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Joger, Ulrich / Kamcke, Claudia (Hgg.) – Mammut. Elefanten der Eiszeit

Vom 1. Dezember 2005 bis 18. April 2006 fand im Staatlichen Naturhistorischen Museum Braunschweig die Sonderausstellung „Mammut – Elefanten der Eiszeit“ statt, zu der das vorliegende Werk den Begleitband darstellt. Es gliedert sich in sieben Großkapitel:

1. Eine kurze Geschichte der Mammutfunde (S. 9-24): Gewaltige Knochen findet man seit jeher überall dort, wo einst die mächtigen Urzeit-Elefanten lebten. In Deutschland taten sie dies beispielsweise im Harz oder im Braunschweiger Land, wo sich seit dem 17. Jh. die moderne Wissenschaft mit ihnen beschäftigt. Sah man sie zunächst als Überreste von Unglücksrüsslern, die von der biblischen Sintflut verschlungen wurden, erkannte man sie dann als Relikte eiszeitlicher Elefanten. Seit 1800 wurden im Eis der sibirischen Dauerfrostböden immer wieder gefrorene und vollständig erhaltene Mammuts entdeckt, die es der Wissenschaft ermöglichten, über diese Wesen so viel in Erfahrung zu bringen wie über manche heutige Tierart.

2. Die Evolution des Mammuts (S. 24-32): Mammut ist längst nicht gleich Mammut. Es gab dieses Tier nicht nur langhaarig, sondern in mehreren Arten, die ihren jeweiligen Ökosystemen perfekt angepasst waren. Aufgrund der zahlreichen Funde existiert ein Elefanten-Stammbaum, der Aufschluss über die Entwicklung dieser Arten gibt.

3. Das Wollhaarmammut – ein Elefant der Eiszeit (S. 33-44): Die Untersuchungen der Knochen und Kadaver sowie der Böden, in denen sie liegen, ermöglichen es heute das Leben der Mammuts bis in Details zu rekonstruieren. Dazu gehören sogar Einblicke in das Sozialleben der gesellig lebenden Riesentiere.

4. Das Eiszeitalter – nicht nur Eis und Kälte (S. 45-56): Das Eiszeitalter stellt sich der heutigen Forschung längst nicht mehr als Folge von Gletschervorstößen und -rückzügen, sondern als komplexe Serie kurzer und rasch aufeinander folgender Kalt- und Warmzeiten dar. Nicht selten gab es in diesem Eiszeitalter Phasen, in denen das Eis sich weit zurückzog und die Durchschnittstemperaturen sogar höher als heute lagen. In diesem Kapitel werden die komplexen wissenschaftlichen Messmethoden vorgestellt, mit denen es gelang, dies festzustellen, sowie Rückschlüsse auf die zeitgenössischen Umwelt/en gezogen.

5. Die „Mammutsteppe“ – ein untergegangenes Ökosystem (S. 57-68): Die trockenen Kältesteppen, durch die das Wollhaarmammut zog, sind keineswegs identisch mit der arktischen Tundra der Jetztzeit. Stattdessen bot die „Mammutsteppe“ nicht nur den großen Pelzelefanten, sondern einer Vielzahl anderer Tiere (Nashörner, Riesenhirsche, Löwen, Hyänen usw.) eine Heimat, die sie, selbst wenn sie nicht ausgestorben wären, heute nicht mehr vorfänden.

6. Mammutjäger – Mensch und Kultur im jüngeren Eiszeitalter Europas (S. 69-92): Mensch und Mammut waren Zeitgenossen. Wie sah das Verhältnis zwischen den beiden Lebewesen dar, die auf ihre Weise den gemeinsamen Lebensraum dominierten? Der Mensch jagte das Mammut, aber wie intensiv tat er es? Ist er sogar (mit-)verantwortlich für das Aussterben dieser Elefanten? In diesem Kapitel werden neue Erkenntnisse vorgestellt, die überraschen.

7. Das Mammut in der Kunst der Eiszeitjäger (S. 93-112): Obwohl der Mensch der Eiszeit des Schreibens nicht mächtig war, gibt es Zeugnisse, die darüber informieren, wie er das Mammut sah. Er schnitzte es in Elfenbein, die Wände zahlreicher Höhlen zeigen Bilder, welche sich sogar chronologisch ordnen lassen: Das Verhältnis zwischen Mensch und Mammut unterlag zeitlichen Wandlungen, deren Kenntnis das Bild vom eiszeitlichen Leben ergänzt.

Ein Glossar (S. 113-115) informiert über die wichtigsten Fachbegriffe, ein Autorenverzeichnis (S. 116) über die am Buch beteiligten Verfasser.

Knapp und präzise informiert dieser Begleitband zu einer Braunschweiger Ausstellung rund um das Thema „Mammut“. Hier und da macht sich die Beschränkung auf eine möglichst geringe Seitenzahl – der Katalog sollte offensichtlich möglichst erschwinglich bleiben – negativ bemerkbar – dies nicht unbedingt, weil wichtige Informationen fehlen, sondern weil man als Leser mehr erfahren möchte. (An Literaturangaben herrscht indes kein Mangel, so dass dies mit ein wenig Laufarbeit möglich ist.) Diese Reaktion zeigt, dass dem Mammut in der Gunst des Menschen eine ähnliche Rolle zukommt wie den Dinosauriern: Die großen Elefanten sind zwar ausgestorben, aber wir bedauern es und möchten mehr über sie erfahren. Die Sehnsucht ist sogar so stark, dass ernsthaft über die Möglichkeit spekuliert wird, Mammuts „auferstehen“ zu lassen.

Der Mensch schätzt also das Mammut, das er im Gegensatz zu den Sauriern noch selbst kennen gelernt hat. Es ist faszinierend, wie gut sich dies dokumentieren lässt: In der Kunst des Eiszeitmenschen spielte das Mammut eine große Rolle. Er hat sich immer wieder mit diesem Tier beschäftigt, auch wenn die jeweiligen Zusammenhänge nur vermutet werden können. Noch besser: Der Mensch ist offenbar nicht verantwortlich für sein Aussterben; konkrete Untersuchungen bekannter Tierschlachtplätze widerlegen das Bild vom Speer schwingenden Eiszeitkiller, der die Mammuts herdenweise über steile Klippen in den Tod jagt.

Mit vielen Mammutmythen räumt dieses Buch wie nebenbei auf. So ist es ganz und gar nicht so, dass in Sibirien riesige Eiswürfel auf ihre Entdeckung warten, die in ihrem Inneren so perfekt konservierte Rüsseltiere bergen, dass diese quasi aufgetaut und ins Leben zurückgerufen werden können – dies zumindest über den Umweg des Klonens. Tatsächlich sehen gefrorene Mammuts keineswegs stattlich aus. Die Kadaver enthalten keine DNS, die nach heutigem Forschungsstand fürs Elefantenbasteln taugen. Außerdem unterscheiden sich Mammuts genetisch so stark von heutigen Elefanten, dass deren weibliche Exemplare als „Leihmütter“ nicht in Frage kämen. Aus der Traum vom „Pleistocene Park“ …

Die Erforschung des Mammuts ist auch als Spiegel der menschlichen Entwicklung von großer Bedeutung. Funde in unmittelbarer oder weiterer Entfernung von Mammutkadavern schließen nicht selten schmerzhafte Wissenslücken. Viele urzeitliche Artefakte sind nur deshalb bekannt geworden, weil sie der Mensch zur Jagd und zum Zerlegen der großen Elefanten eingesetzt hat. Ein Mammut speiste eine Menschengruppe über viele Wochen und lieferte Rohmaterial für Kleidung, Werkzeuge, Jagdwaffen, Schmuck. Diese Funde liefern wiederum Informationen über ihre Besitzer. So greift im Idealfall ein Zahnrad ins andere und vermittelt das Bild einer lebendigen Vergangenheit.

„Mammut“ wartet deshalb auch mit interessanten neuen Erkenntnissen über den Neandertaler auf. Schon länger wird vermutet, dass es sich bei diesem keineswegs um einen ungehobelten Steinzeitklotz handelte. Der Neandertaler war eine zweite Menschenart, die sich von seinem jüngeren Zeitgenossen, dem heute allein überlebenden Cro-Magnon-Menschen, anatomisch und genetisch recht deutlich unterschied, ohne deshalb jedoch „primitiver“ oder „dümmer“ gewesen zu sein. Neandertaler konnten offenbar sehr wohl sprechen und sie existierten deutlich länger als bisher gedacht, ohne sich mit den „moderneren“ Nachbarn zu bekriegen.

So muss ein Buch aussehen, das neugierig macht auf Wissen – und noch mehr Wissen! Deshalb lässt sich das recht biedere Layout – beispielsweise sehen manche Karten wie mit dem Buntstift gezeichnet aus – leicht verschmerzen. Hier übertrifft der Inhalt die Verpackung – eine angenehme Abwechslung zumal in einer Sachbuchwelt, die sich heute gar zu gern der „Galileo: Halbwissen spannend gemacht“-Schule des Privatfernsehens anpasst.

Harrison, Shirley – Tagebuch von Jack the Ripper, Das

Wie es heißt, ist nichts so tot wie der Bestseller der letzten Saison. Falls dies zutreffen sollte, hätte sich Ihr Rezensent mit diesem Artikel eine Menge unnötiger Arbeit gemacht. Die (angebliche) Sensation um die Entdeckung des Tagebuchs von Jack the Ripper ist nämlich schon ein Jahrzehnt alt. Die gebundene Ausgabe des vorliegenden Buches wurde auch in Deutschland Anfang der 1990er Jahre mit Fanfarenschall in die Läden begleitet und fand in der Presse die gewünschte, weil verkaufsförderliche Resonanz. Selbst negative Werbung sorgt für Aufsehen, und so ließen sich kluge Köpfe, Besserwisser und Spinner gleichermaßen lang und breit aus über ein Medienphänomen, das die Menschen seit über einem Jahrhundert fasziniert, ohne dass darob Einigkeit darüber erzielt werden konnte, ob denn das auf so wundersame Weise zutage geförderte Tagebuch tatsächlich aus der Feder des Rippers geflossen war.

Nachdem die Aufregung abgeklungen ist, kann man sich der Beantwortung dieser Frage wesentlich gelassener widmen – wenn es denn überhaupt erforderlich ist, denn „Das Tagebuch von Jack the Ripper“ ist auch jenseits aller Sensationshascherei eine interessante Lektüre. Tatsächlich wird es bald völlig unerheblich, ob der böse Jack denn ein rauschgiftsüchtiger Baumwollhändler namens James Maybrick aus dem englischen Liverpool gewesen ist und seine Untaten in einem Tagebuch festgehalten hat, das in einem unbekannten Versteck ein volles Jahrhundert überdauerte, bis es auf mysteriöse Weise in die Hände eines arbeitslosen Seemannes geriet …

Shirley Harrisons Darstellung gewinnt ihren Wert als Bestandsaufnahme eines Jahrhunderträtsels: Um das Tagebuch in die bekannte Chronologie der Rippermorde einzupassen, muss die Autorin das London von 1888 wieder erstehen lassen und das Drama und seine Akteure noch einmal ihrem Publikum vorstellen. Freilich tut sie das mehr als 100 Jahre später und nach durchaus sorgfältiger Sichtung der in diesem Zeitraum erschienenen Ripper-Literatur bzw. wiederentdeckten Quellen. Besonders Letztere haben es in sich, denn überraschenderweise werden bis auf den heutigen Tag neue Belege entdeckt. Harrison wartet denn auch mit Fakten auf, die einige Irrtümer früherer „Ripperologen“ eliminieren, nachdem sie lange Zeit immer wieder aufgegriffen wurden.

So darf sich der Leser einer vorzüglichen Zusammenfassung der Ereignisse vom August bis November 1888 erfreuen, wenn diese Formulierung angesichts des Themas gestattet sei. Weil im Zeitalter des privaten Fernsehens manch’ alter Zopf abgeschnitten wurde, werden ihm (und auch ihr) einige zeitgenössische Tatort- und Leichenfotos präsentiert. Sie bieten eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Überprüfung der alten Weisheit, dass es nicht immer eine reine Freude sein muss, seine Neugier befriedigen zu können. Was Jack the Ripper seinen Opfern angetan hat, ist wahrlich ungeheuerlich. Der Anblick ist schwer zu ertragen, macht aber eines sehr schön deutlich: Irgendwann müssen sich der authentische und der mythologische Jack voneinander getrennt haben. Der rste war ein lebensgefährlicher, schwer geisteskranker Psychopath, der zweite ein früher Medienstar, ein Zeitgenosse von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, von Graf Dracula und Sherlock Holmes. Irgendwie ist das Bewusstsein geschwunden, dass diese Figuren fiktiv waren, während Jack the Ripper eine sehr reale Person gewesen ist. Aber man hat ihn niemals gestellt und vor Gericht entzaubert, und so war sein Weg frei in den Olymp kultisch verehrter Bösewichte. Als sich dann die moderne Unterhaltungsindustrie des Rippers annahm, war der Übergang vollzogen.

Shirley Harrison belegt sehr schön, wie „unser“ Jack the Ripper ein Geschöpf der Medien wurde – vielleicht sogar ihre erste und höchst gelungene Schöpfung! Serienmörder hatte es schon vor 1888 gegeben – aber nicht in einer Stadt wie London, in der Ende des 19. Jahrhunderts 200 (!) Tageszeitungen um Leser kämpften. Die Presse machte Jack the Ripper erst berühmt und dann unsterblich. Er hat dies selbst sehr gut begriffen, sich seiner Taten in Leserbriefen gerühmt und neue Scheußlichkeiten angekündigt. Insofern ist der Fall Jack the Ripper quasi ein Modell für das, was die Massenmedien heute zu „leisten“ vermögen.

Diese Entwicklung wird von Harrison angedeutet, aber leider nicht weiter ausgeführt; hier ist Ihr Rezensent – so gut er es vermochte – in die Bresche gesprungen. Die Autorin kehrt verständlicherweise bald zu ihrem eigentlichen Anliegen zurück: Sie bemüht sich, den Ripper auf den Spuren ihres Hauptverdächtigen James Maybrick zu entlarven. Das will ihr auf stolzen 450 Seiten allerdings nie wirklich gelingen. Zu apokryph ist das Manuskript, zu fadenscheinig seine Überlieferungsgeschichte, und selbst ein Heer von Historikern, Graphologen und anderen Sachverständigen konnte zu keinem eindeutigen Urteil kommen. Dass Harrison sowohl die Indizien für wie die Belege gegen das Tagebuch ausführlich vorstellt, muss ihr hoch angerechnet werden. Ihr bleibt auf der anderen Seite auch gar keine Alternative, will sie doch einem möglichen Desaster vorbeugen, wie es den „Stern“ 1983 mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern getroffen hat.

In den Jahren seit dem Erscheinen der englischen Originalausgabe ist es bemerkenswert ruhig um das Tagebuch geworden. Das ist im Grunde die beste Bestätigung dafür, dass es nicht überzeugen konnte. Aber wie die Autorin selbst sehr richtig sagt: Wenn es eine Fälschung ist, dann ist sie großartig gelungen. Davon kann man sich übrigens selbst überzeugen: Dem fotografischen Faksimile aller erhaltenen Seiten wird eine Übersetzung beigefügt. Wenigstens steht nach der Lektüre fest, dass Jack the Ripper nicht zu allem Überfluss ein begabter Schriftsteller gewesen ist …

Sein (bzw. James Maybricks) Ende war übrigens düster – oder angemessen, wenn man so will: Von Drogensucht und Schuldgefühlen zerfressen, ließ sich Jack the Ripper im Mai 1889 von seiner eigenen Ehefrau vergiften. Hier stutzt der Leser, doch dieses Mal wird er von Shirley Harrison schmählich im Stich gelassen. Offensichtlich ist für sie der Punkt erreicht, an dem sie den Erfolg ihres potenziellen Bestsellers ungern durch allzu viel Realität gefährden möchte. Außerdem lässt sich der Tod des Rippers viel zu schön mit einem weiteren Klassiker der „True Crime“-Literatur verknüpfen: der Geschichte vom Prozess gegen seine angebliche Mörderin und Ehefrau, der so tatsächlich 1889 stattgefunden hat und offensichtlich ein Paradebeispiel für einen echten Justizskandal ist. Das ist bei Harrison so spannend wie ein Thriller nachzulesen, hat aber mit der Frage, ob James Maybrick Jack the Ripper war, nur indirekt zu tun.

So schlingert Shirley Harrison immer eng an den Fakten entlang, ohne sich jemals wirklich festzulegen oder endgültig den Bezug zum Beweisbaren zu verlieren. Weil man Wahrheit und Mutmaßung jedoch gut voneinander trennen kann, nimmt man ihr das nicht übel. Noch einmal sei dem Leser versichert: „Das Tagebuch von Jack the Ripper“ besitzt unabhängig davon, ob es echt ist, jederzeit einen hohen Unterhaltungswert. In der Taschenbuchausgabe ist es darüber hinaus bei seiner Ausstattung sehr preisgünstig; allerdings leidet die Qualität der Abbildungen in der Verkleinerung erheblich. Was die blutrünstigen Opferfotos angeht, so ist dies nur von Vorteil, aber die interessanten zeitgenössischen Presseartikel, Porträts oder Lagepläne wünscht man sich schon etwas übersichtlicher.

Officer, Charles / Page, Jake – Entdeckung der Arktis, Die

Was sind das nur für seltsame Menschen, die es hinaufzieht in eine Welt, die etwa so einladend ist wie die Rückseite des Mondes? Tatsächlich gibt es weitaus angenehmere Reiseziele auf der guten Mutter Erde, doch wie so oft darf man die (Neu-)Gier ihrer angeblich vernunftbegabten Bewohner nicht unterschätzen: Wo es schwierig bis unmöglich ist hinzugelangen, muss es ganz besonders interessant sein!

Seit zweieinhalb Jahrtausenden (!) zieht es daher den Menschen in den Norden, der damals noch bevölkert war (oder wurde) mit allerlei finsteren Gottheiten, Ungeheuern und anderen ungeselligen Zeitgenossen. Lässt sich die Geschichte der Arktisforschung angesichts einer solchen gewaltigen Zeitspanne auf weniger als 300 Seiten zusammenfassen? Wie wir sehen werden, geht es; vorzüglich sogar, wenn hinter der Feder jemand sitzt, der sein Handwerk versteht.

Hier sind es sogar zwei Autoren, die sich den Lorbeer teilen dürfen. Die Wissenschaftsjournalisten Charles Officer und Jake Page profitieren nicht nur von den Ergebnissen einer kundigen Recherche, sondern mindestens ebenso von ihrer Bereitschaft und ihrer Fähigkeit, die Fakten zu ordnen und auszuwählen. Das Ergebnis ist eine Darstellung, die sich in eine Einleitung, eine Vorgeschichte, einen dreiteiligen Hauptteil, ein Nachwort und einen Ausblick gliedert, die Erkundung der Arktis klipp und klar und vor allem überzeugend nachzeichnet und überdies fabelhaft zu lesen ist.

Besagte Einleitung führt in die Natur der Arktis ein, stellt auf wenigen Seiten Informationen über Klima, Relief, Tierwelt oder Meeresströmungen vor, die zu ergründen es Jahrhunderte entsagungsvoller Forschungen bedurft hatte und für die unsere Entdeckungsreisenden der Vergangenheit ohne Zögern ihren rechten Arm gegeben hätten. Wer meint, Officers & Pages Blitzseminar rieche zu sehr nach Kreidestaub, führe sich nur die Schwierigkeiten der Reiseplanung in einem Land vor Augen, in dem am Pol die einzige Himmelsrichtung der Süden ist und die Sonne entweder ein halbes Jahr wie angenagelt am Firmament hängt (= Sommer) oder im Winter dieselbe Zeitspanne durch völlige Abwesenheit glänzt (bzw. eben nicht) …

Im zweite Teil ihres Buches beschreiben unsere Autoren die notgedrungen recht lückenhaft bleibende Vorgeschichte der eigentlichen Arktiserkundungen. Mit der Überlieferung ist es so eine Sache; Naturkatastrophen, Kriege und die übliche menschliche Gleichgültigkeit im Umgang mit dem, was längst Verblichene zusammengetragen haben, lassen die Rekonstruktion der ersten beiden Jahrtausende nur teilweise gelingen. Immerhin wissen wir von wagemutigen Phöniziern, neugierigen Griechen und raublustigen Nordmännern, und in Gestalt der Brüder Zeno aus Venedig treten uns bereits zwei typische Repräsentanten einer ganz besonderen Gruppe von Forschungsreisenden entgegen: die Aufschneider und Lügenbolde, die geschickt die einstige Unendlichkeit der Welt nutzten, um von gefährlichen Fahrten und ruhmreichen Abenteuern zu „berichten“, die sich ausschließlich in ihrem Hinterkopf abgespielt hatten. Die Zenos markieren eine lange Reihe verdächtiger Arktisreisen, die ihren Höhepunkt sogar erst im 20. Jahrhundert finden sollten, wie wir weiter unten noch feststellen werden.

Etwa ab 1500 wurde es ernst mit der Arktisforschung, als sich zum Wissensdurst handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen gesellten, die mit mehr als einem Spritzer Patriotismus garniert wurden. Die Briten, die Russen und die Skandinavier suchten nach einer Nordostpassage von der Nordsee zum Pazifik, weil es verständlicherweise mühsam und zeitaufwändig war, erst den gesamten afrikanischen Kontinent umrunden zu müssen, um dorthin zu gelangen. (Den Suez-Kanal gibt es erst seit 1869.)

Auf der amerikanischen Hälfte der Erde stand man vor einem ähnlichen Problem: Wollte man (im Osten startend) die Westküste Nordamerikas oder die lukrativen asiatischen Gewässer auf dem Seeweg erreichen, musste man eine riesige Außenkurve um Südamerika schlagen; schön, wenn es eine Abkürzung im Norden gäbe: eine Nordwestpassage. Auch hier waren es vor allem die Briten und die Skandinavier, die sich auf die Suche begaben (während die Nordamerikaner verständlicherweise den Standpunkt vertraten, es sei wesentlich einfacher, ein paar Hafenstädte an der Westküste zu errichten.)

Und als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beide Passagen endlich gefunden (und gleich wieder wegen ihrer witterungsbedingten Untauglichkeit für die Schifffahrt verworfen) worden waren, rückte das letzte Ziel in den Mittelpunkt des Interesses: der Nordpol, „höchster“ Punkt unseres Erdballs, eigentlich nur ein beliebiger Punkt in einer öden Landschaft, dessen Erreichen höchstens den sportlichen Ehrgeiz befriedigen konnte.

Den darf man allerdings nicht unterschätzen; ganz besonders nicht in einer Welt, in der Nationalstolz buchstäblich tödlich ernst genommen wird. Also stürmten sie los, die Polarexpeditionen aus (fast) allen Ländern der Nordhalbkugel. Die meisten kamen nicht einmal in die Nähe ihres Ziels; nicht wenige blieben (zur Freude der stets hungrigen Eisbären und Polarfüchse) für immer im hohen Norden.

Siehe da: Es erscheinen neben vielen ernsthaften Aspiranten wieder unsere Möchtegern-Arktisfahrer, deren prominentester Vertreter ausgerechnet der Mann ist, der den Nordpol im Jahre 1909 erreicht haben will. Tatsächlich weiß auch heute niemand so recht, ob Robert E. Peary das wirklich gelungen ist. Die Beweisdecke war denkbar dünn, Peary bemerkenswert wortkarg, die Anerkennung des Polsieges primär eine politische Entscheidung. In der Darstellung dieses äußerst dubiosen Kapitels der Entdeckungsgeschichte erreicht „Die Entdeckung der Arktis“ in der Tat die Qualitäten eines Kriminalromans, wie der sonst stets mit Misstrauen zu betrachtende Hochjubel-Profi „Kirkus Review“ auf dem Cover dröhnt.

Baumann, Mary K. (u. a.) – All!, Das. Unendliche Weiten

Eine Darstellung des Weltalls in acht spektakulären Großkapiteln. Eingeleitet wird sie vom Vorwort eines Mannes, der als Leitfigur der modernen Astronomie gilt: Stephen Hawking. Der fast vollständig gelähmte Forscher mit dem vom Körper quasi losgelösten Geist hat entscheidend mit zum gegenwärtigen Blick auf den Kosmos beigetragen.

– „Ursprung“ (S. 8/9): Ein Bild der Milchstraße, wie sie vom Planeten Erde gesehen werden kann, leitet dieses Buch würdig ein: „Unser“ Sonnensystem verliert sich in einer Galaxie, die aus 200 Milliarden Sternen besteht und nur eine von vermutlich 150 Milliarden Galaxien im All ist – ein Vorgeschmack der Maßstäbe, die dieses Buch in Sachen „Unendlichkeit“ setzen wird!

– „Nebel“ (S. 10-29): „Geburt“ und „Tod“ der Sterne, die wir Menschen im Weltall erkennen können, verschwimmen in gewaltigen Nebelwolken. Sie bilden die galaktische „Ursuppe“, aus der sich Sonnen bilden und „zünden“ können, und sie stellen die Asche dar, die von den Sonnen bleibt, die in rasenden Explosionen „sterben“ und deren Überreste sich im Universum verteilen, wo sie zu neuen Sternen zusammenfinden.

– „Sterne“ (S. 30-53): Sie sind gebündelte Energie – vom „Weißen Zwerg“ bis zum „Blauen Überriesen“ gibt es zahlreiche Arten von Sternen. Sie erscheinen uns Menschen bizarr und sogar bedrohlich, sind im All jedoch überall zu finden. Das Wissen um ihre Existenz verdeutlicht, wie winzig die Chance war, dass ein kleiner blauer Planet eine mittelgroße gelbe Sonne am Rand der Milchstraße umkreisen und Leben hervorbringen konnte.

– „Die Sonne“ (S. 54-75″): Dies ist umso bemerkenswerter, als besagte Sonne sich bei näherer Betrachtung als grausiger Feuerball entpuppt, der nicht nur Hitze ausstrahlt, sondern mit diversen Todesstrahlen um sich schießt. Der Blick in die atomare Superhölle der „Sonnenfabrik“ ist heute möglich. Er enthüllt bei allem Schrecken, dass uns Menschen auf der Erde ohne „unseren“ Stern nur acht Minuten von einer eisigen Ewigkeit trennen.

– „Planeten“ (S. 76-115): Sie folgen der Sonne – neun Planeten umkreisen ihr Zentralgestirn. Nur auf einem hat sich nachweislich Leben entwickelt; Nr. 1 und 2 sowie 4 bis 9 sind glühend heiß oder
knochentrocken, bestehen aus Gas oder sind ewige Eisklumpen, also insgesamt
ungastlich. Womöglich gibt es nirgendwo Leben auf ihnen, aber das lässt sie nicht weniger interessant erscheinen: Jeder Planet stellt ein Kapitel in der Entstehungsgeschichte des Universums dar und der Mensch lernt immer besser, sie zu „lesen“.

– „Monde“ (S. 116-141): Mindestens 140 kleine bis sehr große Himmelskörper gesellen sich den Planeten als Monde zu – Kugeln aus Stein und Eis, die von „ihren“ Planeten in den Bann gezwungen wurden und sie umkreisen. Darunter sind groteske Seltsamkeiten wie Phobos und Deimos, die kartoffelförmigen Winzmonde des Mars, aber auch gewaltige Welten wie die großen Jupitermonde, von denen einige trotz ihrer spezifischen Eigentümlichkeiten womöglich eigenständiges Leben hervorgebracht haben.

– „Galaxien“ (S. 142-159): Die Vorstellungskraft des Menschen beginnt zu versagen, lässt er die Grenzen des eigenen Sonnensystems oder gar der Milchstraße hinter sich. Milliarden weiterer Galaxien stehen am Firmament. Sie sind oft von einer Fremdartigkeit, die erschreckt. Die moderne Astronomie hat unerschrocken begonnen, „Ordnung“ in dieses kosmische Gewirr zu bringen; wieso dies eine Sisyphusarbeit ist, können die Fotos dieses Kapitels nachdrücklich belegen.

– „In den Weiten des Alls“ (S. 160-171): Doch damit beginnen die Rätsel eigentlich erst. Das Universum ist seit seiner Entstehung so groß geworden, dass selbst das Licht der Galaxien an seinem „Rand“ die Erde kaum erreicht hat. Was wir sehen oder sichtbar machen können, ist ein Blick in die Vergangenheit. Je weiter wir schauen, desto „älter“ ist das Licht, das uns somit die Welt nach dem „Big Band“ zeigt, mit dem alles begann. 13 Milliarden Jahre können wir inzwischen zurückblicken, womit wir uns dem Ursprung allen Seins zu nähern beginnen.

„Das All!“ ist über die Präsentation kosmischer Phänomene hinaus Bestandsaufnahme der fotografischen Technik, die es heute ermöglicht, diese Wunder zu fixieren, die dem menschlichen Auge sonst verborgen bleiben müssten. „Das Universum der Farben“ erläutert, wie die sensationellen Bilder in diesem Buch möglich wurden. Ergänzt wird dieses Kapitel durch eine kommentierte Auflistung der unerhört ausgetüftelten Teleskope, Satelliten, Raumschiffe, Sonden und Kameras, die in vier Jahrzehnten jenes Bild vom Kosmos vermitteln halfen, das in diesem Buch dokumentiert wird. Ein zweiseitiges Glossar erläutert noch einmal die wichtigsten astronomischen Fachbegriffe, an denen dieses Buch notgedrungen so reich ist. Der Index ermöglicht es abschließend, bestimmte Informationen nachzuschlagen.

Ist es möglich, auf weniger als 200 Bild- und Textseiten darzustellen, was „da draußen“ im Universum „ist“? Die Verfasser des hier vorgelegten Werkes können diese Frage geradezu Aufsehen erregend bejahen: Es funktioniert, wenn man auf ein Bildmaterial zurückgreifen kann, das die sensationellsten astronomischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte umfasst.

Kein halbes Jahrhundert ist es her, dass kamerabestückte Sonden ins All geschossen wurden. Was sie vor Ort in Bildern festhielten, revolutionierte damals die astronomische Wissenschaft. Und doch wirken diese Fotos heute „wie mit einer Pappkamera gemacht“: so das drastische Urteil eines der Autoren dieses Buches. Was er damit meint, wird rasch klar: Die hier auf knapp 190 Seiten versammelten Abbildungen dokumentieren einen Fortschritt, dessen Ergebnisse den Menschen erschrecken können.

Gemeint sind damit weniger die Bilder von den Planeten, Monden und Asteroiden des Sonnensystems. Sie sind primär faszinierend, stellen sie uns doch in nie gekannten Details Orte vor, die wir vom Blick in den Nachthimmel kennen oder von denen wir gelesen haben: Dass es einen Uranus, einen Neptun oder einen Pluto gibt, kann sich heute (hoffentlich) selbst der naturwissenschaftliche Ignorant vorstellen.

Doch die Vorstellungskraft wird auf eine harte Probe gestellt, sobald der Blick über dieses Sonnensystem hinausschweift. „200 Milliarden Sterne“ findet man dort: Das ist ein Wert, unter dem sich der Mensch nicht wirklich etwas vorstellen kann. Dabei ist dies nur die Zahl der Sterne in der eigenen Milchstraße! Das Universum erstreckt sich vermutlich mehr als 13 Milliarden Lichtjahre in alle Richtungen und dehnt sich beständig weiter aus. Was soll man sich unter dieser Entfernung vorstellen? Hier müssen die meisten Menschen ihre geistigen Waffen strecken. „Das All!“ macht deutlich, dass trotzdem die Arbeit an der Entschlüsselung der universalen Geheimnisse wacker voranschreitet. Da draußen ist nicht nur etwas, es lässt sich auch ergründen und erklären.

Die moderne Technik unterstützt solche Forschungen. Was sich der Mensch einfallen ließ, um 13 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zu blicken, versöhnt durchaus mit den alltäglichen Scheußlichkeiten, die sich unsere Spezies so reichlich einfallen lässt: Richtet er sich gezielt auf Ziele, richtet der menschliche Geist wahrlich Erstaunliches aus! Wer hätte noch vor zehn, fünfzehn Jahren geglaubt, dass sich theoretische Konstrukte wie „Pulsare“ oder „Schwarze Löcher“ tatsächlich fotografisch belegen lassen? Immer Neues bringt die Suche im Kosmos zu Tage. Vieles fügt sich zu dem, was man bisher in Erfahrung brachte, anderes verstört ob seiner unglaublichen Fremdartigkeit. Doch auch diese Entdeckungen werden früher oder später entschlüsselt; daran lässt die Lektüre von „Das All!“ kaum Zweifel.

Für gottesgläubige Zeitgenossen mag das erschreckend oder wenigstens ein Ärgernis sein: Gott würfelt vielleicht deshalb nicht, weil es ihn überhaupt nicht gibt. Die Autoren von „Das All!“ klammern diesen Aspekt sorgfältig aus. „Ihr“ Universum funktioniert in der Tat ohne kosmischen Steuermann. Sicherlich macht dies mit den Schrecken aus, der sich in die Faszination mischt: In diesem womöglich tatsächlich unendlichen All könnten das Sonnensystem, die Erde und die Menschen eine Laune der Natur sein – nicht mehr aber auch nicht weniger. Nicht jede/r kann es unter diesen Umständen ertragen, den Blick zum Nachthimmel zu wenden.

Wer es – zumal unterstützt durch die moderne Technik – riskiert, wird freilich belohnt. Für die in diesem Band versammelten Fotos stellt das Prädikat „eindruckvoll“ im Grunde eine Untertreibung dar. Noch erstaunlicher ist das Aufgehen eines Konzepts, das die textlichen Erläuterungen auf ein Minimum begrenzt und die Leser trotzdem umfassend informiert. Der oft beschworene „Mut zur Lücke“ wird hier belohnt, weil beim „Abschmelzen“ des jeweils möglichen Informationsblocks die relevanten Fakten zurückbleiben. Wer meint, dies sei einfach, versuche sich doch einmal an einer Definition von „coronaler Loop“ in vierzig kurzen Zeilen …

„Das All!“ ist in jeder Beziehung kein billiges Vergnügen – das Buch ist kostspielig, sein Inhalt dem Thema jederzeit gewachsen. Bestes Kunstdruckpapier optimiert eine Reise durch das Universum, die wie selten zuvor erschreckt und fasziniert.

Flannary, Tim – Dschungelpfade. Abenteuerliche Reise durch Papua-Neuguinea

Neuguinea-Pidgin ist eine merkwürdige Kombination aus Englisch und diversen Sprachen der einheimischen Inselbewohner. Aber die Verständigung funktioniert, was ratsam ist in einer Welt, die sich bis vor wenigen Jahren praktisch in jedem isolierten Bergtal neu definierte. „Throwim way leg“ bedeutet: „sich auf eine Reise begeben“. Genau das beherzigte der australische Zoologe Tim Flannery, den in den 1980er Jahren das Fernweh packte. Ihn zog es auf die nach Grönland größte Insel dieses Planeten, wobei über den Eisblock im Norden viel mehr bekannt ist als über die Tropenwelt im Süden. Weiterhin sind große Teile der Insel völlig unentdeckt. Wo gibt es das sonst noch auf diesem Erdball? Ein verlockendes Betätigungsfeld für einen wagemutigen Forscher und Reisenden also. Flannerys launig beschriebenen sieben Reisen führten ihn deshalb direkt auf die Spuren der großen Entdeckungsreisenden der Vergangenheit. Nicht umsonst nennt man ihn den „australischen David Livingston“ (wenn wir dem Klappentext Glauben schenken möchten).

Neuguinea – das wusste Flannery schon – ist zwar geologisch die „Bugwelle“, die der Zwergkontinent Australien auf seiner Drift über das Lavameer unterhalb der Erdschollen aufgeworfen hat, weist aber in seiner Tier- und Pflanzenwelt bemerkenswert wenige Parallelen auf. So leben auf Neuguinea z. B. die Kängurus prinzipiell auf Bäumen – mit Ausnahme der eigentlichen Baumkängurus, denn die leben hartnäckig auf dem festen Boden und unterstreichen eindrucksvoll Flannerys These, dass in diesem seltsamen Winkel alles etwas anders läuft. (Kängurus spielen eine wichtige Rolle in diesem Buch, denn Tim Flannery hat sich auf ihre Biologie spezialisiert; Fledermäuse kann er aber auch gut …)

Seit 45.000 Jahren leben Menschen auf Neuguinea, aber noch in den 1930er Jahren hatten die meisten noch niemals einen weißen Mann gesehen. Das war kein Verlust, wie sich zahlreiche Massaker später herausstellte, aber es hatte gewisse Nachwirkungen, die noch heute Forschungsreisen in abgelegene Regionen nicht ungefährlich macht, zumal Kannibalismus und Kopfjagd auf Neuguinea nicht nur wehmütig erinnerte, sondern durchaus weiterhin praktizierte Gebräuche sind: Die einheimische Bevölkerung kann oft nicht schreiben, aber ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet und unendliche Duldsamkeit der kolonialistischen Obrigkeit gegenüber ihr Ding nicht.

Die Entbehrungen, die er auf sich nehmen musste, lesen sich in Flannerys Erinnerung vergnüglich, weil er sich offenbar mit einer Art Crocodile-Dundee-Mentalität ins absolute Abenteuer stürzt. Bei näherer Betrachtung schreckt der couchkartoffelige Durchschnittsleser aber doch schaudernd zurück. Neuguinea wartet nicht nur mit einem meist mörderisch heißen und feuchten Schimmel-Klima, sondern auch mit einer Furcht erregenden Tierwelt auf. Parasiten und giftiges Getümmel gedeiht prächtig hier und schätzt den Menschen gar sehr als Wirt. Was das für Folgen hat, wird von Flannery in drastischen Worten beschrieben. Einige Fotos des Bildteils belegen, dass er nicht untertreibt. (Lerne selbst, was „grile“ ist, liebe/r Leser/in – aber bitte auf eigenes Risiko! Und der Bandwürmer verspeisende Willok gilt selbst unter seinen strapazierfähigen Mitbürgern als Außenseiter.)

Flannery hungert, stinkt und steckt sich mit Krankheiten an, von denen man nicht einmal lesen möchte. Aber er kehrt immer wieder zurück, und man versteht ihn. Neuguinea ist eine fremde und unbarmherzige, aber faszinierende Welt. Inzwischen hat Flannery reichen Lohn empfangen. Er konnte bemerkenswerte Bekanntschaften knüpfen, hat Erfahrungen gemacht, um die man ihn beneiden kann. Aber auch als Wissenschaftler ist ihm Erstaunliches gelungen: Tim Flannery gehört zu denen, die immer wieder völlig unbekannte Tierarten entdecken! Das ist auf Neuguinea noch im 21. Jahrhundert möglich – und wir sprechen hier nicht von Insekten, sondern von ziemlich großen Säugetieren.

Freilich sterben sie oft aus, noch bevor sie richtig entdeckt werden. Trotz seines von angelsächsischem (und robustem) Humor geprägten Schreibstils verschweigt Flannery die eher traurigen Seiten des Urwelt-Lebens auf Neuguinea nie. Sie sind – wen wundert’s – primär von Menschen gemacht. Die Insel ist heute ein zweigeteiltes Land. Der Westen – Irian Jaya – gehört zur Militärdiktatur Indonesien. Papua-Neuguinea im Osten ist selbstständig, aber das bedeutet längst nicht, dass die Ureinwohner über ihre Heimat bestimmen dürfen. In vielen deprimierenden Kapiteln beschreibt Flannery, wie die eigentlichen Bürger der Insel um ihre Rechte betrogen wurden und werden. Gesetzlosigkeit, Krankheit, Hunger, Unterdrückung, Ausbeutung: Neuguinea ist in diesen Punkten ein sehr modernes Land.

Flannery verschweigt noch unangenehmere Wahrheiten nicht. Die bedrängten Ureinwohner sind beileibe keine Engel. Ihr unglaubliches hartes Leben hat sie in Jahrzehntausenden zu einem hoch spezialisierten Menschenschlag werden lassen, dessen Sozialstruktur uns angeblich „zivilisierten“ Erdmenschen äußerst exotisch, ja, grausam anmutet. Aber selbst unter Berücksichtigung der alten Weisheit „Andere Länder, andere Sitten“ und unter großzügig politisch korrekter Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes der im Einklang mit Mutter Natur existierenden Ureinwohner lässt sich beim besten Willen nicht leugnen, dass auch diese vor allem – Menschen sind. Flannery entdeckt daher unerfreuliche Wesenszüge auch bei den notorisch über den Tisch gezogenen Inselbewohnern. Sie betrügen einander, sind sich spinnefeind; statt greenpeacige Einigkeit ihren neokolonialistischen Feinden gegenüber zu demonstrieren, lassen sich von alten Naturgöttern keine klügeren Weisheiten vermitteln als von garstig besserwisserischen Missionaren.

Neuguinea ist ganz sicher nicht das verlorene Paradies auf Erden. Auch der eifrige und offene Forscher Flannery muss dies auf die harte Tour lernen – ein schmerzlicher Prozess, der ihm während einer Reise durch den indonesischen Westen ein echtes Trauma bescherte, als er Zeuge wurde, wie die Bediensteten eines Konzerns, der seine aktuelle Expedition finanzierte, rassistisch einen „Wilden“ umbrachten und er sich plötzlich fragen musste, ob er sich mitschuldig an dieser Tat gemacht hatte. Flannery unterschlägt dieses Ereignis und seine womöglich wenig schmeichelhafte Rolle darin nicht. Es hat seiner Liebe zur Insel Neuguinea einen nachhaltigen Dämpfer versetzt.

Flannerys Ehrlichkeit und die lange Kette definitiv berichtenswerter Abenteuer machen „Dschungelpfade“ zum Lektüre-Erlebnis. Rührselig-epiphanisches „Groß ist Mutter Gäa!“-Gestammel bleibt dem Leser erspart. Die eindrucksvollen Farbbilder komplettieren den durchweg positiven Eindruck, den dieses Buch hinterlässt. Dass die Faszination Neuguineas trotzdem aus jeder Zeile spricht – und das überzeugend -, ist die bemerkenswerte Leistung eines klugen Mannes, der sein Wissen teilt statt zu predigen und auf diese Weise einen um so nachhaltigeren Eindruck hinterlässt.

Tim Flannery, geboren 1956 in Canberra, der Hauptstadt Australiens, ist nicht nur Entdeckungsreisender und Feldforscher, sondern „hauptberuflich“ der Direktor des „South Australian Museum“ in Adelaide. Darüber hinaus lehrt er als Professor an der örtlichen Universität. Immer wieder unternimmt er ausgedehnte Forschungsreisen durch die ozeanische Welt. Flannery gilt als bester Kenner der heimischen Säugetierwelt, widmet sich aber auch komplexen ökologischen Studien und macht sich stark für die Tier- und Pflanzenwelt dieser Region, die wie die einheimische Bevölkerung bedroht wird durch den Raubbau der „modernen“ Zivilisation. 18 Bücher hat Flannery veröffentlicht.

Frenz, Lothar – Riesenkraken und Tigerwölfe. Auf der Spur mysteriöser Tiere

Auf die Spur mysteriöser Tiere begeben sich Autor und Leser dieses Bandes, der sich binnen weniger Seiten als echte Überraschung und Kleinod des deutschen Sachbuch-Marktes entpuppt. Dabei scheinen sich hier zunächst nur die üblichen Verdächtigen zu tummeln: Nessie, Bigfoot & Yeti und – die Königsfrage für Kryptozoologen (1) in der Endrunde von „Wer wird Millionär?“ – Mokéle-mbêmbe, der trompetende Miniatur-Brontosaurus im Tele-See (!) des düsteren Kongo-Dschungels.

Dort, wo solche Fabelwesen schnauben, sind auch die Fliegenden Untertassen niemals fern. Die hartnäckige Weigerung der UFO-Jünger, regelmäßig die ihnen verschriebenen Medikamente einzunehmen, sichert zwar allerlei über- und außerirdischen Kreaturen ihre Präsenz auf den „Lone Gunmen“-Websites dieser Welt („Elvis & Bigfoot rocken auf Alpha Centauri“), lässt aber den neugierigen Durchschnittsbürger vor der Kryptozoologie eher zurückschrecken.

Glücklicherweise gehört Lothar Frenz eindeutig zu jenen Vertretern dieser Zunft, deren Kopf sich dort befindet, wo er hingehört: auf seinen Schultern nämlich, statt irgendwo haltlos im esoterischen Gewaber zu treiben. So gibt es statt mystischen Gefasels Fakten oder gut begründete Thesen, die dort, wo es sich der Sache wegen ziemt, mit der nötigen Vorsicht präsentiert werden.

Überhaupt ist Frenz‘ Ansatz ein anderer als der, den der Titel zunächst suggeriert: Dem Autoren geht es nicht um die Sensation um jeden Preis; damit kann er ohnehin nicht dienen: Was bisher verschwunden blieb, taucht auch nach der Lektüre der „Riesenkraken und Tigerwölfe“ nicht auf. Aber das ist völlig unwichtig, denn gar zu rasch und fest hängt der Leser am Kanthaken, wenn Frenz damit beginnt, von ’neuen‘ Tieren zu erzählen, die immer und überall auf dieser Welt gefunden werden, die doch angeblich längst bis in den letzten Winkel vermessen, untersucht und zu allem Überfluss aus dem Weltall unter ständiger Beobachtung gehalten wird.

Doch entscheidend ist, was man mit seinen Daten anfängt. Mit Hilfe moderner Satelliten ist es zwar möglich, ahnungslose Zeitgenossen zu überraschen, die sie sich in Moskau auf dem Roten Platz in der Nase bohren. Dennoch könnte es durchaus möglich sein, dass großfüßige Affenmenschen in der nordamerikanischen Provinz direkt neben McDonalds-Filialen hausen: Es hat sie dort halt noch nie jemand wirklich intensiv gesucht!

Erstaunlich ist es schon: Unbekannte Kreaturen verbergen sich nicht zwangsläufig in tiefen Höhlen, auf arktischen Hochplateaus oder 20.000 Meilen unter dem Meer, sondern häufig direkt um die Ecke. Wer hätte beispielsweise damit gerechnet, dass ausgerechnet Mallorca die Heimat einer Krötenart ist, von der bis 1980 kein Mensch jemals gehört hatte? Ganze Legionen hirntoter Ballermänner haben jahrelang praktisch zu Häupten der kostbaren Lurche ahnungslos Sangria aus Plastikeimern in sich hineingeschüttet!

Der Gedanke hat etwas Tröstliches: Wir Menschen kommen mit dem Ausrotten der alten Arten kaum nach, so schnell entdecken unsere fleißigen Wissenschaftler Nachschub … Fast noch interessanter ist die Regelmäßigkeit, mit der die Forscher Tiere, die sie längst kennen gelernt haben, wieder ‚verlieren‘, bis sie Jahrzehnte später erneut ‚entdeckt‘ werden. Wie Frenz nachweist, kann sich dieses Spiel durchaus mehrfach wiederholen. Seltsam auch, mit welcher Hartnäckigkeit sich angeblich ausgestorbene Wesen zurückmelden. Irgendwie scheinen sie alle ein Eckchen zu finden, in das sie sich flüchten und verschnaufen können, die Quastenflosser, Seychellen-Riesenschildkröten oder Kongopfauen dieser Erde, bis sie erneut das Licht der Öffentlichkeit suchen. Und den wohl endgültig Dahingeschiedenen wie dem Moa, dem Beutelwolf oder dem Zwergelefanten diverser Mittelmeerinseln (gab es tatsächlich!) verhilft immerhin das kollektive schlechte Gewissen ihrer menschlichen Meuchler zu einem geisterhaften Nachleben, wie Frenz ebenso überzeugend wie kurzweilig deutlich macht.

Überhaupt tut es gut, ein Buch zu lesen, das diesen Titel schon rein formal für sich beanspruchen kann! Dieser Stoßseufzer ist im Zeitalter des E-Books und der Kleinstverlage, die wirklich jedem Mist zumindest die Gestalt eines Buches verleihen, sofern dafür nur bezahlt wird, durchaus angebracht. Lothar Frenz ist Naturwissenschaftler (sogar ein studierter) und Journalist (dito); für „Riesenkraken und Tigerwölfe“ erweist sich das als ideale Mischung. Ob sich sein Werk deshalb so flüssig liest, weil er regelmäßig Drehbücher für die ZDF-Kinder-Dokumentar-Filmreihe „Löwenzahn“ verfasst, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Auf jeden Fall versteht Frenz sein Handwerk; die Biografie nennt zwei weitere Buchveröffentlichungen zu den Themen Störche bzw. Sterbehilfe; größer kann die thematische Bandbreite eines Wissenschaftsjournalisten eigentlich nicht sein …

Anlass zur Kritik geben höchstens die Illustrationen: Uralte Kupferstiche, Zeichnungen aus Urvater Brehms „Thierleben“ und Schwarzweiß-Fotos in miserabler Wiedergabe-Qualität, nicht selten digital-dilettantisch aus der Vorlage ‚ausgestanzt‘, ohne Hintergrund jeglichen Aussagewertes beraubt und lieblos irgendwo in den Text montiert, lassen zumindest in der Gestaltung den Verdacht aufkommen, der Verlag habe das Manuskript von einem an Selbstüberschätzung leidenden, autodidaktisch ‚ausgebildeten‘ (und billigen) Grafiker am heimischen PC in Form bringen lassen. Sparsamkeit hin, Preiskalkulation her: So geht es jedenfalls nicht!

Damit ist es aber auch schon genug der Kritik an einem Sachbuch, das kundig und unterhaltsam, nicht mit wissenschaftlichem Anspruch (doch diesen auch gar nicht erhebend), sondern neugierig und ohne den in Deutschland stets präsenten erhobenen Zeigefinger in sein Thema einführt: kein Wunder, dass sich eine renommierte Naturwissenschaftlerin wie Jane Goodall nicht nur als Kryptozoologin ‚outet‘, sondern auch gern dazu bereit erklärte, „Riesenkraken und Tigerwölfe“ durch ein Vorwort zu adeln – nicht, dass dieses Buch darauf angewiesen wäre!

Anmerkung:

(1) Die „Krytozoologie“ – übrigens kein ‚offizieller‘ i. S. von anerkannter Zweig der Naturwissenschaften – widmet sich dem Studium von (d. h. in der Realität primär der Suche nach) Lebewesen, auf deren Existenz zwar Spuren hindeuten, ohne dass diese letztlich jedoch (bisher) bewiesen werden konnte.

Venables, Stephen – Everest. Die Geschichte seiner Erkundung

Ein halbes Jahrhundert ist seit der Erstbesteigung des Mount Everest am 29. Mai 1953 verstrichen. Die ehrwürdige Royal Geographical Society zu London nahm dies 2003 zum Anlass, ihr berühmtes Bildarchiv zu öffnen. Mehr als 20.000 oft noch niemals publizierter Fotos werden hier aufbewahrt, von denen ca. 400 Eingang in dieses Buch fanden, um die Geschichte der von der Gesellschaft geförderten Everest-Expeditionen zwischen 1921 und 1953 zu illustrieren.

„Vorwort“ (Sir Edmund Hillary), S. 8-10: Der Mann, der 1953 den Mount Everest mit Tenzing Norgay als Erster erklommen hat, leitet mit einer kurzen Erinnerung an dieses Ereignis das Buch ein. Eine „Grußbotschaft des Dalai Lama“ (S. 11) erinnert daran, dass Tibet nicht nur der Standort des höchsten Gipfels der Erde, sondern auch die Heimat eines Volkes ist, das seit fünf Jahrzehnten systematisch von den chinesischen Kommunisten unterdrückt wird. Der Dalai Lama merkt weiterhin an, dass die Menschen im Himalaja die Berge als Wohnsitz der Götter achten und nicht als alpinistische Herausforderung betrachten.

„Die Fotografien“ (Joanna Wright), S. 12-18: Die Kuratorin für Fotografie der Royal Geographical Society erläutert das Besondere dieses Buchprojekts: Seit jeher fordert die Gesellschaft von den Expeditionen, die sie unterstützt, Berichte, Karten und Bilder. Über die Jahrzehnte – die RGS existiert seit 1830 – hat sich vor allem seit der Erfindung der Fotografie ein bemerkenswerter Quellenbestand angesammelt, der unschätzbaren wissenschaftlichen Wert gewonnen hat, weil er – so wie die in diesem Band gezeigten Fotos aus Tibet und Nepal – Welten fixiert, die längst versunken sind. Gleichzeitig fügt es sich, dass immer wieder begnadete Fotografen in die Wildnis gezogen sind, wo ihnen mit den schwerfälligen Apparaten ihrer Zeit erstaunliche Aufnahmen gelangen.

„Der Höchste Berg der Erde“, S. 19-38: Den Mount Everest hat es schon vor seiner „Entdeckung“ durch Reisende und Bergsteiger gegeben. John Keay fasst die lange, leider nur bruchstückhaft überlieferte „Vorgeschichte“ des Monumentalgipfels zusammen und beschreibt, wie dieser allmählich ins Visier der englischen Kolonialmacht, der Forschung und schließlich der Bergsteiger geriet. Im Kapitel „Chomolungma: Wohnsitz der Götter“ (S. 39-70) versucht Ed Douglas zu erklären, was die Gipfel des Himalaja der einheimischen Bevölkerung bedeuten. Er liefert eine behutsam vereinfachte Einführung in die buddhistische Glaubenslehre bzw. Götterwelt, von der prominente Mitglieder auf besagten Bergspitzen thronen und von ihren Gläubigen nicht gestört werden möchten.

„Der lange Aufstieg 1921-53“ (Stephen Venables), S. 71-198: Drei Jahrzehnte dauerte der Sturm auf den Gipfel des Everest, an dem natürlich nicht nur Briten teilnahmen. Der Verfasser beschäftigt sich mit jeder Expedition, wobei er sich verständlicherweise auf die verhängnisvollen Versuche der 1920er Jahre, den Mythos George Mallory sowie den in Etappen errungenen Erfolg nach dem II. Weltkrieg konzentriert.

„Die Sherpa: Tiger im Schnee“, S. 199-218: Ohne sie läuft nichts im Himalaja – die Sherpas mauserten sich vom reinen Gepäckschleppern für weiße „Sahibs“ zu gleichberechtigten Bergkameraden, von denen einer sogar zu den Erstbesteigern des Everest gehört. Tashi Tenzing, Enkel des legendären Norgay Tenzing, und seine Ehefrau Judy erzählen die Geschichte der zähen Bergbewohner, die eine seltsame Gunst des Schicksals vor einem Dasein als ausgebeutetes Drittweltvolk bewahrte.

„Die ewige Herausforderung“ (Stephen Venables im Gespräch mit Reinhold Messner), S. 219-243: Selbstverständlich endet die Geschichte des Everest-Alpinismus’ nicht mit der Erstbesteigung des Gipfels. In den Jahrzehnten nach 1953 suchten und fanden zahlreiche Bergsteiger weitere Herausforderungen am höchsten Berg der Erde. Sie erschlossen neue Routen, erstürmten den Gipfel im Alleingang, im Winter, blind, mit Holzbein, ohne künstliche Sauerstoffzufuhr, fuhren auf Skiern oder auf dem Snowboard ab, flogen mit dem Drachengleiter zu Tal – dem Erfindungsreichtum (sowie dem Schwachsinn) waren und sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig verkam der Everest zum Protzberg für Amateur-Abenteurer, die sich heute für viel Geld auf den Gipfel hieven lassen und daheim ordentlich angeben können. An den Hängen türmt sich der Müll, die Sherpas entfremden sich der eigenen Kultur. Andererseits bietet der moderne Massentourismus auch die Möglichkeit, eine Infrastruktur für die sonst in Armut gefangene einheimische Bevölkerung zu schaffen, welche die Tradition und die Welt des 21. Jahrhunderts harmonisch verbindet.

Eine Liste der „Mount-Everest-Expeditionsteilnehmer 1921-53“ (Sue Thompson und Mike Westmacott), S. 244-248, bietet kurze Biografien derselben, welche klarstellen, dass sich das Leben dieser Männer nicht auf das Besteigen möglichst hoher Berge beschränkt. Auf Namen beschränkt bleibt eine Liste der „Besteigungen seit 1953“, S. 249-251. Sie belegt den zunehmenden Sturm auf den Everest-Gipfel. Anmerkungen und weiterführende Literatur schließen auf S. 252 das Buch ab.

Bücher über den Mount Everest oder den Himalaja gibt es auch auf dem deutschen Buchmarkt viele; wieso also noch eines publizieren bzw. an dieser Stelle rezensieren? „Everest. Die Geschichte seiner Erkundung“ präsentiert in der Tat kaum neue Fakten, sondern fasst Bekanntes noch einmal zusammen. Dies geschieht freilich in einer Form, die vor allem den Laien mit der Landschaft, ihren Menschen und den seltsamen Fremden, die auf Leben & Tod möglichst hohe Felsen erkriechen, vertraut machen kann: lesbar, informativ, kompakt.

Doch das eigentliche Pfund, mit dem diese Jubiläumspublikation wuchern kann, sind die Abbildungen. Bemerkenswerte Schätze kommen aus dem RGS-Archiv ans Tageslicht. Da sind nie gesehene frühe Aufnahmen des Everest; der Fotoapparat dokumentiert, wie die „Sahibs“ dem lange nicht zugänglichen Objekt ihrer begehrlichen Aufmerksamkeit allmählich immer näher rücken.

Dann gibt es da Aufnahmen von Expeditionen, die ulkig gewandete Männer mit gewickelten Beinen und in schweren Mänteln zeigen, die mit aus heutiger Sicht völlig unzureichenden Mitteln Unglaubliches leisten, per Baumstamm klaffende Gletscherspalten überbrücken, von Eisstürmen gebeutelt lotrechte Steinwände ersteigen und in winzigen Zelten in einer unwirtlichen Mondlandschaft ausharren. (Auffälliges Lieblingsmotiv aller Everestreisenden: gewaltige Bergpanoramen, darin suchspielartig & ameisengleich Menschen.) Dabei sind die berühmten letzten Bilder von George Mallory und Andrew Irvine, die 1924 bei dem Versuch, den Gipfel unbedingt zu erreichen, spurlos verschwanden, ohne dass jemals klar wurde, ob es ihnen gelungen ist, bevor sie starben. (Mallorys Leiche wurde 1999 am Berg gefunden; das Rätsel bleibt bestehen.)

Nebeneinander gestellt verraten die Fotografien von Everestmannschaften viel über die Entwicklung des Himalaja-Bergsteigens vor und nach dem II. Weltkrieg. Kleidung, Ausrüstung, Verpflegung – alles ändert sich, während die einheimischen Sherpas aus dem Hintergrund vom Lastenträger zum gleichberechtigten Kameraden in den Vordergrund rücken. Am Tag des Triumphes, dem 29. Mai 1953, ist es Tenzing Norgay, der die Gipfelfahne in die Luft hält; von Edmund Hillary existiert kein Foto auf der Everestspitze.

„Everest“ dokumentiert aber auch ein Interesse der Himalajareisenden, das sich nicht nur grimmig auf die Besteigung von Bergen richtete, sondern auch auf die fremde Welt, die man auf dem Weg dorthin durchreiste. Einmalige Aufnahmen der Natur sowie der tibetischen und nepalesischen Menschen entstanden, die einen Lebensalltag dokumentieren, der spätestens seit der chinesischen Besetzung Tibets und dem Einbruch der „modernen“ Zivilisation auch in diesen entlegenen Winkel des Erdballs endgültig der Vergangenheit angehört.

Mit fast 50 Euro ist „Everest“ kein kostengünstiges Buch. Das lässt sich damit begründen, dass hier nichts „billig“ geraten ist. Feines Kunstdruckpapier, sauberes Layout, kräftige Fadenbindung, großartige Abbildungsqualität: Der Preis kommt nicht von ungefähr. Der sparsame Leser sei indes darauf hingewiesen, dass Restbestände dieses Bandes u. a. im Weltbild-Verlag für ca. 20 Euro angeboten werden – einer möglichen Neuausgabe verkleinerten Maßes ist dieses Original allemal vorzuziehen, denn nur auf den ursprünglichen 30,5 x 29,3 cm lassen sich die Fotos wie vorgesehen genießen!

Stephen Venables (geb. 1954) gehört zur alpinistischen Prominenz. Auf der ganzen Welt hat er Berge erklommen, dabei neue Routen entdeckt und in der Antarktis Gipfel gefunden, die noch unbestiegen waren. Seine große Liebe gehört indes dem Himalaja, den er im Verlauf von mehr als einem Dutzend Expeditionen ausgiebig bereiste. Seine Kletterleidenschaft führte ihn hier zu den weniger hohen, dafür jedoch unbekannten Bergen. 1988 gehörte Venables jenem Vier-Mann-Team an, das eine spektakuläre Route durch die Mount-Everest-Ostwand erschloss. Als Publizist ist Venables auf dem Buchmarkt und in praktisch allen einschlägigen Zeitschriften für Bergsteiger vertreten.

Piers Paul Read – Die Templer. Die Geschichte der Tempelritter, des geheimnisvollen Ordens der Kreuzzüge

Dieses Buch lässt die vielen unterschiedlichen Interpretationen über den Templer-Orden außer Acht und führt dagegen explizit die historischen Daten und die Entwicklung des Ordens während seiner zweihundertjährigen Geschichte auf. Aufgrund der Aktualisierungen und akribischen Zusammenstellungen stellt es damit eine hervorzuhebende Ausnahme innerhalb der unzähligen Templer-Veröffentlichungen dar. Auch aufgrund der aktuellen politischen Weltlage ist die Historie der Templer beachtenswert, denn anhand dieser wird vor allem der ewig währende Konflikt um die Herrschaft der drei konkurrierenden abrahamitischen Religionen um Jerusalem und Palästina in der Zeit der Kreuzzüge dargestellt.

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Grüning, Christian – Garantiert erfolgreich lernen. Wie Sie Ihre Lese- und Lernfähigkeit steigern

_TRAILER_

Das Leben ist ein ständiger Lernprozess. Ob für Prüfungen, Examina, berufliche oder private Weiterbildung: Niemand kommt daran vorbei, sich ständig neues Wissen anzueignen. Nach der Arbeit mit diesem Buch werden Sie schneller und – viel wichtiger – mit besserem Verständnis und einer besseren Erinnerung lesen (Speed Reading). Es wird Ihnen leicht fallen, selbst komplexe Informationen gehirn-gerecht aufzubereiten und mühelos in Ihr derzeitiges Wissen einzubinden (Mind Mapping). Derart „konstruiertes“ Wissen werden Sie leicht wieder „re-konstruieren“ können und im entscheidenden Moment zur Verfügung haben (Gedächtnis-Strategien & Mnemotechnik). Unterstützt wird dieser Prozess durch das richtige Zeitmanagement. Sie lernen, Ihre Konzentration zu verbessern und eine starke Motivation für die wichtigen Aufgaben zu entwickeln. Und das alles ohne Stress. Klingt unglaubwürdig? Dann lassen Sie sich überraschen.

_DER AUTOR_

Christian Grüning ist Jurist, Wirtschaftsmediator (CVM) und NLP Master-Practitioner. Schon während seines Studiums gründete er ein Beratungsunternehmen für Marktforschung und IT-Projekte sowie einen eigenen Fortbildungsverein. Im Anschluss an die Tätigkeit als Vorstandsassistent einer weltweit tätigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hielt er europaweit Seminare im Bereich Internet-Programmierung. Während er die Kinder einer Hochbegabtenförderung für die Gedächtnisweltmeisterschaften trainierte, begann er sich intensiver mit dem Thema Lernen auseinander zu setzen. In Zusammenarbeit mit dem „Juristischen Repetitorium Hemmer“ gründete er in München die „Akademie Grüning by hemmer“. Persönlich hält er unter anderem die Seminare in den Bereichen Wissensmanagement, Mind Mapping, Gedächtnistraining, Speed Reading, Zeitmanagement, Mediation und NLP (Neurolinguistisches Programmieren). In diesen Bereichen verfügt er über langjährige Seminarerfahrung und hat selbst Seminare bei vielen internationalen Größen besucht. Christian Grüning ist Autor des Buches „Garantiert erfolgreich lernen“, erschienen in der Grüning/Hemmer/Wüst Verlagsakademie GmbH.

_REZENSION_

Christian Grüning merkt in seiner Einleitung an, das Erfreuliche sei die Tatsache, dass man nicht begabt oder intelligent sein muss, um effektiv zu lernen. Ebenso kündigt er an, man könne nach der Arbeit mit „Garantiert erfolgreich lernen“ schneller und mit besserem Verständnis lesen/lernen. In Grünings Buch geht es um das |Wie| des Lernens und nicht um das |Was|.

In der Einleitung bietet der Autor erst einmal einen Überblick über den Lernzyklus. Wichtig ist hierbei, als erste Stufe des Lernprozesses, das Sichten der Informationen; je effektiver man liest, umso besser. Also mit mehr Verständnis und einem besseren Erinnerungsvermögen. Es wird weiterhin jedes Wort wahrgenommen – jedoch mit einer höheren Geschwindigkeit, vorausgesetzt, man wendet die richtige Technik an, die dieses Buch u. a. vermitteln will. Auf der zweiten Stufe werden die Lerninhalte gehirngerecht aufbereitet. Strukturkarten sollen da hilfreich sein. Auf der dritten Stufe werden die Informationen abgespeichert, die dann auf der letzten Stufe im entscheidenden Moment abrufbar sein müssen. Basis alldessen ist das richtige Zeitmanagement, was ich bestätigen kann. Wer kennt das nicht, dass man Zeit und Energie verschwendet, weil mein ziellos ist oder man keine Prioritäten gesetzt hat? Grüning verspricht auch hier Lösungsmöglichkeiten und Motivationsfaktoren. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist Stress, denn der blockiert unser Denken, also gilt es, ihn schnell abzubauen, um wieder neue Informationen aufnehmen zu können.

Christian Grüning versichert, dass der Leser dieses Buches die Lerntechniken und Fähigkeiten erlernen kann, weist aber in seiner Einleitung darauf hin, dass es auf die Zusammenhänge ankommt, spricht auf die richtige Reihenfolge der einzelnen Lernstufen, die er in „Garantiert erfolgreich lernen“ ausführlich erklärt.

Bei der ersten Stufe geht es um das Sichten/Struktur-Lesen der Information, was sich in der heutigen Informationsflut als schwierig erweisen kann. Begonnen wird diese ganzheitliche Lesetechnik mit der wichtigen |Vor|-Arbeit. Christian Grüning spricht dort die Gehirnfunktionen, die aktive Lesehaltung, das Lesen mit Verstand und einzelne Übungen und Methoden an. Wichtig ist hier die Begrenzung von Zeit und Menge. Den angesprochenen „Marathon-Effekt“ kann ich nur bestätigen, ich praktiziere ihn schon seit Jahren instinktiv.

Dann erläutert der Autor im zweiten Schritt – der Aufbereitung – die Vorteile des Mind Mappings und des Arbeitens mit Strukturkarten. Das Aufbereiten von Informationen in einer Mind Map soll zu einer verbesserten Gedächtnisleistung führen, aber auch zu einem erheblichen Zeitgewinn. Ebenso soll es die Lernkompetenz erhöhen. Es folgen Hinweise darauf Hinweise, wie man Stress vorbeugen und ihn abbauen kann sowie die Erläuterung der Regeln des Mind Mappings.

Die dritte Stufe ist das Abspeichern der Informationen, die Gedächtnistechniken. Das Verständnis ist hierbei die Grundlage; was auf der Hand liegt, denn nur das, was wir verstanden haben, können wir auch richtig abspeichern. Wir erfahren nun, dass wir neue Informationen nur über unsere Sinne aufnehmen können – den fünf Lernkanälen, dass jeder einen Lieblingskanal (bevorzugten Sinn) besitzt. Diese Sinne gilt es zu trainieren.
Für mich recht interessant war die Stelle des Buches über Zeitmanagment und die Zielsetzung, die Maßstab jeder Aktivität ist oder sein sollte. Wichtig dabei ist die Zeitanalyse, der das Zeitprotokoll eines Arbeitstages vorausgeht. Dem kann man entnehmen, was man gegebenenfalls ändern muss. Aus der Seele sprach mir besonders das Erkennen so genannter Zeitdiebe (ein Wort, das fest in meinem Sprachschatz verankert ist). Jeder sollte sich in der Tat fragen: „Wer oder was stiehlt mir die Zeit?“ Diese Zeitdiebe gilt es abzustellen oder auf ein Minimum zu begrenzen!

Der nächste Schritt ist die Tagesplanung. Die Erfahrung hat gezeigt, dass man mit einem Mehr an Planungszeit weniger Zeit für die Durchführung benötigt und zu einem besseren Ergebnis gelangt. Dann gilt es, die Aufgaben zusammenzustellen. Durch die schriftliche Fixierung gibt man seinen Plänen Verbindlichkeit und steigert die Selbstdisziplin. Wichtig ist auch die Frage: „Bringt mich diese Aufgabe meinen Zielen näher?“ Darüber hinaus ist es wesentlich, Prioritäten zu setzen, um jeden Tag die wirklich wichtigen Aufgaben zu erledigen. Grüning spricht in dem Zusammenhang das Pareto-Prinzip an, das er auch erläutert.
Hat man die Aufgaben in die richtige Ordnung gebracht, verteilt man sie über den Tag – legt somit die Zeitspanne fest. Wichtig ist, dass das Gleichgewicht zwischen den drei Bereichen: „Arbeit und Leistung“, „Familie und Beziehungen“ und „Körper, Gesundheit und Selbstverwirklichung“ ausgewogen bleibt. Kaum etwas ist frustrierender, als sich Wissen anzueignen, um kurze Zeit später festzustellen, dass man das meiste schon wieder vergessen hat. Mit dem richtigen Wiederholungssystem, das dieses Buch auch behandelt, soll es besser gelingen, ebenso das Abrufen der Informationen nach Anwendung aller behandelten Themen. Ein jeder versuche es selbst!

„Garantiert erfolgreich lernen“ ist streckenweise interessant, aber phasenweise zu langatmig erläutert, da wäre weniger mehr gewesen. Straffer wäre es noch einprägsamer ausgefallen und somit für den Leser noch effektiver, ganz dem Thema des Buches angemessen. Sieht man davon ab, ist es für all diejenigen interessant, die vorher keines der ähnlichen Werke gelesen haben und eine Hilfe suchen, um ihre Effektivität zu steigern.

Radkowsky, Britta – Moderne Vampyre. Mythos als Ausdruck von Persönlichkeit

Der unbedarfte Leser wird bei Britta Radkowskys schmalem Bändchen zunächst über den Titel stolpern, sieht „Moderne Vampyre“ doch ganz nach einer antiquierten Schreibweise aus, die besonders ausgefallen und prätentiös sein will. Der Eingeweihte weiß jedoch: Vampir ist nicht gleich Vampyr, und genau diesen Unterschied will Britta Radkowsky, ehemals Redakteurin des Vampirmagazins sanktuarium.de, näher beleuchten.

Vampir und Vampyr wurden Anfang des 19. Jahrhunderts noch synonym verwendet. Beide Schreibweisen wechselten sich mit schöner Regelmäßigkeit ab, da der Begriff ursprünglich aus Osteuropa kam und sich die westlichen Autoren noch nicht ganz sicher waren, wie man den untoten Blutsauger denn nun zu schreiben habe. Heute ist das „y“ ein bewusst gesetztes Signal, unterscheidet es doch in der Regel den Vampir aus Literatur und Film von dem realen, lebenden Vampyr. Doch wie sich dieser Vampyr genau charakterisiert, das kann auch Britta Radkowsky nicht festmachen. Schließlich ist der Vampir eine geduldige Projektionsfläche für eine Vielzahl von Bedeutungen, sodass er letztlich eine grundlegend persönliche und subjektive Erfahrung ist.

Sie nähert sich dem Phänomen daher auf traditionelle Weise über den Volksglauben, die Literatur und den Film. Wer es (immer noch) nicht wusste, erfährt hier, dass der historische Dracula durchaus kein Vampir war, dass es aber eine ganze Reihe von wissenschaftlich belegten Fällen von Vampirismus aus Südosteuropa gibt. Welche Glaubwürdigkeit man diesen historischen Dokumenten allerdings zuschreibt, bleibt jedem selbst überlassen. Radkowsky jedenfalls vermeidet jegliche Propaganda und versucht keineswegs, den Leser von der Existenz von Vampiren zu überzeugen.

Im Abschnitt über Literatur und Film trifft man auf die üblichen Verdächtigen: Byron, Gaultier, Stoker, Rice bei der Belletristik und „Nosferatu“, „Dracula“, „The Hunger“ und „Near Dark“ bei den Filmen. Radkowsky enthält sich leider persönlicher Bewertungen (abgesehen von der Auswahl der besprochenen Bücher und Filme), bietet jedoch Zitate anderer Kritiker, sodass der Leser dennoch einen Überblick über die Qualität der vorgestellten Werke bekommt. Kurz und bündig kann sich so vor allem der Einsteiger einen Überblick darüber verschaffen, was man unbedingt lesen bzw. anschauen sollte, der Fan hingegen wird die meisten Titel bereits kennen.

Diese einleitenden Kapitel nehmen fast die Hälfte des Buches ein und so widmet sich Radkowsky erst relativ spät ihrem eigentlichen Thema, nämlich den lebenden Vampyren. Nun ist es nicht so, dass darunter wiederkehrende Tote zu verstehen sind, die das Blut der Lebenden saugen. Doch was ein Vampyr nun eigentlich ist, das kann auch Radkowsky nicht mit Bestimmtheit sagen. Sicher ist so viel: Es handelt sich um einen Lebensstil; eine Subkultur, die entweder mit dem Internet entstanden ist oder wenigstens dadurch eine Blüte erfahren hat. Vampyre entleihen Eigenschaften und Lebensweisen von Film- oder Romanvampiren und machen sie zu einem integralen Teil ihres eigenen Lebens. Besonders die sensiblen und chronisch schwermütigen Vampire von Anne Rice dienen dabei gern als Vorbild.

Britta Radkowsky bleibt auch hier an der Oberfläche und begnügt sich damit, an Beispielen von verschiedenen Vampir-Vereinigungen, wie dem offiziellen Anne-Rice-Fanclub und seinem legendären jährlichen Vampirball oder dem Sanguinarium mit seinem Regelwerk für Vampyre, das Phänomen zu illustrieren. Diese Beispiele zeigen zwar Aspekte der vampyrischen Subkultur, beleuchten jedoch weder ihre Ursprünge noch ihre Faszination. Viel interessanter dagegen sind die Interviews mit „Größen“ der Vampyrszene, die im Anhang zu finden sind. Webmaster einschlägiger Seiten beantworten hier Fragen zu ihrem ganz persönlichen Vampir- und Vampyrbegriff und erklären, wie, warum und ob sie Vampyr sind. Skeptiker werden feststellen, dass die Interviewten ihren Lebensstil durchaus reflektieren und umfassend belesen sind. Bloße Trittbrettfahrer finden sich im Interviewteil nicht. Allerdings zeigen die Interviews einmal mehr, dass eine Definition des Vampyrbegriffs ein unmögliches Unterfangen ist. Die Ansichten der Befragten können unter Umständen recht gegensätzlich sein, und doch schließen sie sich nicht aus. Wie der Einzelne den Vampirmythos empfindet und für sich interpretiert, ist eine persönliche und individuelle Angelegenheit. Und so ist auch jeder Vampyr individuell und anders. Einfache Formeln gibt es da nicht.

Abgerundet wird der schmale Band durch eine umfangreiche Literaturliste und eine einführende (wirklich nur einführend, da recht kurz) Filmographie für alle, die sich weiter mit dem Thema beschäftigen wollen. Insgesamt bleibt das Buch etwas zu allgemein – in allen angesprochenen Aspekten – eignet sich aber gerade dadurch vor allem für diejenigen, die einen Überblick über das Thema bekommen wollen. Radkowsky schneidet alle wichtigen Aspekte an, in einer flüssigen und gut lesbaren Sprache, ohne den Einsteiger mit tief gehenden Analysen zu verscheuchen.

Fazit: Ein Buch für diejenigen, die ihren inneren Vampyr erst noch entdecken wollen. Alle, die ihm bereits verfallen sind, werden hier nichts Neues mehr lernen.

Funke, Peter – Athen in klassischer Zeit

In dem vorliegenden Buch befasst sich Peter Funke, Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, mit Athen, einer der schillerndsten Städte des Altertums. Seine Betrachtung beginnt im 6. Jahrhundert v. Chr. mit den Reformen Solons und endet 322 v. Chr. mit der athenischen Kapitulation gegenüber dem Makedonenkönig Alexander dem Großen.

In einzelnen Episoden erläutert Funke, wie sich Athen in diesem Zeitraum zu einem der führenden Stadtstaaten der griechischen Welt entwickelte. Den Anfang macht die Zeit Solons, dessen Reformen 594 den Grundstein legten für die spätere folgenreiche Umwälzung der athenischen Gesellschaft. Bevor sich die Demokratie jedoch durch die Reformen des Kleisthenes ab 508 weiter entfalten konnte, verfiel Athen zwischenzeitlich wieder in eine Tyrannei. Den sich daraus ergebenden Kampf zwischen den beiden Staatsformen Tyrannis und Polis beschreibt Funke sehr anschaulich. Zugleich beschreibt er auch die Spannungen zwischen Athen und Sparta, die daraus resultierten, dass beide Städte die Vorherrschaft über Griechenland anstrebten. Eine weitere Macht im Streit um Griechenland stellte das Perserreich dar, welches auf Eroberung aus war und sich zunehmend in der Ägäis auszubreiten suchte. Einen ersten Höhepunkt erreichte der Konflikt mit Persien 490 in der berühmten Schlacht von Marathon. Dort blieben die Athener siegreich und begründeten mit diesem Sieg immer wieder ihren Vormachtanspruch. Der Sieg von Marathon sollte jedoch nur das Fanal einer sehr vorläufigen Hegemonie werden.

Die Rache Persiens ließ nicht lange auf sich warten und auch der Frieden unter den griechischen Städten war niemals von Dauer. Die griechische Geschichte jener Zeit ist von Konflikten geprägt. Dies sind sowohl Konflikte, die von außen nach Griechenland getragen werden, wie z. B. durch Persien, oder es handelt sich um Konflikte unter den Griechen, wobei zu beobachten ist, dass diese vornehmlich dann auftreten, wenn es gerade keine Bedrohung von außen gibt. Diesen Prozess des stetigen Auf und Ab, von Aufstieg und Niedergang, von Konflikten und Bündnissen beschreibt Funke in diesem Buch auf sehr strukturierte und gut nachvollziehbare Weise. Er beleuchtet sowohl die Zeit der Perserkriege als auch die Herrschaft des Perikles und den Peloponnesischen Krieg mit großer fachlicher Kompetenz.

Funkes Geschichte Athens, die sich von den Anfängen der athenischen Blütezeit bis hin zu deren Ende erstreckt, kann man als eine sehr gute Überblickslektüre zum Thema klassisches Athen bezeichnen. Für jeden geschichtsinteressierten Leser ist das Buch damit zwar zu empfehlen, jedoch sollten Leser, die sich bisher noch gar nicht mit der griechischen Geschichte befasst haben, ein Handbuch oder Lexikon des Altertums bereithalten, da so mancher Begriff wahrscheinlich nicht auf Anhieb bekannt oder verständlich sein dürfte. Dabei handelt es sich dann zumeist um Begriffe, die speziell in der griechischen Geschichte verwendet werden und in einem Überblickswerk natürlich nicht auch noch erläutert werden können.

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Heinen, Heinz – Geschichte des Hellenismus: Von Alexander bis Kleopatra

Bei der „Geschichte des Hellenismus“ handelt es sich um eine kleine und kompakte Einführung in den Themenbereich des Hellenismus. Als Epoche des Hellenismus bezeichnet man gemeinhin jenen Zeitraum der Geschichte, der sich vom Aufstieg Alexanders des Großen (etwa ab 336 v. Chr.) bis hin zum Fall der Stadt Alexandreia und des Todes von Marcus Antonius und Kleopatra (30 v. Chr.) erstreckt. Der Autor Heinz Heinen lehrt als Professor für Alte Geschichte an der Universität Trier und ist zudem Vorsitzender der Kommission für Geschichte des Altertums.

In seiner Einleitung grenzt Heinen das zu bearbeitende Thema zunächst räumlich und zeitlich ab, um gleich darauf die Voraussetzungen des Hellenismus aufzuzeigen. Hierbei werden vor allem die Verdienste Philipps II., Alexanders Vater und Vorgänger, in den Vordergrund gestellt. Denn ohne Philipps erfolgreiche Expansions- und Außenpolitik wäre es Alexander wohl nicht möglich gewesen, „die ganze damals bekannte Welt“ zu erobern. Somit wäre der Autor auch schon bei Alexanders Regentschaft selbst angelangt. Obwohl die Herrschaft Alexanders nur etwa 15 Seiten des Buches ausmacht, vermittelt Heinen auf diesen wenigen Seiten einen hervorragenden, wenngleich auch sehr gestauchten Überblick über die Lebensstationen und Erfolge des legendären makedonischen Herrschers. Dabei mutet die Geschichte Alexanders, der nicht einmal sein 33. Lebensjahr vollendete, nicht nur informativ, sondern zudem auch spannend an. Dies mag vor allem natürlich an der Geschichte Alexanders selbst liegen, jedoch gelingt es Heinen, im Gegensatz zu vielen seiner Historikerkollegen, diese Spannung nicht durch übertriebenen Einsatz wissenschaftlicher Termini und Formulierungen zu verringern.

Nicht weniger spannend erscheint der Kampf um das Erbe Alexanders des Großen. Mit Alexanders frühem und ungeklärtem Tod setzte 323 eine Zeit der Auseinandersetzungen ein. Alexanders Generäle stritten sich um das Erbe des Makedonen. Das riesige Reich, welches Alexander geschaffen hatte, spaltete sich auf und versank im Krieg. Zwischen den partikularen Interessen der einzelnen Diadochen, Bezeichnung für die selbsternannten „Nachfolger“, ging auch Alexanders Familie zugrunde. Einer nach dem anderen wurde umgebracht, seine Mutter Olympias, sein Halbbruder Arrhidaios, seine Frau Roxanne und auch sein Sohn Alexander IV.! Heinen beschreibt das Hin und Her der Kämpfe zwischen den Diadochen im Folgenden sehr anschaulich und übersichtlich. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Zeit der Diadochenkämpfe aufgrund ihrer Verwicklungen sehr schnell unübersichtlich werden kann. In der Zwischenzeit stieg andernorts jedoch der Stern einer anderen Macht unaufhaltsam empor. Die Zeit Roms brach an. Seit 215 v. Chr. griff Rom zunehmend in die Konflikte der hellenistischen Staaten ein und schaltete einen Gegner nach dem andern aus. Es gelang den Römern auf diese Weise, eine Vorherrschaft über die hellenistische Welt zu etablieren. Diese Vorherrschaft erreichte 30 v. Chr. ihren Höhepunkt, als Rom mit dem Sieg über das ptolemäische Ägypten auch den letzten hellenistischen Großstaat ausschaltete. Die Epoche des Hellenismus wurde somit durch den Aufstieg Roms beendet.

In einem weiteren Kapitel befasst sich Heinen mit den einzelnen Regionen der hellenistischen Welt, wobei er politische, soziale und ökonomische Aspekte in den Vordergrund stellt. Da das Phänomen des Hellenismus in den verschiedenen Regionen unterschiedlichste Ausprägungen haben konnte, erscheint diese Auseinandersetzung sehr wichtig. Zudem lernt man als Leser einzelne Großregionen, über die man bisher vielleicht nicht allzu viel wusste, besser kennen. Hierzu zählen vor allem das Seleukidenreich und der Schwarzmeerraum, die in der Beschäftigung mit dem Hellenismus oftmals ein wenig untergehen. Ebenfalls sehr informativ ist Heinens Auseinandersetzung mit der Kultur und Religion des Hellenismus, die sich dem Kapitel über die hellenistischen Regionen anschließt. Besonders mit diesen grundlegenden Ergänzungen wird das Buch von Heinen zu einer sehr informativen Rundumschau auf den Hellenismus. Das Buch eignet sich somit perfekt als Einstieg in das Thema, wenn man beabsichtigt, sich näher damit zu befassen, oder auch als Überblick, wenn man sich nur oberflächlich mit dem Hellenismus auseinandersetzen möchte.

Aber ganz gleich, warum man sich mit dem Hellenismus befassen möge, es bleibt dennoch die vermutlich packendste Epoche des Altertums. Ganz im Stile einer griechischen Tragödie wechseln sich Verrat, Treue, Intrige, Heldentum, Mord und Versöhnung stetig gegenseitig ab.

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Keller, Hagen – Ottonen, Die

Was bedeuten uns heute die Ottonen? Das könnte eine der vielen Fragestellungen sein, welche den geschichtsinteressierten Leser zu dem in der Beck’schen Reihe erschienenen Buch von Hagen Keller, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, führen könnten. Zudem ist dies die erste Frage, die sich auch Keller in diesem Buch stellt. Hierbei zeigt er auf, dass sich die Wahrnehmung der Ottonen, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Geschichtsforschung, merklich gewandelt hat. Während das Wissen über die sächsische Dynastie und um ihren Namensgeber Otto den Großen noch vor gut 50 Jahren zur Allgemeinbildung gehörte, sind die Ottonen heute in der allgemeinen Wahrnehmung eher in den Hintergrund getreten. Dies ist ein Phänomen, das man wohl damit begründen kann, dass die Ottonen vom 19. Jahrhundert an bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als nationaler Mythos, als das erste wirklich deutsche Königsgeschlecht gedeutet und proklamiert wurden.

Nachdem sich Keller also einleitend mit der Deutung und Bedeutung der Ottonen befasst, wendet er sich alsdann der Vorgeschichte der Ottonen zu. Dazu beschreibt Keller den Zerfall des einstigen fränkischen Großreiches und auch eine kurze Geschichte des Geschlechts der Liudolfinger, aus welchem wiederum letztlich die Ottonen hervorgingen. Auf diese Weise spannt Keller einen Bogen vom 9. bis ins 10. Jahrhundert, welches zunächst im Zentrum der Betrachtung steht. Keller konzentriert sich folglich auf die Ära Ottos des Großen, was in Anbetracht von dessen historischer Bedeutsamkeit absolut nahe liegend ist. Dabei befasst sich Keller auch mit Ottos Vater und Vorgänger Heinrich I. und vor allem auch mit seinem Sohn Otto II., welcher das ottonische Kaiserreich 973 übernahm. Auch die Lebensgeschichten und Regierungsjahre Ottos III. und Heinrichs II., mit dessen Tode 1024 der letzte Kaiser aus sächsischem Hause verstarb, werden von Keller überblicksartig und bewertend dargestellt. In seiner abschließenden Gesamtschau auf die ottonische Ära fasst er dann Tendenzen, Errungenschaften und Wirkungen des sächsischen Kaisergeschlechts zusammen.

Keller fügt sich mit diesem Buch nahtlos in die lange Reihe von Veröffentlichungen des |Beck|-Verlages ein, die man wohl als ideale Einstiegs- und Überblicksliteratur bezeichnen kann. Wer sich für die Ottonen oder das Hochmittelalter interessiert, der kann mit dem Erwerb dieses Buches nicht viel falsch machen. Es ist flüssig und verständlich geschrieben, zudem verfügt es im Anhang über eine knappe, aber sehr erlesene Auswahl an weiterführender Literatur.

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Ric Burns/James Sanders/Lisa Ades – New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute

Mammutprojekt für eine Metropole

Es begann als zwölfstündige TV-Dokumentarfilmserie („New York. A Documentary Film“), die Ric Burns, Lisa Ades und der Architekt James Sanders 1999 realisierten. Jahre der vorbereitenden Planung waren dafür erforderlich, Schätze in Form bisher in dieser Breite nie ausgewerteter Archivalien wurden gehoben, gesichtet und präsentiert. Die Fülle des Stoffes schrie förmlich nach einem Begleitband, der New York auch nach der Ausstrahlung der Serie greifbar bleiben ließ.

Die Autoren stellten nicht einfach das Vorhandene zusammen, sondern erfanden das Rad quasi neu. Gemeinsam mit einem Stab kompetenter Berater, Wissenschaftler und Redakteure realisierten sie ein Buch, das sich zwar inhaltlich an der Fernsehvorlage orientiert, jedoch völlig unabhängig davon bestehen kann sowie Maßstäbe setzt: als „Buch zum Film“ und historische Darstellung gleichzeitig. Ric Burns/James Sanders/Lisa Ades – New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute weiterlesen

Markner, Reinhard / Neugebauer-Wölk, Monika / Schüttler, Hermann (Hg.) – Korrespondenz des Illuminatenordens, Die: Band 1 (1776 – 1781)

Es geschehen tatsächlich mitunter Wunder: Vom geheimnisumwitterten Illuminatenorden, der bereits unter Adam Weishaupt durch die kurbayrische Regierung 1784/85 verboten wurde, kommen jetzt Schriften auf den Markt, die es noch nie in öffentlich publizierter Form gab. In dieser Korrespondenz aus der Frühzeit der Illuminaten, die sie untereinander führten – wenngleich durchaus mühsam durchzuarbeiten – erfährt der Leser minutiös, wie der Orden aufgebaut wurde.

Durch Papst Clemens XIV. war der Jesuitenorden 1773 aufgelöst worden, der über hunderte von Jahren die ganze Gesellschaft und ihr Bildungswesen bestimmt hatte. Dabei war Adam Weishaupt selber Jesuitenzögling gewesen , kannte deren System sehr gut und wurde in Ingolstadt Professor für Kirchenrecht. Mit ausgewählten Studenten gründete er am 1. Mai 1776 einen kleinen, geheimen Kreis – die Keimzelle des Illuminatenordens. Seine Gegner in den Anschauungsfragen dabei waren einerseits die Jesuiten, andererseits die esoterischen Glaubensgebäude der Gold- und Rosenkreuzer.

Weishaupt bezog sich auf die altiranische Religion der Parsen und führte den zoroastrischen Kalender wieder ein, die Organisationsstrukturen seines Ordens – der zuerst „Bienenorden“ hieß und erst später umbenannt wurde – waren jesuitisch geprägt. Aber alle Pläne wurden nicht wirklich strikt von ihm durchgehalten, denn im Grunde war der Orden sehr von Eklektizismus geprägt. Weishaupt ging 1777 zu den Freimaurern und erhielt dort innerhalb zweier Jahre den Meistergrad. Erst mit diesen Verbindungen gelang den Illuminaten ihr großer Durchbruch, der sich anhand der Briefe aber als recht holprig organisiert erweist.

Im Grunde agierte Weishaupt ganz allein und trat gegenüber Interessenten, mit denen er die vorliegenden Briefkontakte führte, als hoher Eingeweihter auf, was aber nichts als Blendwerk war, wie er auch seinem „Meisterschüler“ Freiherr Adolph von Knigge, irgendwann im Laufe dieser frühen Jahre gestand. Knigge erwies sich nämlich als der eigentliche eingeweihte Zeitgenosse innerhalb der Freimauerei und war es auch, der das System der Illuminaten nach und nach entwarf. Weishaupt verfügte ja über keinerlei Grade und Schulungspapiere – jedenfalls nicht über esoterisch taugliche. Knigge hatte großes Interesse daran, dieses „Spiel“ mitzutragen und eine Auswahl an geeigneten Freimaurern zu treffen, denen sie von nun an eine Führungselite „geheimer Oberer“ vorgaukelten.

Mit Knigges Ausarbeitungen und umfangreichem Wissen konnte ab 1780 die Freimaurerei vollkommen unterwandert werden. Er war bereits vor seiner Mitgliedschaft bei den Illuminaten bis in den „Inneren Orden“ der „Strikten Observanz“ vorgedrungen. Zur damaliger Zeit war die Freimaurerei in eine tiefe Krise geraten und die Vertreter der „Strikten Observanz“ – das erfolgreichste System seiner Art, gegründet von Carl Gotthelf Reichsfreiherr von Hund und Altengrotkau – waren nach dem Tode von Hund 1776 (wie es oft der Fall ist, wenn ein Ordensgründer verstirbt) in Streitigkeiten verfallen. Diese Streitfragen sollten auf einem Konvent geklärt werden, der 1782 stattfand – aber schon Jahre vorher in Planung war.

Diese Zeit wurde von den Illuminaten erfolgreich genutzt, um einen Großteil der Freimaurerlogen zu unterwandern. Knigge baute die drei Freimauer-Grade ins Illumatensystem ein, und dadurch erschienen alle höheren von ihm entworfenen illuminatischen Grade den Freimaurern als begehrte Hochgrade. Anhand des vorliegenden Briefwechsels wird deutlich, dass nicht der Gründer Weishaupt bedeutend war, sondern dass der gesamte Aufbau einer komplexen hierarchischen Struktur und die rasche Ausdehnung des Illuminatenordens vollkommen das alleinige Werk Knigges waren. Nur durch ihn kam es zu einer bemerkenswerten Aufstiegsgeschichte, die erstmals mit diesem Band so genau wie möglich dokumentiert vorliegt.

Die eigentliche Sensation der Veröffentlichung ist aber, dass es diese Dokumente überhaupt gibt. Denn bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts fehlte von ihnen jede Spur. Der letzte bekannte sichere Hinweis auf den Verbleib des Illuminatenarchivs stammte von 1785, als die Verfolgung des Ordens bereits in Gang war. 1868 tauchte ein Teil in der Universitätsbibliothek München auf, wobei es sich aber nicht um das eigentliche „Archiv“ handeln konnte. Offiziell galt dieser Nachlass dann als Kriegsverlust, zerstört durch die Bombardierungen 1943 und 1944. 1980 galt alles noch immer als vermisst. Das ganze Material war nach der Auflösung des Illuminatenordens in die Hände der „Staatssicherheit“ geraten und wurde erst hundert Jahre später für erste Forschungen herangezogen. Aber die Handschriften Weishaupts waren kaum leserlich und schwierig zu entziffern.

1934 nahm sich der nationalsozialistische Sicherheitsdienst das Material noch einmal vor. Nach den Bombenangriffen behauptete das Auswärtige Amt stets, alles sei vernichtet. Einer der führenden NS-Freimaurerforscher, Franz Alfred Six, konnte ihnen – nach heutigem Wissensstand gedeutet – als Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität dies wohl auch glaubhaft gemacht haben. Er leitete übrigens auch schon die NS-Hexenforschungen. Die Spur ließ sich lange nicht mehr verfolgen. Auch eine Anfrage an die staatliche Archivverwaltung der DDR, ob sich vermisste Illuminatenpapiere unter den von der Sowjetunion restituierten Akten befänden, wurde 1975 abschlägig beschieden.

Erst Richard von Dülmen wurde wieder fündig. Der Nachlass Weishaupts befand sich in Archiven der Großen Loge der Freimaurer, welche auch von der Forschung vor 1935 nicht ausgewertet worden war. Nach der Beschlagnahme durch die Gestapo vergingen sechs Jahrzehnte, bis man sie wieder „offiziell“ entdeckte. Weitere Bände, die die Jahre bis 1788 umfassen sollen, sind in Planung, und man kann nur hoffen, dass sie auch möglichst schnell erscheinen werden, denn für das Verständnis der Konzeption der illuminatischen Lehre einerseits sowie der erfolgreichen Unterwanderung der deutschen Freimaurerei andererseits sind sie unerlässlich wertvoll.

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Nordmann, Michael – 1000 Fußballer – Die besten Spieler aller Zeiten

Es ist so weit, das Jahr der Fußball-WM im eigenen Land ist angebrochen, und überall laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten soll es werden, und was die Vermarktung des World Cups betrifft, ist sie dies wahrscheinlich jetzt schon. Fußball, wohin man schaut, der König des Sports regiert das Land, und selbst potenzielle Nicht-Interessenten sind plötzlich Feuer und Flamme.

Doch niemals wäre das Interesse am runden Leder so groß, hätte der Sport nicht einige schillernde Persönlichkeiten hervorgebracht, die einerseits gehasst und verachtet, andererseits aber auch wie Popstars behandelt und abgefeiert wurden. Michael Nordmann hat sich nun die – seiner Meinung nach – 1000 besten und bekanntesten Fußballer aller Zeiten herausgepickt und in einem umfassenden Sach- und Bildband aufgelistet, bei dem nicht nur Insider mit der Zunge schnalzen werden. Man mag zwar darüber streiten, ob diese Liste der hier aufgeführten Stars wirklich repräsentativ für die Geschichte des Fußballs ist, zumal hier überraschend viele deutsche Spieler auftauchen, aber vom reinen Info- und Unterhaltungswert her betrachtet, ist „1000 Fußballer“ schon auf den ersten Blick ein richtiger Goldschatz.

Nordmann stellt die Sporthelden in einer alphabetischer Abhandlung vor und mischt so verschiedene Generationen von Fußballern zusammen, was manchmal schon ein wenig seltsam anmutet. So steht ein noch recht junger Spieler wie Zouebeier Baya direkt neben einer Legende wie Franz Beckenbauer, Griechenlands EM-Held Angelos Charisteas wird in einem Atemzug mit dem britischen Idol Jack Charlton genannt und Hany Ramzy teilt sich den Raum mit seinem ehemaligen Coach Otto Rehhagel. Und so entstehen hier zahlreiche seltsame Kombinationen, bei denen man dann ins Schmunzeln gerät.

Namen wie Carsten Jancker, Marco Bode, Steffen Freund oder Thorsten Fink – nur um mal ein paar Beispiele zu nennen – haben meiner Meinung nach in diesem Buch absolut nichts verloren, weil ihre Verdienste für den Fußball sich dann doch in Grenzen halten. Klar, man kann nicht sämtliche Jahrgänge der brasilianischen Nationalmannschaft auflisten, aber es ist schon so, dass „1000 Fußballer“ jetzt nicht zwingend auch die 1000 wichtigsten und besten Fußballer enthält. Diese Kritik muss sich der Herausgeber gefallen lassen, aber ich denke, das ist ihm auch bewusst. Andererseits wird sich der etwas jüngere Fan natürlich darüber freuen, den ein oder anderen Lieblingsspieler aus der aktuellen Fußballergeneration in diesem Buch zu finden, und das hat wahrscheinlich – ich kann nur mutmaßen – auch eine wichtige Rolle bei der Erstellung dieses Bandes gespielt.

Andererseits sind natürlich wirklich alle wichtigen Namen enthalten. Beckenbauer, Pelé, Maradonna, Ronaldo, und wie sie alle heißen, aber auch anscheinend vergessene Stars wie Gary Lineker, Roger Milla, Carlos Valedrama oder seinen Landsmann René Higuita. Man findet sie alle wieder, und je mehr man sich in das Buch vertieft hat, versteht man auch zunehmend die Misere, wie schwer es eigentlich ist, 1000 verdiente Sportler zu sammeln, und dabei auschließlich Spieler zusammenzuwürfeln, die auch tatsächlich hierhin gehören. Den subjektiven Geschmack außen vor zu lassen und trotzdem eine repräsentative Auswahl zu treffen, das war die Herausforerung, und diese wurde rein faktisch super gelöst, da muss dann die eigene subjektive Meinung (die ja oben schon beschrieben wurde) auch mal hintenan stehen …

Von der Auswahl zum Inhalt, und hier zeigt sich dann auch das wirklich Besondere an diesem opulent und sehr nobel aufgemachten Buch. Alle Spieler werden mit teils aktuellen, teils recht alten Aufnahmen vorgestellt, und diejenigen Stars, die der Fußballwelt wohl auf ewig in Erinnerung bleiben, haben dazu noch eine große Extraseite bzw. einen zusätzlichen Infokasten bekommen. Zu jedem Foto gibt es außerdem einen Kurzbericht sowie einen kurzen Überblick mit Fakten und Tatsachen aus der Karriere des jeweiligen Fußballers. Beschrieben werden Geburtsdatum, Nation, die Stationen als Spieler, WM-Spiele/Tore, Ländespiele/Tore und die Teilnahmen an der Weltmeisterschaft. Der einzige Kritkpunkt, den man hier anbringen kann, hat ebenfalls wieder etwas mit der Auswahl zu tun, und in diesem Fall mit der Auswahl der Fotos. Giovane Elber im Mönchengladbach-Trikot, Preben Elkjaer-Larsen auf einem lieblosen Ausschnitt eines Mannschaftsfotos oder Eric Gerets auf der Trainerbank – manchmal wäre sicherlich ein repräsentativeres Foto angebrachter gewesen, aber glücklicherweise sind die meisten Aufnahmen den sportlichen Höhepunkten der Spieler entnommen. Ansonsten gibt es hinsichtlich der Darstellung der Fußballer nichts auszusetzen, zumal die Darstellungen und die einzelnen Anekdoten wirklich in einen kurzweiligen, informativen Text eingebunden wurden.

Auch wenn es leichte kritische Ansätze zu verfolgen gilt, ist dieses Buch für jeden Fußballfan (nicht nur als Vorbereitung für die WM) ein echtes Muss. Hier findet man sie alle wieder, die wichtigen Gesichter der wohl wichtigsten Nebensache der Welt, und das in einem exzellent aufgemachten Buch, an dem man sehr lange seine Freude haben wird. Und aufgrund der eher drögen Konkurrenz will ich sogar so weit gehen und behaupten, dass „1000 Fußballer“ in seiner Sparte Referenzklasse ist – selbst mit einigen kleinen Schönheitsfehlern. Der geringe Preis von gerade mal 14,95 € sollte dann auch die letzten Zweifel ausräumen und die Vorbehalte auflösen. Das Geld ist jedenfalls sehr gut angelegt!

Barber, Malcolm – Templer, Die. Geschichte und Mythos

|“Die Anfänge“| (S. 8-48): Der einst mächtige und von zahlreichen Sagen umwitterte Orden der Templer entsteht bescheiden im Rahmen der Kreuzzugsbewegung, deren Beginn ins Jahr 1095 fällt: Papst Urban II. ruft die Christen auf, ihre Brüder und Schwestern in Palästina und Syrien, den biblischen „Kernlanden“ des christlichen Glaubens, vor den Attacken der heidnischen Sarazenen (Türken), Ägypter und Äthiopier zu schützen. Im Verlauf eines ersten Kreuzzugs werden die „heiligen“ Lande befreit, doch die lateinischen Eroberer müssen sich in den Städten verschanzen oder Burgen errichten, denn niemals erkennen die einheimischen Machthaber die neuen Herrscher an. So bleibt der christliche Traum vom Pilgerzug ins gelobte Land ein gefährlicher, oft tödlicher, denn die Straßen der stets im Kampf befindlichen Kreuzfahrerstaaten sind nicht sicher. Es entsteht der Plan zur Gründung einer Gemeinschaft zum Schutz besagter Pilger. Fromm sollen diese Männer sein aber auch gut bewaffnet und kriegstauglich. 1119 ist es so weit: Der Templerorden wird gegründet.

|“Das Konzept“| (S. 49-79): Die Vereinigung der Templer unterscheidet sich von Anfang an von rein monastischen Orden. Zwar sollen seine Mitglieder fromm und gehorsam, aber sie dürfen nicht arm sein, denn Ausbildung und Unterhalt einer schlagkräftigen Truppe sind kostspielig. Die Angehörigen des Ordens sind meist von Adel und vermögend, sie spenden reichlich, der Orden selbst treibt lukrative Geschäfte, er wird von päpstlicher Seite mit einträglichen Schenkungen bedacht – Grundlagen für einen unerhörten Aufstieg aber auch Ursachen für den späteren Untergang, denn der Orden wird rasch finanziell unabhängig und militärisch von entscheidender Bedeutung im Heiligen Land, was ihn selbstbewusst und nach Meinung seiner zahlreich werdender Feinde hochmütig werden lässt.

|“Der Aufstieg der Templer im Osten“| (S. 80-129): Die historische Realität gibt jedoch den Templern viele Jahre Recht – ohne ihre Schwerter, ihr Geld und ihre Kontakte geht gar nichts im Heiligen Land. Was der Papst und gläubige Herrscher in Europa zur „Befreiung“ Palästinas und Syriens beschließen, ist vor Ort nur mit den Templern zu verwirklichen. Sie haben sich Burgen und Stützpunkte geschaffen und harren aus, während die Lateiner nur „Gastspiele“ im Rahmen von Kreuzzügen geben und oft nicht einmal dann die türkischen und später die mongolischen Kräfte im Osten in Schach halten können.

|“Von Hattin bis La Forbie“| (S. 130-166): Aber die Templer sind nicht unfehlbar. Ihre bekannte Präsenz im Osten macht sie zudem angreifbar. Verlieren die Lateiner eine Schlacht gegen die Türken, beginnt rasch die Suche nach einem Sündenbock, denn Verrat muss im Spiel sein, endet ein von Gott befohlener Kreuzzug als Desaster – und das kommt zwischen den Schlachten von Hattin 1187 und La Forbie 1244 immer wieder vor, denn jeder Waffenstillstand mit den Sarazenen ist brüchig. Zu schaffen machen den Kreuzzüglern auch innere Uneinigkeit und äußere Schwäche, so dass der Christenheit Region um Region im Osten verloren geht.

|“Die letzten Jahre der Templer in Syrien und Palästina“| (S. 167-202): Dennoch bleiben die Christen auch nach 1244 dank der Templer noch fast ein halbes Jahrhundert im Osten präsent. Der Orden verschanzt sich in gewaltigen Burganlagen und trotzt den unablässig anstürmenden Türken. Aus dem Westen ist Hilfe nicht mehr zu erwarten, mehrere Kreuzzüge finden ihr fatales Ende. Es kommt der Tag, da herrschen im Heiligen Land nur noch die Templer und auch sie nur noch in ihren Burgen, bis auch diese eine nach der anderen erobert werden. Mit dem Fall von Akkon endet 1291 faktisch die christliche Herrschaft in Palästina und Syrien. Die Templer ziehen sich auf die Insel Zypern zurück.

|“Templerleben“| (S. 203-223): Viele Legenden ranken sich um den Templeralltag. Von geheimen Riten und verschwörerischen Ränken gegen Papst und Könige wird gemunkelt, sogar dem Teufel huldigt man angeblich. Außerdem sollen die Templer gewaltige Reichtümer angehäuft und so gut versteckt haben, dass ihnen bis heute niemand auf die Spur gekommen ist. Tatsächlich sind die Regeln des Ordens niemals geheim gewesen. Ihr Wortlaut ist bekannt; er spiegelt das Bild einer mönchsähnlich lebenden Gemeinschaft wider, die zumindest in ihren frühen Jahren im Dienste Gottes handelten. Ein Hüter mythologischer Mysterien ist der Templerorden niemals gewesen; dies sind Interpretationen aus späteren Jahren und Jahrhunderten.

|“Das Imperium der Templer“| (S. 224-238): Im 13. Jahrhundert bilden die Templer einen der mächtigsten geistlichen Ritterorden der mittelalterlichen Welt. 7000 Ritter, „Sergeanten“, dienende Brüder gehören ihm an. Hinzu kommt eine ungleich größere Zahl angeschlossener Mitglieder: Amtleute, Hilfskräfte, Rentenempfänger. Mindestens 870 Burgen, Komtureien und Filialen stehen in fast allen Ländern der westlichen Christenheit. Der Orden unterhält eigene Kampftruppen für die „heiligen“ Kriege in Palästina und Syrien und auf Zypern, es existiert eine eigene Mittelmeerflotte. Präsent ist der Orden außer im Osten auch in Frankreich und auf der iberischen Halbinsel, die zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend arabisch besetzt ist. Wie im Heiligen Land sollen die Ritter die Heiden bekämpfen und sie womöglich auf den afrikanischen Kontinent zurückwerfen. Ihre „Internationalität“ und das daraus erwachsende Wissen lässt die Templer zu einem ökonomischen Machtfaktor werden. Der Orden ist bemerkenswert reich und amtiert als Bank für zahlreiche Päpste, Könige und Adlige.

|“Der Untergang des Ordens“| (S. 239-277): Angeblich völlig überraschend kommt 1312 das Ende für den Templerorden: Papst Clemens V. erklärt ihn für aufgelöst, Philipp der Schöne, König von Frankreich, sorgt für die Umsetzung dieser Anordnung. Das Verhängnis hat sich indes schon lange abgezeichnet. Der Templerorden wird für den Verlust des Heiligen Landes verantwortlich gemacht. Kritik an der Selbstherrlichkeit und Verderbtheit der Templer hat es zudem immer gegeben – nun findet sie Gehör. Einige Versuche, nach 1291 im Heiligen Land wieder Fuß zu fassen, scheitern. Dem Orden, der seine eigentliche Aufgabe nicht mehr wahrnehmen kann, misslingt es, seine immensen Unterhaltskosten oder seine enormen Einkünfte aus Schenkungen und Stiftungen zu rechtfertigen. Ihm wird außerdem sein Reichtum zum Verhängnis. Der in Finanznöten gefangene französische König bemächtigt sich des Templervermögens, um seine zahlreichen Gläubiger zu befriedigen. Philipp ist womöglich außerdem davon überzeugt, dass die Templer tatsächlich zu einem Ketzerorden degeneriert sind. So fallen die einst so mächtigen Ritter den drastisch veränderten Zeitläufen zum Opfer.

|“Von Molays Fluch zum ‚Foucaultschen Pendel'“| (S. 278-292): Von einem „Fluch“ der untergegangenen Templer ist im Mittelalter selbst keine Rede. Erst in der Neuzeit wird dieser als reizvolles literarisches Thema eher spielerisch in die Welt gesetzt. Die Freimaurer berufen sich auf die Templer als glanzvolle „Vorgänger“, andere moderne „Orden“ und Vereinigungen eifern ihnen nach. Verschwörungsfetischisten komplettieren im 20. Jahrhundert die Fraktion derer, die in den Templern eine vom zeitgenössischen Establishment systematisch ausgerottete Geheimorganisation im Besitz „übernatürlichen“ Wissens sehen möchte.

Eine Gesamtdarstellung der Geschichte des Templerordens gehört zu den fachlichen Herausforderungen, der sich nur wirklich fähige Historiker mit Erfolg stellen: Wie schaffe ich es, eine unerhört komplexe Materie möglichst knapp und trotzdem verständlich, ohne entstellende Verkürzungen oder Auslassungen darzustellen? Schon über Einzelaspekte der Templerhistorie wie das genaue Gründungsdatum des Ordens sind eigene Bücher verfasst worden. Unter solchen Umständen ist die wissenschaftliche und literarische Leistung von Malcolm Barber noch höher einzuschätzen: Um zu wissen, wo er kürzen und zusammenfassen durfte, musste er den Gesamtstoff gesichtet & gewichtet haben – eine Arbeit, die ihn mehrere Jahre in Anspruch nahm und in die Archive vieler Länder führte. Das Ergebnis kann sich sehen bzw. lesen lassen: Sachlich, manchmal trocken in Worte gefasste Realität kommt mit der Intensität eines Tatsachenthrillers daher.

Gut tut die sachliche Abrechnung mit dem unerträglichen Esoterik-Quatsch, welcher der Templergeschichte vor allem seit dem 20. Jahrhundert übergestülpt wird. Die Ritter des Ordens bzw. ihrer Nachfolger sollen an einem streng geheimen Ort den heiligen Gral hüten und auch sonst diverse Mysterien im Auge behalten. Von vergrabenen Schätzen und genialen Todesfallen ist die Rede, über vom Vatikan unterdrückte Bibelsequenzen und die mögliche Einmischung von Außerirdischen wird gemunkelt – Dummgefasel der übelsten Sorte, mit dem sich indes viel Geld verdienen lässt. Mit der historischen Realität hat das nicht das Geringste zu tun und Barber lässt den Befürwortern solchen Bockmistes keine Schlupflöcher.

Dass „Die Templer“ dem Fachbuch näher stehen als dem Sachbuch, verrät u. a. der eindrucksvolle Anmerkungsapparat: Auf den Seiten 293-327 geben 754 Endnoten Auskunft über die Vielzahl der Quellen, die Verfasser Barber in jahrelanger Archivarbeit zu Rate zog. Die Liste der verwendeten Titel umfasst weitere 19 eng bedruckte Seiten (S. 328-347). Ein Personenregister unterstützt die Suche nach zentralen und Randfiguren der Templergeschichte (S. 348-354). Ebenfalls hilfreich sind eine knapp gefasste Zeittafel (S. 355/56), ein Verzeichnis der Großmeister des Templerordens (S. 356) sowie vier Karten, welche die Templerhäuser und -burgen im Westen des Abendlandes, die wichtigsten Burgen in Syrien und Palästina, die Niederlassungen des Ordens in der französischen Provence sowie seine Besitzungen im Languedoc verzeichnen (S. 357-360).

Dem Handbuchcharakter des Werks sind mögliche Abbildungsstrecken zum Opfer gefallen. Das ist verständlich, denn diese hätten den Seitenumfang vergrößert, ist aber schade, denn selbstverständlich haben die Templer bereits ihre Zeitgenossen fasziniert, die uns eine Vielzahl bemerkenswerter und wissenschaftlich aussagekräftiger Bild- und Schriftquellen hinterlassen haben (was wichtig ist, da die Unterlagen der Templer selbst nach ihrem Sturz und fast vollständig vernichtet wurden). Hinzu kommen Templerburgen, Gewandungen, Ausrüstungsgegenstände und andere Zeitzeugen des mittelalterlichen Alltags, die ihrerseits anschaulich Aufschluss geben über das Templerleben. Doch Barber hat sich entschieden und stützt sich primär auf das geschriebene Wort, was ihm andererseits dabei hilft, sein Werk geschlossen zu halten.

Malcolm Barber lehrt als Mittelalterhistoriker an der englischen Universität Reading. Er hat sich auf die Geschichte der geistlichen Orden zur Zeit der Kreuzzüge spezialisiert und viele Artikel in diversen Fachzeitschriften als auch (populär-)wissenschaftliche Bücher über damit verbundene Themen verfasst. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ihm dabei der Wind manchmal kräftig ins Gesicht bläst; Kritik erhebt sich u. a. an Barbers Interpretation der Katharerhistorie. Das vorliegende Werk wurde deutlich weniger gezaust. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass es erst mit mehr als zehnjähriger Verspätung in Deutschland erschien und sich das Geschichtsbild auch in Sachen Templer und auf der Grundlage neuer Erkenntnisse seither entwickelt hat. Barber selbst hat seinen Beitrag dazu geleistet, was freilich in erster Linie den Historiker zur Beachtung der neueren Literatur verpflichtet; der Laie kann weiterhin bedenkenlos zu diesem Werk greifen.

Paul Chambers – Die Archaeopteryx-Saga. Das Rätsel des Urvogels

Kleiner Vogel – große Wirkung

In 15 Kapiteln informiert Verfasser Paul Chambers populärwissenschaftlich über die Stammesgeschichte der Vögel. Als ‚Aufhänger‘ dient ihm dabei der Archaeopterix, der als erster „Urzeitvogel“ 1861 im bayrischen Solnhofen als Versteinerung gefunden (Kap. 1: „Der Glücksfund des Doktors“) und zum ‚Leitfossil‘ für die Rekonstruktion des Vogel-Stammbaums wurde. Der Archaeopterix stellte für die Zeitgenossen vor ein Rätsel, da er die Merkmale eines Reptils und eines Vogels vereint.

Er tauchte in einem Augenblick auf, als die Forscherwelt sich in einem religiös begründeten Streit zusätzlich entzweite. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Theorie einer Evolution der Arten nicht nur neu, sie widersprach auch der kirchlichen Lehre, wonach Gott Tiere (und Pflanzen) wie in der Bibel beschrieben geschaffen habe und diese unveränderlich seien. Das ‚Mischwesen‘ Archaeopterix verkörperte jenen Widerspruch, den die Anhänger der Evolution erwartet und deren Gegner gefürchtet hatten (Kap. 2: „Das fehlende Glied“; Kap. 3: „Der gefiederte Rätsel“). Paul Chambers – Die Archaeopteryx-Saga. Das Rätsel des Urvogels weiterlesen

Nase, Daniela – Frag doch mal … die Maus!

Wenn man das Jugendalter überschritten hat und gefragt wird, ob man sich noch irgendwelche Kinderserien anschaut, wird man meistens belächelt. „Winnie Pooh“? Kindisch, lautet hier die Antwort. „SpongeBob“? Viel zu albern, werden viele sagen. Sesamstraße? Zu wenig Action. „Die Sendung mit der Maus“? Halt, „Die Sendung mit der Maus“? Ja, die ‚darf‘ man sich anschauen, ohne dabei doofe Kommentare zu ernten. Denn „Die Sendung mit der Maus“ hat jeder mal geliebt, und diese Liebe reißt auch nur in den seltensten Fällen ab. Humor vermischt mit gebündeltem, für alle Altersklassen vertändlichem Allgemeinwissen, da kann man nicht nein sagen. Der weise und kluge Großvater genauso wenig wie der pubertierende besserwisserische Teenager. Denn man kann noch so schlau sein, man wird trotzdem immer noch etwas finden, was einem diese Sendung noch an neuem Stoff vermitteln kann.

Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler und seiner Frau ist nun ein Buch auf den Markt gekommen, in dem die Maus bzw. die Macher hinter den Lach- und Sachgeschichten die meistgestellten Fragen ihrer Zuschauer beantworten. Bis Mitte des Jahres lief die Aktion „Frag doch mal … die Maus!“, die mit einer Resonanz von sage und schreibe 75.000 eingesendeten Fragen besser kaum hätte sein können. Kinder und Erwachsene – darunter auch Prominente wie Bastian Pastewka und Harald Schmidt – stellten Fragen, die sie schon immer mal beschäftigt haben, und bekamen daraufhin ihre Antwort. Für das Team um die Maus begann anschließend die schwierigende und umfassende Aufgabe, die meistgestellten und interessantesten Fragen herauszupicken und eine Liste mit den Top-100-Fragen zu erstellen. Ungefähr die Hälfte davon ist nun in der Buchausgabe anlässlich der zweimonatigen Aktion aus dem diesjährigen Sommer aufgearbeitet worden, unter anderem auch die zehn Fragen, die am häufigsten geschickt wurden.

Liest man sich das Inhaltsverzeichnis zu Beginn einmal durch, vermutet man, dass es sich eigentlich komplett um ein simples Frage-Antwort-Spiel zu längst beantworteten Problemfällen handelt. Doch Pustekuchen. Gerade diese einfachen Fragestellungen sind es nämlich, die Folge für Folge Inhalt der Fernsehsendung sind und trotz ihrer scheinbaren Simplizität dann doch gar nicht mal so einfach zu lösen sind. Oder weiß vielleicht jemand auf Anhieb, wie die Löcher in den Käse kommen? Oder kann jemand aus dem Stand heraus erklären, warum es eigentlich regnet? Woher stammen die Buchstaben? Warum haben Indianer immer lange Haare? Warum haben die Menschen in Afrika schwarze Haut? Und warum heißt das Martinshorn nicht Julianshorn oder ähnlich? Na, hat irgendjemand das Examen auf Anhieb bestanden? Wohl kaum. Was stellen wir also fest: Auch das Buch ist für alle Altersklassen geeignet, sammelt aber in der Gegenüberstellung mit vergleichbaren Werken deutlich Bonuspunkte durch die immerzu schönen Darstellungen und Illustrationen, die den Sachverhalt nicht nur vereinfachen, sondern ihn auch praktisch verständlich machen. Ich erinnere mich gut daran, wie mein Bruder mir damals bei Schwierigkeiten in der Schule versucht hat auszuhelfen, aber viel zu weit vom Thema abgeschweift ist und so die ganze Situation unnötig verkompliziert hat. Gleichermaßen fällt mir ein, wie doof mein Mathematik-Lehrer sich im siebten Schuljahr angestellt hat, die einfachsten Probleme zu erklären. Eine schlichte Darstellung hätte dabei völlig genügt. Oder mein alter Arbeitgeber: Bevor wir über die Arbeit als solche gesprochen haben, wurde mir erst einmal die völlig irrelevante Struktur der Einrichtung vor Augen geführt, bis dann nach anderthalb Stunden auch mal die Sprache auf meine Stelle kam. Das Leben könnte so einfach sein, würde man es nicht ständig verkomplizieren. Genau das haben sich wohl auch die Macher der Sendung und das Team hinter diesem Buch gedacht. Kurz und dennoch detailliert, einfach und völlig unkompliziert und dazu auch noch mit schönen Bildern unterlegt, geht die Maus hier auf Fragen ein, zu denen sich jeder schon mal Gedanken gemacht hat, die aber irgendwie nie angemessen beantwortet wurden. Tja, warum hat man nicht direkt die Maus gefragt?

_Fazit_

Weihnachten ist zwar just vorüber, aber es ist immer die richtige Zeit für den Kauf eines pädagogisch wertvollen, unheimlich lehrreichen und witzig illustrierten Buchs, mit dem man seinen kleinen wissbegierigen Sohnemann ebenso erfreuen kann wie den BWL-Studenten, der den Kopf von Statistiken und Rechnungswesen frei bekommen möchte. Ich persönlich erhielt dieses Buch eine Woche vor Weihnachten, nachdem ich in der Buchhandlung ziemlich lange fasziniert darin geblättert hatte. Und ganz ehrlich: Es ist eines der schönsten Geschenke, die ich überhaupt bekommen habe. „Frag doch mal … die Maus!“ gehört folglich auch in jeden Haushalt, Widerspruch zwecklos!

http://www.die-maus.de/

Erik Larson – Isaacs Sturm

Die Zuversicht allumfassenden Wissens

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint der Mensch erstmals und endlich in der Lage zu sein, die Welt zu verstehen und nach seinem Willen zu formen. Details machen ihm noch zu schaffen, aber auch das wird sich binnen kurzer Zeit gewiss ändern. Der berechtigte Stolz darauf, was Technik und Wissenschaft in den geschaffen haben, geht freilich leicht in Hybris über. Diese Lektion muss die aufstrebende Weltmacht USA im Sommer des Jahres 1900 auf grausame Weise lernen.

Vielleicht ist gesunder Menschenverstand zu viel verlangt für ein nationalstolzes Land, das sowohl energisch als auch erfolgreich daran arbeitet, politisch und militärisch seine Konkurrenten auszuschalten. Gerade erst haben die Vereinigten Staaten einen Krieg mit Spanien vom Zaun gebrochen, mit geradezu spielerischer Leichtigkeit gewonnen und die karibische Kolonie Kuba in ihren Besitz genommen.

Isaac Cline ist der perfekte Repräsentant der neuen Zeit. Der junge Mann stammt aus relativ einfachen Verhältnissen, doch mit seinem messerscharfen Verstand, seiner nie versiegenden Energie und seinem unerhörten Arbeitseifer gelingt ihm die Realisierung des „Amerikanischen Traums“, der ihn binnen weniger Jahre zu Reichtum, Anerkennung und gesellschaftlichem Aufstieg führt. Clines Interesse gilt dem Wetter und vor allem der Möglichkeit, es vorauszusagen. Um 1900 beginnt sich die Meteorologie von einer Schwarzen Kunst in eine Wissenschaft zu verwandeln und in ein Politikum: Unter der Flagge der Vereinigten Staaten fährt um die Jahrhundertwende eine der mächtigsten Flotten der Welt.

Wissen ist tatsächlich Macht

Die größte Gefahr droht diesen Schiffen nicht von ihren Feinden, sondern von unvorhergesehenen Stürmen auf hoher See. Besonders in der Karibik, dem gerade gewonnenen Vorhof der jungen Großmacht, gehen auf diese Weise jährlich zahlreiche Schiffe und ihre Besatzungen buchstäblich zugrunde. Die besonderen Wetterverhältnisse führen über dem Golf von Mexiko in jedem Sommer zur Entstehung von Hurrikans, gewaltigen tropischen Wirbelstürme, die von ihrer Wiege, dem afrikanischen Kontinent, über den Atlantik kommend, entlang der Küstenlinie des nördlichen Südamerikas und Mittelamerikas eine Kurve nach Nordosten über die USA schlagen und dabei alles verwüsten, was ihren Weg kreuzt.

Zu den besonders gefährdeten Bundesstaaten gehört Texas, das dem Europäer eher durch Prärien und kleine Städte des Wilden Westens präsent ist, tatsächlich jedoch über eine lange Küste zum Golf von Mexiko verfügt. Hier liegen die beiden Städte Houston und Galveston, die um 1900 darum wetteifern, zur Hauptstadt ihres Staates zu werden. Die Waagschalen neigen sich allmählich zu Gunsten Galvestons. Das US Wetteramt siedelt seinen Chef Meteorologen für Texas hier an, da Galveston einen Logenplatz auf die labile Wetterlage der westindischen Region bietet.

Seit gut einem Jahrzehnt steht Isaac Cline der angesehenen Wetterstation in Galveston vor. Er gehört zur Prominenz der Stadt, hat nebenbei Medizin studiert, schreibt Artikel über seine Arbeit, gibt Vorlesungen und hat sogar die Zeit gefunden, eine Familie zu gründen. Alles ist planmäßig gelaufen im Leben Clines, der im Jahre 1900 auf der Höhe seiner Karriere steht. Er glaubt alles über das Wetter zu wissen, was die moderne Meteorologie, als deren hervorragender Vertreter er sich ohne falsche Bescheidenheit sieht, herausgefunden hat. Dass er sich quasi anmaßt, die Naturgesetze zu diktieren, ist ihm nicht bewusst. Hurrikans, davon ist Cline überzeugt, kündigen sich durch unverwechselbare Vorzeichen an. Solange er diese nicht am Himmel erkennt, wird es ergo auch kein Unwetter geben.

Ein verhängnisvoller Irrtum

Der große Hurrikan von 1900 will sich nicht in Clines Weltbild fügen. Eine Reihe klimatischer Ausnahmebedingungen lässt ihn direkten Kurs auf Galveston nehmen. Die Katastrophe naht nicht unbeobachtet, doch Cline, der den Himmel über Galveston und die Gezeiten beobachtet, kommt zu dem Schluss, dass der Sturm sich auflösen wird, bevor er die Stadt erreicht. So gibt es für die Bürger von Galveston keine Vorwarnung. Ahnungslos gehen sie ihren alltäglichen Geschäften nach, während der Hurrikan sich über dem Golfstrom nähert und dabei eine gewaltige Flutwelle vor sich aufzuschieben beginnt.

Galveston ist eine Boomstadt, die praktisch planlos und genau dort an der Küste errichtet wurde, wo es zwischen Meer und Land keinerlei Hindernis gibt, die eine Flutwelle brechen oder einen Sturm ablenken könnte. Die Bürger haben es aus Bequemlichkeit und Kostengründen nie für nötig befunden, einen schützenden Damm zu bauen. So nimmt das Verhängnis seinen ungehinderten Lauf: Binnen weniger Stunden wird Galveston ausgelöscht. Mindestens 6000 Menschen, vielleicht aber auch die doppelte Anzahl, verlieren ihr Leben. Genau wird man es niemals wissen, weil sich die Stadt in eine riesige Schlamm und Trümmerwüste verwandelt hat, unter der zahllose Opfer für immer begraben liegen.

Die verdrängte Katastrophe

Der Untergang der Stadt Galveston gehört zu jenen Ereignissen, die aus zunächst unerfindlichen Gründen zu einer Fußnote der Weltgeschichte herabgesunken sind. Bei näherer Betrachtung trifft man allerdings sehr alte Bekannte wieder, die dafür verantwortlich sind: Dummheit, Ignoranz, Selbstgefälligkeit, vor allem aber der tief verwurzelte menschliche Drang, unangenehme Erfahrungen zu verdrängen besonders dann, wenn man sie zwar verschuldet hat, aber selbst nicht betroffen ist.

Die wahre Tragödie ist weniger die Katastrophe selbst, sondern die Tatsache, dass sie in diesem Ausmaß hätte verhindert werden können. Dieser Erkenntnis mochte man sich bisher nicht einmal in Galveston selbst stellen. Dort sang man lieber das hohe Lied des Heldentums im Angesicht der drohenden Gefahr, und am lautesten erklang das Lob für Isaac Cline, den angeblichen Helden, der selbstlos seine Mitbürger noch vor dem Hurrikan warnte, als die Sturmflut bereits ganze Häuserzüge durch die Luft wirbelte. Cline hat persönlich an seinem Denkmal gearbeitet, und das gelang ihm angesichts seines publizistischen Geschicks hervorragend, zumal er so alt wurde, dass er jene, die es besser wussten, in der Mehrzahl einfach überlebte.

Erik Larson hatte es folglich nicht leicht, als er sich daran machte, die Geschichte Galvestons und des großen Hurrikans von 1900 zu rekonstruieren. Der Sturm hat die frühen Archive vor Ort vollständig vernichtet. Aber in den Familien der zahllosen Opfer fand Larson viele Augenzeugenberichte, die ein in dieser Klarheit bisher nicht gekanntes Bild der Katastrophe zeichnen. Die detaillierte Schilderung des Sturms und seiner Folgen ergänzt Larson durch einen ausführlichen Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Ohne würden die Ereignisse in Galveston unverständlich bleiben. Nicht fehlen darf eine Einführung in die Wetterkunde und hier naturgemäß in die Genese großer Wirbelstürme.

Der Leser als Zeuge

Larson wählt für sein Buch die Form des Tatsachenromans. Er schildert, was gewesen ist, scheut sich aber nicht, Lücken durch (allerdings gut abgesicherte) Vermutungen zu schließen. Wie der große Hurrikan vor der westafrikanischen Küste entstand und seinen verhängnisvollen Weg nahm, ist inzwischen geklärt. Larson präsentiert die komplizierten Mechanismen des Wetters verständlich und spannend zugleich. Dies gilt auch für die politischen Intrigen im und um das Wetteramt, die wohl hauptsächlich dafür verantwortlich sind, dass der Sturm ein völlig ahnungsloses Galveston traf.

„Isaacs Sturm“ ist nicht nur die Chronik einer Katastrophe, sondern auch die Tragödie eines Mannes, der (zu) viel wusste und doch unwissend war. Um 1900 benannte man große Stürme nach prominenten Opfern. Larson greift diese Tradition auf. Auch wenn Isaac Cline (1862 1955) das Unglück überlebte und niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, blieb er für den Rest seines langen Lebens gezeichnet: Mit seiner Frau kam sein ungeborenes jüngstes Kind um, und in Augenblicken echter, von Selbstbetrug freier Reflexion begriff Cline durchaus, dass er und sein verehrtes Wetteramt kapitale Fehler begangen hatten.

Eric Larson ist mit „Isaacs Sturm“ zu Recht ein Bestseller gelungen. Mit dem Talent des echten Erzählers behält er die Fäden seiner Geschichte, die den halben Erdball umspannen, jederzeit fest in der Hand. „Spannend wie ein Krimi“ ist ein Urteil, das (viel zu) oft über ein Buch gesprochen wird, doch auf „Isaacs Sturm“ trifft es
zweifellos zu. Wenn es etwas zu bemängeln gibt, dann das Fehlen von Bildern, die es in großer Zahl gibt. Aber das Internet gleicht dieses Manko aus. Die Eingabe der Begriffe „Galveston“ und „hurrican“ genügt, um zeitgenössische Fotos aus der dem Erdboden gleichgemachten Stadt betrachten zu können.

Autor

Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die University of Pennsylvania, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der Columbia Graduate School of Journalism. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.

Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. „Isaacs Sturm“) ihm den Durchbruch und Bestseller-Ruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.

Taschenbuch: 373 Seiten
Originaltitel: Isaac’s Storm. A Man, a Time, and the Deadliest Hurricane in History (New York : Crown Publishers 1999)
Übersetzung: Bettina Abarbanell
http://www.fischerverlage.de

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