Christopher Priest – Der schöne Schein

Die schöne Unsichtbare

In sechs Teilen erzählen drei verschiedene Figuren die Rekonstruktion dessen, was mit ihnen geschehen ist: Richard liebt Susan, doch die kommt von ihrem Lover Niall nicht los. Susan und Niall können sich unsichtbar machen. Wie konnte es zu der Bombenexplosion kommen, der Richard um ein Haar zum Opfer gefallen ist?

Handlung

Seit Monaten liegt Richard Grey, ein englischer Kameramann, in der Klinik. Die Explosion einer Autobombe der IRA hat ihn fast das Leben gekostet. Man hat ihn halbwegs wieder zusammengeflickt, aber er hat Teile seines Gedächtnisses verloren.

Eines Tages besucht ihn Susan Kewley, die behauptet, vor dem Unglück seine Geliebte gewesen zu sein. Er kennt sie nicht, fühlt sich aber zu ihr hingezogen. Gemeinsam versuchen sie, die Vergangenheit zu erhellen, doch je tiefer sie einzudringen versuchen, desto widersprüchlicher, verwirrender und unwirklicher werden die „Fakten“, die zutage kommen. Bis ihre Bemühungen eines Tages eine unglaubliche, atemberaubende Wendung nehmen.

(Im Wörterbuch steht unter anderem, dass ein „glamour“ auch ein Zauberbann, eine Verzauberung sein kann. Und in diesem Sinne verwendet der Autor das Wort.)

Richard Grey erinnert sich in einer langen Rückblende an eine Reise mit Susan nach Südfrankreich. Er erinnert sich an die gespenstische Gegenwart von Susans Ex-Freund Niall, der sich zunehmend wie ein Keil zwischen Richard und Susan drängte. Dieser Niall ist vielleicht die eigentliche Hauptfigur des Romans, obwohl er durchgehend unsichtbar ist. Denn dieses Buch handelt von einer Art Unsichtbarkeit.

Allmählich stellt sich Richards Erinnerung an Südfrankreich als Einbildung heraus. Vielmehr behauptet Susan nun, ihn mit der Londoner Gesellschaft der „glams“ bekannt gemacht zu haben, zu der sie selbst (ab und zu) und Niall (permanent) gehören. Die Glams besitzen den ‚glamour‘, die Fähigkeit, das Bewusstsein anderer Menschen zu vernebeln und sich so unsichtbar zu machen.

Susan beweist dem ungläubigen Richard ihr glamour-Fähigkeit, indem sie ihn in ein fremdes Haus mitnimmt und sich dort nackt den unsehenden Augen der Männer präsentiert. In einer weiteren Szene lieben sich Susan und Richard, doch Niall stößt unsichtbar hinzu und vergewaltigt das Mädchen. Ob das mal gutgeht?

Mein Eindruck

„Der schöne Schein“ ist zum einen eine Geschichte über die Unsichtbarkeit, wie sie seit H.G. Wells hin und wieder geschrieben (und verfilmt) wird, nur dass hier niemand wahnsinnig wird. Zum anderen ist dies eine sonderbarsten und bezauberndsten Liebesdreiecks-Geschichten, die je geschrieben wurden.

Priests unaufgeregter, täuschend simpler Erzählstil ist optimal der Enthüllung überraschender und unheimlicher, wenn nicht sogar schockierender Sachverhalte und Begebenheiten angepasst. Dies ist ein bewegender, nachdenklich machender Roman und mit Sicherheit einer seiner besten. Die Heyne-Ausgabe wird durch mehrere Illustrationen und ein Nachwort von Michael Nagula aufgewertet. Nagula hat bei Luchterhand die Collection „Der Traumarchipel“ (s.u.) herausgegeben und weiß über Priest speziellen Literaturansatz bestens Bescheid.

Über den Autor

1943 in Cheshire/England geboren, veröffentlichte priest 1966 seine erste Erzählung „The Run“ in dem Science Fiction-Magazin „Impulse“. In der Folge publizierte er verstärkt in „New Worlds“, jenem Magazin, das unter Michael Moorcock zum Bannerträger einer „neuen Art Science Fiction“, der sogenannten „New Wave“, werden sollte. Priest jedoch sieht nicht als Teil der New Wave, sondern als eigenständiger Autor.

1970 erschien sein erster Roman „Indoctrinaire“, der schon in der Szene aufhorchen ließ. Mit dem klassischen Katastrophenroman „Fugue for a Darkening Island“ (1972; „Die schwarze Explosion“) und dem Hard-SF-Roman „The Inverted World“ (1974, dt. als „Der steile Horizont“ bei Heyne) schrieb sich Priest in die erste Reihe der britischen Genre-Autoren.

Die zwei nächsten Romane waren eher Rückgriffe auf Bewährtes: „The Space Machine“ (1976, „Sir Williams Maschine“) lehnte sich an H.G. Wells‘ Klassiker „The Time Machine“ an. Und „A Dream of Wessex“ (1977; „Ein Traum von Wessex“, 1979) basiert auf der Idee der totalen Simulation einer Welt, die Daniel F. Galouye in „Simulacron-3“ (verfilmt als „The thirteenth Floor“ und als „Welt am Draht“) entwickelt hatte.

Hintergrund zum „Traumarchipel“

Die imaginierte Welt des „Traumarchipels“ erschuf Priest in seinem radikalen Roman „The Affirmation“ (1981; „Der weiße Raum“, 1984). Ein depressiver junger Mann zieht sich in ein einsames Landhaus zurück, um in einem Zimmer, das er den „weißen Raum“ nennt, seine fiktive Autobiografie zu schreiben. Aus London wird darin die Stadt Jethra, und die Welt besteht aus einem Archipel von Inseln, ähnlich wie Ursula Le Guins Welt „Erdsee“.

Peter Sinclair zieht in der Hauptstadt Jethra ein Lotterielos und es ist der Hauptgewinn: ewiges Leben. Es gibt nur einen Haken dabei: Der Preis bedingt den totalen Gedächtnisverlust. Die Menschen im Archipel, die Schatten seiner realen Bekannten sind, versuchen Peter sein Gedächtnis, seine Identität wiederzugeben. Wechselte Peter zunächst ständig zwischen Real- und Traumwelt, so beginnen die beiden Ebenen schließlich in Peters Wahrnehmung miteinander zu verschmelzen: aus Vernunft und Kreativität wird Wahnsinn. Bemühte er sich anfangs noch um die Wahrheit des absoluten Erkennens, so wird daraus nun ein beliebiges Spiel des Selbstbetrugs. Dazu gehört, dass er das Schreiben des Manuskripts braucht, um seine Existenz und Identität zu affirmieren, zu bestätigen und zu bekräftigen (vgl. O-Titel). Aufgrund seines totalen Realitätsverlustes bieten sich aber einem objektiven Betrachter des Manuskripts nur ein Haufen leere Seiten dar. Der Text bricht mitten im Satz ab.

Das klingt nicht wie ein gutes Omen für den hier initiierten Traumarchipel-Zyklus. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn das Konzept der imaginierten Realität ist ja in jedem erzählenden Buch, jeder fiktionalen Geschichte enthalten. Lediglich der Schauplatz ist bei Priest der gleiche: der Traumarchipel. Nur dass dieser Ähnlichkeiten zur realen Welt des 20. Jahrhunderts aufweist und so Kommentare liefert, die sich deuten und kritisieren lassen.

Für diese Erzählhaltung hat Priest den Ausdruck „Visionärer Realismus“ geprägt: „visionär“ insofern, als er radikale Ideen, die unausführbar sind, vorbringt, und realistisch, weil er sich der Erzähltechniken der Science Fiction bediene. Diese Erzählhaltung sei sowohl resümierend, was die bisherigen Werke der Science-Fiction anbelange (BEschreibend), als auch VERschreibend, insofern als es alle Einengungen des Genres durch Begriffe ablehne und vielmehr einbeziehend wirken wolle. (Diese Definition legt Priest in seiner „Verlorenen Rede eines Sohns“ (1984) dar, die in der deutschen Luchterhand-Ausgabe von „Traumarchipel“ angedruckt ist.

Die bisherigen Teile des Zyklus:

The Affirmation (1981; Der weiße Raum)
The Glamour (1984; Der schöne Schein)
The Dream Archipelago (Originalausgabe „Der Traumarchipel“, 1987 bei Luchterhand); Einzelgeschichten siehe unten.

Erzählungen, die laut Autor zum Zyklus zählen:

Die Verneinung (The negation, 1979)
Ein endloser Sommer (An infinite summer, in „Zielzeit“, 1985)
Der Beobachtete (1985, in „Venice 2“)
Die Feuerbestattung (The cremation, 1978)
Der wundervolle Steinhügel (The miraculous cairn, 1986, dt. Erstveröffentlichung in „Der Traumarchipel“)

Inzwischen hat Priest weitere Romane und Erzählungen veröffentlicht:

Die stille Frau (The quiet woman, 1990)
Das Kabinett des Magiers (The prestige, 1995)
Die Amok-Schleife (The Extremes, 1998)

Taschenbuch: 380 Seiten
Originaltitel: The glamour, 1984
Aus dem Englischen von Walter Brumm
ISBN-13: 9783453004276

www.heyne.de

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