Chuck Wendig – Blackbirds (Miriam Black 01)

Die Todesleserin: dem Schicksal in den Arm fallen

Miriam hat eine Gabe: Wenn sie einen Menschen berührt, sieht sie den Moment seines Todes. Doch nie konnte sie die Zukunft verhindern. Inzwischen hat sie den Versuch aufgegeben … Als der Trucker Louis Miriam vor einem Überfall rettet, berührt sie seine Hand und sieht das Unvermeidliche: Louis wird in 30 Tagen von einem Killer brutal ermordet – und Miriam steht dabei. Ist sie vielleicht das nächste Opfer? Miriam glaubt eigentlich nicht, dass sie die Zukunft ändern kann. Aber sie muss es noch ein Mal versuchen: für ihr Überleben – und für seins. (Verlagsinfo)

Der Autor

Chuck Wendig schreibt Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher und Essays. Mit seinem Kollegen Lance Weiler hat er das Drehbuch zum Kurzfilm „Pandemic“ verfasst, der auf dem Sundance Film Festival gezeigt wurde. Für das Projekt „Collapsus“ wurde beide für den Digital Emmy (TV-Preis) nominiert. Wendig lebt mit seiner Familie in Pennsylvania, wo ein Teil der Handlung spielt. Er ist laut Verlag sehr aktiv auf seiner Webseite terribleminds.com.

„Chuck Wendig ist New-York-Times- und USA-Today- Bestsellerautor. Er schrieb unter anderem die Star Wars: Nachspiel-Saga sowie mehrere Thriller um die paranormale Ermittlerin Miriam Black. Außerdem hat er jede Menge Scripts zu Comics, Computerspielen und TV-Serien beigesteuert“, schreibt Google Books.

1) Blackbirds (2012)
2) Blackhearts (November 2014)

Miriam Black Serie laut Wikipedia.en:

Blackbirds (2012)
Mockingbird (2012)
The Cormorant (2013)
Thunderbird (2017)
The Raptor & The Wren (2018)
Vultures (2019)

Handlung

Wenn Miriam Black einen anderen Menschen berührt, kann sie seinen oder ihren Tod voraussehen. Ort und Stunde sind ihr ebenso bekannt. Mit ihren 22 Jahren hat sie schon alles gesehen, denkt sie, und traurig in ihr Tagebuch geschrieben. Für sie ist die Gabe ein Fluch, der ihr alle Lebenshoffnung genommen hat. Einst als Tochter einer sittenstrengen Mennonitenwitwe aufgewachsen, hat sie sich – nach dem Selbstmord ihres ersten Liebhabers – rasch zu einer Schlampe erster Klasse entwickelt. Sie hat eine schmutzige Phantasie, kann sich ihrer Haut wehren, wenn sie on the Road ist, und die Gossensprache der Trucker und Farmer lässt sie fluchen wie ein Kutscher.

Sie denkt, sie ist kein Verbrecher, vielmehr das Opfer dieser Gabe – oder dieses Fluches, den sie erträgt, seit sie 16 war. Aber sie lässt dann doch immer wieder das Bargeld oder die Kreditkarten des Opfers mitgehen, dessen Todeszeitpunkt sie vorhergesehen hat und begleitet. So etwa bei dem armen Del Amico, der dachte, er könnte bei ihr eine schnelle Nummer kriegen, dann aber doch den erwarteten Epilepsieanfall erlitt, bei dem er an seiner eigenen Zunge erstickte.

Kein schöner Tod, kein schönes Leben – so wandert Miriam durch North Carolina, bis sie eines Tages zwei völlig unterschiedlichen Männern begegnet. Der Fernfahrer Louis nimmt die abgerissene Streunerin mit. Statt gleich, wie erwartet, über sie herzufallen, benimmt er sich so manierlich, dass sie denkt, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Tatsächlich – als sie ihn absichtlich berührt, sieht sie, dass sein Todeszeitpunkt in ziemlich genau 30 Tagen stattfindet, auf einem Leuchtturm und er von der Hand eines sadistischen Killers ins Jenseits befördert wird. Aber warum ruft Louis mit seinem letzten Atemzug ausgerechnet ihren, Miriams, Namen? Ist sie etwa eine Komplizin bei dem Mord an diesem feinen Kerl?

Als sie ihn wiedersieht, geschieht dies im Auftrag des zweiten Mannes, den sie kennenlernt. Ashley – ein Mädchenname, zum Kuckuck! – Gaines ist ein Trickbetrüger. Einerseits bezahlt er damit die Krankenrechnungen seiner alten Mom, andererseits folgt er Miriam schon seit Virginia, um sie für seine fiesen Zwecke einzuspannen. Er kennt ihr schmutziges Geheimnis und droht, die Bullen auf sie anzusetzen. Als er auch noch ihr Tagebuch findet und die noch kommenden Todeszeitpunkte, ist sein Glück gemacht. Denkt er.

Das Leben wird für Miriam richtig „interessant“, als sie Louis wiedersieht und mit ihm einen „romantischen Abend“ zu verbringen versucht. Er gesteht ihr, dass er am Tod seiner geliebten Frau schuld sei. Um ein Haar verliebt sie sich in den wuchtigen Kerl, was Ashley sofort riecht. Doch dann kreuzen die Typen auf, die ihm beziehungsweise seinem Koffer voll Crystal Meth seit geraumer Zeit auf den Fersen sind: Frank und Harriet sind ein schräges Paar mittleren Alters, das aussieht, als käme es vom FBI. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt liegen …

Mein Eindruck

In diesem wie ein Comic im Präsens erzählten Roman geht es um Schicksal und dessen Überlistung. Leben und Tod – das sind nur Folgen des Schicksals, das jeder in uns trägt, als wäre es Vorbestimmung. Die Kritik an der Vorstellung der Vorbestimmtheit des Lebensweges, wie sie fundamentalistische Christen in den USA allenthalben hegen, ist eines der Merkmale dieser recht unterhaltsam erzählten Geschichte.

Miriam wird durch ihre Gabe/ihren Fluch immer wieder mit der Nase darauf gestoßen, dass das Ende unabänderlich vorbestimmt sei. So als habe Gott es in einem sehr großen Buch vorher festgelegt. Da sie selbst ihr eigenes Ende nicht offenbart bekommt, wird dem Leser nach einer Weile klar, dass sie auf ihren Tod hinarbeitet. „Noch neun Seiten sind in meinem Tagebuch zu füllen“, sagt sie sich in den immer wiederkehrenden Träumen. Darin unterhält sie sich mit einem Louis, den ihr eigenes Unterbewusstsein erschaffen hat.

In einem Interview, das sie mit einem unbedarften Anfänger namens Paul führt, erklärt sie, wie ihre Gabe funktioniert und wie es dazu wohl gekommen sein mag. Dieses Zwischenspiele dienen lediglich dazu, dem Leser mehr über Miriams Eigenart und Werdegang zu verraten, bringen aber die Geschichte nicht voran. Dennoch sind sie notwendig, um das Fundament dieser außergewöhnlichen Figur zu legen und auszubauen. Dass es mit Paul ein schlimmes Ende nehmen wird, weiß Miriam schon bei der ersten Berührung. Sie kann also frei von der Leber weg erzählen.

Wenn alle ihr Schicksal vorgezeichnet bekommen, ist es dann möglich, dennoch etwas daran zu ändern? Aber wäre das nicht Gotteslästerung, die Verweigerung seines Willens? Für gläubige Christen ist das eine wichtige Fragen. Aber immer wieder macht sich der Autor lustig über solche frommen Zeitgeister, seien es in Sekten, seien es über Miriams Mutter, und am Schluss zeichnet er das Bild eines Strandes, an dem brave US-Bürger auf die VERZÜCKUNG (the rapture) warten. Die Verzückung ist die unvorhergesehene und unvorhersehbare, weil göttlich verordnete Hinfortnahme der Seelen der Gläubigen, sozusagen eine Instant-Himmelfahrt.

Genug der Religion! Davon Miriam eh die Nase voll. Sie ist zwar nicht Alice, taumelt aber doch durch ein amerikanisches Wunderland, in dem Crystal-Meth-User nach Katzenpisse stinken, unreinliche Ehemänner im Müllhäcksler landen und selbst eiskalte Killer in einer Gosse ihr Ende finden. Sie muss nur noch herausfinden, wie sie dem Schicksal ein Schnippchen schlägt. Wie sie in die Speichen des Schicksalsrades greift, darf hier nicht verraten werden, aber ihre Liebe zu Louis führt sie vorhersehbar auf die Spitze jenes Leuchtturms, wo er seinen Tod finden soll – wenn sie ihrem „lieben Tagebuch“ glauben soll.

Die Übersetzung

Axel Franken, der Übersetzer der Jugend-Fantasy von Garth Nix, zieht hier alle sprachlichen Register, um die Gossensprache einerseits treffsicher, andererseits authentisch ins Deutsche zu übertragen. Man merkt es nämlich schnell, wenn er zu sehr eins-zu-eins ins Deutsche übersetzt, so etwa Ausdrücke wie „inakkurat“, die niemand hierzulande in den Mund nehmen würde.

S. 146: „Danke, dass ihr euch die Zeit genommen ha[b]t, Leute.“ Das B fehlt.

S. 223: „Das haarlose Wichser“. Korrekt wäre wohl „der haarlose Wichser“. (Und ja: „Wichser“ ist noch einer der harmlosesten Ausdrücke in diesem Text.)

Unterm Strich

„Blackbirds“, den Auftakt zu einer Romanreihe über Miriam Black, habe ich in nur wenigen Tagen gelesen. Die Figur, die im Zentrum der Geschichte steht, ist interessant, wenn auch ihre übernatürliche Fähigkeit nicht neu ist. Aber sie gerät in einen Plot, der mehr an Stephen King erinnert als an Dean Koontz. Wie King nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund, um die Sprache, der sich seine Heldin befleißigt, wiederzugeben. Dean Koontz hätte in sprachlicher Hinsicht deutliche Hemmungen, und wie man an seinem (inzwischen verfilmten) Helden Odd Thomas ablesen kann, ist Koontz in seiner Moral wesentlich christlicher drauf als ein King: Koontz bietet Horror für die ganze Familie.

Human

In seiner Botschaft ist der Roman eher humanistisch ausgerichtet: Denn statt Erlösung zu von ihrem Fluch zu suchen oder sich selbst zu richten, wie es ihre Folterin anbietet, findet Miriam in sich immer noch einen Funken Zorn auf jene, die ihr vorschreiben wollen, was sie zu tun hat. Sie ist ein Mensch, dem Willensfreiheit über alles geht, denn es ist die Freiheit des Flüchtlings, der seinem Gefängnis – dem Haushalt der Mutter – entkommen ist.

Als sie einen liebenswerten Menschen kennenlernt, ist es daher an ihr, dem Schicksal in den Arm zu fallen und den Schnitter – und es ist ein ganz besonders abstoßender Schnitter – zur Hölle zu schicken. Es ist kein Zufall, dass dieser Schnitter in seiner Jugend für einen Deutschen, einen Nazi gehalten wurde. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hieß es im 17. Jahrhundert nach dem 30-jährigen Krieg (oder schon früher). Ironisch ist dabei, dass dieser spezielle Killer aus Holland stammt – er streitet dennoch vergeblich ab, ein Deutscher zu sein.

Sprache und Zielgruppe

Das Buch ist im Verlag „Angry Robot“ erschienen, bei dem wirklich deftige Literaturware verlegt wird. Solange sich der Leser nicht von der Gossensprache irritieren lässt, kann er ein durchdachtes Horrorgarn genießen. Die Qualität der Gossensprache ist gar nicht mal so schlimm, wenn man als Sprachkenner weiß, dass in den USA eine viel härtere Ausdrucksweise in der Umgangssprache gepflegt wird als hierzulande.

Auf jeden Fall dürfte sich die Jugend von heute, die vom Internet direkt in US-Englisch informiert wird, viel mehr angesprochen fühlen als der Angehörige einer älteren Generation. Das trifft auf beide Geschlechter zu. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass junge Frauen, etwa in der Goth-Szene, zartfühlender seien als Männer ihrer Altersgruppe. Das Titelbild, das aus Amseln („blackbirds“) allerlei Formen zusammensetzt, finde ich überaus gelungen – und es setzt die Comic-Ästhetik des Textes bildlich um.

Taschenbuch: 304 Seiten
Originaltitel: Blackbirds
Aus dem US-Englischen von Axel Franken
ISBN-13: 978-3404207107

www.luebbe.de

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