Lee Child – Zeit der Rache

Das geschieht:

In New York nimmt ein Einsatzkommando des FBI den ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher fest. Ihm wird Serienmord vorgeworfen. Man fand zwei Frauen tot in ihren Badewannen, die bis zum Rand mit Armee-Tarnfarbe gefüllt waren. Die Ermittler fanden keinerlei Spuren aber zwei Gemeinsamkeiten: Beide Opfer waren Ex-Soldatinnen und hatten vor Jahren Anklage wegen sexueller Belästigung gegen Vorgesetzte eingereicht, deren Karrieren dadurch zerstört wurden. Die Untersuchung leitete in beiden Fällen Reacher!

Seine Unschuld stellt sich heraus, als ein neuer Mord nach bekanntem Muster erfolgt aber Reachers Alibi wasserdicht ist. Trotzdem muss er dem FBI helfen, da die Armee es ablehnt, mit Zivilisten zusammenzuarbeiten, Direktor Black schreckt nicht davor zurück, Reacher offen zu erpressen. Wohl oder übel beugt sich Reacher, aber als er sogleich das aufwändige Täterprofil der FBI-Spezialisten verwirft und die Zahl der potenziellen Opfer im Widerspruch zu diesen erheblich eingrenzt, wird ihm kein Glauben geschenkt.

Die Arroganz des FBI rächt sich bitter, als der Killer beginnt, sein Mordmuster zu durchbrechen und tatsächlich eine der von Reacher genannten Frauen umbringt. Dieses Mal hat er jedoch einen Fehler begangen, endlich gibt es Spuren. Aber diese lassen sich eigentlich nur so deuten, dass die Opfer sich willenlos selbst getötet haben, während ihr Mörder neben ihnen stand.

Der Killer ist sich inzwischen seines Fehlers und der Tatsache bewusst geworden, dass ihm womöglich nicht mehr viel Zeit bleibt. So steigert er die Intensität seiner Mordattacken, denn er folgt einem ausgeklügelten Plan – und er ist keineswegs wahnsinnig …

Ein Reisender wird aufgehalten

„Die Starken terrorisieren die Schwachen. Sie lassen nicht davon ab …, bis sie auf jemanden stoßen, der stärker ist und sich aus lauter Menschenfreundlichkeit oder auch nur aus einer Laune heraus dazu berufen fühlt, ihnen Einhalt zu gebieten. Jemanden wie Reacher.“ (S. 15)

Er ist ein unsteter Charakter, dieser Jack Reacher; jedes Mal, wenn wir eine neue Episode aus seinem bewegten Leben kennenlernen, taucht er an einem anderen Ort auf. So ist es Autor Lee Child möglich, eine im Grunde stets ähnliche Geschichte immer wieder neu oder auf jeden Fall unterhaltsam zu erzählen. Scheinbar wortkarg ist er ein echter Könner, wenn es gilt, einen rasanten Action-Thriller mit leichtem Tiefgang auf die Abschussrampe zu bringen.

Ein bisschen anders ist trotzdem alles geworden: Kannten wir Reacher bisher als Mann, der nur besaß, was er in seinen Taschen trug, während er sein Land kreuz und quer durchstreifte, ohne Spuren zu hinterlassen (von niedergemachten Strolchen und ihren ausgeräucherten Schlupfwinkeln einmal abgesehen), so ist er inzwischen geradezu häuslich geworden, wohnt unter einem eigenen Dach und hat sogar eine feste Freundin gefunden, die zudem Anwältin (!) ist.

Dass Eigentum Verantwortung und damit Verdruss mit sich bringen kann, ist eine Lektion, die Reacher recht leidvoll lernen muss. Kein Wunder, dass der alte Anarchist mit Macht in ihm durchbricht, als er (scheinbar) im Auftrag des FBI wieder „on the road“ ist. Die Jagd nach dem Tarnfarben-Killer entwickelt sich gemächlich, gewinnt aber rasch an Dynamik und Intensität, als sich herausstellt, dass Reacher sein dunkles Spiegelbild verfolgt: Mit seinem Wissen als Soldat und Polizist hätte aus ihm leicht ein effizienter Mörder werden können, besäße er denn jene kriminelle Energie, die ihm das FBI unterstellt.

Dunkle Winkel und Sackgassen

Weil Lee Child immer für eine Überraschung gut ist, spinnt er in „Zeit der Rache“ nicht schon wieder das uralte Garn vom reisenden Serienkiller, der ebenso genial wie verrückt ist und seltsamerweise trotzdem stets gefangen wird. Dass ‚nur‘ ein Kapitalverbrechen hinter den Untaten steckt, mag mit dem Leser auch das in Ehrfurcht vor dem eigenen Ruf erstarrte FBI für möglich halten, was dem Roman einige philosophische Momente verschafft, die man in einem Thriller dieser Art kaum vermuten würde.

Der alten Frage, wie weit man gehen darf, um dem Recht Geltung zu verschaffen und Verbrecher auszuschalten, wird Reachers Prinzip der selektiven Selbstjustiz gegenübergestellt. Der Vergleich legt (wieder einmal) offen, dass im Namen des Gesetzes und dadurch scheinbar legitimiert Taten begangen werden können, die hinter den Verbrechen ‚richtiger‘ Krimineller nicht zurückstehen. Das mag eine Binsenweisheit sein, doch eine wichtige, und sie findet ihr Ziel – den Hinterkopf des Lesers -, wenn sie so unterhaltsam wie hier dargeboten wird. Lee Child sollte allerdings Quantico zukünftig lieber großräumig umfahren …

Erschüttert wird der sonst rundum positive Eindruck, den dieser Roman hinterlässt, als das Mysterium der indizienlosen Morde gelüftet wird. Ein moderner Dr. Mabuse kommt zum Vorschein, dessen suggestive Fähigkeiten trotz Childs Bemühen um eine ‚rationale‘ Erklärung mehr als einen Hauch Science Fiction in die Geschichte bringen. Der scheint recht fehl am Platze, da Jack Reacher und sein geistiger Vater doch üblicherweise mit beiden Beinen unerschütterlich fest auf dem Boden der Tatsachen stehen. Doch nur mit diesem Zylindertrick des scheinbar Übernatürlichen kann sich Child aus der Falle befreien, die er sich dieses Mal selbst gestellt hat: Die beschriebenen Morde sind ihm gar zu perfekt geraten.

Zurück auf Anfang

Die daraus entstehenden Irritationen macht der spannende Wettlauf zwischen Reacher, dem FBI und dem Killer allemal wieder wett. Das Finale ist kein Happy-End und gleichzeitig ein Neuanfang; Reachers Glück am heimischen Herd erweist sich als Selbsttäuschung. Wir sehen unseren Helden schließlich zurückkehren auf die Straße, die er insgeheim so liebt, und atmen gemeinsam mit ihm in Erwartung des nächsten, sicherlich wieder spektakulären Abenteuers sichtlich auf.

Natürlich lässt sich diese Rückkehr zugleich als Rückschritt werten. Nachdem Child seinem Helden gönnte (oder ihn dazu verurteilte), sesshaft, gesellig und ‚erwachsen‘ zu werden, wird Reacher zurückgeworfen auf den recht eindimensionalen Charakter der ersten (und späteren) Bände. Andererseits ist Jack Reacher nicht nur am glücklichsten, wenn er irgendwo die Fetzen fliegen lassen kann, sondern auch unterhaltsamer.

Gönnen wir ihm (und uns) deshalb das politisch angenehm unkorrekte Vergnügen. Um uns dies zu erleichtern, hält Child ein Hintertürchen offen: Reacher ist nicht der tumbe Rächer, der Ordnung schafft, wo die lasche Justiz versagt, sondern eine durch Herkunft, Erziehung und Militärzeit reduzierte Persönlichkeit, die sich ihrer sozialen Defekte sehr wohl und oft schmerzlich bewusst ist. Gleichzeitig ist Reacher ein Ritter, der das Land auf der Suche nach Drachen durchstreift. Wo er sie findet, rettet er das von dem Untier drangsalierte Volk und meist eine schöne Königstochter. Auch heute gibt es noch das Märchen von der Gerechtigkeit, die den Lumpen trifft; es kommt inzwischen zeitgemäß als Reacher-Thriller daher.

Autor

Lee Child wurde 1954 als Jim Grant im englischen Coventry geboren. Nach zwanzig Jahren Fernseh-Fron (in denen er u. a. hochklassige Thriller-Serien wie „Prime Suspect“/„Heißer Verdacht“ oder „Cracker“/„Ein Fall für Fitz“) betreute, wurde er 1995 wie sein späterer Serienheld Reacher ‚freigestellt‘.

Seine Erfahrungen im Thriller-Gewerbe gedachte Grant nun selbstständig zu nutzen. Die angestrebte Karriere als Schriftsteller ging er generalstabsmäßig an. Schreiben wollte er für ein möglichst großes Publikum, und das sitzt in den USA. Ausgedehnte Reisen hatten ihn mit Land und Leuten bekannt gemacht, sodass die Rechnung schon mit dem Erstling „Killing Floor“ (1997, dt. „Größenwahn“ aufging. 1998 ließ sich Grant, der sich als Autor „Lee Child“ nennt, in seiner neuen Wahlheimat nieder und legt seither mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks in jedem Jahr ein neues Reacher-Abenteuer vor. Zehn sollten es ursprünglich werden, doch zur Freude seiner Leser ließ der anhaltende Erfolg Child von diesem Plan Abstand nehmen.

Man muss die Serie übrigens nicht unbedingt in der Reihenfolge des Erscheinens lesen. Zwar gibt es einen chronologischen Faden, doch der ist von Child so konzipiert, dass er sich problemlos ignorieren lässt. Jack Reacher beginnt in jedem Roman der Serie praktisch wieder bei null.

Aktuell und informativ präsentiert sich Lee Childs Website.

Taschenbuch: 509 Seiten
Originaltitel: Running Blind (London : Bantam Press/Transworld Publishers/The Random House Group Ltd. 2000)
Übersetzung: Georg Schmidt
http://www.randomhouse.de/blanvalet

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar