Chuck Wendig – Thunderbird. A Miriam Black Novel

Die Odyssee der Todleserin

Miriam Black hat eine Gabe: Wenn sie einen Menschen berührt, sieht sie den Moment seines Todes voraus. Doch nie konnte sie die Zukunft verhindern. Inzwischen hat sie den Versuch aufgegeben, aber herausgefunden, dass sie, um einen Menschen zu retten, einen anderen dafür töten muss. Um den Fluch loszuwerden, sucht sie in Arizona eine Frau namens Mary Stitch. Inzwischen haben sich ihr ein Dämon zugesellt, den nur sie sehen kann, und Gabby, eine von ihr gerettete junge Frau mit lesbischen Neigungen…

Der Autor

Chuck Wendig schreibt Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher und Essays. Mit seinem Kollegen Lance Weiler hat er das Drehbuch zum Kurzfilm „Pandemic“ verfasst, der auf dem Sundance Film Festival gezeigt wurde. Für das Projekt „Collapsus“ wurde beide für den Digital Emmy (TV-Preis) nominiert. Wendig lebt mit seiner Familie in Pennsylvania, wo ein Teil der Handlung des ersten Romans spielt. Er ist laut Verlag sehr aktiv auf seiner Webseite terribleminds.com.

Miriam trat erstmals 2013 in „Blackbirds“ auf, dann in „Blackhearts“. Beide Romane wurden ins Deutsche übersetzt und von mir besprochen.

Die Miriam Black Reihe

1) Blackbirds (2012, dt. 2013 als „Blackbirds“))
2) Mockingbird (dt. November 2014 als „Blackhearts“)
3) The Cormorant
4) Thunderbird (2017)
5) The Raptor & the Wren (Leseprobe in „Thunderbird“)
6) Vultures (2019, Schluss)

Handlung

Miriam Black läuft. Sie läuft und hustet, denn als Kettenraucherin hat sie ihre nun so strapazierten Lungenflügel stets gut geteert. Ihr Dämon, die schwarze krähenhafte Todesgestalt, macht sich über Miriams lächerliche Bemühungen lustig. Am Himmel kreisen schon die Geier.

Arizona kann ja so trocken sein, und einsam. Bis auf den Subaru, der gerade an Miriams Pickup-Truck gehalten. Im Subaru sitzt ein kleiner Junge in Superman-Kostüm. Die schwarzhäutige Frau verlangt Miriams Wagenschlüssel und Handy. Kommt nicht in die Tüte! Die Frau zieht einen Revolver und zielt damit auf Miriam. Diese nimmt sie in den Clinch, und aus der Pistole löst sich ein Schuss. Doch bevor die Frau Miriam mit einem Kinnhaken niederstrecken und anschließend töten kann, wird sie selbst getroffen – aus einem weit entfernten Gewehr.

Der Heckenschütze

Als Miriam wieder zu sich kommt, ist ihr Pickup weg, und die Frau und der Junge ebenfalls. Dafür steht der Subaru einsam und verlassen da. Miriams Geist steigt in die Köpfe der am Himmel kreisenden Geier und erspäht ein Opfer: den Heckenschützen, der es entweder auf sie oder die fremde Frau abgesehen hatte. Den Jäger zu töten, ist für die sieben Geier ein Kinderspiel. Miriam nimmt den Subaru und fährt zur Leiche. Tatsächlich: Er hat ein (gesperrtes) Handy, eine Kreditkarte und 40 Dollar in der Brieftasche – exzellent! Ein Anruf geht ein. Ein Mann erkundigt sich bei „Stevie“, dem inzwischen sehr toten und sehr angenagten Schützen, ob der Auftrag erledigt sei. Erst als „Stevie“ nicht antwortet, wird der Auftraggeber stutzig. Miriam gibt ihm eine patzige Antwort, und der Typ legt auf.

Gabby

Ein netter Typ von der Tankstelle fährt Miriam für 50 Dollar, die sie mit Steves Kreditkarte bezahlt (schlimmer Fehler!), zurück zum Motel, wo Miriam ihre Sachen gelassen hat. Hier wartet bereits ihr Schützling Gabby ungeduldig auf sie. Ihr Gesicht ist von ihrem Entführer, einem kranken Typen, immer noch zerschnitten, aber mittlerweile gut verheilt. Gabby kann den Todesdämon nicht sehen, der Miriam begleitet, wohl aber ihren wohlgeformten Körper, als sich Miriam duscht. Sie schmiegt sich eng an Miriams heiße Haut, die allmählich vom Wüstenstaub befreit wird. Aber gibt es für Gabby weiterhin Rettung? Miriam verweigert sich dem Liebesspiel und hat einen hysterischen Anfall. Sie denkt an ihre Mutter, deren Hirn inzwischen zu Gemüse geworden ist. Zuletzt prophezeite sie: „Ein Sturm wird kommen, und du kannst ihm nicht entfliehen, Miriam Black!“ Da kann man schon mal frigide werden.

Schreckensvision

Miriam und Gabby machen sich gemeinsam auf die Suche nach Mary Stitch. Sie nehmen einen Drogendealer in die Mangel. Unter dem Einfluss des Heroins plaudert er etwas von Mary heraus. Sie müsse regelmäßig in Phoenix im Gerichtsgebäude einen Termin mit ihrer Bewährungshelferin einhalten. Miriam gibt sich im Gerichtsgebäude als Arbeitgeberin der „verschwundenen“ Mary Stitch aus – und fliegt bei der Bewährungshelferin sofort auf. Doch bevor die Frau sie rauswerfen kann, packt Miriam ihr Handgelenk.

Was sie sieht, ist eine Horrorvision: Das Gerichtsgebäude wird von Explosionen erschüttert, und sie hört Schüsse aus einem MG fallen. Um zu prüfen, ob dies Einbildung ist, wiederholt sie die Berührung und die Vision kehrt immer wieder: Es wird definitiv einen Überfall geben. An der Waffenkontrollstelle am Eingang „sieht“ sie, wie einer der Kontrolleure eiskalt niedergeschossen wird – von einem Mann, der, wie Steve Ardle, ein Tattoo am Unterarm trägt: „Der Sturm wird kommen“. Daneben steht der Frauenname „Janice“. Eine Frau steht mitten um Kugelhagel: Mary Stitch.

Die Miliz

Über die Kreditkarte haben die Verfolger, die Steve beauftragt haben, den netten Tankstellenwart ausfindig gemacht. Nach ausgiebiger Folterung haben sie herausgefunden, wo sich das Motel befindet, zu dem er Miriam fuhr. Dort finden sie Gabby und entführen sie. Als Miriam zurückkehrt und keine Gabby vorfindet, beginnt sie, Panik zu schieben. Doch die Pistole, die der Anführer der Entführer auf sie richtet, wirkt sehr überzeugend. Miriam kommt mit.

Die Miliz hat in einem Bergtal ein Camp errichtet, in dem Menschen mit der Gabe versammelt sind. Bei ihnen wirkt Miriams Talent der Todesvision nicht. Gabby ist zum Glück unversehrt, aber ihr Wächter Jade ist genau der gleiche Killer, der im Gerichtsgebäude den Kontrolleur abknallen wird – keine gute Gesellschaft. Aus dem angebotenen gemütlichen Abendessen macht Miriam deshalb eine Inquisitionssitzung: Was läuft hier eigentlich? Der Anführer Ethan Key, der eigentlich mehr an dem Jungen Isaiah und seiner Mutter (die Steve umlegen sollte) interessiert war, muss die Karten auf den Tisch legen. Miriam wird durch Ethans gelähmte Frau Karen, die über empathische Fähigkeiten verfügt, entlarvt: Sie kann Miriams Erinnerungen lesen. Bloß weg hier, denkt Miriam. Doch bevor es dazu kommen kann, dass Ethan die Autoschlüssel herausrückt, zwingt der Killer Jade Miriam zu einem drastischen Schritt….

Die Entscheidung

Miriam findet: Eigentlich ist es ja jetzt an der Zeit, sich zu verdünnisieren und alles hinter sich zu lassen. Doch Gabby widerspricht. Diese Gelegenheit sei endgültig vorüber: Miriam und sie selbst seien nun in das Schicksal der Miliz – die ja einen Anschlag plant -, von Mary Stitch und dem Jungen Isaiah verstrickt. Denn der Junge soll ja, wie hinlänglich bekannt, ebenfalls umgelegt werden.

Da ist was dran, gibt Miriam zu. Aber können zwei junge Frauen es wirklich mit einer Miliz, den Cops und der weiterhin unauffindbaren Mary Stitch aufnehmen? Nur eines ist sicher: Der Sturm wird kommen…

Mein Eindruck

In diesem wie ein Comic erzählten Roman geht es vordergründig um Schicksal und dessen Überlistung. Leben und Tod – das sind nur Folgen des Schicksals, das jeder in uns trägt, als wäre es Vorbestimmung. Die Kritik an der Vorstellung der Vorbestimmtheit des Lebensweges, wie sie fundamentalistische Christen in den USA allenthalben hegen, ist eines der Merkmale dieser recht unterhaltsam erzählten Geschichte.

Miriam wird durch ihre Gabe/ihren Fluch immer wieder mit der Nase darauf gestoßen, dass das Ende unabänderlich vorbestimmt sei. So als habe Gott es in einem sehr großen Buch vorher festgelegt. Da sie selbst ihr eigenes Ende nicht offenbart bekommt, wird dem Leser nach einer Weile klar, dass sie bislang auf ihren Tod hingearbeitet hat. Doch sie ist mehrfach für andere eingetreten, so etwa für Gabby und Isaiah. Denkt sie wirklich, dass sie den Tod überlisten kann? Dass sie den Angriff auf das Gerichtsgebäude in Phoenix vereiteln kann?

Die Begabten

Miriam stößt bei der Miliz auf andere Begabte. Einer ist ein lebender Lügendetektor, ein Mädchen erzeugt sexuelles Verlangen, doch am stärksten ist Karen Key, die hirngeschädigte Frau des Chefs Ethan: Sie liest Miriams Erinnerungen, und die erweisen sich als ganz besonders lecker. Bittere Ironie: Erst die Erinnerungen an ihre Vision von dem Sturm aufs Gerichtsgebäude bringen Karen und Ethan auf die Idee, das Gerichtsgebäude stürmen zu wollen. Ist das nun eine selbsterfüllende Prophezeiung oder was, fragt sich Miriam verbittert.

Schwarze Ironie

Weitere Enttäuschungen warten auf sie. Mary Stitch alias Mary Scissors erweist sich keineswegs als Helferin, sondern als Parteigängerin von Ethan Key. Und auch Isaiah, den Gabby in Sicherheit gebracht hat, taucht wieder im Camp auf. Niederlage auf der ganzen Linie, denkt Miriam. Doch Gott ist ein Joker, und was wie eine Niederlage aussieht, erweist sich als sein letzter Trumpf. Dem Tode nahe, erwirbt Miriam zudem eine neue Fähigkeit: Sie kann die zahlreichen Vögel, die in der Arizona-Wüste leben, mit ihrem Willen lenken. Ist das nun Hitchcock, oder was, fragt sich Miriam. Aber klar doch: das Feinste vom Meister…

Unterm Strich

Das Leben im modernen Amerika, vom Tode her betrachtet, – so könnte man die Abenteuer von Miriam Black (nomen est omen) bezeichnen. Doch wie bieder und spießig wäre die Annahme die Annahme, dass der Tod eine Gefahr und ein Risiko darstellt. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Der Tod ist eine Chance, denn das Wechseln vom lebenden in den weniger lebendigen Zustand ist auch eine Art Tor. Wer hindurchgeht, gelangt in einen anderen Bewusstseinszustand – und erlangt womöglich eine weitere spirituelle Fähigkeit.

So ist es Miriam bereits zu Anfang ihres verschlungenen Werdegangs ergangen. Es ist vielleicht ein Frage der Identität, ähnlich wie Jason Bourne (der auch nicht weiß, wer er in Wahrheit ist). Wer nicht an seinem eh schon vergessenen Ego festhält, kann andere Identitäten erlangen bzw. daran teilhaben. So ergeht es beispielsweise Miriam auf einem weiteren Fluchtversuch, als sie mitten in der Wüste zusammenbricht.

First Nations

Wo die Trennwand zwischen Leben und Tod brüchig und durchlässig wird, findet Verwandlung statt. Diesmal verstreut sich ihr Bewusstsein in das von vielen Vögeln. Der Buchtitel ist ein Hinweis darauf, was als nächstes geschieht: Nicht der Himmel bringt den Donner über die Menschen, sondern Miriam und ihre gefiederten Freunde… Das mag so manchem Leser von indianischen Mythen recht vertraut vorkommen. Tatsächlich tritt eine Stammesangehörige der Tohono auf, und es werden die Ersten Nationen der Navajo, Hopi und Apachen genannt. Der Tankstellenwart, der Miriam zu ihrem Motel fährt, ist ein Apache, und er wirbt sich unseren tiefen Respekt, indem er der Folter widersteht, um Miriam nicht zu verraten.

Grenzwärtig

Arizona kommt ansonsten nicht gut weg. In den Subtext der Nebensätze sind zahlreiche massive Kritikpunkte versteckt, so etwa die erzrepublikanische, korrupte Scheinheiligkeit der Politiker, die frauenfeindlichen Gesetze – und die zahlreichen Anti-Regierungsmilizen. Zudem ist Arizona Grenzland zu Mexiko : Hier tauchen zahlreiche Drogentypen auf, die unter dem Grenzzaun durchgeschlüpft sind und sich nun im Territorium der Milizen breitmachen wollen.

Zeitgleich tauchen mit den „Shadow Wolves“ Regierungsschnüffler auf, die undercover sowohl Milizen als auch Drogenhändler dingfest machen wollen. So viele Konflikte auf einem Haufen findet man selten – und Miriam stolpert ahnungslos mitten hinein. Das gibt dem Autor Gelegenheit zu unzähligen unerfreulichen Wendungen, die er dem Schicksal seiner Heldin verleihen kann. Das dürfte dem pessimistisch veranlagten Leser bzw. der Leserin großes Vergnügen bereiten.

Sprache und Zielgruppe

Das Buch ist im Verlag „Simon and Schuster“ erschienen und nicht mehr bei „Angry Robot, bei dem wirklich deftige Literaturware verlegt wird. Solange sich der Leser nicht von der Gossensprache und dem F-Wort irritieren lässt, kann er ein durchdachtes Horrorgarn genießen. Die Qualität der Gossensprache ist gar nicht mal so schlimm, wenn man als Sprachkenner weiß, dass in den USA eine viel härtere Ausdrucksweise in der Umgangssprache gepflegt wird als hierzulande. Und die Ironie ist wie immer bitter, schwarz und ohne Zucker.

Auf jeden Fall dürfte sich die Jugend von heute, die vom Internet direkt in US-Englisch informiert wird, viel mehr angesprochen fühlen als der Angehörige einer älteren Generation. Das trifft auf beide Geschlechter zu. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass junge Frauen, etwa in der Goth-Szene, zartfühlender seien als Männer ihrer Altersgruppe. Die ultrakurzen Kapitel sind maximal 5-6 Seiten lang und stets mit einer ironischen Überschrift versehen. Das verleitet sozusagen, „noch kurz mal“ das nächste Kapitelchen zu verschlingen – das natürlich mit einem Cliffhanger endet.

Hinweis

Meiner Paperback-Ausgabe ist eine Leseprobe aus dem Folgeband „The Raptor & the Wren“ beigefügt. Die Story fängt schon mit einigen schrägen Charakteren an, die so morbide wie bei Wendig gewohnt auftreten. Ach ja, und natürlich liegt da schon wieder eine Leiche rum…

Ach ja: Mary Stitch hat doch noch ihr Wort gehalten. Sie gibt Miriam ein Rezept, wie sie ihren Fluch loswerden kann. Doch die Methode widerspricht allem, was Miriam bislang in ihrem Leben erfahren hat: Sie soll neues Leben erschaffen…

Paperback: 322 Seiten + Leseprobe
Originaltitel: Thunderbird
ISBN-13: 9781481448727

www.simonandschuster.com

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