch redliche Bürger ihre Nachbarn noch schärfer als üblich – es könnten ja Kommunisten sein – im Auge behalten, schlüpfen einige Schufte ihren Verfolgern durch die Maschen. Wochen und Monate vergehen, in denen das Lumpenpack für Angst & Schrecken sorgt, bis letztendlich das Gesetz obsiegt …

Henry Kolarz schrieb seinen „Roman nach Tatsachen“ im Jahre 1961. Dem Buch ging eine Reportageserie für die Illustrierte „Stern“ voraus, für die der Verfasser angeblich vor Ort recherchierte. Theoretisch muss er also über Fakten und Hintergründe informiert gewesen sein. Für den Roman beschloss Kolarz indes diese zugunsten der Spannung weitgehend zu ignorieren.

Jeder billige Trick ist ihm dabei recht. Der Ausbruch von Ivy Bluff ist in seinem historischen Ablauf recht gut belegt. Besagte Fakten sprechen eigentlich für sich. Kolarz sucht jedoch das menschliche Drama. Ihn interessiert das Verhalten von 19 verzweifelten, gefährlichen Männern auf der Flucht. Was treibt sie, was fühlen sie, wie gehen sie miteinander und mit den Menschen um, die sie immer wieder treffen? Das sind gute Fragen, die der Verfasser freilich nie gestellt zu haben scheint. Er nutzt das Ivy-Bluff-Geschehen stattdessen als Aufhänger für ein Thrillergarn, das als Vorlage für ein zeitgenössisches B-Movie dienen könnte.

Effekthascherei und moralinsaure Klischees bestimmen die Handlung. Kolarz’ Amerika ist die Kulisse, in der auch die „Jerry Cotton“-Filme der 1960er Jahre gedreht werden. Von einem echten Verständnis für Land und Leute kann nicht die Rede sein. Die Figuren denken und reden in Phrasen. Die Story orientiert sich nur lose an den tatsächlichen Ereignissen. Kolarz „interpretiert“ und interpoliert, erfindet ganze Handlungsstränge so, dass sie ins von ihm geschaffene Gesamtbild passen.

Dieses ist eindeutig der Sensationslust verpflichtet. Allen Ernstes versucht Kolarz seinen Leser weiszumachen, dass 19 Verbrecher ein Land von der Größe der Vereinigten Staaten terrorisieren könnten. Tatsächlich waren die Männer von Ivy Bluff der Justizmaschine, die ihr Ausbruch in Gang setzte, nie gewachsen. Die meisten Häftlinge wurden rasch gefasst. Dass andere länger frei blieben, lag eher an der Unfähigkeit ihrer Jäger und der Tücke des Objekts als an ihrem kriminellen Geschick.

Natürlich kann auch keine Rede von einer „Blutspur“ sein, welche die Ausbrecher durch das Land zogen. Auch Kolarz kann nicht leugnen, dass diese neue Verbrechen fast ausschließlich begingen, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Er versucht das zu vertuschen, indem er die Flüchtlinge ständig streiten, fluchen und ihren Opfern mit „Umlegen“ drohen lässt – kindisches Gehabe, das wohl nur Filmgangster an den Tag legen. Dazu passt ein Stil, der dokumentarische Sachlichkeit mit der naiven Nachäffung dessen mischt, was der Autor für „hartboiled“ hält. War er tatsächlich vor Ort? Hat er mit Amerikanern gesprochen? Sich umgesehen? Das zu glauben fällt wie gesagt sehr schwer.

Schwarz-Weiß-Malerei betreibt Kolarz auch in der Figurenzeichnung – dies sogar buchstäblich: Mit unerfreulicher Geschmeidigkeit macht sich der Autor den Rassismus der US-Südstaaten zu Eigen. Oder liegt er womöglich auf ähnlicher Linie? Geradezu niederträchtig setzt Kolarz auf rassistische Klischees, um seinem Thriller Schwung zu verleihen. Dabei achtet er sorgfältig darauf, entsprechende Äußerungen stets seinen Ausbrecherfiguren in den Mund zu legen – es sind schließlich Schwerverbrecher, denen man jede Schlechtigkeit zutrauen darf.

Also ist es Gangster Anderson, der die „Neger“ (das durfte man 1961 problemlos schreiben) für die Leser folgendermaßen über den Kamm schert: „Stinken, fressen, und ‚rumhuren – das ist alles, was die können.“ (S. 36) Doch es ist Kolarz, der auf den folgenden Seiten alles daran setzt, diese bösen Unterstellungen mit Leben zu füllen. William Shaw, dessen Porträt (zusammen mit den Fotos seiner Komplizen) auf dem Cover der deutschen Erstauflage abgedruckt ist und alles andere als eine Galgenvogelphysiognomie aufweist, wird bei ihm zum hässlichen, blöden, brutalen, verfressenen und vor allem ewig geilen Unhold, der es auf „unschuldige“ weiße Frauen abgesehen hat, bei deren Anblick „seine Zunge feucht aus den dicken Lippen schoss“ (S. 67). Selbst seine Kumpane ekeln sich vor ihm und prügeln den „Nigger“ tüchtig, damit er sich „benimmt“.

Auch sonst bedient Kolarz gern alle einschlägigen Vorurteile. Wenn Ausbrecher Stewart einen schwarzen Eisenbahnarbeiter überfällt, um dessen Kleidung zu rauben, wird dies so eingeleitet: „Ein Neger richtete sich schlaftrunken im Bett auf und glotzte Stewart blöde an … ‚Ich hab’ nichts verbrochen, Massa!'“ (S. 39). Später gerät Stewart in New York unter die „Portoricaner“ – gemeint sind Zuwanderer von der Karibik-Insel Puerto Rico. Die schildert Kolarz als „Halbaffen“, welche „ihren“ Stadtteil fest im Griff haben und gegenüber den alteingesessenen (natürlich weißen) Bürgern unverschämt auftreten: „Jetzt haben sie sich auf der ganzen Westseite eingenistet … Zu Hause auf ihrer Insel hätten sie arbeiten müssen, aber hier gibt man ihnen fünfunddreißig Dollar in der Woche Unterstützung. Und die Behörden wagen es nicht, sie hart anzufassen. Ihre Stimmen können Wahlen entscheiden.“ (S. 157) Also: Vorsicht vor Fremdlingen, deutsche Leser, auf dass es uns nicht ebenso ergeht! (Ach ja: Und um 4 Uhr morgens liegen ordentliche Menschen im Bett – es muss also ein Strolch sein, wenn es um diese unchristliche Zeit an der Tür klingelt!)

Wohl unfreiwillig gelingt Kolarz das Kunststück, in seinem Roman nicht eine sympathische Figur auftreten zu lassen. Seine Ausbrecher sind selbstverständlich vertierte Rohlinge, die nichts als Raubmord & Vergewaltigung im Kopf haben. Wenn’s aber zur Sache geht, werden sie eigenartig zimperlich – Pech für Kolarz, dass die 19 Unholde nachweislich nur einen Mann umbrachten. So muss er sie über weitere Schreckenstaten eben fantasieren lassen.

Möglichst deutlich soll der Unterschied zwischen Abschaum und Vorschriftsbürger ausfallen. Der US-amerikanische Durchschnittsjoe würde sich nach Kolarz dem Terror nichtswürdiger Strolche normalerweise niemals beugen und diese unerschrocken Mores lehren. Leider steht ihm in der Regel eine schwache Frau im Weg, die beschützt werden muss und dabei heftig klammert. Kolarz-Frauen sind ängstlich, willenlos, abhängig von „ihrem“ Mann/Vater/Bruder. In der Krise zerfließen sie in Tränen, verfallen in blinde Panik und sind auch sonst die reinste Landplage.

Das Gesetz repräsentieren nach Kolarz ausschließlich aufrechte, unbestechliche Männer, die das Verbrechen mit Leib und Seele hassen. Ist ein Mensch kriminell geworden, so trägt er selbst die Schuld daran. Aufgabe der Polizei ist es, ihn zu verfolgen und zu fassen. Will er nicht aufgeben – umso besser: Gefangene werden ungern gemacht; man spart dem Staat gutes Geld, wenn man solches Pack umgehend austilgt.

Die Elite der Strafverfolger bildet „FBI“, von Kolarz penetrant ohne Artikel genannt. Stellvertretend für dessen Mitarbeiter stellt uns der Verfasser Mike Pastrato vor, „41 Jahre alt, Besitzer eines bis auf einen kleine Rest abbezahlten Hauses im Villenviertel und Vater von drei Kindern, die davon träumen, später auch einmal FBI-Agenten zu werden.“ (S. 45) Nach dem Mittagessen zieht Mike stets ein frisches Oberhemd an; ein halbes Dutzend Hemden hängt in seinem Aktenschrank. Ja, das sind die Menschen, die Amerika zu dem machen, was es geworden ist: manisch sauber, fleißig, angepasst & wie ein Zahnrad funktionierend.

So ließe es sich leicht viele Seiten weiter schimpfen und schaudern, doch es soll an dieser Stelle genug sein. „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“ sollte heute, mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung, ganz sicher nicht als Tatsachenbericht, sondern als (schlechter) Roman gelesen werden. Miserable Thriller gibt es allerdings auch in der Gegenwart mehr als genug. Wieso also Zeit an diesen alten Schinken verschwenden?

Weil „Nachts um 4 …“ inzwischen selbst zum Zeitdokument geworden ist. Anders ausgedrückt: Hier redet der Zeitgeist, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. 1961 ist noch nicht gar so lange her – und 1961 lag 1945 gerade 16 Jahre zurück. Da erstaunt die Offenheit, mit der „Neger“ und „Portorikaner“ unverhohlen dämonisiert und letztlich entmenschlicht werden, ohne dass sich jemand dadurch gestört gefühlt hätte. Insofern ist auch „Nachts um 4 …“ ein weiteres Indiz dafür, dass 1945 für das „deutsche Wesen“ keinen glatten Schnitt und Neuanfang bedeutete.

Interessant ist darüber hinaus die schlichte Schwarzweißsicht, die Kolarz einem ganzen Kontinent aufprägt, wobei er Amerika schreibt aber Europa bzw. Deutschland meint. Die Obrigkeit hat immer Recht, also gehorche ihr als Bürger und sei ihr dienstbar. Wer nicht mitspielt, macht sich als Außenseiter verdächtig und steht bereits mit einem Bein im Gefängnis. Ist man dort angelangt, hat man seine Menschenrechte verwirkt und ist eine Bestie, die am besten abgeknallt wird; in der Tat hat man den Ausbrecher Yank Hensley von Amts wegen zum Vogelfreien erklärt: Jeder brave Bürger durfte ihn ohne Warnung niederschießen. Es fällt schwer zu glauben, dass dies in einem zivilisierten Land unter „Rechtsprechung“ fiel.

Aber mit Recht & Gesetz ist das in den USA seit jeher eine besonders Sache … Ivy Bluff selbst ist ein gutes Beispiel dafür. Diese Einrichtung nimmt auf der Liste der historischen Justizirrwege, die in den USA begangen wurden, einen der oberen Plätze ein. 1956 wurde diese Strafanstalt speziell für verurteilte Verbrecher gegründet, die als „zu schwierig“ für „normale“ Gefängnisse eingeschätzt wurden, weil sie zur Gewalt gegenüber Wärtern und Mithäftlingen, Ausbrüchen oder sonstigem unkooperativen Verhalten neigten. In Ivy Bluff sollten sie zur Raison gebracht werden und nachdrücklich büßen, was sie der Gesellschaft angetan hatten. Dies betrieben die Betreiber mit einer Inbrunst, die 1959 gleich die Hälfte der Insassen zum Ausbruch aus der angeblichen Hochsicherheitseinrichtung trieb.

Sie wurden wieder gefangen, aber die Tage von Ivy Bluff als Gefangenenlager im mittelalterlichen Stil waren gezählt. Selbst gesetzestreue Bürger waren schockiert, als im Zuge der Ermittlungen herauskam, wie die Häftlinge hier gehalten und be- oder besser misshandelt wurden. (Hätten sie es nicht erfahren, wäre es ihnen sicher gleichgültig gewesen.) 1963 wurde aus Ivy Bluff „Blanch Prison“, eine Einrichtung für kranke Gefangene, die natürlich nicht mehr zur Zwangsarbeit antreten mussten. 1983 wandelte man Blanch eine Strafanstalt für Jugendliche um, die während ihrer Haftzeit in anderen Gefängnissen in Schwierigkeiten gerieten. 1999 wurde Blanch geschlossen.

Henry Kolarz, geboren 1927 in Berlin, schlug bereits in jungen Jahren die journalistische Laufbahn ein. Für diverse Illustrierten verfasste er mehrteilige Reportagen und spezialisierte sich dabei auf kriminalistische Themen. Storys wie „Nachts um 4 wird nicht geklingelt“, „Wenn Joseph nicht gesungen hätte“ oder „Der Tod der Schneevögel“ arbeitete Kolarz später in recht erfolgreiche „Tatsachenromane“ um. Den Durchbruch brachte ihm seine „Nacherzählung“ des berühmten englischen Postraubs von 1963, die unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ auch für das Fernsehen verfilmt und zu einem bekannten „Straßenfeger“ wurde.

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verlagerte Kolarz seine schriftstellerische Arbeit und verfasste mit „Kalahari“ einen ersten „echten“ Roman bzw. Politthriller, dem er 1981 „Die roten Elefanten“ (1986 als siebenteilige TV-Serie verfilmt) folgen ließ. Kolarz, der am 12. Oktober 2001 in Hamburg starb, schrieb darüber hinaus diverse Drehbücher für Fernsehdokumentationen und Krimis (u. a. für „Tatort“).

Lee Child – Zeit der Rache

Das geschieht:

In New York nimmt ein Einsatzkommando des FBI den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher fest. Ihm wird Serienmord vorgeworfen. Man fand zwei Frauen tot in ihren Badewannen, die bis zum Rand mit Armee-Tarnfarbe gefüllt waren. Die Ermittler fanden keinerlei Spuren aber zwei Gemeinsamkeiten: Beide Opfer waren Ex-Soldatinnen und hatten vor Jahren Anklage wegen sexueller Belästigung gegen Vorgesetzte eingereicht, deren Karrieren dadurch zerstört wurden. Die Untersuchung leitete in beiden Fällen Reacher!

Seine Unschuld stellt sich heraus, als ein neuer Mord nach bekanntem Muster erfolgt aber Reachers Alibi wasserdicht ist. Trotzdem muss er dem FBI helfen, da die Armee es ablehnt, mit Zivilisten zusammenzuarbeiten, Direktor Black schreckt nicht davor zurück, Reacher offen zu erpressen. Wohl oder übel beugt sich Reacher, aber als er sogleich das aufwändige Täterprofil der FBI-Spezialisten verwirft und die Zahl der potenziellen Opfer im Widerspruch zu diesen erheblich eingrenzt, wird ihm kein Glauben geschenkt. Lee Child – Zeit der Rache weiterlesen

Thomas Finn – Der Funke des Chronos

Handlung

1842 in Hamburg: Polizeiaktuar Kettenburg arbeitet daran, eine grauenerregende Mordserie zu lösen, die schon sieben Menschen das Leben gekostet hat. Das Perverse daran ist, dass den Opfern voher bei lebendigem Leibe der Schädel aufgesägt wurde. Die letzte Leiche wurde auf einem Leiterwagen gefunden. Der Mörder scheint wohl bei der Beseitigung der Leiche gestört worden zu sein …

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Rankin, Ian – Sünden der Väter, Die

In ihrem Bemühen, den lästigen Untergebenen endlich aus seinem Job zu ekeln, haben sich Detective Inspector John Rebus’ Vorgesetzte etwas Neues einfallen lassen. Sie beauftragen ihn, gegen den alten Gelehrten Joseph Lintz zu ermitteln. Der steht im Verdacht, in jungen Jahren als Mitglied von Hitlers SS in Frankreich aktiv an unerhörten Kriegsgräueln teilgenommen zu haben. Lintz streitet dies ab und erweist sich als Meister der ausweichenden Auskunft – oder als Unschuldiger.

Viel lieber würde Rebus bei den Ermittlungen gegen Tommy Telford mittun. Der junge, charismatische Gangsterboss plant, sich zum Führer der Edinburgher Unterwelt aufzuschwingen. Jede kriminelle Machenschaft ist ihm dabei Recht. Er legt sich sogar mit dem bisherigen Alleinherrscher „Big Ger“ Cafferty an, der zwar in die Jahre gekommen aber keineswegs willig ist, die Macht zu teilen. Ein Bandenkrieg droht; erste Opfer sind bereits zu beklagen.

Die Polizei steht dem mehr oder weniger hilflos gegenüber. Sowohl Cafferty als auch Telford haben ihre Truppen gut im Griff. „Gesungen“ wird nicht, Beschattungen fliegen regelmäßig auf. Rebus schleicht sich trotzdem gern zu den Beamten der Scottish Crime Squad, einer Sondereinheit, der auch Siobhan Clarke, Rebus’ Ex-Kollegin und gute Freundin, inzwischen angehört. Für ihn ist dieser Fall persönlich geworden: Ein Autofahrer hat Sammy, seine Tochter, angefahren und schwer verletzt. Rebus, der sich als Vater in der Vergangenheit viele Fehler geleistet hat, wird von seinem Gewissen und von Wut übermannt. Er will den Unglücksfahrer, er will Rache. Um sie zu bekommen, verbündet er sich sogar mit seinem Erzfeind Cafferty, der einwilligt, ihm den Schuldigen zu liefern. Dafür soll Rebus Telford hinter Gitter bringen.

Derweil findet sich Lintz’ Leiche. Man hat den alten Mann an einem Friedhofsbaum aufgeknüpft – offenbar ein Mord mit Hinrichtungscharakter. Wer ist es, der das Recht in die eigene Hand genommen hat? Notgedrungen bleibt Rebus am Ball und entdeckt Verbindungen zwischen Lintz und Telford. Der hat sich außerdem mit dem tschetschenischen Mafiaboss Jake Tarawicz eingelassen, welcher sich in Edinburgh als Menschenhändler und Dealer etablieren möchte. Schließlich werden sogar hochrangige Mitglieder der Yakuza gesichtet, die stets eine Möglichkeit suchen, außerhalb Japans scheinbar legale Unternehmen als Geldwaschanlagen zu erwerben.

Rebus will sie in seinem Zorn alle drankriegen. Dass er sich dabei übernommen hat, dämmert ihm spätestens, als er sich auf einen Stuhl gefesselt und mit einem Stromkabel malträtiert wiederfindet …

Wie üblich setzt Ian Rankin seinen Inspektor Rebus erneut einem Trommelfeuer aus kriminalistischen Herausforderungen und privaten Schicksalsschlägen aus. Insgesamt zerfällt „Die Sünden der Väter“ in zwei Handlungsstränge. Da haben wir einerseits Rebus’ Kampf gegen die Unterwelt von Edinburgh und andererseits seine Ermittlungen gegen einen möglichen Kriegsverbrecher. Beide Stränge werden verklammert durch Rebus’ Bangen um das Leben seiner im Koma liegenden Tochter bzw. sein Versagen als Familienvater: Der „Sünden der Väter“, auf die der deutsche Titel anspielt, haben sich sowohl Joseph Lintz als auch John Rebus jeder auf ihre Weise schuldig gemacht. Mehrfach blendet Rankin Episoden ein, in denen sich Rebus daran erinnert, wie er seine Familie enttäuscht hat.

„Die Sünden der Väter“ ist gleichzeitig ein neues Kapitel im spannenden Duell zwischen Rebus und „Big Ger“ Cafferty. Der Polizist und der Gangster sind Todfeinde und sich – Rebus’ Kollegen beobachten es mit Misstrauen – als solche näher als manche Freunde. Sie kennen sich seit Jahren, wissen um ihre Geheimnisse, nutzen einander aus und versuchen dem Gegenüber stets mindestens einen Schritt voraus zu sein. Rankin nutzt diesen Zweikampf als Aufhänger, um Edinburghs „Fortschritte“ auf dem Weg zur Verbrechermetropole des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Die kriminelle Szene ist zum Spiegelbild einer zunehmend globalisierten Welt geworden: Syndikate überspringen Meere und Kontinente, breiten sich aus, erobern neue Territorien, in denen sie zentral möglichst alle illegalen Aktivitäten kontrollieren und steuern. Der Kontakt zum politischen und wirtschaftlichen Establishment wird gesucht und gefunden, an die Gesetze hat sich nur der Steuerzahler als von oben und unten geschorenes Schaf zu halten.

Die Polizei ist entweder machtlos oder bereits Teil des Filzes. Im Vergleich zu ihren Gegnern sind die Beamten hoffnungslos unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und entsprechend motivationsarm. Rebus hat es mit oft halblegalen Tricks, aus langer Berufslaufbahn erwachsener Erfahrung und kriminalistischem Dickkopf geschafft, Erfolge zu erzielen. Mit der Unterwelt in ihrer Gesamtheit legt er sich erst an, als er sich persönlich angegriffen fühlt. Die Handlung wird rau, während die Spannung steigt, denn selten hat sich Rebus so viele Feinde gemacht, derer er sich nun gleichzeitig erwehren muss. Das gelingt ihm mit dem üblichen Einfallsreichtum, aber er muss harte Schläge einstecken.

Dabei stellt sich – nicht zum ersten Mal – die Frage, ob es Rankin nicht ein wenig übertreibt. Zwei Gangsterbanden im Krieg: Das genügt ihm nicht. Er lässt auch noch die russische Mafia und die Yakuza mitmischen. Sicherlich ist das ein wenig zu viel des Schlechten. Allerdings muss man bewundern, wie Rankin seinen Rebus geschickt die verschiedenen Parteien gegeneinander ausspielen lässt. Am Ende siegt die Gerechtigkeit, aber Rankin wäre nicht Rankin, würde er den Triumph nicht sogleich wieder relativieren: Die Macht kennt kein Vakuum, so lässt er Rebus sehr richtig sinnieren; dort wo sie verschwindet, strömt sie sogleich von außen nach. Obwohl die meisten Gangster letztlich auf der Strecke bleiben, wird Edinburgh dasselbe kriminelle Pflaster wie bisher bleiben.

Eindeutig überflüssig wirkt mit dem Fortschreiten der Geschichte der Handlungsstrang um Joseph Lintz. Rankin legt hier eine falsche Fährte, die ihm viel Raum für moralische Exkurse zum Thema Schuld und Sühne bietet. Gleichzeitig geht es um die Schuld derjenigen Regierungen, die einst zum Kampf gegen den Nationalsozialismus und seine Vertreter angetreten sind, aber später die „nützlichen“ Nazis vor einer Bestrafung bewahrten, sie mit Geld und einer weißen Weste ausstatteten und beschützten – ein düsteres Kapitel, das noch heute sorgfältig unter den Teppich gekehrt bleibt. Dieses Thema böte Stoff für einen eigenen Roman. Hier wird es verheizt bzw. wirkt wie eine dieser peinlichen Gedenkaktionen, die sich bußfertige Gutmenschen gern ausdenken, ohne die eigentlich Betroffenen vorher zu fragen, ob ihnen dies Recht ist.

Rebus als Rächer: Mit „Die Sünden der Väter“ schlägt Verfasser Ian Rankin einen weiten Bogen zurück zum ersten Band der Serie. „Verschlüsselte Wahrheit“ zeigte einen Rebus, dessen Dienstzeit in einer militärischen Spezialeinheit ihn psychisch schwer gezeichnet hatte. Wir erfuhren, dass Rebus in „schmutzigen“ Guerillataktiken und zum Kampf gegen Terroristen ausgebildet wurde. Er versteht es also, seinen Gegnern eine ungemütliche Zeit zu bereiten. Zu viele Zigaretten und noch mehr Alkohol haben Rebus’ körperliche Fitness zwar untergraben. An seiner Entschlossenheit, selbst unter starkem Stress einen „Auftrag“ durchzuziehen, konnte dies jedoch nichts ändern.

Dieses Mal ist Rebus sogar doppelt motiviert: Seine Polizeiarbeit ist ihm heilig, auch wenn er sie auf seine Weise erledigt und sich wenig um die Dienstvorschriften schert. Ganz besonders hasst er das organisierte Verbrechen in „seiner“ Stadt. Mit „Big Ger“ Cafferty hat er schon lange mehr als eine Rechung offen; die beiden liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel, das Rebus nie gewinnen konnte. Tommy Telford ist ebenfalls ein gefährlicher Verbrecher, den Rebus gern ausgeschaltet sähe. In dieser Verfassung kommt es ihm dann nicht mehr darauf an, sich auch mit der russischen Mafia und der Yakuza anzulegen.

In die Wut flüchtet sich Rebus vor allem deshalb, weil sein schlechtes Gewissen ihm zu schaffen macht. Sammy ist das Kind einer unglücklichen Ehe. Rebus und seine Frau waren zerstritten, er war zweifellos ein nachlässiger Vater, dessen Gedanken meist um den aktuellen Fall und kaum um seine Familie kreisten. Erst in jüngster Zeit bemüht sich Rebus, seiner Tochter näher zu kommen. Jetzt droht sie zu sterben. Rebus projiziert das eigene Versagen auf Cafferty, Telford & Co. Außerdem sucht er sich eine „Ersatztochter“: Die junge bosnische Einwanderin Dunja wurde von Telford zur Prostitution gezwungen. Rebus nimmt sich ihrer an. Sie will er „retten“, was ihm bei Sammy misslungen ist. Selbstverständlich ist er hier auch nicht erfolgreicher.

Eher lästig ist Rebus dagegen die Beschäftigung mit dem Fall Joseph Lintz. Der Polizist repräsentiert hier die Mehrheit seiner Zeitgenossen, für die Ende des 20. Jahrhunderts die Nazis nur mehr Schauergestalten aus Geschichtsbüchern und Filmen sind. Rebus liest die Berichte über die Ermordung einer ganzen Dorfbevölkerung, an der Lintz sich beteiligt haben soll, aber das in Erfahrung Gebrachte berührt ihn zunächst nicht: Zu viel Zeit ist vergangen, Zeitzeugen gibt es kaum noch. Diese Haltung ist es, die für Lintz den besten Schutz bedeuteten: So lange er sich in seinem zweiten Leben nichts zuschulden kommen ließ, interessierte sich niemand für das erste. Darüber hinaus ist Lintz ein vornehmer, gebildeter Herr, der für sich einnimmt und mit dem Mörder von einst nichts mehr gemein hat.

Aber einige Opfer der Nazis haben eben doch überlebt. Sie vergessen und vergeben nicht, weil sie das allgemeine Vergessen fürchten. Deshalb fordern sie auch Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Terrors Gerechtigkeit. Nur widerwillig laufen die Mühlen des Gesetzes an; es gibt mehr als genug aktuelle Verbrechen, um die es sich zu kümmern gilt. Auch Rebus muss erst lernen, dass diese Vergangenheit nicht tot ist, weil sich die Sünden der Väter auf die Nachkommen der Täter und Opfer vererben können. Ob Lintz ein Schlächter war oder nicht, bleibt im Grunde Nebensache. Rankin lässt diese Frage daher offen.

Für Rebus erweist sich vor allem Dunja als Bindeglied zwischen den alten und neuen Schrecken. Auch die junge Frau ist ein Kriegsopfer: Als bosnische Muslimin wurde sie während des Balkankriegs von „ethnischen Reinigungstruppen“ – Mordkommandos – verfolgt. Auch nach dem Ende des Kriegs wagt sie nicht heimzukehren. Die Mörder sind weiterhin unter ihren Landsleuten. So wie Dunja erging es im nazideutsch terrorisierten Europa unzähligen Menschen. Ihr Schicksal ist zeitlos. Es führt Rebus vor Augen, was die Lintzes dieser Welt tatsächlich verbrochen haben. Zumindest in diesem Punkt „funktioniert“ Rankins Lintz-Episode. Sie muss ihm wichtig gewesen sein, denn sie gab dem Buch seinen Originaltitel: „In a hanging garden / change the past / In a hanging garden / wearing furs and masks“, singen „The Cure“ auf ihrem Album „Pornography“ von 1982. Doch was geschehen ist, bleibt geschehen und wird Teil der Gegenwart. Gleichgültig wie gut es getarnt wird: Irgendwann kommt es unbewältigt und mit ungebrochener Wucht wieder zum Vorschein.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im Wilhelm Goldmann Verlag (Stand: Januar 2006):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. [Wolfsmale 1943 (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. [Ehrensache 1894 (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. [Das Souvenir des Mörders 1526 (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429
10. Die Seelen der Toten (1999; Dead Souls) – TB Nr. Nr. 44610, erscheint im Mai 2006
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. [Puppenspiel 2153 (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. [So soll er sterben 1919 (2004, Fleshmarket Close)
16. Night Police [Arbeitstitel] (2006; noch kein dt. Titel)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.

Bradby, Tom – Gott der Dunkelheit, Der

Wer bei seiner Lektüre gerne auf Spannung, Exotik und Historie setzt, der findet bei einem Autor ganz bestimmt den passenden Schmöker: Tom Bradby. Hat der Engländer bereits mit seinem 2004 in Deutschland erschienenen Werk „Der Herr des Regens“ bewiesen, dass er sich auf historischem Terrain an exotischer Stätte pudelwohl fühlt, so setzt er dies auch in seinem aktuellen Roman (mittlerweile sein insgesamt fünfter) „Der Gott der Dunkelheit“ fort.

[„Der Herr des Regens“ 2117 spielt 1926 in der pulsierenden Metropole Shanghai. „Der Gott der Dunkelheit“ ist in Kairo im Jahr 1942 angesiedelt. So wie Bradby sich für seinen Shanghai-Roman eine Zeit politischer Brisanz ausgesucht hat (Aufkommen des Kommunismus, blutige Niederschlagung der Studentenproteste), hat er das auch für sein aktuelles Werk wieder getan.

Rommel steht mit seinen Truppen vor den Toren Kairos. Alexandria wird bereits evakuiert, während man in Kairo noch beunruhigt auf jede Neuigkeit und jedes neue Gerücht von der Front wartet. Stets sucht Bradby sich Zeiten, in denen die Zeichen auf Veränderungen stehen, und so weiß auch in Kairo niemand, was der nächste Tag, die nächste Woche, der nächste Monat für Veränderungen bringen wird.

Es ist zu dieser unruhigen Zeit, als die Leiche eines ermordeten britischen Offiziers gefunden wird. Ein Offizier, der noch dazu an militärisch empfindlicher Stelle gesessen hat. Er hatte stets den Überblick über sämtliche Truppenbewegungen, Nachschubwege und die Gesamtlage der Armee. Über seinen Schreibtisch gingen jeden Tag Dutzende sensibler Daten. Und so verwundert es nicht, dass die Briten in dem Mord ein politisches Attentat vermuten – Stichwort Spionage.

Doch Joe Quinn, ein in Kairo gestrandeter ehemaliger New Yorker Polizist, ermittelt auch noch in eine andere Richtung. Da wäre beispielsweise Amy White, die hübsche Nachbarin des britischen Offiziers, die irgendetwas zu verbergen scheint. Hatten die beiden eine Affäre und Amys eifersüchtiger Ehemann hat den Nebenbuhler ausgeschaltet?

Doch dann geschehen zwei weitere Morde nach gleichem Muster. Allen drei Opfern wurde eine Abbildung von Seth, dem Gott der Dunkelheit, in die Brust geritzt. Quinn sucht weiter nach einer Spur des Täters und muss schon bald erkennen, dass es bei diesem Fall um mehr geht als um Liebe und mörderischen Hass. Was Quinn mit seinen Ermittlungen heraufbeschwört, ahnt er erst, als es für ihn selbst fast zu spät ist. Er gerät mitten in eine Verschwörung, und irgendjemand scheint es darauf anzulegen, Quinn von weiteren Ermittlungen abzuhalten – notfalls mit allen Mitteln …

Tom Bradby setzt mit „Der Gott der Dunkelheit“ das fort, was er in „Der Herr des Regens“ schon so wunderbar lesenswert angefangen hat. Er hat wieder einmal einen vielschichtigen und interessanten Thriller abgeliefert, der in fast noch höherem Maße als das Vorgängerwerk vor Spannung nur so strotzt. Temporeich und mit einer Prise Exotik spinnt er seinen Plot und lässt Zeit und Ort lebhaft vor dem Auge des Leser auferstehen.

Bradby schafft es auf besonders spannende Weise, die Historie aufzuarbeiten und in einen interessanten Plot zu packen. Besonders interessant ist dabei auch, dass er sich bevorzugt Orte heraussucht, die literarisch noch nicht ganz so abgegrast sind, und so wird der Pulsschlag der exotischen Metropolen in seinen Romanen zum Salz in der Suppe.

Es gibt dabei unverkennbare Parallelen zwischen „Der Gott der Dunkelheit“ und „Der Herr des Regens“. In beiden Romanen fällt Bradbys Figurenzeichnung recht vielschichtig aus. Es scheint, als habe es zur damaligen Zeit vor allem Polizisten in die Kolonien verschlagen, die irgendeinen dunklen Punkt ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen versuchen. Und so flieht auch Quinn vor seiner Vergangenheit in New York und sucht in Kairo einen neuen Anfang. Doch auch dort schlägt er sich mit neuen Problemen rum. Ein Jahr zuvor wurde sein Sohn überfahren und Quinn sucht verzweifelt den Schuldigen. Das belastet sowohl seine berufliche Arbeit als auch das Verhältnis zu seiner Frau Mae. Bradby verknüpft seine Thrillerhandlung auf irgendeine Weise auch stets mit persönlichen Schicksalen. Er verwebt das Personengeflecht eng mit der Handlung und erzeugt dadurch ein hohes Maß an Spannung.

In „Der Gott der Dunkelheit“ trifft der mit Bradby vertraute Leser dann auch ein paar alte Bekannte aus Shanghai wieder. Wer zuvor „Der Herr des Regens“ gelesen hat, der weiß die Loyalitäten dieser beiden Personen gleich richtig einzuschätzen, hat aber gegenüber dem unbedarften Leser dennoch kaum einen Vorteil. Bradby lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er mit MacLeod und Lewis zwei Personen aus Shanghai importiert hat, die schon früher eine recht zwielichtige Rolle eingenommen haben. Und auch im aktuellen Romanen tauchen sie wieder in mächtigen Positionen auf und hegen teils recht zweifelhafte Motive. Die weit verstreuten britischen Kolonien bieten halt immer irgendwo einen Schlupfwinkel für einen Neuanfang.

So wie bereits in „Der Herr des Regens“, lebt auch bei „Der Gott der Dunkelheit“ ein Teil der Spannung davon, dass man ahnt, dass der ermittelnde Held drauf und dran ist, in ein Wespennest zu stechen. Eine unterschwellige Bedrohung ist allgegenwärtig und man wartet als Leser förmlich darauf, dass der Gute sich schließlich im Räderwerk der Bösen verfängt.

Düster und beklemmend wirkt der Plot dadurch immer wieder. Mit Quinn setzt Bradby auf eine Hauptfigur, die sich nicht nur den kriminellen Elementen der Stadt stellen muss, sondern auch immer ihren eigenen Dämonen ins Auge blickt. Der Plot nimmt dadurch mitunter schon mal recht düstere und dramatische Züge an, die auch vor allem durch die kontrastierende Exotik Kairos unterstrichen werden.

Wie schon „Der Herr des Regens“, ist auch „Der Gott der Dunkelheit“ wahres Kopfkino. Bradby schreibt atmosphärisch dicht und zieht kontinuierlich die Spannungsschraube an. Wie schon den Vorgängerroman, mag man auch „Der Gott der Dunkelheit“ kaum zur Seite legen, wobei ich bei diesem Roman den Eindruck hatte, dass er noch spannender und dichter erzählt ist. Bradby schafft mit seinen historischen Thrillern Spannungslektüre allererster Güte.

Lediglich zum Ende hin schwächelt er ein bisschen. Besonders auf den letzten 50 bis 60 Seiten überschlagen sich die Ereignisse förmlich und die Auflösung, die Bradby am Ende parat hält, ist zwar größtenteils durchaus überzeugend, die Täterschaft an den Morden gerät darüber aber ein wenig ins Hintertreffen.

Dennoch bleibt der Roman als ausgesprochen hohes Lesevergnügen im Gedächtnis. Bradbys historische Thriller sind temporeich und vielschichtig erzählt, skizzieren eine interessante Epoche vor exotischer Kulisse und sind überaus spannend und mitreißend geschrieben. Wer historische Thrillerkost mag und mal zu etwas anderem als Ken Follett greifen will, dem sei Tom Bradby ausdrücklich ans Herz gelegt. Wer’s spannend mag, macht mit „Der Gott der Dunkelheit“ absolut nichts verkehrt.

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