Charles Dickens – Der Streckenwärter (Gruselkabinett 128)

Der Geist am Eingang des Tunnels

Das Leben eines Streckenwärters im viktorianischen England war hart, entbehrungsreich und einsam. Die Verantwortung, die diesen Männern übertragen wurde, war jedoch sehr groß. Aber erklärt das wirklich, warum sich der Streckenwärter dieser Geschichte von einer grauenhaften Erscheinung heimgesucht fühlt…? (Verlagsinfo)

Der Autor

Charles Dickens, geboren 1812 bei Portsmouth, ist einer der wichtigsten Schriftsteller des viktorianischen Englands. 1824 wurde Charles’ Vater wegen Schulden eingebuchtet, und seine Mutter und ihre acht Kinder mussten sehen, wie sie zu Brot kamen. Mit zwölf Jahren erfährt Charles in der Fabrik alles Elend, das Ausbeutung durch Arbeit bereithält (nachzulesen in „Hard Times“ und anderen Romanen).

Erst drei Jahre später kann Charles eine Schule in London besuchen. Er arbeitet tagsüber als Schreiber für eine Anwaltskanzlei und lernt nachts. Seine Studien zahlen sich aus. Er erhält eine Chance als Zeitungsreporter und wird Parlamentsberichterstatter. 1833 beginnt er, eigene Geschichten zu veröffentlichen und legt sich das Pseudonym „Boz“ zu.

Dickens’ Durchbruch erfolgt 1837 mit den humoristischen „Pickwick Papers“, die ihn auf einen Schlag berühmt machen. Er heiratet die Tochter seines Verlegers Catherine Hogarth und arbeitet als Schriftsteller. In den folgenden Jahren schreibt er zahlreiche, mitunter recht umfangreiche Romane und etliche Erzählungen, ruft ein wöchentliches Literaturmagazin ins Leben, für das er als Verleger und Autor arbeitet, gründet ein Amateurtheater, in dem er selbst auftritt, und unternimmt ausgedehnte Reisen in Europa und nach Amerika.

1858 trennt er sich von seiner Frau, mit der er zehn Kinder hat, und beginnt eine Beziehung mit der Schauspielerin Ellen Ternan. Er stirbt am 9. Juni 1870 in Gadshill bei Rochester an den Folgen eines Schlaganfalls.

Mehr Info zum Autor: https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Dickens

Die Sprecher/Die Inszenierung

Matthias Lühn: Reisender
Bodo Primus: Streckenwärter
Rolf Berg: Polizist
Timmo Niesner. Lokführer

Regie führte Marc Gruppe, der auch das Drehbuch verfasste, und das Hörspiel mit Stephan Bosenius realisierte. Die Aufnahmen fand in den Titania Studios und den Planet Earth Studios statt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

Im Winter 1861 besucht der Ich-Erzähler das nördliche England und überquert dabei eine Hügelkette, so dass er auf der anderen Seite an den Abhang eines Taleinschnittes für die Eisenbahn gerät. Es dämmert bereits, und als er eine Gestalt mitten auf den Gleisen stehen sieht, ruft er: „Hallo, da unten!“ Es muss sich um den Streckenwärter handeln, der für das Stellen von Signalen und das Überwachen des nahen Tunnels zuständig ist.

Doch statt aufzusehen, schaut der Streckenwärter um sich und starrt in den Tunnel. Er warnt den Besucher vor einem einfahrenden Zug, obwohl nichts zu hören ist. Der Erzähler ruft noch einmal und erbittet die Erlaubnis, zu den Gleisen hinabsteigen zu dürfen, denn die Gleisanlagen sind ja schließlich Privateigentum der Eisenbahngesellschaft. Widerwillig erteilt der Streckenwärter seine Erlaubnis, und der Erzähler steigt den Serpentinenweg hinab. Am Boden des Einschnitt ist die Stimmung bereits düster und kalt.

Und einsam. Nur ein einzelnes rotes Licht erhellt den Tunneleingang. Misstrauisch schaut der Streckenwärter den Neuankömmling und behauptet, er habe ihn schon einmal gesehen. Der Erzähler widerspricht, das sei unmöglich. Er sei zum ersten Mal in dieser Gegend. Beruhigt lädt der Streckenwärter den Besucher in sein Häuschen ein, wo sie es sich beim Tee gemütlich machen. Der alte Mann erzählt von seiner monotonen Arbeit, von der er meint, er verdiene nichts Besseres, da er doch seine Jugend und seine akademischen Aspirationen verschwendet habe.

Aber etwas beunruhigt den Mann. Wiederholt schaut er draußen auf das rote Licht am Tunneleingang. Er gibt zu, dass er von einem wiederkehrenden Geist geplagt werde. Der HALLO-Ruf des Besuchers habe ihn zu Tode erschreckt. Am nächsten Tag kommt der Erzähler ausgeruht zurück ins Tal, doch diesmal ruft er nicht. Der Streckenwärter dankt ihm und taut ein wenig auf. Er habe ihn verwechselt mit einem anderen, der ebenfalls winkte, rief, aber dabei die andere Hand vor die Augen hielt: „Um Gottes willen, runter von den Gleisen!“ Vor gut einem Jahr kündigte diese Erscheinung das schlimmste Unglück an, das es je auf diesem Streckenabschnitt gegeben hatte.

Vor einer Woche begann die Erscheinung wieder aufzutauchen, sogar mehrmals täglich. Nun fürchtet der Streckenwärter, dass erneut ein Unglück bevorsteht. Doch das Klingeln und Rufen existiert nur in seinem Kopf, versichert der Erzähler den alten Mann – er selbst höre nichts dergleichen. Der Alte fragt sich, warum ausgerechnet mit der Bürde dieses Vorauswissens belastet werde, könne er selbst doch rein gar nichts gegen ein Unglück unternehmen.

Der dritte Tag. Diesmal sieht der Erzähler wieder eine Gestalt am Tunneleingang stehen, doch sie erweist sich weder als Geist noch als Streckenwärter – es ist ein Polizist. Er steht vor einem Zug, der von ausgestiegenen Fahrgästen umringt ist. Ein Körper liegt auf dem Gleis vor der Lok. Der Polizist erkennt, dass der Neuankömmling den Körper möglicherweise und bittet ihn um die Identifizierung der Leiche. Die schlimmsten Befürchtungen des Erzählers werden bestätigt. Doch wie konnte das Unglück geschehen…

Mein Eindruck

Am 9. Juni 1865 überstand Dickens auf dem Rückweg von Paris den schweren Eisenbahnunfall von Staplehurst, Kent, zwar körperlich unversehrt, wurde von dem Ereignis aber für den Rest seines Lebens im Geiste verfolgt. Unmittelbar nach diesem Vorfall kletterte Dickens, nachdem er erste Hilfe geleistet hatte, zurück in den Waggon, um sein Manuskript „Our Mutual Friend“ zu retten.

Einen potentiellen Versuch, den Unfall zu verarbeiten, stellt die Gruselgeschichte „The Signal-Man“ dar. Dort erlebt die titelgebende Hauptperson die Vision eines Eisenbahnunfalls, der allerdings auf dem Eisenbahnunfall im Clayton-Tunnel von 1861 basiert, bei dem 23 Menschen getötet und 176 verwundet wurden. Mehr Info dazu: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Signal-Man und im O-Text unter https://www.gutenberg.org/files/1289/1289-0.txt.

Das wichtigste Element der Geschichte ist die Verschiebung der objektiven Realität in die subjektive Einbildung. Auf diese Weise kann es dem Streckenwärter erscheinen, als sei das rote Licht am Tunneleingang das Auge eines Geistes, der ihn vor dem nächsten Unglück warnen will. Klingeln ertönen, das Warnlicht leuchtet – doch alles nur in seiner Einbildung, wie der Erzähler bezeugt. Als es dann wirklich zum Unglück kommt, hält der Streckenwärter den nahenden Zug nur für Einbildung. Makaber ist obendrein, dass der Lokführer genau die gleichen Hand- und Armbewegungen vollführt wie der Geist und das Gleiche ruft: „Um Gottes willen, runter von den Gleisen!“

In einem Dreischritt wird der Erzähler und damit auch der Hörer in das unheimliche Geschehen wie in einen Strudel hineingezogen. Immer kritischer und betroffener entwickelt sich die Haltung des Besuchers und Beobachters, doch am Schluss zerbricht die Distanziertheit an der schrecklichen Wahrheit: Die Einbildungen des alten Mannes waren ebenso gültig wie die objektive Realität, führten sie doch zum Tod des Alten. Diese Aussage durchzieht alle „realistischen“ Romane des Autors, selbst in Geistergeschichten wie „Das Spukhaus“, wo es recht turbulent zugeht (erschienen bei Stimmbuch anno 2005).

Die Sprecher/Die Inszenierung

Matthias Lühn klingt als Reisender fast exakt genauso wie Martin Freeman als der HOBBIT: ungläubig, skeptisch, aber ein wenig eingeschüchtert ob der Vorwürfe des Alten, er habe ihn schon einmal gesehen und das Gerufe habe ihn erschreckt. Bodo Primus ist als Streckenwärter völlig überzeugend: grüblerisch, abweisend und barsch an der Oberfläche, doch darunter verängstigt und nervös.

Rolf Berg spielt als Polizist ebenso nur eine typisierte Nebenrolle wie Timmo Niesner als Lokführer Tom. Letzterer wirkt in seiner emotionalen Aufgewühltheit – er steht unter Schock – schon ein wenig übertrieben. Doch er hat gerade einen Menschen überfahren. Deswegen kann man seine Aufregung durchaus noch akzeptieren.

Geräusche

Das heimelige Knistern des Kaminfeuers und das gemütliche Teetrinken stehen in starkem Kontrast zu den unheimlichen Geräuschen der Nacht draußen vor der Tür. Das Käuzchen ruft zur frühen Ruh. Zurück zum menschlichen Atmen und Reden, begleitet vom ewigen Ticken der Standuhr.

Doch zwei Geräusche unterbrechen dieses Gleichgewicht: ein Schrei, ausgestoßen von einer Frau während eines erinnerten Bahnunglücks – und das Zischen der Dampflok am Schluss. Es ist die erinnerte, vorausgeahnte und eingetretene Katastrophe.

Musik

Die Hintergrundmusik hält sich sehr zurück und drängt sich nur in angespannten Momenten und während der Pausen zwischen den drei Szenen etwas in den Vordergrund. Deutlich sind kleine indische Trommeln (Tablas?) zu vernehmen, die von basslastigen, düsteren Klängen begleitet werden.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

…enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien: für das Gruselkabinett und die Sherlock-Holmes-Reihe. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich passend und stimmungsvoll.

Ab Herbst 2017

Nr. 126: Lovecraft: Kalte Luft
Nr. 127: Poe: Der Fall Valdemar
Nr. 128: Charles Dickens: Der Streckenwärter
Nr. 129: Ulrichs: Manor
Nr. 130: Carolyn Wells: Der Wiedergänger
Nr. 131: Flagg: Die Köpfe von Apex

Ab Frühjahr 2018

Nr. 132/133: Sweeney Todd 1+2
Nr. 134: Willy Seidel: Das älteste Ding der Welt
Nr. 135: Amyas Northcote: Brickett Bottom
Nr. 136: H.G. Wells: Das Königreich der Ameisen
Nr. 137: Robert E. Howard: Aus finsterer Tiefe

Unterm Strich

Diese Geistergeschichte von Charles Dickens mag unscheinbar wirken, aber sie ist schon einige Male inszeniert worden, einmal sogar mit dem bekannten britischen Schauspieler Denholm Elliott („Ein Zimmer mit Aussicht“). Das Sujet der Geistererscheinung passt genau in das literarische Segment, dessen sich das GRUSELKABINETT annimmt: das Übernatürliche oder auf verhängnisvolle Weise Eingebildete, also das Zwischenreich jenseits der sogenannten objektiven Realität.

Die Geschichte wird von der steigenden Anspannung Beklemmung getragen, die von Tag 1 bis Tag 3 zunimmt, während der Streckenwärter von seiner monotonen, verantwortungsvollen Arbeit ebenso erzählt wie von der Geistererscheinung, die ihn vor kommendem Unglück zu warnen scheint. Im Gegensatz zum Erzähler ahnen wir bereits, dass etwas Schlimmes passieren wird. Als es dann eintritt, ist es wider Erwarten etwas völlig anderes. Wer zu dem Streckenwärter eine emotionale Bindung aufgebaut hat, wird ebenso schockiert sein wie der Erzähler in diesem Augenblick. Das macht eine gute Geistergeschichte aus: Sie lässt uns mitfühlen, indem sie uns an die Stelle des Opfers versetzt.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Stimmen wie Matthias Lühn, Timmo Niesner und Rolf Berg sind deutschen Filmfreunden von zahlreichen amerikanischen und britischen Darstellern bekannt. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

Audio-CD
Spieldauer: ca. 44 Minuten,
Info: The Signal-Man, in „Three Ghost Stories“, 1859
Aus dem Englischen übersetzt von unbekannt
www.titania-medien.de

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