Cixin Liu – Spiegel. SF-Novelle

Der fatalistische Allwissende

China in der nahen Zukunft. Der junge, ehrgeizige Beamte Song Cheng stößt auf einen gewaltigen Korruptionsskandal. Doch plötzlich wird er selbst ins Gefängnis geworfen. Dort taucht ein geheimnisvoller Mann mit einem Supercomputer auf, der ebenfalls verfolgt wird – weil er alles weiß. Einfach alles. Wie kann das sein? Und welche Konsequenzen hat das? (Verlagsinfo)

Die Novelle wurde 2004 in China mit dem Galaxy Award als beste Erzählung des Jahres ausgezeichnet.

Der Autor

Liu Cixin (* 23. Juni 1963) ist ein chinesischer Science-Fiction-Autor. „Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten und produktivsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Seine Romane wurden bereits acht Mal mit dem Galaxy Award prämiert.“ (Amazon.de) Lius Werk wird als Hard Science Fiction angesehen, und die Trisolaris-Romane werden demnächst verfilmt.

Liu absolvierte eine Technikerausbildung an der North China University of Water Conservancy and Electric Power und arbeitete als Computertechniker für ein Kraftwerk in einem abgelegenen Dorf in der Provinz Shanxi.

Lius berühmtestes Werk, „Die drei Sonnen“, wurde 2006/07 veröffentlicht. Westlichen Lesern wurde es durch die englische Übersetzung von Ken Liu bekannt, die im November 2014 bei Tor Books erschien und 2015 – als erster Roman eines chinesischen Autors – den Hugo Award für den besten Roman 2015 erhielt. Der Kurd-Laßwitz-Preis 2017 folgte für „Die drei Sonnen“ in der Kategorie „Bestes ausländisches Werk“. 2018 sollte die Verfilmung des o.g. Werks unter Regie von Zhang Fanfan in die Kinos kommen.

Der Zyklus „Die drei Sonnen“ (Trisolaris)

1) The Three-Body Problem (2006/2014, dt. 2016 als „Die drei Sonnen“)
2) The Dark Forest (2015, dt. als „Der dunkle Wald“ 2018)
3) Death’s End (2016, dt. als „Jenseits der Zeit“ 2019)

Handlung

Schattenjagd

Der Kommandant der Partei hat seinen Polizeioberkommissar Chen Xufeng einbestellt. Schon mal kein gutes Zeichen, denkt Chen und hofft, dass der Kommandant ihn nicht ansehen wird. Der Fall, mit dem er betraut ist, ist rätselhaft: Der Gesuchte, ein gewisser Bai Bing, ist seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus, so als ob er stets wüsste, wo sie sich befänden.

Und jetzt foppt er sie auch noch, indem er den Kommandanten anruft, um ihm zu sagen, wo sich Chens Feuerzeug befindet. Es ist nicht irgendein ein Zippo, sondern eines ausländischer Herkunft im Wert von mehr als 5000 Euro. Der Kommissar scheint sich mit seinen ausländischen Kontakten wirklich gut zu verstehen. Der Kommandant sieht Gefahr im Verzug. Er schaut den Polizeikommissar scharf an.

Unerwarteter Besuch

Song Cheng ist vom Kommandanten ausgesandt worden, den Sumpf der Korruption in der Stadt auszuloten. Song ist ein Idealist und fühlt sich der Partei verpflichtet. Sein Freund Lü Wenming hat ihm geholfen, diese hohe Position in der Partei erklimmen, nun darf er sich endlich erkenntlich zeigen. Leider hat ihn das letztendlich in den Knast der Partei gebracht. Wie konnte das nur geschehen? Es gibt nur eine Antwort: Song war zu erfolgreich. Er muss jemandem übel auf die Zehen getreten sein.

Song wird gerade von seinen Mithäftlingen gedemütigt, damit die Hackordnung in der Zelle klar ist, da geht die Tür auf und er wird herausgeholt. Das kann nur eines bedeuten: Verhör! Doch es ist „nur“ ein Besucher, der ihn erwartet, und er hat einen Laptop dabei. Der Fremde nennt sich Bai Bing, „nur ein gewöhnlicher Kerl“, wirkt müde und lädt Song ein, sich ein Programm anzusehen, das er geschrieben habe. Es handle sich um eine Simulation des Universums. Interessant, aber unglaubwürdig, findet Song.

Der Spiegel

Der Fremde nennt die kosmische Simulation den „Spiegel“, denn auf der Grundlage gewisser physikalischer Theorien sei es ihm gelungen, das Universum vom Urknall bis jetzt zu modellieren und so die Vergangenheit und Gegenwart abzubilden bzw. zu spiegeln. Der Knackpunkt: Die Realität und der Spiegel stimmen hundertprozentig miteinander überein. Sehr hübsch. Und die Anwendung, fragt Song. Die Anwendung ist eine Suchmaschine von bis dato unvorstellbarer Reichweite und Genauigkeit, die sogar Personen durch ihr ganzes Leben hindurch verfolgen kann – und natürlich an jeden erdenklichen Ort.

Zugriff

Man könnte damit Gott spielen, wenn es ihn gäbe, meint Song. Findet Bai Bing auch. Doch leider hilft ihm dies rein gar nichts, um seinen Häschern zu entgehen: Er kann die Zukunft nicht abbilden. Aber weiß, dass Song unschuldig ist – und zeigt ihm die gestellte Falle. Da treten sie auch schon: der Oberkommissar Chen Xufeng und der Kommandant. Die Fortsetzung des Gesprächs findet in den Räumen des Kommandanten statt, denn die Sache mit der Allwissenheit ist viel zu wichtig, als dass man sie der Polizei überlassen könnte. Doch das Gespräch nimmt einen unerwarteten Verlauf…

Mein Eindruck

Die Grundfrage lautet: Lässt sich die Korruption, die sich z.B. an Oberkommissar Chens ausländischem Luxus-Feuerzeug manifestiert, durch Allwissenheit zurückdrängen und schlussendlich besiegen? Und wäre dieser Sieg eine gute oder eine schlechte Sache? Auf Seite 104/05 gibt Bai Bing schließlich Song die entscheidende Antwort: Ja, es wäre möglich, aber nicht wünschenswert.

Denn der Einsatz des „Spiegel“-Programms bei Polizei und Justiz würde den Überwachungsstaat erzeugen, den George Orwells schon 1948 in seinem Roman „1984“ in allen Einzelheiten vorhergesagt hat. Aber da nur noch die obersten Prinzipien der Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrheitstreue über das Zusammenleben herrschen würden, würden zuerst alle Kunstformen erlöschen, die ja Fiktionen erzeugen, dann würden alle nach Gewinn strebenden Bemühungen eingestellt werden. Es gäbe keinen Handel mehr, keinen Kapitalismus. Und das schon nach rund 600 Jahren.

Aber das ist nicht der Clou der Novelle. Das ist vielmehr der „Spiegel“ selbst. Denn durch die Allwissenheit fallen Beobachter und Beobachteter in eins zusammen: Das ist mit den Prinzipien der Quantenmechanik, die Einsteins Relativitätstheorie ergänzen, durchaus vereinbar. Die Folge sind allerdings jede Menge ethische Fragen. In Richard Laymons Roman „Der Gast“ erlangt beispielsweise der Protagonist auf magische Weise die Fähigkeit, durch die Augen anderer Menschen zu sehen. „Being John Malkovich“ beruht auf dieser Idee. Doch war der „Gast“ auf diese Weise sieht, ist purer Horror.

Nun, mit Horror hat es Cixin Liu nicht so, sondern mehr mit luziden, aber grandiosen Ideen und Weltentwürfen (z.B. in der Novelle „Die wandernde Erde“, die ebenfalls mit einem GALAXY Award ausgezeichnet wurde). Vielmehr lässt er seine Geschichte eine gute Wendung nehmen. Song kommt ebenso frei wie Bai Bing, Chen nimmt sich das Leben und der Kommandant, der all dies zu verantworten hat? Das darf hier nicht verraten werden. Aber er lässt sich vorsorglich schon mal eine Pistole geben…

Anhänge

A) Anmerkungen

In den Endnoten zum Primärtext erläutert der Übersetzer Marc Hermann unbekannte Namen, verrechnet Währungen und erklärt Fachbegriffe wie die Superstringtheorie. Ein sehr hilfreicher Beitrag also. Einziges Manko: Weil es keine Hochzahlen zu einer solchen Endnote gibt, braucht der Leser einen sechsten Sinn dafür, ob es eine Endnote gibt.

B) Nachwort

Sebastian Pirling erläutert den SF-Ansatz des Autors und erklärt die raffinierte Erzählweise und Aussage des Primärtextes. Das ist ein echter Augenöffner, denn so erweist sich etwa, dass die erzählte Realität mit der des „Spiegels“ identisch ist. Das hat mehrere Konsequenzen, die sehr aufschlussreich sind. Dass das Textthema „Korruption vs. Allwissenheit“, weiß der Leser schon, aber hat nicht erwartet, dass er dem „Bösen“ seinen Platz in der Evolution einräumt (siehe auch Goethes „Faust“). Bai Bing simuliert die Abschaffung von gesellschaftsfeindlichen Impulsen; die Folge ist der soziale Stillstand auf allen Ebenen binnen 600 Jahren. Pirling setzt sich mit den Denkanstößen des Autors auseinander.

C) Leseprobe aus „Die drei Sonnen“ (Trisolaris 1)

D) Leseprobe aus „Der dunkle Wald“ (Trisolaris 2)

Die Übersetzung

Die Direktübersetzung aus dem Chinesischen ist Marc Hermann sehr gut gelungen. Sie ist verständlich und flott zu lesen. Dass „Gefahr im Anzug“ (S. 15) sei, liest man selten. Gebräuchlicher ist die Formulierung „Gefahr im Verzug“ – das ist sogar ein Filmtitel.

S. 103: „..so dass der Blick nun in ein Zimmer im Innern einer (!) der würfelförmigen Gebäude fällt.“ Da das Gebäude ein Neutrum ist, muss auch sein Genitiv sächlich sein: „eines der (…) Gebäude“ wäre m.E. die korrekte Form.

Unterm Strich

Ich habe diese Novelle in der Mittagspause gelesen. Sie ist leicht verständlich, aber dennoch recht geschickt erzählt, so dass eine gewisse Spannung entsteht. Wer Ironie finden möchte, wird sicherlich fündig werden, so etwa in der Tatsache, dass Song sein Bestes tut, aber genau dies nicht erwünscht ist. Oder in dem Umstand, dass Bai Bing zwar mit seinem Spiegel-Programm alles wissen kann, aber davon so müde und matt geworden ist, dass er sich schließlich fangen lässt. Da er die Zukunft nicht kennt, kann er sie auch nicht ändern (dies ändert der Autor im Epilog). Somit stellt sich ein erschöpfender Fatalismus ein: Was geschehen muss, wird geschehen.

Philosophen können sich ob dieser Ironien königlich amüsieren, aber die für den praktisch denkenden Leser spannendere Frage lautet, ob Song und Bai die Begegnung mit dem Kommandanten und dem Oberkommissar überleben werden. Pistolen werden gezückt – und wieder weggesteckt. Der Kommandant hält nun das Gegenstück zum Einen Ring der Macht in Händen – was wird er damit anfangen? Wird er sich zum Herrscher des Universums oder wenigstens des Reiches der Mitte (= Mittelerde) aufschwingen? Wie das ausgeht, darf hier nicht verraten werden.

Die Anmerkungen sind sehr nützlich, das Nachwort sollte man erst lange nach der Novelle lesen: Es verrät zuviel. Dann aber bietet es einen reizvollen Einblick in die raffinierte Konstruktion der Novelle auf literarischer und inhaltlicher Ebene. Die beiden Leseproben, die mit immerhin 45 Seiten fast ein Viertel des Umfangs ausmachen, sind Appetithappen, die hungrig machen sollen. Der Abschlussband der Trisolaris-Trilogie erscheint im April 2019. Alles in allem entfallen rund 45 Prozent des Gesamtumfangs auf Anhänge und Leseproben. Vielleicht ist man mit dem E-Book besser dran.

Zielgruppe

Für eine Mittagslektüre an gut geschriebener Ideen-SF bietet „Spiegel“ ausgezeichnete und kurzweilige Lektüre für den mitdenkenden Leser. Emotionen spielen – wie bei diesem Autor schon gewohnt – kaum eine Rolle, und Frauen tauchen überhaupt nicht auf. Das bedeutet nicht, dass der Autor das weibliche Geschlecht verachte, sind vielmehr, dass er ihre Rolle auf einer anderen Ebene sieht. Das belegt beispielsweise der schöne Text „Die wandernde Erde2 im gleichnamigen Erzählband. Der wurde sogar verfilmt, und dort treten Frauen in zentralen Rollen auf – ebenso wie in „Die drei Sonnen“.

Man muss übrigens kein Physiker sein, um die Novelle oder das Nachwort verstehen zu können. Aber ein wenig Grundwissen über Einstein und was danach kam, wäre sicherlich hilfreich.

Taschenbuch: 189 Seiten
Originaltitel: Jingzi, 2004
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann
ISBN-13: 9783453319127

www.heyne.de

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