Archiv der Kategorie: Thriller & Krimis

Hillerman, Tony – Nacht der Skinwalkers, Die

„Die Nacht der Skinwalkers“ ist ein wichtiger Roman in der Reihe der Hillerman-Ethno-Thriller, weil hier für die Zukunft wichtige Charaktere zum ersten Mal zusammenarbeiten und sich quasi für weitere Ermittlungen ‚beschnuppern‘. Die Rede ist von Joe Leaphorn, dem älteren Lieutenant, der in der gesamten Navajo-Reservation bereits einen fabelhaften Ruf genießt, und Jim Chee, einem in den eigenen Traditionen verhafteten Officer, der hier erste Bekanntschaften mit seinem baldigen Freund und Partner Leaphorn macht. Ergo handelt es sich bei „Die Nacht der Skinwalkers“ um einen älteren Roman von Tony Hillerman und demzufolge auch um eine Geschichte, bei der die Kultur der Navajo-Indianer noch weitaus mehr zum Tragen kommt als in den neueren Werken des Autors. Und deshalb ist auch „Die Nacht der Skinwalkers“ wiederum ein sehr empfehlenswerter Krimi, der, wie schon angemerkt, in der Hillerman-Serie eine Schlüsselrolle spielt.

_Story:_

Lieutenant Joe Leaphorn vermutet einen Racheakt, als sein junger Kollege Jim Chee eines Abends in seinem Wohnwagen fast ermordet wird. Drei Schüsse werden auf den Officer abgegeben, und nur durch eine günstige Vorahnung kann sich Chee vor dem Anschlag retten.

Die Navajo Tribal Police steht vor einem Rätsel. Zum einen hat sich Officer Chee nichts zu Schulden kommen lassen, warum man ihn hätte attackieren können, zum anderen passen diese seltsamen Ereignisse auch sehr gut in eine weitere Mordserie, bei der Menschen umgebracht wurden, für deren Mord es absolut kein Motiv gab. Drei Morde plus ein versuchter, das sind die kalten Fakten, und just in dem Moment, in dem man in Bistie jemanden gefunden hat, der eine ganze Menge mehr zu wissen scheint und sich sogar zu einem der Morde bekennt, findet man ebenjenen in seinem eigenen Haus ebenfalls tot auf.

Chee und Leaphorn finden keinen weiteren Anhaltspunkt, der sie auch nur irgendwie weiterbringen könnte. Alle Ermittlungen basieren auf haltlosen Vermutungen, und die Tatsache, dass die Art und Weise, wie man diese Leute umgebracht hat, recht unkonventionell ist, erschwert die Sache nur. Und dann ist ja gar nicht mal sicher, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Fällen gibt. Und welche Rolle spielt die Hexerei der so genannten Skinwalkers, der Leaphorn eher skeptisch gegenübersteht, an die Chee dafür umso mehr glaubt?

Chee und Leaphorn reisen im ganzen Reservat hin und her, holen sich Informationen von scheinbar wichtigen Personen, stellen jedoch alsbald fest, dass ihnen von diesen auch kaum jemand weiterhelfen kann. Die Sache scheint aussichtslos, und dabei sind die privaten Probleme der beiden auch stetig präsent. Bei Leaphorns Frau Emma liegt eine schwere Krankheit vor, bei der es sich möglicherweise um die alzheimerische handelt. Und Chee macht auf dem Gebiet der traditionellen Heilkunde, die er in den letzten Jahren erlernt hat, ebenfalls kaum Fortschritte bzw. bekommt keine Chance, sich hierin zu beweisen. Seltsamerweise soll es aber gerade seine erste Einladung zu einem traditionellen Heilgesang sein, bei der plötzlich Licht ins Dunkle kommt …

_Bewertung:_

Im Moment ärgere ich mich etwas, weil ich die Hillerman-Thriller nicht in chronologischer Reihenfolge lese (bedingt durch die erhältlichen Neuveröffentlichungen); das wäre im Endeffekt sicher sinnvoller, denn die persönlichen Beziehungen bzw. die Familienverhältnisse, wie sie in „Die Nacht der Skinwalkers“ vorliegen und zu diesem Zeitpunkt natürlich noch ungeklärt sind, werden in späteren Romanen immer wieder rückblickend angeschnitten und deren Lösung bekannt gegeben. Gut, das ist natürlich nur ein winziges Ärgernis, für das der Schriftsteller bzw. die hier vorliegende Geschichte ja gar nichts kann …

„Die Nacht der Skinwalkers“ ist nämlich wieder ein typischer und damit auch sehr lesenswerter Roman, bei dem die Navajo-Kultur erneut eine übergeordnete Rolle spielt – eben das ist ja seit jeher das Besondere an dieser Reihe. Und in diesem Fall sind es auch wieder traditionelle Gepflogenheiten, die bei der Ermittlung der zunächst nicht miteinander verbundenen Fälle entscheidend sind und dadurch nur noch mehr faszinieren.

Außerdem gelingt es Hillerman erneut sehr gut, einen großen Rahmen mit vielen Seitenhandlungen aufzuspannen, zunächst unzusammenhängende Geschehnisse darzustellen, sie dann am Ende aber doch wieder Stück für Stück dergestalt zusammenzufügen, dass es logischer gar nicht sein könnte. Spannung ist also wieder garantiert, nur dass es dieses Mal so ist, dass Hillerman sich außergewöhnlich lange Zeit lässt, um die Ereignisse miteinander zu verbinden. Das Buch hat gerade mal 205 Seiten und circa 30 Seiten vor Schluss fällt es immer noch sehr schwer, eine Schlussfolgerung zu ziehen oder auch nur zu ahnen, was und wer jetzt wirklich hinter den ungewöhnlichen Mordfällen steckt. Hatte ich jedoch zunächst noch Sorge, dass Hillerman es dieses Mal nicht mehr schaffen würde, rechtzeitig auf den Punkt zu kommen, hat mich der Großmeister des Ethno-Thrillers erneut eines Besseren belehrt und doch noch die Kurve bekommen.

Nicht zuletzt ist dieses Buch auch noch sehr wichtig, um die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Chee und Leaphorn zu ergründen, die hier noch sehr stark auf gegenseitigen Zweifeln beruht, die ja auch in späteren Romanen manchmal nicht abreißen wollen. Durch diese Beziehung erfährt man nämlich auch eine ganze Menge über die einzelnen Charaktere und ihre Einstellungen, teilweise sogar mit Details, die einem nachträglich auch helfen, nachfolgend verfasste Bücher bzw. Schlüsselszenen besser zu verstehen. Daher zum Schluss nochmal meine Empfehlung an potenzielle Hillerman-Leser, die Bücher chronologisch zu lesen, denn sie gehören nunmal zusammen und bilden trotz der unterschiedlichen Themen eine große Serie. „Die Nacht der Skinwalkers“ jedenfalls ist – alles andere hätte mich verwundert – ein weiterer überragender Krimi aus dieser Reihe!

Ridley Pearson – Die letzte Lüge

Das geschieht:

Vor zweieinhalb Jahren hat Umberto Alvarez seine Familie bei einem Zugunglück verloren. Er macht dafür die Northern Union Railroad und besonders ihren charismatischen aber skrupellosen Vorstandsvorsitzenden und Chef William Goheen verantwortlich. Der will seine Gesellschaft mit aller Macht an die Spitze bringen und schreckt dabei vor krummen Geschäften nicht zurück.

Mit seinen Anschuldigungen ist Alvarez vor Gericht gescheitert; sogar im Gefängnis hat er gesessen, ist ausgebrochen und seither auf der Flucht. In regelmäßigen Abständen verübt er Sabotageakte auf Güterzüge der Northern Union, die dem Image der Firma mächtigen Schaden zufügen. Die Sicherheitsleute der Bahn jagen Alvarez, und mit Peter Tyler tritt nun auch das National Transportation Safety Board, verantwortlich für die Sicherheit der US-amerikanischen Transportwege, auf den Plan.

Ridley Pearson – Die letzte Lüge weiterlesen

Gretelise Holm – Die Robinson-Morde

Auf einer dänischen Insel geht in einem Seniorenheim offenbar ein ‚Sterbehelfer‘ um. Eine zufällig anwesende Journalistin wird in das Geschehen verwickelt. Während die Polizei im Dunkeln tappt, kommt sie einem alten und ungesühnten Verbrechen auf die Spur, in das die meisten Inselbewohner verwickelt sind … – Skandinavien-Krimi der typischen Sorte, d. h. sorgfältig geplottet und mit mehr als einem Hauch Sozialkritik veredelt; trotz der relativen Ereignislosigkeit unterhaltsam aber kein Meilenstein des Genres.
Gretelise Holm – Die Robinson-Morde weiterlesen

Padura, Leonardo – Labyrinth der Masken (Teniente Mario Conde 3)

|(Verlagstext) Im Bosque de La Habana wird am 6ten August, am Tag der Verklärung Jesu, die Leiche eines Transvestiten gefunden. Als sich herausstellt, dass es sich bei dem Toten um Alexis Arayán, den Sohn eines angesehenen kubanischen Diplomaten, handelt, will sich bei der Polizei keiner die Finger verbrennen. Nur Mario Conde, für sechs Monate zum Erkennungsdienst strafversetzt, ist froh, nicht länger Karteikarten ausfüllen zu müssen, und springt ohne zu zögern ein. Seine Ermittlungen führen ihn zu Marqués, einen exzentrischen und legendären Theaterregisseur, der als Homosexueller geächtet in einem zerfallenden Haus lebt. Kultiviert, intelligent, und mit feiner Ironie begabt, führt dieser Conde in eine verborgene Welt ein und treibt gleichzeitig ein listiges Verwirrspiel.|

Im dritten Roman des Havanna-Quartetts „Labyrinth der Masken“ wird Teniente Mario Conde mit der Untersuchung des Mordfalls an einem jungen Homosexuellen beauftragt, der in Frauenkleidern in einem öffentlichen Park gefunden wurde. Alexis Arayán wurde mit einer roten Seidenschärpe erdrosselt und zwei Peso-Münzen steckten in seinem After. Stammt der Mörder aus dem Homosexuellen-Milieu?
Für Mario Conde ist der Mordfall eine Chance zur Bewährung, denn er ist zum Erkennungsdienst sechs Monate strafversetzt worden. Seine Kollegen beneiden ihn nicht um diesen Fall, denn das Opfer ist der Sohn des angesehenen kubanischen Diplomaten Faustino Arayán. Politische Kontrolle und Druck scheinen deshalb vorprogrammiert zu sein. Und als wäre dieses nicht genug, schnüffelt „ein Bataillon von internen Ermittlern“ im Kommissariat herum. Besonderes Interesse zeigen die Ermittler an Mario Conde.

|“Weißt du eigentlich, wo mir der Kopf steht? Meinst du, es wäre leicht, seine Arbeit zu tun, wenn ein ganzes Bataillon von internen Ermittlern hier in der Zentrale rumschnüffelt? Weißt du, wie viele Fragen mir Tag für Tag gestellt werden? Weißt du, dass bereits zwei unserer Beamten wegen Korruption entlassen worden sind und zwei weitere wegen Nachlässigkeit im Dienst suspendiert werden? Und kannst du dir vielleicht vorstellen, wem all diese Geschichten angelastet werden? Mir natürlich!“|

Die Ermittlungen führen Mario Conde und seinen Kollegen Manolo zu dem Regisseur Alberto Marqués, bei dem Alexis Arayán gewohnt hatte, seit er aus dem elterliche Domizil nach seinem Coming-out verwiesen worden war. Alberto Marqués ist ebenfalls homosexuell und wegen seiner sexuellen Orientierung vor vielen Jahren aus dem Theater verbannt worden. Alberto Marqués ist eine faszinierende Persönlichkeit: ein Mann aus der Welt der Literatur und des Theaters, ein Intellektueller und ein Individualist. Dieses muss sich auch der homophobe Mario Conde eingestehen.
Weil alle Spuren des Mordfalls auf einen Mörder aus dem Homosexuellen-Milieu hindeuten, lässt sich Conde auf Alberto Marqués ein, um mehr über Alexis‘ Bekanntenkreis zu erfahren und dabei möglicherweise den Mörder aufzuspüren. Marqués lädt ihn zu einer Homosexuellen-Party ein und Mario Conde nimmt die Einladung trotz großer Bedenken an. El Conde ist von Alberto Marqués beeindruckt, und als dieser ihm seine persönliche Geschichte erzählt, über den Hinauswurf, das nachfolgende Berufsverbot, den Strafdienst in einer kleinen Bücherei und weshalb er seitdem kein Theaterstück mehr aufgeführt hat, wird aus Condes anfänglich ablehnender Haltung allmählich Sympathie und Verständnis.

|“Wie dem auch sei, dachte (Conde), (Marqués) ist schwul, das jedenfalls ist nicht gelogen. Aber ich mag ihn, auch das ist nicht zu leugnen.“|

Leonardo Padura zeigt in „Labyrinth der Masken“ eine kubanische Gesellschaft, in der jeder eine Maske trägt – aus den unterschiedlichsten Gründen: teils, weil etwas verborgen bleiben soll; teils, weil man eine Rolle spielt, die man spielen möchte oder von der man glaubt, sie spielen zu müssen.
„Labyrinth der Masken“ ist ein packender, eindringlicher und stiller Roman, der mit seiner Kriminalgeschichte Zeitgeschichte einfängt und erklärt. Anders als in den beiden früheren Havanna-Romanen „Ein perfektes Leben“ und „Handel der Gefühle“, tritt hier die Zeitgeschichte stärker in den Vordergrund. Der Krimiplot wird deshalb nur mit dem Wohlwollen des Lesers zu einem befriedigenden Ende geführt. Dieses ist aber kein Makel, denn Leonardo Padura hat mit seiner Figur Teniente Mario Conde einen eindrucksvollen und charismatischen Protagonisten geschaffen, der auf den nicht weniger eindrucksvollen und charismatischen Homosexuellen Alberto Marqués trifft. Padura besitzt einen genauen Blick für Orte, Menschen, Situationen und Geschichte. Es gelingen ihm eindringliche Milieuschilderungen sowohl des homosexuellen Untergrunds als auch des Stadtviertels, in dem Conde aufwuchs und das einem stetigen Wandel unterliegt. Der Autor zeichnet auch Nebenfiguren mit starken Pinselstrichen und erweckt sie zu lebendigen, eigenständigen Persönlichkeiten. Mit ihnen fängt Padura die vielen Facetten des gesellschaftlichen Umbruchs ein – in kleinen, oft nebenbei erzählten Geschichten:

– von dem dünnen Carlos, dessen Ex-Freundin im Exil lebte und ihn jetzt besuchen möchte;
– von dem Roten, der illegal Bier verkauft und dabei agieren muss, als wäre er ein Drogenhändler;
– von dem Geliebten Alexis Arayáns, der sich die Maske abreißt.

Mit seiner starken Figur Mario Conde nimmt uns der Autor mit auf eine Entdeckungsreise in die kubanische Gesellschaft und auf Spuren des großen Umbruchs. Reales Vorbild der Figur Alberto Marqués ist der kubanische Dramatiker Virgilio Piñera, der mit einem Berufsverbot belegt wurde, weil er die Künstlern und Erziehenden abverlangten revolutionären Parameter als ein Ergebnis des „Kultur- und Erziehungskongresses“ von 1971 nicht erfüllte – wegen seiner Homosexualität und seiner gelebten Individualität. Heute ist Homosexualität in der kubanischen Gesellschaft kein politisches Problem mehr. „Es scheint beinahe, als ob sie nie eines gehabt hätten, so als wäre ihre Geschichte vergessen.“ (Leonardo Padura) Trotzdem werden Homosexuelle noch immer als abartig und Homosexualität als widerlich angesehen. An diese jüngere kubanische Vergangenheit möchte Leonardo Padura mit Alberto Marqués erinnern und „diese Erinnerung aus einem menschlichen Blickwinkel bewahren.“
Das „Labyrinth der Masken“ ist ein faszinierender, großartiger Roman, dem man viele, viele Leser wünscht.

_Claus Kerkhoff_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Charlotte Link – Am Ende des Schweigens

Stanbury ist ein kleines Dorf im Westen von Yorkshire, eine romantische Gegend, in der einst die Bronte-Schwestern zuhause waren. In dem Anwesen Stanbury House verbringen jedes Jahr drei deutsche Ehepaare die Ferien, die Männer sind seit Schulzeiten miteinander befreundet. Patricia Roth ist die Eigentümerin des Anwesens, ihr Mann Leon ist Anwalt, die verwöhnten Töchter Diane und Sophie sind zwölf und zehn Jahre alt. Das zweite Paar bilden der Psychologe Tim und seine depressive Frau Evelin. Relativ neu im Kreis ist Jessica, die erst seit einem Jahr mit Alexander verheiratet ist. Obwohl sie ihn erst nach der Scheidung kennen lernte, steht seine fünfzehnjährige Stieftochter Ricarda ihr rigoros ablehnend gegenüber.

Charlotte Link – Am Ende des Schweigens weiterlesen

Goga, Susanne – Leo Berlin

Historische Krimis haben immer ihren ganz eigenen Reiz. Die Kombination aus Krimihandlung und historischen Hintergründen bereichert den eigentlichen Plot und lässt die Geschichte ganz allgemein vielschichtiger erscheinen. Dies trifft auch auf Susanne Gogas Debütroman „Leo Berlin“ zu.

Angesiedelt ist die Handlung im Berlin der zwanziger Jahre. Wir schreiben das Jahr 1922: Beginnende Inflation, das aufgeheizte politische Klima der Weimarer Republik, tristes Hinterhofleben der Arbeiterklasse im Gegensatz zu eleganten Villen der Oberschicht – eine kontrastreiche und spannende Epoche der Geschichte. Zu dieser Zeit ermittelt Kommissar Leo Wechsler in einem Mordfall. Der Wunderheiler Sartorius, der Patienten aus den besten Kreisen behandelte, wird tot in seiner Wohnung aufgefunden – erschlagen mit einer Buddhafigur aus Jade.

Bei den Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Wunderheiler kein unbeschriebenes Blatt war. Er „therapierte“ eine Reihe von Patienten mit Kokain. Ob hier der Grund für den Mord zu suchen ist? Wechslers Nachforschungen führen ihn in die Wohnzimmer der feinen Gesellschaft, doch die Ermittlungen treten eher auf der Stelle.

Als wenig später im Scheunenviertel eine in die Jahre gekommene Prostituierte ermordet wird, wird der Fall Sartorius zunächst einmal beiseite geschoben. Wechsler und seine Kollegen ermitteln in den dunklen Straßen des Viertels und suchen in den Kokainhöhlen und Rotlichtkaschemmen nach Anhaltspunkten. Wieder einmal scheinen alle Spuren ins Nichts zu führen. Ob ein Zusammenhang zwischen den beiden Mordfällen besteht? Eigentlich abwegig, aber Wechsler zweifelt …

„Leo Berlin“ ist ein Roman, den man schon auf den ersten Seiten lieb gewinnt. Mit Leo Wechsler präsentiert Susanne Goga eine Hauptfigur, die gleichermaßen sympathisch wie interessant ist. Wechsler ist achtunddreißig Jahre alt und Witwer, mit zwei Kindern, von denen das älteste acht ist. Wechsler lebt in einem tristen Wohnblock in Moabit, kann die Familie aber mit seinem relativ sicheren Polizistengehalt trotz der wirtschaftlich unsicheren Zeiten ordentlich ernähren. Seit dem Tod seiner Frau lebt seine Schwester Ilse bei ihm, die sich Sorgen macht, dass das Leben vollends an ihr vorbeizieht, während sie Leos Kinder hütet und ihm den Haushalt macht. Private Probleme sind da vorprogrammiert.

Wechsler ist ein vielseitig interessierter Mann. Beruflich ist er für seine Hartnäckigkeit berüchtigt, im Privaten gilt sein Interesse der Kunst. Wechsler wirkt lebensnah und ist eine echte Bereicherung für den Roman. Gogas Bild der Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre wird vor allem durch die privaten Erlebnisse von Leo Wechsler getragen. Sein Leben in Moabit, seine gesamte familiäre Situation ist die Projektionsfläche der historischen, gesellschaftlichen Hintergründe und damit eines der wichtigsten Elemente des Romans.

So wie bei Protagonisten ähnlich angelegter historischer Krimis, wie z. B. der Inspektor-Pitt-Romane von Anne Perry oder der Fandorin-Reihe von Boris Akunin, gehen Figurenskizzierung und zeitlicher, historischer Kontext Hand in Hand. Geschichte zum Mitfühlen sozusagen. Die Figur des Leo ist obendrein interessant genug, um ausbaufähig zu sein, und tatsächlich scheint Susanne Goga bereits einen zweiten Leo-Wechsler-Krimi zu planen. Gut so, denn „Leo Berlin“ macht durchaus Lust auf mehr.

Faszinierend ist nicht nur die Hauptfigur an sich, auch das Wechselspiel zwischen den einzelnen Figuren ist überzeugend. Die familiären Spannungen zwischen Leo und Ilse machen den Roman auf der einen Seite interessant, das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Leo und seinem Kollegen von Malchow auf der anderen. Von Malchow ist ein Gegenpol zu Leo. Während Leo eher aus ärmeren Verhältnissen stammt, ist von Malchow adeliger Herkunft, was zur damaligen Zeit im Polizeidienst offenbar nicht ungewöhnlich war.

Von Malchow trägt seine adelige Herkunft recht aggressiv zur Schau und sorgt damit im Arbeitsalltag für einige Turbulenzen. Sein politisches Denken bestimmt sein Auftreten und immer wieder provoziert er den eher gemäßigten Leo Wechsler mit seinen rechtsnationalen Ansichten. So gibt es auch auf der Arbeit einiges an Zündstoff, und die politische Situation der Weimarer Republik wird sehr gut in die Geschichte einbezogen.

Doch „Leo Berlin“ ist nicht nur eine interessante Studie der zwanziger Jahre, auch die Spannung kommt nicht zu kurz. Dabei ist der Leser den Ermittlern stets einen Schritt voraus. Goga wechselt immer wieder die Perspektive und teilt dem Leser in eingeschobenen Absätzen immer wieder die Gedanken des Täters mit. So kann der Leser schon herausfinden, wer der Täter ist, bevor die Geschichte zur Hälfte erzählt wurde. Doch dieser Umstand entpuppt sich kaum als Spannungskiller.

Goga rückt das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Ermittlern und Täter in den Mittelpunkt. Man weiß als Leser, dass der Täter noch auf einen weiteren Schachzug aus ist, und so werden die Ermittlungen zu einem Lauf gegen die Zeit. Spannend bleibt die Geschichte damit bis zum letzten Moment, zumal Goga es versteht, beide Ebenen der Hauptfigur Leo Wechsler interessant verlaufen zu lassen – die private genauso wie die berufliche. Auch der Täter ist unkalkulierbar genug, um die Spannung aufrecht zu erhalten.

Sprachlich liest sich das Ganze sehr angenehm und unterhaltsam. Gogas Stil ist recht einfach gehalten und lässt sich locker und flott herunterlesen. Eingestreute Dialoge mit Berliner Akzent sorgen für das nötige Lokalkolorit. Sowohl die Figuren als auch die Zeit werden damit für den Leser schön plastisch. „Leo Berlin“ ist ein rundum schön zu lesender Unterhaltungskrimi. Wahre geschichtliche Ereignisse werden mit der Handlung verwoben, was den Roman umso authentischer erscheinen lässt.

Alles in allem, weiß Susanne Goga mit ihrem Debütroman recht ordentlich zu überzeugen. Sie lässt gute Recherchearbeit erkennen und mixt aus Fakten und Fiktion einen schmackhaften, gut bekömmlichen Cocktail aus Krimi und sensibler Zeitstudie. Die Figuren wirken lebendig, die Handlung ist spannend und der Leser kann sich dank der so stimmig in die Handlung eingewobenen Studie der zwanziger Jahre wunderbar in die damalige Zeit versetzen.

Die zwanziger Jahren sind schon ein recht interessantes Jahrzehnt, zumal sie nicht sonderlich oft als Stoff für Romane der jüngeren Literatur herhalten müssen. Leo Wechsler kann es dabei durchaus mit viel gelesenen Kollegen wie Fandorin aufnehmen, denn die Geschichte rund um seine Ermittlungsarbeit und sein Familienleben ist spannend und atmosphärisch dicht erzählt. Schöne, erfrischend abwechslungsreiche Krimikost mit gut skizzierten Figuren, von denen man durchaus noch mehr erfahren möchte. Aber vielleicht werden wir das ja schon in absehbarer Zeit. Wünschenswert wäre es in jedem Fall.

Sørensen, Per Helge – Intrigenspiel

Intrigenspiel ist der zweite Roman des dänischen IT-Spezialisten und befasst sich, schlicht gesagt, mit dem Manipulationspotenzial, das die neuen Medien bieten. Dementsprechend ist „Intrigenspiel“ nicht allzuweit entfernt von seinem Vorgänger „Mailstorm“, dessen Handlung sich ebenfalls auf der Plattform moderner Medien entfaltet.

_Spektakuläres aus Unspektakulärem:_ Die Grundidee von „Intrigenspiel“ reißt zunächst nicht vom Hocker – grenzüberschreitende Internet-Pornographie. Ehe man aber mit dem großen Gähnen beginnt, sollte man dem Buch unbedingt einen zweiten Blick gönnen, was Sørensen nämlich aus dem Thema herauskitzelt, ist so frisch und unverbraucht wie ein Frühlingsspaziergang:

Ausgangspunkt ist eine Internetseite, die die Vergewaltigung eines Schulmädchens darstellt. Zeitungspraktikantin Camilla Drejer sieht in dem resignierten Schulterzucken von Polizei, Politik und Kinderhilfsorganisationen einen willkommenen Aufhänger für eine Story, die sie in ihrer Karriere voranbringen soll. Der Druck, den sie mit ihrer Recherche auslöst, zwingt Ministerialrat Kristian Nyholm dazu, sich dieses Themas anzunehmen, die Kinderhilfsorganisation „Kinder in der Gesellschaft“ sieht sich gezwungen, Hilfe von außen zu holen, um den Gleichgültigkeits-Vorwürfen der Presse zu begegnen, und PR-Fachmann Morten Kyner bietet diese Hilfe in Form einer Software-Lösung, die die Kinderhilfsorganisation anwenden könnte. Und da wäre dann noch Herman, ein berufs- und beziehungsfrustrierter IT-Berater, der kurz vor der Kampagne auf eine „grenzüberschreitende Pornoseite“ gesurft ist und nun Gefahr läuft, vor die Flinte dieser Kampagne zu laufen und von den Medien geschlachtet zu werden …

_Achterbahnfahrt in Begleitung prall gezeichneter Figuren:_ Die Figuren, die der Leser vorgestellt bekommt, kann man fast atmen hören. Sie leben in ihrem eigenen, dichten Mikrokosmos und der Leser lernt so, die Situation aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten – man fiebert sogar mit manchen von ihnen mit, obwohl ihnen zweifellos das trübe Schicksal zusteht, dass ihnen droht. Dabei sind es genau ihre Schwächen, ihre Neurosen und ihre Entscheidungen, die „Intrigenspiel“ vorantreiben, ihre Schicksale verflechten sich so stark miteinander, dass jede ihrer Handlungen unmittelbare Folgen hat, die sich dominoartig über das gesamte Ensemble ausbreiten.

All das steigert sich in eine Spannungsspirale, die sich bis zum Finale zuspitzt. Man wird von Wendungen durchgeschüttelt und schnuppert vorsichtig an den Fährten, die Sørensen legt – nicht selten führen sie nämlich in die völlig falsche Richtung.

Als Paradebeispiel mag die erste Szene des Buches herhalten, startet sie doch mit scheinbar unspektakulärer Playboy-Optik, nur um einen mit einer fiesen Wendung vors Gesicht zu treten und dabei ganz nebenbei Herman vorzustellen: jene besagte Figur, die man eigentlich verabscheuen müsste, was man aber einfach nicht kann …

Das bleibt aber kein Einzelfall: Beinahe jede Szene von „Intrigenspiel“ ist in einen Spannungsaufbau eingebettet. Selbst ein Blick auf den Arbeitsalltag des Ministerialrates Kristian Nyholm presst den Leser förmlich in seinen Sessel:

|Es war 16:24 Uhr, als Nyholm die Unterlagen Korrektur las. Der Wagen des Ministers wartete mit laufendem Motor in der Tiefgarage, und Nyholm versuchte vergeblich, sich auf die letzten Verbesserungen der Pressemitteilung zu konzentrieren.
|Mit dem neuen Portal des Wissenschaftsministeriums …|
Im Vorzimmer klingelte das Telefon.
|Mit dem neuen Portal des Wissenschaftsministeriums …|
Einen Augenblick später stand Pernille im Türrahmen.
„Sag, dass es auf dem Weg nach unten ist“, bettelte Nyholm, der seine Nase in den Akten vergraben hatte. „Ich muss es nur noch ein letztes Mal lesen.“
„Es ist nicht das Ministersekretariat“, kam es von der Tür. „Es ist Leo Alting.“
|… auf gleicher Augenhöhe …|
Nyholm schüttelte den Kopf.
„Er sagt, dass es wichtig ist. Und dass er bald nach Hause gehen wird.“
|… auf gleicher Augenhöhe …|
„Kannst du ihn nicht zu Espen durchstellen?“
„Er möchte mit dir sprechen.“
|… auf gleicher Augenhöhe mit …|
„Und er ist auf dem Sprung nach Hause.“
Auf dem Telefon sprangen die Ziffern auf 16:25.|

Nur am Rande bemerkt: Sorensen konstruiert keine Spannung um der Spannung willen. Auch obige Szene ist mit dem Rest der Story verknüpft und stellt einen wichtigen Motor dar, der das Geschehen vorantreibt, zu einem Ende, an dem alles wohlkomponiert zusammenläuft.

_Da wäre aber noch …_
Es schlummern auch ein paar Schattenseiten zwischen den Buchdeckeln: Zwar vermeidet Sorensen durch seine indirekte und optische Schreibe lahme Erzählpassagen, dadurch entstehen aber auch Szenen, „gefilmte Handlungen“ sozusagen, die man verschieden auslegen könnte. Die „erklärende Stimme“ eines Erzählers wäre dort schon nötig gewesen.

Aufgrund der hohen Informationsdichte geht auch hin und wieder die Übersichtlichkeit flöten. Gerade all die Minister, Staatssekretäre und Ministerialbeauftragten, mit denen sich Kristian Nyholm herumstreiten muss, reißen den Leser stellenweise aus der Orientierung und man muss in ein früheres Kapitel blättern, um wieder Anschluss zu finden.

Oh, und wer sich die Spannung nicht verderben möchte, sollte sich möglichst vom Klappentext fernhalten …

_Fazit:_ Trotz allem ist „Intrigenspiel“ ein hervorragend geflochtenes Kabinettstückchen, das mit ziemlichem Vorsprung vor seiner Cyber-Thriller-Konkurrenz dahermarschiert.

Sørensens Insiderwissen über Internetsicherheit, über PR und über die Medien ist in jeder Zeile spürbar und tut ein Übriges, um dieses Buch auf eine Ausnahmeposition zu hieven – vor allem, da es so klar und anschaulich dargestellt ist, dass auch jemand ohne den geringsten Background die Story nachvollziehen und genießen kann. Sørensen hat übrigens selbst im dänischen Forschungsministerium gearbeitet und engagiert sich in der Organisation [Digital Rights]http://www.digitalrights.dk für die Sicherheit im Internet.

Freunden intelligent gesponnenen Thriller-Garns sei „Intrigenspiel“ daher ohne Einschränkung ans Herz gelegt. Man möge sich zurücklehnen und voller Häme die gallebitteren Spitzen genießen, die Sørensen auf Meinungsmache verschießt: „Sex mit Kindern ist der Ersatz, den die postreligiöse Gesellschaft für Blasphemie gefunden hat.“ Kein Kommentar.

Nichol, James W. – Ausgesetzt

Als Autor von Theaterstücken hat James W. Nichol sich in Kanada einen Namen gemacht, und schon für seinen ersten Roman „Ausgesetzt“ wurde er zum „Crime Writer of Canada“ im Jahre 2004 ernannt. Bei „Ausgesetzt“ handelt es sich um einen Psychothriller, allerdings nicht im herkömmlichen Sinne …

_Auf den Spuren der Vergangenheit_

Walker Devereaux wurde im Alter von drei Jahren am Straßenrand ausgesetzt. Nur schemenhaft kann er sich noch an seine Mutter und ihre letzten Worte erinnern, mit 19 nun möchte er endlich seine wahren Eltern finden. Aufgewachsen ist Walker im Heim und bei verschiedenen Pflegeeltern, und obwohl er in seiner jetzigen Familie glücklich ist, wird der Wunsch nach dem Wissen über seine eigene Kindheit immer größer. So hebt er schließlich sein gesamtes Erspartes vom Konto ab und macht sich alleine auf den Weg nach Toronto, um dort ausgerüstet mit nur zwei Erinnerungsstücken an seine Mutter die Suche nach der Wahrheit beginnen zu lassen. Doch Walkers Anhaltspunkte sind spärlich, er besitzt nur ein Foto von zwei jungen Mädchen und einen Brief, dessen Inhalt kaum Informationen über Walkers Mutter preiszugeben scheint.

In Toronto angekommen, macht Walker sich zunächst auf Wohnungssuche. Doch schnell braucht er auch einen Job und landet schließlich bei einer Taxifirma, für die er des Nachts fahren soll – auch ohne Taxischein. Dabei lernt er die behinderte Krista kennen und entwickelt ganz allmählich Gefühle für sie. Krista ist ihm bei seinen Nachforschungen eine große Stütze; selbst als ein Unbekannter Kristas Auto in Brand gesteckt und Walkers Beweisstücke gestohlen hat, hält sie fest zu ihrem neuen Freund. Doch die Gefahr wird immer größer. Bei seiner Suche stößt Walker auf Geheimnisse, die seine eigene Familie gerne weiterhin in Vergessenheit wüsste.

Parallel lernen wir einen Jungen namens Bobby kennen, der von seinen Eltern auf eine Militärschule geschickt wird und dort entdecken muss, dass ihn andere Jungen sehr reizen. Doch diese Neigungen führen zu Gewaltausbrüchen, sodass er einen Mitschüler schwer verletzt und der Schule verwiesen wird. Zu Hause bei seinen Eltern dauert es schließlich nicht lange, bis Bobby einen Nachbarsjungen brutal ermordet …

_Parallele Welten_

In zwei Handlungssträngen erzählt uns James W. Nichol die Geschichte von Walker und Bobby, ohne dem Leser zu früh zu verraten, wie beide Lebensläufe miteinander zusammenhängen. Zunächst widmet Nichol sich dabei der Vorstellung Walkers und der beginnenden Suche nach seiner eigenen Herkunft. Er präsentiert uns neben Walker auch eine weitere Hauptfigur dieses Romans, nämlich Krista, die den nächtlichen Taxifunk betreut. Erst später erzählt eine Rückblende aus Bobbys Leben und seiner Schulzeit. Jedoch dauert es einige Zeit, bis der Leser erfährt, welch abartige Neigungen
Bobby entwickelt.

Beim Lesen und Zurechtfinden in diesem Buch ist erhöhte Aufmerksamkeit gefordet, da Bobbys Geschichte nicht durchweg chronologisch erzählt wird, sondern häufiger in den Zeiten hin und her springt. Dabei begegnen uns zahlreiche Figuren, deren Namen man sich meist gut einprägen sollte, um der weiteren Erzählung folgen zu können. Als reiner Unterhaltungsroman ist „Ausgesetzt“ daher eher weniger geeignet.

Dennoch versteht es James W. Nichol, seine Leser bei Laune zu halten und an das Buch zu fesseln. Nur häppchenweise erzählt er uns Bobbys Geschichte, sodass wir lange brauchen, um die Verbindungen zwischen Bobby und Walker zu erahnen. Auch streut Nichol zwischendurch einige Überraschungsmomente ein und schafft es, seine Leser erfolgreich an der Nase herumzuführen. Stets an den entscheidenden Stellen wechselt Nichol die Perspektive und widmet sich dem jeweils anderen Handlungsstrang, sodass man immer verleitet ist weiterzublättern, um die Geheimnisse um Walker Devereaux aufzudecken.

Die Spannungsmomente in diesem Buch sind dabei allerdings rar gesäht, auch blutige Szenen, wie sie in Thrillern sonst häufig zu finden sind, bleiben abzählbar. Nur die geschickte Weiterentwicklung zweier Biografien ist es folglich, die zum Weiterlesen und vor allem zum Mitraten animiert. Dabei schafft es der Autor überzeugend, seine Figuren vorzustellen, und verleiht ihnen im Verlauf des Romans immer mehr Kontur. Speziell Krista, die durch ihre verkrüppelte Hüfte viele Einschränkungen im alltäglichen Leben hinnehmen muss, erscheint uns als starke Persönlichkeit, die nicht so schnell den Kopf in den Sand steckt. Trotz ihrer Sorgen um Walker steht sie ihm stets tatkräftig zur Seite und begleitet ihn auf seinem Weg in die Vergangenheit. Selbst die aufkeimende Liebe zwischen Walker und Krista fügt sich stimmig in das Gesamtkonzept des Buches ein. Die Struktur der Erzählung gefällt insgesamt sehr gut und wirkt gut durchdacht, auch wenn die zahlreichen Zeitsprünge manchmal verwirrend sind und dafür sorgen, dass man zwischendurch einige Male zurückblättern muss, um Passagen ein zweites Mal zu lesen.

_Ein etwas anderer Thriller_

Auf dem Klappentext wird „Ausgesetzt“ als Psychothriller bezeichnet, doch handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Thriller voller blutiger Szenen, in dem in einer rasanten Hetzjagd ein Psychopath verfolgt wird. In „Ausgesetzt“ kennt der Leser den Mörder lange Zeit nicht und weiß nicht, welche Gefahr Walker droht, wer das Auto in Brand gesteckt und die Briefe gestohlen hat. Spannung wird hier nur sehr subtil erzeugt und entsteht dadurch, dass der Leser die düsteren Geheimnisse um Walkers Familie noch nicht erahnen kann.

Zugute halten muss man Nichol, dass er stets bemüht ist, seinen Leser die handelnden Charaktere und die Szenerie bildlich vor Augen zu führen. Der Autor beschreibt dabei sämtliche Situationen so detailreich, dass man sich darin wiederfindet, und auch die Figuren wirken authentisch.

Am Ende erwartet den Leser ein temporeiches Finale, das leider nicht durchweg überzeugen kann. Wenn sich alle eingestreuten Informationen zu einem Gesamtbild zusammenfügen, wirken einige Details konstruiert und mindern den Gesamteindruck des Buches ein wenig. Zudem lässt die Glaubwürdigkeit der Geschichte stark nach, die glücklichen Zufälle häufen sich am Schluss zu sehr.

_Lesenswert mit kleinen Einschränkungen_

James W. Nichols Debütwerk zeichnet sich durch eine geschickt erzählte Geschichte in zwei Handlungssträngen aus, die dem Leser wichtige Informationen nur häppchenweise präsentiert, sodass man stets zum Weiterlesen aufgefordert wird. Die Charaktere sind glaubwürdig gezeichnet, auch wenn sie größtenteils nicht allzu eingehend beleuchtet werden; mehr Wert legt Nichol auf die Beschreibung der Situationen. Der Plot wirkt ausgeklügelt, erfordert allerdings durch die zahlreichen Zeitsprünge viel Aufmerksamkeit, sodass „Ausgesetzt“ eher nicht zur reinen Unterhaltung gelesen werden sollte. Trotz fehlender psychologischer Tiefe und kleiner Abstriche in Bezug auf das Buchende gefällt „Ausgesetzt“ insgesamt sehr gut.

Varesi, Valerio – Nebelfluss, Der. Commissario Soneri sucht eine Leiche

Der italienische Krimi ist ja seit jeher berüchtigt, unter anderem auch, weil er sich durch eine Kompromisslosigkeit und manchmal auch eine Brutalität der Hauptfiguren auszeichnet, wie man sie auf diese authentische Art und Weise nur selten geboten kommt. Doch der italienische Krimi steht auch für eine Menge Eigensinn und folglich auch ganz eigenwillige Charaktere, so wie es beim hier rezensierten Roman „Der Nebelfluss“ von Valerio Varesi der Fall ist, dem ersten Roman dieses Autors.

Varesi wurde 1959 in Turin geboren und widmete sich sehr bald dem Thema Journalismus. Mit einer Arbeit über Kierkegaard promovierte er und schaffte es schließlich in die Redaktion der „Repubblica“. „Der Nebelfluss“ ist der Beginn seiner Schriftstellerkarriere und brachte ihm die Nominierung für einen der wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, ein.

_Story:_

Wieder einmal Hochwasser am Po, wie so oft im Herbst. Doch dieses Mal steht der Fluss so hoch wie selten zuvor, weshalb die Dörfer in der näheren Umgebung evakuiert werden müssen. Nur die alten erfahrenen Schifffahrer widersetzen sich den Anweisungen des Präfekten und sehen nicht ein, ihren Stütztpunkt, den Circulo Nautico, zu verlassen.

Eines Abends werden sie dabei Zeugen einer eigenartigen Begebenheit. Das Schiff des fast achtzigjährigen Anteo Tonna läuft trotz der schweren Bedingungen mitten in der Nacht aus. Und obwohl das Licht in der Führerkabine noch an ist, kann man weit und breit keine Menschenseele auf dem Schiff sehen. Auch die unkonventionelle Art, mit der das Schiff ausläuft, will gar nicht zum erfahrenen Kapitän passen und gibt den Anwesenden im Circulo Nautico Rätsel auf. Nach einer dramatischen Fahrt kommt das Schiff schließlich an einer Sandbank zum Stillstand, und obwohl die Carabinieri keinen Mann mehr an Bord finden, ist es fast unmöglich, dass das Schiff ohne Steuermann sicher unter die Brücken und durch die sonstigen Hindernisse hindurch navigieren konnte.

Einen Tag später wird in einem nahe gelegenen Ort eine Leich entdeckt. Ein Mann ist aus dem Fenster gestürzt, und die Polizei vermutet zunächst einen Selbstmord. Die Spuren am Tatort lassen jedoch darauf schließen, dass der Verstorbene ermordet wurde. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass es sich hierbei um den Bruder des verschwundenen Schiffsmannes Tonna handelt …

Commissario Soneri steht vor einem Rätsel. In welchem Zusammenhang steht das Verschwinden des einen Bruders mit dem Tod des anderen? Und welche Chance besteht, dass Anteo Tonna nach seinem Verschwinden überhaupt noch unter den Lebenden weilt?

Soneri geht der Sache auf den Grund, stößt dabei aber auf eine Mauer des Schweigens. Die alten Männer, die sich in der Gegend herumtreiben, stören sich an der Schnüffelei des Commissarios, wollen ihm bei seinen Ermittlungen nicht weiterhelfen. Erst als dieser herausfindet, dass es sich beim Tatmotiv um eine Geschichte aus längst vergessener Zeit handeln könnte und das politische Treiben der Nachkriegszeit manchen der Herrschaften immer noch durch den Kopf schwirrt, beginnt er durch die konfusen Vorgänge durchzublicken. Infolgedessen taucht Soneri in die Welt von versteckten Faschisten, fanatischen Alt-Kommunisten und Menschenschmugglern ein und beginnt, die Puzzlestücke für das große Rätsel Stück für Stück zusammenzusetzen.

_Bewertung:_

Valerio Varesi kennt sich gut aus in der Pogegend, denn er erzählt die Geschichte mit sehr viel Liebe zum Detail und listet dabei eine ganze Reihen von Fakten auf, ohne dass die Geschichte ihren Erzählcharakter verlieren würde. So gelingt es ihm auch spielend, dem Roman von Beginn an die nötige Authentizität zu verleihen, und es dauert maximal zehn Seiten, da glaubt man selbst schon, der Fluss bzw. das Hochwasser würden im eigenen Keller hausen. Sehr gelungen!

Von der recht kühlen Atmosphäre mal abgesehen, hat Varesi aber auch eine kluge und spannende Handlung konstruiert, in die immer wieder neue Details einfließen können, welche wiederum für stetig neue Wendungen sorgen. So baut Varesi die einzelnen Teile der Geschichte stückweise auf und rollt den Strang in aufeinanderfolgenden Episoden auf. Das hat aber leider auch den Nachteil, dass ,diverse wichtige Einzelheiten erst recht spät im Roman auftauchen und so einige zuvor geschilderte Themen unwichtig erscheinen lassen.

Trotzdem weicht Varesi nie von der eigentlichen Handlung ab und legt so auch ein relativ flottes Erzähltempo vor. Simpel geschrieben, aber effektiv und kurz ausgeschmückt – dieser Devise hat Varesi sich angenommen und liegt damit zweifelsohne auf Erfolgskurs, die Spannungskurve gibt ihm dabei schließlich recht.

Was mir persönlich sehr gut gefällt, sind die einzelnen Schwenks in die Vergangenheit mit ihrem Bezug zur Gegenwart. Der Autor erzählt quasi zwei Geschichten und erklärt die vergangene mit der gegenwärtigen und umgekehrt. Hier hätte man die Angelegenheit inhaltlich lediglich noch etwas besser ausschmücken sollen, denn auch im Hinblick auf die Vergangenheit wünscht man sich als Leser des Öfteren detailliertere Einzelheiten zur politischen Lage Italiens in der Nachkriegszeit. Aber gut, Varesis Aufgabe ist es nicht, zu informieren, sondern zu unterhalten, und diesbezüglich hat der Schriftsteller und Redakteur einen fabelhaften Job hingelegt, nicht zuletzt aufgrund des authentischen Transfers und der perfekt eingefangenen, eigenwilligen italienischen Gemüter (speziell die etwas zickige Freundin des Commissarios, aber auch der Hauptcharakter und seine alten Gegenspieler).

Krimifans kommen also auf ihre Kosten und finden in „Der Nebelfluss“ exzellente und kurzweilige Unterhaltung für zwischendurch, Italien-Begeisterte hingegen sollten in dieser Geschichte ein weiteres literarisches Muss entdecken.

Leonie Swann – Glennkill. Ein Schafskrimi

Schaf beobachtet. Schaf kombiniert.

Der Fall George Glenn

George ist tot. Der wunderliche Schäfer aus dem irischen Glennkill liegt eines Tages mit einem Spaten in der Brust auf der Weide. Die Ermittlungen beginnen, und damit beginnt auch ein ganz normaler Krimi.

Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Denn in „Glennkill“ spielt eine ganze Schafherde die Hauptrolle. Und die können wahrhaft mehr als nur blöken. Allen voran Miss Maple, das klügste Schaf von Glennkill und vielleicht sogar der ganzen Welt, die sich mit Schafsverstand des Kriminalfalls annimmt.

Leonie Swann – Glennkill. Ein Schafskrimi weiterlesen

C. J. Box – Jagdopfer [Joe Pickett 1]

Ein idealistischer Wildhüter stolpert im waldigen Wyoming über einen Mord, an dessen Aufklärung seine Vorgesetzten wenig Interesse zeigen. Natürlich lässt er nicht locker und deckt ein anti-ökologisches Komplott auf, was ihn und seine Familie in Lebensgefahr bringt … – Kleiner, aber feiner Thriller, der grünen Kitsch und New-Age-Naturschwurbel meidet und routiniert die Geschichte vom einsamen Kämpfer gegen das scheinbar übermächtige Böse erzählt. C. J. Box – Jagdopfer [Joe Pickett 1] weiterlesen

Thomas Gifford – Aquila

George Washington war eigentlich ein Spion der Briten! Von diesem nie offengelegten Skandal erfährt 1975 der sowjetische KGB, der daraufhin mordlüsterne Agenten ausschickt, um das Beweisdokument zu beschaffen, mit dem man die USA blamieren will … – Dem stellen sich zwei denkbar ungeeignete, aber redliche Verteidiger der Wahrheit gegenüber, die wider alle Wahrscheinlichkeit jede Attacke überleben und die US-Ehre retten können: nie plausibler, oft einfältiger, aber turbulenter Alt-Thriller aus der nostalgischen Vergangenheit der Kalten Krieges. Thomas Gifford – Aquila weiterlesen

Carol O’Connell – Der steinerne Engel [Mallory 4]

OConnell Mallory04 Engel Cover 2002 kleinDie psychotische Polizistin Mallory folgt einer Spur ihrer ermordeten Mutter ins Südstaaten-Städtchen Dayborn, stört dort mächtiges Lumpenpack auf und weicht nicht eher, bis sie die Schuldigen ausgetilgt hat … – Hart an der Grenze zur Übertreibung erzählt die Autorin das vierte Mallory-Abenteuer als Mischung aus Rachethriller und Gruselmärchen; das mag des Guten manchmal ein wenig zu viel sein, ist aber ungemein spannend und zielt temporeich auf ein bombastisches Finale!

Das geschieht:

Nachdem Kathleen Mallory, die hoch talentierte aber psychisch gestörte Polizistin bei der Kommission für Sonderverbrechen des New York Police Departments, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, die Stadt verlassen und sich in den Süden der Vereinigten Staaten aufgemacht. Aus ihrem ohnehin nur labilen Gleichgewicht gebracht, will Mallory endlich das Geheimnis ihrer Herkunft klären. Nur eines ist sicher: Ein ungeheuerliches Verbrechen kostete vor siebzehn Jahren ihrer Mutter das Leben und verurteilte Mallory zu einem barbarischen Überlebenskampf, dessen Folgen sie gezeichnet hat.

Mallory kommt ins kleine Städtchen Dayborn tief im ländlichen bzw. hinterwäldlerischen Louisiana. Hier ist die Zeit in mancher Beziehung stehengeblieben. Daher hasst man es, wenn neugierige Fremde auftauchen, die nach einem Skelett im Schrank der gar nicht so honorigen Stadtväter forschen. Mallory bleibt trotz ihrer inneren Krise immer noch Mallory, und so ist das Ergebnis vorgezeichnet: „Die junge Fremde kam kurz nach zwölf Uhr mittags in die Stadt. Eine Stunde später war der Idiot überfallen worden, seine Hände waren gebrochen und voller Blut. Travis, der stellvertretende Sheriff, hatte am Steuer seines Streifenwagens einen schweren Herzanfall erlitten. Und Babe Laurie wurde ermordet aufgefunden.“ Da man in den Südstaaten viel schwitzt und wenig fragt, wie wir aus zahlreichen Thrillern à la „In der Hitze der Nacht“ wissen, findet sich Mallory umgehend im Gefängnis wieder.

Hier endlich gelingt es Charles Butler, dem genialen aber weltfremden Inhaber einer renommierten Consulting-Firma, ihre Spur wieder aufzunehmen. Er ist der (heimlich und hoffnungslos verehrten) Freundin aus New York nachgereist, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Nun wird er mit ihr, die bald schon wieder freikommt, in die düstere Vergangenheit von Dayborn gezogen und Zeuge, wie Mallory, die Katze auf und unter dem heißen Blechdach, eine alte Schuld begleicht. Dabei entfesselt sie wie üblich ein Inferno, das den Mississippi wieder einmal brennen lässt …

Racheengel im Außeneinsatz

Für ihren vierten Fall verlässt Mallory New York City. Die Stadt ist offensichtlich zu klein für sie geworden. Dies zeichnete sich im Vorgängerband („Tödliche Kritiken“) bereits ab. Fieser Roman stellte nicht nur einen Höhepunkt der Reihe, sondern auch einen logischen Schnitt dar: Noch aufsehenerregender konnte ein weiteres Mallory-Abenteuer nicht mehr werden, ohne endgültig vom Boden der Tatsachen abzuheben. Mallorys Weg zurück zu den eigenen Wurzeln bot sich als Ausweg an, zumal Autorin Carol O‘Connell in die ersten drei Teile immer wieder geheimnisvolle Andeutungen über dieses Thema eingestreut hatte.

Nun geht es also in den amerikanischen Süden, wie man ihn aus vielen anderen Thrillern, besonders aber aus Kino und Fernsehen kennt bzw. zu kennen glaubt: schwül-heiß, von nostalgischer, in jeder Beziehung ziemlich morscher bzw. vom Winde verwehter Südstaaten-Pracht sowie von dekadenter, teils altmodisch-einnehmender, teils einfach überholter Vor-Bürgerkriegs-Lebensart geprägt und mit einigen sehr unerfreulichen Charakterzügen gewürzt. Diese Kulisse wird üblicherweise bevölkert von nur scheinbar gutgesinnten, tatsächlich aber finster rassistischen und in jedes denkbare Verbrechen verwickelten, skrupellosen, frömmelnden doch gottlosen ‚Ehrenmännern‘, grobschlächtig-chauvinistischen, dem Fremden gegenüber notorisch misstrauischen Sheriffs und malerisch verarmten aber stolzen Mint-Julep-Ladies. Dazwischen tummelt sich allerlei vertierter, Ku-Klux-Klan- und Bible-Belt-geschädigter Abschaum, der sich für keine Abscheulichkeit zu schade ist und gewöhnlich auf Namen wie „Cletus“ oder „Billy Ray“ hört.

O‘Connell vermeidet immerhin das beliebte Klischee der angstvoll geduckten (Mehrheit) oder aufrecht Widerstand leistenden (Minderheit) Südstaaten-Schwarzen. Man muss es der Autorin hoch anrechnen, dass es ihr gelingt, nur zu bekannte Bausteine erneut zu einem hochklassigen Thriller um Schuld, Sühne und Rache zusammenzusetzen, der schon bald den für die Mallory-Romane üblichen Dreh ins Unwirkliche nimmt. Im „Steinernen Engel“ kommen sachte Elemente des Übernatürlichen hinzu, wenn die eigenartig menschenfeindliche und urtümliche Landschaft entlang des Mississippis ihr eigenes Leben anzunehmen scheint. Sogar einen Hund der Baskervilles gibt es, der als fast unsterblicher Zeuge vergangenen Grauens durch die Sümpfe geistert und so manchen Übeltäter des Nachts durch sein Geheul in den Schrank flüchten lässt.

Mallory goes Gothic

Das ist keine Übertreibung, sondern wird so von O‘Connell tatsächlich in Worte gefasst. Hier wird das Dilemma dieses Romans deutlich: Die Autorin übertreibt es mit ihrer Südstaaten-Romantik, die Dayborn bald in die Kulisse eines jener Grusler à la Edgar Allan Poe zu verwandeln droht, wie Roger Corman sie in den frühen 1960er Jahren mit Vincent Price in Serie gedreht hat; mit viel künstlichem Nebel, Spinnweben und Pappmaché, was die billige Machart indes nicht verbergen kann.

Die Mallory-Figur ist interessant aber limitiert. Besonders vielschichtig war sie ohnehin nie. Andererseits macht der Hulk seit Jahrzehnten nichts anderes, als seinen Quadratschädel durch dicke Mauern zu rammen, und hat damit eine Karriere begründen können. Letztlich ist auch Mallory genau das: eine Comic-Figur, die mit der Realität wenig zu tun hat. Auf dieser Bahn hat sie nach dem „Steinernen Engel“ viele weitere Fälle gelöst und viel Porzellan dabei zerschlagen, ohne dass ihr das Publikum verlorenging. Auf jeden Fall ist es ratsam, zwischen der Lektüre der einzelnen Abenteuer stets eine Weile verstreichen zu lassen – das lässt die Häufung der zum Mallory-Klischee verkommender Bilder und Szenen nicht so deutlich werden!

Dennoch schlägt Mallory auch bei ihrem vierten Auftritt schlägt die kriminalistische ‚Konkurrenz‘ – gleichgültig ob weiblich oder männlich – mit Leichtigkeit! Dieser Rezensent kann den „Steinernen Engel“ daher uneingeschränkt empfehlen, womit er – es sei erwähnt – freundlicher urteilt als die angelsächsische Kritik, die der Autorin die angesprochenen Wiederholungen, noch mehr aber die Abkehr vom urbanen Handlungsort und die ‚gotische‘ Gruselromantik übelgenommen hat. Man muss die quasi traumgleiche Atmosphäre eines typischen Mallory-Thrillers mögen oder weniger akzeptieren. Dann hebt man als Leser gern mit ab, wenn Mallory wieder einmal kontrolliert Amok läuft!

Autorin

Carol O’Connell (geb. 1947) verdiente sich ihren Lebensunterhalt viele Jahre als zwar studierte aber weitgehend brotlose Künstlerin. Zwischen den seltenen Verkäufen eines Bildes las sie fremder Leute Texte Korrektur – und sie versuchte sich an einem Kriminalroman der etwas ungewöhnlichen Art.

1993 schickte O‘Connell das Manuskript von „Mallory‘s Oracle“ (dt. „Mallorys Orakel“/„Ein Ort zum Sterben“) an das Verlagshaus Hutchinson: nach England! Dies geschah, weil Hutchinson auch die von O‘Connell verehrte Thriller-Queen Ruth Rendell verlegte und möglicherweise freundlicher zu einer Anfängerin sein würde.

Vielleicht naiv gedacht, vielleicht aber auch ein kluger Schachzug (und vielleicht nur eine moderne Legende). Hutchinson erkannte jedenfalls die Qualitäten von „Mallory‘s Oracle“, erwarb die Weltrechte und verkaufte sie profitabel auf der Frankfurter Buchmesse. Als der Roman dann in die USA ging, musste der Verlag Putnam eine aus Sicht der Autorin angenehm hohe Geldsumme locker machen.

Seither schreibt O‘Connell verständlicherweise hauptberuflich; vor allem neue Mallory-Geschichten aber auch ebenfalls erfolgreiche Romane außerhalb der Serie. Carol O’Connell lebt und arbeitet in New York City.

Taschenbuch: 381 Seiten
Originaltitel: Flight of the Stone Angel (London : Hutchinson 1997)
Übersetzung: Renate Orth-Guttmann
http://www.randomhouse.de/goldmann

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Earl Derr Biggers – Charlie Chan und die verschwundenen Damen

Microsoft Word - Biggers, Earl Derr - Charlie Chan und die verscAls ein pensionierter Meisterermittler ermordet wird, berät der chinesische Kriminalbeamte Charlie Chan die ratlose Polizei und verknüpft zahlreiche lose Enden zur Lösung des Falls … – Gelungener Beitrag zur „Charlie-Chan“-Reihe und ein klassischer „Whodunit“. ‚Unmögliche‘ Morde mit bizarrer Indizienlage, drohende Fratzen am Fenster, Verdachtsmomente und deduktive Sackgassen, schließlich die überzeugende, so niemals erahnte Auflösung, präsentiert von einem exzentrischen Genie: ein gemütlicher Feierabend-Thriller mit allen geschätzten Elementen.
Earl Derr Biggers – Charlie Chan und die verschwundenen Damen weiterlesen

Sander, Roman (Hg.) – Holmes und der Kannibale (Sherlock-Holmes-Criminal-Bibliothek Band 2)

Gary Lovisi: Holmes und der Kannibale („The Loss of the British Bark Sophy Anderson“, 1992), S. 7-57: Im winterlichen London des Jahres 1887 verfolgen Holmes & Watson einen Menschen fressenden Serienmörder, der als Schiffbrüchiger auf den Geschmack gekommen ist …

Gary Lovisi: Mycrofts großes Spiel („Mycroft’s Great Game“, 2003), S. 59-95: Im Frühjahr des Jahres 1891 sieht sich Mycroft Holmes, der zum Wohle des britischen Empire Ränke auch mit Unterstützung krimineller Elemente schmiedet, gezwungen, seinen obsessiv Verbrecher jagenden Bruder Sherlock auf eine falsche Fährte zu locken, die diesen ausgerechnet in die Arme seiner Erzfeinde laufen lässt …

Barrie Roberts: Das Rätsel des Addleton-Fluches („The Mystery of the Addleton Curse“, 1997), S. 97-129: Ein altes Grab birgt ein wahrlich strahlendes Geheimnis, das Unglück und Tod über den bringt, der es aufzudecken wagt; erst Sherlock Holmes, der nicht an das Übernatürliche glaubt, kommt dem Rätsel auf die Spur …

Martin Baresch: Das späte Geständnis im Mordfall Mary Watson (2003), S. 131-157: Im Frühsommer des Jahres 1912 wird Sherlock Holmes in seinem Altersruhesitz in Sussex von der lange verdrängten Wahrheit überfallen, dass Mary, die geliebte Gattin seines Gefährten Dr. Watson, vor zwanzig Jahren einem Mord zum Opfer fiel, in den beide Freunde verwickelt sein könnten …

Geoffrey Landis: Die einzigartigen Verhaltensmuster der Wespen („The Singular Habits of Wasps“, 1994), S. 159-186: Im Frühjahr 1888 treibt in den Gassen von Whitechapel Jack the Ripper sein Unwesen, den Sherlock Holmes als wahrlich unmenschliche Geißel der Menschheit entlarvt …

(Storynachweis: S. 187; Die Autoren: S. 188/89)

Arthur Conan Doyle hätte sich gewundert – und geärgert. In einer der hier versammelten „neuen“ Geschichten lässt ihn der Verfasser persönlich auftreten und erklären, ihm seien seine historischen Werke stets wichtiger gewesen als die Holmes-Storys, die er eher als (einträgliche) Gedankenspielereien betrachte. Dies entspricht der Wirklichkeit, doch leider (oder glücklicherweise) ist das Publikum störrisch und urteilt nach eigenem Ermessen. So liest heute kaum mehr jemand Doyles Lieblingsbücher, während Sherlock Holmes triumphiert.

Er ist ohnehin auf seinen geistigen Vater schon lange nicht mehr angewiesen. Noch zu Doyles Lebzeiten entstanden die ersten Holmes-Pastichés im Stil des Meisters. Nach 1930 nahm deren Zahl beständig zu. Doyles Geschichten vom Meisterdetektiv sind formal wie inhaltlich recht einfach strukturiert und leicht nachzuahmen (oder zu parodieren). Ehrfürchtig oder spottlustig versuchten sich auf der ganzen Welt Autoren an Sherlock Holmes. Bemerkenswertes und Eigenartiges entstand dabei – Holmes-Geschichten, die das Original übertrafen, es geschickt oder plump imitierten, mit ihm ’spielten‘ und den starren Formeln neues Leben einhauchten.

In „Holmes und der Kannibale“ finden wir sämtliche Varianten. Gary Lovisi belegt mit den beiden ersten Storys das Wider und Für einer Holmes-Nachschöpfung. Die Titelgeschichte ist Doyle pur: die fast ängstliche Rekonstruktion einer Erzählung wie „Der Vampir von Sussex“, die Holmes auf das (vermeintlich) Übernatürliche, auf jeden Fall aber viktorianisch Erschröckliche treffen lassen. „Holmes und der Kannibale“ soll wirken wie Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Ob dies Lovisi, dem Verfasser, gelungen ist, muss offen bleiben. Der Übersetzer war seiner Aufgabe jedenfalls nur zum Teil gewachsen – das Bemühen ums nostalgisch Altmodische bleibt allzu spürbar in der steifen Mischung aus Altem und Neuem.

Lovisi selbst ist es, der belegt, wie man es besser macht: „Mycrofts großes Spiel“, einerseits die flotte und gelungene Neuinterpretation einiger zentraler Holmes-Klassiker, ist andererseits keine Geschichte, die Doyle selbst so hätte schreiben können und wollen. Sie entstand viel später im 20. Jahrhundert und in wissender Rückschau auf die historischen Verhältnisse um 1890. Doyle hätte Mycroft niemals als skrupellosen Zweckpolitiker dargestellt, der planmäßig illegale und unehrenhafte Methoden zur Sicherung des Empires einsetzt und sogar seinen Bruder betrügt. Solche Kritik wäre dem viktorianischen Zeitgenossen Arthur Conan Doyle wie Landesverrat erschienen. Er glaubte fest an die Rechtmäßigkeit des Systems (dessen Schattenseiten ihm freilich nicht fremd waren). Der Realität sah er sich nicht verpflichtet. Außerdem hielt sich Doyle an einen strengen moralischen Kodex. Nicht von ungefähr ließ er Holmes nie gegen Jack the Ripper antreten, obwohl die beiden schließlich „Zeitgenossen“ waren. Dies blieb Doyles Nachfolgern überlassen. In diesem Band ist es Geoffrey Landis, der sich des Ripper-Motivs bedient – das freilich auf recht unerwartete Weise. (Michael Dibdin zeigte da 1978 weniger Zurückhaltung und identifizierte in „The Last Sherlock Holmes Story“ – dt. „Der letzte Sherlock-Holmes-Roman“ – den völlig wahnsinnig gewordenen Meisterdetektiv selbst als Ripper …)

Auch „Das Rätsel des Addleton-Fluches“ würde ohne die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft als Story nicht funktionieren. Der Leser der Jetztzeit kennt schon nach wenigen Seiten die Lösung des Rätsels. Nun liegt der eigentliche Reiz darin zu beobachten, wie Sherlock Holmes in Unkenntnis der Fakten die Indizien zu einem Bild zusammensetzt, das ihn nachvollziehbar logisch darauf schließen lässt, was sich da in dem alten Grab verbirgt. Darüber hinaus wartet „Das Rätsel des Addleton-Fluches“ mit einer hübschen Schaueratmosphäre in winterlicher Mooreinöde auf, die schon den „Hund der Baskervilles“ eindrucksvoll zur Geltung brachte.

Mit Martin Baresch (der auch zwei der hier besprochenen Geschichten übersetzte) versuchte sich ein deutscher Autor an Sherlock Holmes. „Das späte Geständnis im Mordfall Mary Watson“ kann sich sehen bzw. lesen lassen, auch wenn die Auflösung der (unnötig) kompliziert verschachtelten Handlung nur bedingt gerecht werden kann. Auch die Prämisse stimmt nachdenklich: Ausgerechnet Sherlock Holmes soll einen Nervenschock erlitten haben, der sich erst nach zwei Jahrzehnten zu lösen beginnt? Zwar geht es um den Mord an Watsons Ehefrau, den unter anderen Verdächtigen auch Holmes selbst begangen haben könnte. Dennoch ist ihm in seiner wechselvollen Karriere wesentlich Schlimmeres ohne gravierende Folgen zugestoßen. Mycroft Holmes und Arthur Conan Doyle werden eher schlecht als recht in den Plot gezwungen. Und schließlich: Ist Watson wirklich so tumb, dass er sich beim Anblick seiner von Bienen zerstochenen Gattin mit der Diagnose „Lungenkollaps“ zufrieden gegeben hätte? Nichtsdestotrotz ist „Das späte Geständnis …“ eine lesenswerte Story, weil sie das typische Fanzine-Niveau deutscher Genregeschichten weit hinter sich lässt und eine bemerkenswerte stilistische Sicherheit erkennen lässt.

Geoffrey Landis lässt schließlich jede Ehrfurcht vor den alten Formen fahren. „Die einzigartigen Verhaltensmuster der Wespen“ ist pure Spielerei, welche die Regeln der kriminalistischen Deduktion außen vor und Holmes & Watson in eine Science-Fiction-Invasion außerirdischer „Schlupfwespen“ geraten lässt. Bei der wilden, blutigen Jagd, in der Holmes unfreiwillig die Rolle von Jack the Ripper übernehmen muss, werden unsere Helden von einem angehenden jungen Schriftsteller namens H. G. Wells unterstützt, der seine Erfahrungen 1897 in einen Romanbestseller namens [„Krieg der Welten“ 1475 einfließen lassen wird – ein hübscher Gag am Rande, der die „historische Relevanz“, die vielen Neo-Doyles sehr wichtig ist, zusätzlich ad absurdum führt.

|Anmerkung|

Normalerweise versorgt der BLITZ-Verlag ein einschlägiges Publikum mit SF- und Horrortrash, der hübsche Titel wie „Die Mordanaconda“, „Retortenmonster“ oder „Sturm auf den Feuerwall“ trägt. Zwischen diesem liebenswerten Unfug verstecken sich einige Reihen, die nicht nur anspruchsvoller wirken, sondern es sogar sind. „Sherlock Holmes Criminal Bibliothek“ ist eine noch junge Schöpfung, die – vorausgesetzt wird die Akzeptanz einer literarischen Seltsamkeit, die auf der künstlichen Wiederbelebung eines längst untergegangenen Kapitels der Krimigeschichte basiert – ausschließlich „neue“ Holmes-Romane und Storysammlungen präsentiert. Solche Werke sind auch in Deutschland seit Doyles Tod immer wieder erschienen, aber erst der BLITZ-Verlag unternimmt es jetzt, etwa zweimal im Jahr gezielt Nachschub an Holmesiana zu liefern. Die (Erst-)Auflage beträgt jeweils 999 Exemplare, das Layout ist hübsch nostalgisch, der Kaufpreis beläuft sich auf günstige 9.95 Euro. Unter diesen Umständen kann der Sherlock-Holmes-Fan praktisch nichts falsch machen, wenn er hier zugreift.

Andy Oakes – Drachenaugen

Acht Leichen sind der Anfang. Es ist tiefe Nacht, als man die toten Körper am Ufer des Huangpu Jiang entdeckt. Ein groteskes, schreckliches Bild: Die Toten sind aufs Ärgste verstümmelt und gleichzeitig mit Eisenketten aneinander gefesselt. Ein unwirkliches Rad der Brutalität. Sun Piao, Hauptkommissar bei der Mordkommission von Shanghai, übernimmt den Fall. Und bereits am Tatort kündigt sich an, dass hier etwas unter der Oberfläche gärt, was nicht ans Licht kommen soll.

Zuerst ist es nur der Polizeipathologe, der sich weigert, die Toten zu untersuchen und auch Sun dazu rät, von der Sache abzulassen. Als dann auch noch einige hohe Kader am Ufer des Huangpu auftauchen und sich in die Ermittlungen einmischen, wittert Piao großen Ärger auf sich zukommen. Doch diesmal wird er nicht nach den Vorgaben des Systems handeln. Diesmal wird er sich nicht unterordnen und einfach abnicken, was seine Vorgesetzten ihm diktieren. Er ist fest entschlossen, die Hintergründe der Tat ans Licht zu zerren und in der korrupten, verkorksten Welt Shanghais ein einziges Mal für Gerechtigkeit zu sorgen. Zusammen mit seinem Kollegen Yaobang beginnt er auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen.

Andy Oakes – Drachenaugen weiterlesen

Edgar Wallace – Der Hexer

Unterwelt-Anwalt und Strolch Messer lockt einen jungen Mann in die Falle, weil er dessen Schwester entehren will. Das ruft den „Hexer“ auf den Plan. Der selbsternannte Rächer der Enterbten straft jene, die dem Gesetz durch die Maschen schlüpfen. Da auch die Polizei vom Plan des „Hexers“ weiß, muss sich dieser besonders gut tarnen, um seine Mission zu erfüllen … – Angeblich klassischer, tatsächlich statischer, in einem Theaterstück wurzelnder, inhaltlich staubiger, mit Klischeefiguren besetzter Alt-Krimi, dessen Ruf heute eher verwundert. Edgar Wallace – Der Hexer weiterlesen

Rankin, Ian – Souvenir des Mörders, Das

Gleich vierfach hat das Schicksal – das es nach Ansicht der Schotten auf sie ganz besonders absieht – Detective Inspector John Rebus dieses Mal geschlagen. Da ist zunächst seine Strafversetzung vom „heimatlichen“ Revier St. Leonard’s nach Craigmillar, das verrufendste Polizeirevier von Edinburgh, das die hier tätigen Beamten gern „Fort Apache, Bronx“ nennen. Zu vielen hoch gestellten Persönlichkeiten ist er auf die Zehen getreten, so dass er nun hier Dienst schieben muss, wo die Kollegen ihn, den Paria, weitgehend meiden.

Außerdem jagt ihn die Presse. Ein alter Fall von 1977 wurde von den Medien aufgegriffen. Damals hatten Detective Inspector Lawson Geddes und sein junger Untergebener John Rebus einen gewissen Leonard Spaven als Mörder überführt. Im Gefängnis war dieser zu einem berühmten Schriftsteller avanciert. Später brachte er sich um, nachdem er stets seine Unschuld beteuert und geklagt hatte, die Polizei habe ihn in eine Falle gelockt. Dies könnte zutreffen, wie Rebus sich unbehaglich eingestehen muss. Geddes hatte Spaven um jeden Preis als Mörder stellen wollen. Jetzt hat sein ehemaliger Vorgesetzter Selbstmord begangen: ein Schuldeingeständnis? Rebus soll vor der Kamera Stellung nehmen, was er nicht zu tun gedenkt, bis er Genaues weiß. Er zwingt seinen Kollegen Detective Sergeant Brian Holmes, den Spaven-Fall noch einmal heimlich aufzurollen und zu überprüfen. Dies geschieht im Wettlauf mit der eigenen Behörde, die selbst nachprüfen lässt, ob damals fehlerhaft gearbeitet wurde. Leiter der Prüfungskommission ist ausgerechnet Detective Chief Inspector Charles Ancram aus Glasgow, mit dem es sich Rebus ebenfalls verdorben hat.

Dann ist da ein aktueller Mord: Ein Erdölarbeiter ist gefesselt aus einem hoch gelegenen Fenster gestürzt. Die Spuren deuten auf die Täterschaft von Andrew Kane, genannt „Tony El“, hin. Der sadistische Schläger war bisher für Joseph „Uncle Joe“ Toal, einen gefürchteten Gangsterboss in Glasgow, tätig. Die Polizei wird hellhörig: Plant dieser etwa, seine „Geschäfte“ nach Edinburgh auszuweiten? Toal behauptet, Tony El längst nicht mehr zu beschäftigen. Rebus soll ermitteln, was hinter der rätselhaften Tat steckt. Angeblich hält sich Tony El neuerdings in Aberdeen auf. Diese schottische Stadt ist erfreulich weit entfernt von Edinburgh und Ancram. Deshalb beschließt Rebus, seine Nachforschungen in den schottischen Nordosten zu verlegen.

Das lässt ihm außerdem die Muße, sich mit einem anderen Fall beschäftigen. Seit einiger Zeit treibt „Johnny Bible“ sein Unwesen in Schottland – ein Serienmörder, der gern die Bibel zitiert, Frauen auflauert, sie vergewaltigt und erdrosselt. Merkwürdig ist, dass es Ende der 1960er Jahre schon einmal einen Mehrfachkiller gab, der drei Opfer in Glasgow nach identischem Muster umbrachte. Die Presse nannte ihn damals „Bible John“. Ist er es, der wieder aktiv geworden ist? Hat er einen Nachfolger gefunden?

So ist es in der Tat – und der „echte“ „Bible John“ zeigt sich höchst empört über den „Parvenü“, der es wagt ihn nachzuahmen. Narzisstisch und so gefährlich wie einst, beschließt er, Johnny Bible zu finden und umzubringen, denn er fürchtet, dessen Aktivitäten könnte die Polizei nach vielen Jahren auch auf seine Spur bringen. Rebus könnte ihm womöglich auf die Spur kommen, so dass Bible John überlegt, diesen vorsichtshalber auszuschalten …

Mit „Das Souvenir des Mörders“ stößt Ian Rankin mit seiner Rebus-Saga endgültig in eine neue Dimension vor. Auch die ersten sieben Romane der Serie ließen es an einer ausgefeilten Handlung nie fehlen. Sie beschränkten sich indes recht klassisch auf einen zentralen Kriminalfall, den es zu lösen galt. Nunmehr erweitert sich das Blickfeld. Rebus wird zum Wanderer durch eine Welt, die für das Verbrechen grenzenlos geworden ist. Politik und Großkonzerne mauscheln mit nationalen und internationalen Banden, die Presse lässt sich als Handlanger der korrupten Eliten instrumentalisieren, nicht einmal die verschiedenen Ordnungsmächte sind vor Korruption und Misswirtschaft gefeit. Es ist eine neue, globalisierte, schmutzige Welt, in die Rebus jetzt gerät. Kein Wunder, dass er nun mehr Buchseiten benötigt, um wenigstens in Teilbereichen Gerechtigkeit walten zu lassen. Mit mehr als 600 Seiten stellt „Das Souvenir des Mörders“ auch in dieser Beziehung einen Quantensprung dar.

Fragt sich indes, ob dies unbedingt von Vorteil ist. Rankin hat sich Luft geschaffen und seinen Helden aus dem Alltagstrott gerissen, was der Serie zweifellos neues Leben einhaucht. Indes nimmt er sich manchmal ein bisschen zu viel auf einmal vor. Im Grunde sind es drei Kriminalfälle, derer sich Rebus annehmen muss. Um dies nicht gar zu deutlich werden zu lassen, schafft Rankin einige Querverbindungen, die logisch nur bedingt nachvollziehbar sind. In der Auflösung ist sogar ein unvermittelt in die Handlung flatternder Brief mit dringend erforderlichen Zusatzinfos nötig.

Das soll nicht heißen, dass es kein Vergnügen bereitet, den aktuellen Rebus-Kapriolen zu folgen. Immer neue, überraschende Wendungen weiß der Verfasser seiner Geschichte zu geben. Zu geschickt weiß er reales Tagesgeschehen mit seiner fiktiven Edinburgh-Chronik zu verquicken, deren Kontinuität zudem gewahrt bleibt. Rankin lässt uns wissen, was aus Figuren geworden ist, die wir in früheren Bänden kennen gelernt haben. Die Welt ist zwar groß, aber sie ist zumindest in Edinburgh ein Dorf geblieben. Man läuft sich immer wieder über den Weg. Dieses „Pflegen“ älterer Handlungsstränge trägt zur Vertrautheit der Serie viel bei. Dazu kommt wieder viel sarkastischer Humor, der sich vor allem über die Medien, den Polizeialltag und Rebus’ Kollegen ergießt. Schotten mögen von düsterem Gemüt sein, aber sie können sich wenigstens über sich & ihr Elend lustig machen!

Würde man ihn nicht längst besser kennen, könnte man auf den Gedanken kommen, John Rebus leide unter dem „Wallander-Syndrom“, das die Betroffenen zum depressiven Suhlen im Schlamm einer notorisch schlechten Welt zwingt. Aber Rebus ist nur angezählt und noch längst nicht am Boden. Dazu ist er viel zu eigensinnig. Die Vorgesetzten züchtigen, die Stadtprominenz hasst, die Presse piesackt ihn? Rebus, der es weder anders erwartet noch wirklich will, blüht förmlich auf, flüchtet in die Arbeit und läuft erneut zur kriminalistischen Hochform auf. Die langen Jahre der meist trüben Polizeiroutine haben ihn nicht ausbrennen lassen wie DS Holmes. Rebus hat sich in einen „Frontermittler“ verwandelt, der das Recht nicht beugt, aber in seinem Sinne auslegt. Dabei legt er sehr viel Initiative und Kreativität an den Tag. So bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, den Gangster „Big Ger“ Cafferty, seine alte, endlich gefangen gesetzte Nemesis, als Instrument einzusetzen, das ihm den Weg zu „Uncle Joe“ Toal ebnet.

Privat sieht es für den Kettenraucher, Trinker und Einsiedler Rebus dieses Mal besonders düster aus. Im Kern ist er jedoch unbeschädigt, denn er findet die Kraft, sich vor dem definitiven Absturz zu fangen und einen persönlichen Fehler aus seiner Vergangenheit aufzuarbeiten: Den Fall Spaven wirklich zu klären, ist Rebus ein inneres Bedürfnis. Hinzu tritt die – von Ian Rankin gern und nur halb im Scherz ins Spiel gebrachte – schottische Melancholie, welche – gepaart mit einem Hang zur Selbstgeißelung – ein integrales Element des Rebusschen Wesens ist. Letzteres zielt vor allem auf sein Liebesleben ab, das Rebus selbstzerstörerisch wie selten zuvor in ein Minenfeld verwandelt.

Rebus’ eigentlicher Gegner ist „Das Souvenir des Mörders“ „Bible John“. Rankin wagt hier ein Risiko: Er macht eine authentische Person zur Figur einer fiktiven Geschichte. Tatsächlich hat der echte Bible John zwischen Februar 1968 und Oktober 1969 drei Frauen getötet; seine Identität ist bis heute unbekannt. Akkurat bezieht Rankin die wenigen bekannten Fakten in seine Story ein. „Sein“ Bible John ist gleichzeitig der Versuch, ein Täterprofil zu erstellen bzw. das Profil, das von kriminalistischen Fachleuten erstellt wurde, zum Leben zu erwecken. Es gelingt Rankin mit erschreckender Prägnanz, den Serienkiller als „funktionierendes“, als Alltagsmensch „getarntes“, aber tatsächlich absolut amoralisches Wesen darzustellen. Bible John akzeptiert ausschließlich sich als Mensch. Um ihn herum bewegen sich ansonsten nur ihm unterlegene Kreaturen, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ausnutzt oder umbringt. Deshalb ist er so wütend auf „Johnny Bible“: Dieser gefährdet seine Sicherheit, imitiert ihn und missachtet damit offen seine Stellung an der Spitze der Nahrungskette. Das erträgt John nicht, es treibt ihn sogar aus seiner perfekten Deckung – letztlich unterliegt er doch seinen Zwängen, was er sich nie eingestehen würde.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. [„Verborgene Muster“) 956 zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. [„Das zweite Zeichen“) 1442 spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im |Wilhelm Goldmann Verlag| (Stand: Sommer 2005):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. Wolfsmale (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. Ehrensache (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. Das Souvenir des Mörders (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429 (noch nicht erschienen)
10. Dead Souls (1999, noch kein dt. Titel)
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. Puppenspiel (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. So soll er sterben (2004, Fleshmarket Close, noch nicht erschienen)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.

Holt, Anne – Wahrheit dahinter, Die

_Auf den Hund gekommen_

Kurz vor Weihnachten erreicht Hanne Wilhelmsen die Schreckensnachricht, dass vier Leichen gefunden worden sind, die von Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen durchlöchert wurden. Ihr Urlaub muss folglich erst einmal verschoben werden und auch an ruhige Feiertage ist selbstverständlich nicht zu denken. Drei der Opfer zählen zur reichen Familie Stahlberg, doch das vierte Opfer gibt der Polizei Rätsel auf; zunächst ist seine Identität unklar, doch auch als Knut Sidensvans als viertes Mordopfer identifiziert ist, fehlt sämtlicher Zusammenhang zur Familie Stahlberg. Erschwerend für die Ermittlungen kommt hinzu, dass ein Hund zuerst am Tatort gewesen ist und sich dort an den Leichen gütlich getan hat. Viele Spuren sind dadurch verwischt worden.

Dennoch zeichnet sich schnell ab, dass Familie Stahlberg einiges zu verbergen hat. Das Familienoberhaupt Hermann Stahlberg und seine Ehefrau Tutta sind ermordet worden, sowie der älteste Sohn Preben. Zurück bleiben die Kinder Carl-Christian und Hermine, die beide mehr zu wissen scheinen, als sie zugeben wollen. Zudem besitzt Carl-Christian einen Waffenschein und hatte sich offensichtlich mit seinem Vater überworfen. Hermine dagegen hat zwar ein Drogenproblem, scheint aber dennoch von ihren Eltern bevorzugt worden zu sein. Billy T. findet über zweideutige Kontakte im Osloer Untergrund heraus, dass Hermine illegal Waffen gekauft und sich in den letzten Wochen seltsam benommen hat. Auch die Alibis der beiden Stahlbergkinder sind mehr als dünn, sodass der Schluss nahe liegt, dass eine Familientragödie aufzuklären ist.

Doch Hanne Wilhelmsen will sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und bemüht sich, mehr über das vierte Opfer herauszufinden, das ihrer Meinung nach nicht nur zufällig in das Familiendrama geschlittert ist, sondern eine wichtige Rolle spielen könnte. Dennoch macht sich Hanne mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden keine Freunde. Am Ende steht aber allen Beteiligten eine große Überraschung bevor …

_Interessant und überraschend, aber konstruiert_

In einer Art Prolog begleiten wir einen herumstreunenden Hund bei seinem blutigen Leichenfund, der für das ausgehungerte Tier ein wahres Festmahl darstellt. Gleich darauf beginnen auch schon die Ermittlungen, als Billy T. spätabends seine Kollegin Hanne Wilhelmsen zum Tatort beruft, obwohl diese kurz vor ihrem wohlverdienten Weihnachtsurlaub steht. Der begangene Mord ist grausam, doch verdichten sich die Hinweise schnell zu einem konkreten Tatverdacht, denn es ist offensichtlich, dass Carl-Christian und auch Hermine Stahlberg einiges zu verbergen haben. Beide lügen und können kein entlastendes Alibi vorweisen.

Wie nach einem Rettungsanker greifen die Polizisten dankbar diese Verdachtsmomente auf, um ihre Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen zu können. Der Mord hat viel Aufsehen erregt, außerdem sind die Beamten urlaubsreif und übermüdet, sodass man es ihnen fast nachsehen kann, dass sie viele Hinweise nicht hinterfragen, sondern sich nur noch in eine Richtung fortbewegen.

Dem gegenüber steht allein Hanne Wilhelmsen, die zwar auch nicht so recht an die Unschuld der Stahlbergkinder glauben kann, da diese sich immer mehr in Lügen verstricken, doch Hanne möchte sicher sein und die Verbindung Knut Sidensvans zur einflussreichen Familie Stahlberg herausfinden. Dennoch entwickelt der Kriminalfall sich relativ einseitig weiter, es wird kaum in andere Richtungen ermittelt und für den Leser zeichnet sich auch kein anderer Tatverdächtiger ab. Erst mit Kenntnis der Auflösung bemerkt der Leser, dass Anne Holt ganz unbemerkt zwischendurch Hinweise eingeflochten hat, die sehr wohl einen weiteren Verdächtigen bemerkbar machen. Diese Andeutungen sind allerdings so geschickt eingestreut, dass ich sie überlesen hatte und am Ende von der Autorin überrascht wurde. Um sich das ganze Lesevergnügen zu erhalten, empfehle ich, die Inhaltsangabe auf Seite 2 nicht zu lesen, da hier ein wenig vorgegriffen wird.

Trotz alledem war ich mit der Auflösung am Ende nicht vollauf zufrieden; es war klar, dass Anne Holt noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde und am Ende nichts so ist, wie es scheint, allerdings kam mir das Buchende künstlich konstruiert vor. Obwohl zwischendurch kleine Hinweise eingeflochten waren, fiel der wahre Schuldige vom Himmel und auch die Hintergründe des Mordes und der Tatablauf scheinen nicht sonderlich realistisch, zu viele Zufälle kommen hier zusammen. Hier schießt Anne Holt in ihrem Wunsch, ihre Leser zu überraschen, meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus.

_Personalien_

„Die Wahrheit dahinter“ ist ein weiterer Krimi aus der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, der mit einem kleinen zeitlichen Bruch nach „Das letzte Mahl“ die Serie fortsetzt. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dringend dazu raten, die Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen, um der personellen Weiterentwicklung folgen zu können. Anne Holt verwendet viel Zeit darauf, um ihre handelnden Figuren näher vorzustellen; so erfahren wir in diesem Buch, dass Hanne Wilhelmsen nach dem Tod ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Cecilie eine wohlhabende Frau namens Nefis geheiratet hat. Die beiden leben zusammen mit ihrer skurrilen Haushälterin Marry in einer schönen Wohnung und auch Nefis äußert mehr als deutlich den Wunsch nach einem Kind. So sind auch in dieser Beziehung die Streitereien vorprogrammiert, denn in dieser Hinsicht ist Hanne Wilhelmsen uneinsichtig wie eh und je. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, konnte sie ihre traurige Kindheit noch nicht überwinden und mag auch nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen.

Eine weitere wichtige Figur ist Billy T., der mit der Frau seines fünften Kindes zusammenlebt, aber permanent unter Geldmangel leidet, weil er vier Exfreundinnen Alimente für die gemeinsamen Kinder zahlen muss. Auch seine Verbindung zu dubiosen Osloer Kreisen sind noch nicht eingeschlafen; so liefert Billy T. entscheidende Hinweise zur Auflösung des Mordfalles. Während Billy T. in den vorigen Romanen Hannes einziger Vertrauter war und er allein wusste, dass seine Kollegin lesbisch ist, distanziert sich Hanne in diesem Buch mehr denn je von Billy T.

Doch auch die Stahlbergkinder bekommen viel Raum in der Erzählung. Anne Holt stellt ausführlich Hermine und ihre Drogenprobleme vor, aber auch Carl-Christian und seine Ehefrau Mabelle finden Erwähnung. Die Autorin versucht hier bemüht, alle Charaktere nahezu gleichwertig zu behandeln; wir begleiten fast alle Personen in ihr Privatleben und lesen über ihre Gedanken und Handlungen. Allerdings franst die Erzählung dadurch so sehr aus, dass man den Gedankengängen der Autorin kaum folgen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Anne Holt sich auf drei oder vier Figuren konzentriert hätte, nicht jeder Charakter kann gleichwertig vorgestellt werden, ohne die Leser zu verwirren. Durch die vielen Charakterisierungen gerät leider die Erzählung ins Stocken, da es inhaltlich nur wenig vorangeht. Schade – eine gute Figurenzeichnung trägt zwar zum Lesegenuss bei, kann aber die Freude auch trüben, wenn sie übertrieben wird.

_Am Ende siegt die Wahrheit_

Anne Holt hebt sich alleine schon durch ihre lesbische Krimiheldin deutlich von ihren Krimikollegen ab, verwendet aber so viel Zeit und Mühe, um ihre Figuren zu präsentieren, dass dringend dazu geraten ist, Holts Romane in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Sonst ist es äußerst schwierig, die vergangenen personellen Entwicklungen nachzuvollziehen. Der vorliegende Kriminalfall erscheint uns äußerst brisant; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Stahlberg sind brutal ermordet worden und stören damit die idyllischen Vorbereitungen zum verschneiten Weihnachtsfest in Oslo. Dadurch entsteht ein interessanter Gegensatz. Durch die ausschweifenden Personenbeschreibungen verliert man sich aber schnell in den unterschiedlichen Handlungssträngen und blättert ein wenig verwirrt weiter; ein roter Faden wäre hier an einigen Stellen wünschenswert gewesen. Die Auflösung erschien mir ein wenig zu unwahrscheinlich und konstruiert, sodass ein fader Nachgeschmack zurückbleibt. Dennoch versteht es Anne Holt, ihre Leser zu unterhalten und wie immer am Ende auch zu überraschen. Es sind daher nur kleine Abzüge zu vermerken, die die Lektüre dieses Buches ein wenig verkomplizieren und das Lesevergnügen trüben.

Huston, Charlie – Gejagte, Der

Gut ein Jahr ist es her, dass Charlie Hustons Romandebüt [„Der Prügelknabe“ 1469 auf den deutschen Markt kam. Nun folgt mit „Der Gejagte“ die Fortsetzung der rasanten Flucht des sympathischen Verlierertypen Hank Thompson – kein bisschen weniger actionreich als der erste Teil und auch kein bisschen unblutiger.

Etwa drei Jahre sind vergangen, seit Hank Thompson mit viereinhalb Millionen Dollar im Gepäck die Flucht von New York nach Mexiko gelang. Es sind nicht seine viereinhalb Millionen Dollar, wohlgemerkt, sondern die mehrerer mittlerweile toter Gangster aus New York. In dem Zwist zwischen russischer Mafia, korrupten Polizisten und Gangstern, der um das Geld entbrannt war, geriet Hank damals zwischen die Fronten – nur weil er so nett war, ein paar Tage auf die Katze seines Nachbarn Russ aufzupassen. Am Ende ist es Hank, dem mit dem Geld die Flucht gelingt.

Seit drei Jahren lebt Hank, der meistgesuchte Mann Amerikas, also nun schon in Mexiko. Er hat ein bescheidenes kleines Häuschen am Strand und verbringt die meisten Tage bei seinem Freund Pedro in der Strandbar. Kurzum: Hank genießt das Leben. Als dann aber plötzlich in Pedros Bar ein Typ mit russischem Akzent auftaucht, holt Hank die Vergangenheit wieder ein.

Hank muss feststellen, dass sein geheimes Leben in Mexiko aufzufliegen droht und so tritt er erneut die Flucht an. Er geht zurück in die USA, doch kaum hat er amerikanischen Boden betreten, beginnt die wilde Jagd von vorne. Wieder sind unterschiedliche Parteien hinter dem Geld her und wieder zieht Hank eine Schneise der Verwüstung hinter sich her – quer durch die USA …

Bereits Hustons Debütroman „Der Prügelknabe“ verkaufte sich gut. Die Kritiker waren voll des Lobes und die Filmrechte sind bereits nach Hollywood verkauft. Der nun vorliegende zweite Teil von Hustons als Trilogie angelegter Geschichte steht dem in nichts nach. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist wieder Hank. Besonders im ersten Roman baut Huston Hank als eine sympathische Figur auf. Ein Verlierer, mit dem es das Leben nicht immer gut meint und mit dem man mitleidet und mitfiebert. Hank wirkte in seiner ganzen Art glaubwürdig und menschlich, da konnten alle Geschehnisse um ihn herum noch so abgefahren sein.

Es ist schon in „Der Prügelknabe“, als Hank eine Grenze überschreitet, die auch in seiner Figurenzeichnung zu einer Veränderung führt. Ab einem gewissen Punkt nimmt Hank die Geschichte selbst in die Hand und verliert dabei seine Unschuld. Am Ende gehen sechs Leichen auf sein Konto und Hank ist nicht mehr derselbe wie vorher. Diese Entwicklung führt Huston auch im zweiten Band konsequent weiter. Hank hat sich verändert, er ist härter geworden und wenn er Gewalt anwenden muss, um mit heiler Haut davonzukommen, dann tut er das eben – eine reine Zweckmäßigkeit. Ein paar Punkte büßt er dadurch auf der Sympathieskala zwar ein, aber dennoch wirkt die Veränderung glaubwürdig, denn letztendlich geht es Hank immer noch um nichts anderes, als darum, sich und seine Lieben vor weiterem Unheil zu bewahren. Hank ist im zweiten Band abgebrühter und härter. Ein Resultat seiner Erlebnisse aus dem ersten Band.

Auch Huston hat sich im weiteren Verlauf der Geschichte entwickelt. Der erste Roman wirkte vom Stil her schon selbstbewusst und gewitzt. Auch das entwickelt er im zweiten Band konsequent weiter. Die schwarzhumorige Seite seiner Erzählung weiß er stärker zu unterstreichen. Wo Hank hinkommt, da gibt es immer eine Eskalation der Situation. Alles läuft gegen ihn, ständig gerät er an die falschen Typen und alles endet im Chaos. Wie ein roter Faden zieht sich das durch die gesamte Handlung und je mehr Hank daran verzweifelt, desto komischer wirkt all das auch. Huston baut einen ganz unterschwelligen, schwarzen Humor in die Geschichte ein, so dass der Roman zu einem wahren Lesevergnügen wird.

Was zum Lesevergnügen ebenso beiträgt, ist Hustons Erzählstil. Die Geschichte wirkt sehr plastisch, der Drehbuchautor Huston lässt im Kopf des Lesers die Handlung wie einen rasanten Actionfilm ablaufen: schnelle Schnitte, rasante Wortwechsel, kurze prägnante Sätze. Ein Roman, der sich binnen kürzester Zeit verschlingen lässt. Man kann sich schon beim Lesen des Buches „Der Gejagte“ ganz wunderbar als Film vorstellen und das, obwohl Huston sich zu keiner Zeit mit ausschweifenden Beschreibungen aufhält. Atmosphäre und Figurenzeichnung entfalten sich bei ihm auch schon mit wenigen Worten ganz hervorragend.

„Der Gejagte“ ist genau wie „Der Prügelknabe“ im Grunde ein Actionfilm im Buchformat. Huston legt ein hohes Tempo für seine rasante Odyssee quer durch Amerika vor und heizt schon mit diesem hohen Erzähltempo die Spannung an. Dominiert wird der Spannungsbogen stets von einer Frage: Wie kommt Hank da bloß mit heiler Haut wieder heraus? Diese Frage brennt einem vom ersten bis zum letzten Kapitel unter den Nägeln. Wirklich beantwortet wird sie aber vermutlich erst im dritten Teil der Trilogie.

Parallelen zum Actionfilm gibt es nicht nur aufgrund des hohen Erzähltempos und des Gegenstands der Handlung. Auch sprachlich trifft dieser Vergleich zu. Die Dialoge sind immer wieder ein wenig vulgär. Es wird viel geflucht und in gangstermäßigem Slang schlau dahergeredet, Drogen werden konsumiert (und das nicht zu knapp), Personen mit Schusswaffen bedroht. Es geht insgesamt schon recht ruppig zu und die handelnden Protagonisten sind alles andere als zimperlich im Umgang miteinander. Dementsprechend verläuft auch „Der Gejagte“ nicht ohne reichlich Blutvergießen und wie auch schon im Auftaktroman der Trilogie geht es in den Schilderungen nicht immer ganz appetitlich zu. Hustons Trilogie ist also nicht unbedingt für zartbesaitete Gemüter und lässt sich innerhalb des Thrillergenres eher in der Hard-Boiled-Ecke positionieren.

Ein paar Worte noch zur Kontinuität: Für Quereinsteiger ist „Der Gejagte“ nicht unbedingt zu empfehlen. Wer das Buch liest, sollte möglichst auch die Kenntnisse aus dem ersten Teil haben. Huston baut zwar Rückblenden auf den ersten Roman ein, aber die können nicht dazu dienen, einem Quereinsteiger zu vermitteln, was im ersten Teil alles passiert ist. Dafür geschieht in der Geschichte einfach zu viel. Vielmehr rufen sie dem Leser ins Gedächtnis, was im ersten Teil besonders wichtig war. Also bitte die Trilogie möglichst komplett und in vorgesehener Reihenfolge lesen. Nach dem ersten Band will man ohnehin wissen, wie’s weitergeht und so kommt man kaum umhin, sie nicht komplett zu lesen.

Auch die Ausgangssituation, die Huston für den dritten Teil der Trilogie schafft, ist sehr vielversprechend. Die Geschichte entwickelt noch eine gänzlich neue Richtung, die im dritten Teil sicherlich die Hauptrolle spielen wird.

Fazit: Was Huston mit „Der Prügelknabe“ so erfrischend und rasant angefangen hat, führt er mit „Der Gejagte“ konsequent fort. Stilistisch bemerkt man eine gewisse dezente Weiterentwicklung. Hank Thompson bleibt als Protagonist außerordentlich interessant. Obwohl er abgebrühter und härter geworden ist, behält er seine sympathische, menschliche Seite – eine Figur, mit der man mitfiebert und mitleidet. Der Roman an sich ist ein rasantes, actiongeladenes und schwarzhumorig angehauchtes Lesevergnügen und ausgezeichnetes Kopfkino. Da darf man mit Spannung erwarten, wie Huston die Geschichte im abschließenden dritten Teil auflösen wird.