‚LOST‘ reloaded: Gestrandet in der Patchwork-Zeit
Es ist das Jahr 2037, als das Raum-Zeit-Kontinuum auseinanderbricht und auf bizarre Weise wieder zusammengefügt wird. Man kann vom All aus sogar die Nahtstellen erkennen: grüne Zonen in der Sahara und Gletscher über Paris. Die Erde zerfällt dabei in unterschiedlichste Zeitzonen: Während es in einem Landstrich noch 2037 ist, ist es im benachbarten erst 1885. Diese Zonen reichen zwei Millionen Jahre zurück – so lange, wie es die ersten Menschen gab. Doch welche Macht ist imstande, eine derart gewaltige Veränderung zu bewirken? Und was haben die silbernen Schwebekugeln zu bedeuten, die überall Menschengruppen zu beobachten scheinen?
„Time’s Eye“, so der Originaltitel, ist der Auftakt zu einer Serie, die mit dem Roman „Sonnensturm“ fortgesetzt wird, der im März 2006 bei Heyne erschienen ist. Der Abschlussband der Trilogie trägt den Titel „Wächter„.
Die Autoren
Arthur C. Clarke, geboren 1917 in England, lebt seit den fünfziger Jahren in Sri Lanka. Seine besten und bekanntesten Werke sind „Die letzte Generation“ (Childhood’s End) und „2001 – Odyssee im Weltraum“. Ebenfalls empfehlenswert ist der Startband des RAMA-Zyklus: „Rendezvous mit 31/149“ (Rendezvous with Rama), von dem Morgan Freemans Filmproduktionsfirma seit Jahren eine Verfilmung vorbereitet. Übrigens erfand der Ingenieur Clarke schon 1947 das Konzept eines künstlichen Satelliten.
Sein Landsmann Stephen Baxter, geboren 1957, wuchs in Liverpool auf, studierte Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Mittlerweile zählt er zu den bedeutendsten Autoren naturwissenschaftlich-technisch orientierter Science´-Fiction. Baxter lebt und arbeitet in der englischen Grafschaft Buckinghamshire.
Seine Bücher werden häufig mit den Pionierwerken von Heinlein und Asimov verglichen. Das ist auch ganz in Ordnung, doch hat er keine Sympathien für Heinleins militaristische und libertäre Tendenzen und dessen Neigung zu dozieren. Ich sehe ihn daher vielmehr in der Nähe zu einem anderen Superstar des Genres: zu eben jenem Arthur C. Clarke. Mit ihm kooperierte Baxter schon mehrmals, so etwa in „Das Licht ferner Tage“. In dieser Tradition popularisiert Baxter Ideen der Science-Fiction und der Naturwissenschaft. Hierzu gehört wohl auch seine Roman-Trilogie über Mammuts und ein Roman mit dem selbsterklärenden Titel „Evolution„.
Aber Baxter war zu Beginn seiner Autorenlaufbahn auch richtig anspruchsvoll. Sein mehrbändiger XEELEE-Zyklus stellt eine eigene Future-History dar, in der eine Galaxien umspannende Alienkultur, die Xeelee, mit den Menschen in Kontakt tritt. Sie treten in „Exultant“ wieder auf, dem zweiten Band seiner Trilogie „Destiny’s Children“.
Handlung
Anno 2037
Als Bisesa Dutt, geboren in Merry Old England, an diesem Juni-Tag des Jahres 2037 mit dem UN-Helikopter aufstieg, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie in einer anderen Zeit wieder herunterkommen würde – und niemals wieder zurückkommen könnte. Die Vereinten Nationen überwachen des Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan genau, ganz besonders, seit die indische Stadt Lahore in Kashmir von einem Atomschlag eingeäschert worden ist. Bisesa steigt mit ihren zwei Piloten zu einem Erkundungsflug auf: Casey Othic, ein Yankee, und Abdikadir, ein afghanischer Paschtune.
Anno 1885
Im März des Jahres 1885 überwachen noch britische Soldaten ihrer kaiserlichen Majestät Victoria das Grenzgebiet zwischen dem indischen Territorium und Afghanistan, in Erwartung einer russisch-zaristischen Invasion. Aus diesem Spannungsgebiet berichten zwei Journalisten: der junge Amerikaner Josh White vom „Boston Globe“ und der 19-jährige Rudyard „Ruddy“ Kipling für eine lokale Gazette. Zu diesem Zeitpunkt ist Kipling noch weit davon entfernt, den Literaturnobelpreis verliehen zu bekommen.
Anno 2037
In einem Hochtal beschießt ein ehrgeiziger Junge des Jahres 2037 Bisesas Helikopter mit einem Raktenewerfer. Wegen einer Störung seiner Instrumente reagiert Casey zu spät, die Rakete beschädigt den Heckrotor, eine Notlandung verläuft glimpflich. Sofort werden die drei UNO-Soldaten von den Briten in Empfang genommen. Die Verwirrung aufgrund dieser Begegnung ist beträchtlich, und Bisesa braucht einige Tage, bevor sie die bizarre Realität ihrer Lage begreift.
Anno Mir 1
Doch dies ist keine einfache Verschiebung von einer Zeit in eine andere. Die Anwesenheit eines Affemenschen – eine Mutter mit ihrem Jungen – bestätigt eine andere Theorie. Mehrere Zeitzonen wurden von einer unbekannten Macht wie Tortenstücke auseinandergepflückt und neu zusammengesetzt: eine Patchwork-Welt aus Zeitflicken ist die Folge.
Casey ist froh, als er aus dem Funkgerät Stimmen einfängt, die aus seiner eigenen Zeit stammen: Die Besatzung einer Sojus-Kapsel war gerade dabei, die Rückkehr zur Erde anzutreten, als die Veränderung eintrat. Da ihre Raumstation verschwunden ist und es auf der Erde niemanden sonst gibt, der sie noch empfängt, landen die Kosmonauten im Hindukusch nahe Caseys Standort. Die Bilder, die die Sojus-Leute geschickt haben, lassen Caseys Team, die neugierigen Reporter und den Festungskommandanten einen Blick auf eine radikal veränderte Erde werfen. Die russischen Kosmonauten nennen sie „Mir“: Das bedeutet Welt, aber auch Frieden.
Hauptmann Groves Späher haben im Indus-Tal Gefangene gemacht. Diese fremden Krieger haben noch nie ein Gewehr gesehen und wehrten sich mit Schwert und Speer. Und wer führt ihre Armee an? Ein Mann namens Alexander. Doch nicht etwa der Alexander, der vor rund 2300 Jahren durch diese Region zog, um Indien zu erobern, oder? Wenn das wahr ist, dann haben es Grove und Bisesas Team mit einem übermächtigen Gegner zu tun. Aber können sie den Feldherrn aus Mazedonien nicht auch zu ihrem Verbündeten machen?
Mein Eindruck
Im „Hinweis der Autoren“ steht, das Buch solle weder als Nachfolger noch als Vorgänger der „Odyssee“-Reihe von Arthur C. Clarke verstanden werden. „Es steht vielmehr sozusagen ‚im rechten Winkel‘ zu ihnen – indem es ähnliche Vorgaben in einer anderen Richtung weiterführt.“
Dieser Hinweis ist durchaus notwendig, denn die Vorgaben sind verblüffend ähnlich. Wie in „2001 – Odyssee im Weltraum“ tauchen Alien-Artefakte auf, die sich wie die ominösen Monolithen in die Geschicke der Menschheit einmischen. Auch diesmal geht es wieder um die Intelligenz der Menschenwesen, doch wird sie offenbar nicht „geliftet“ wie beim Übergang vom Menschenaffen zum Affenmenschen (oder wie bei David Brin), sondern vielmehr analysiert und getestet.
Die Arena
Der Test ist äußerst brutal und tiefgreifend: Die Aliens nehmen mehrere „Kuchenstücke“ aus den Erdzeitaltern der Erde und setzen sie neu zusammen. Die neue Patchwork-Erde nennen die „Modernen“ um Bisesa einfach russisch „Mir“. Das bedeutet sowohl Welt als auch Friede. Mir jedenfalls scheint ironischerweise aber nur zu einem Zweck geschaffen worden zu sein: um die Heere von Alexander dem Großen und jenem unter Dschingis Khan aufeinandertreffen zu lassen.
Nach dem Motto „Einer wird gewinnen“ scheint eine gigantische Show abzulaufen, bei der die Alien-Augen in ihrer Allgegenwart den Spielstand beobachten. Die Menschen um Bisesa werden sich bewusst, dass Mir eine keineswegs friedliche Menschheit beherbergt. Die Entscheidungsschlacht ist gigantisch und wird en detail geschildert.
Aber sie ist nicht Bisesas „Ding“. Die in der Zeit Gestrandete ist auf Erkenntnis aus. Im Marduktempel zu Babylon, wo Alexander sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, findet sie das größte aller Augen vor: Es hat drei Meter Durchmesser. Hieran kann sie nach Herzenslust Untersuchungen anstellen und kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Das Auge ist ein Tor in eine andere Dimension. Es keimt neue Hoffnung in ihr auf.
Zeitnomaden?
Bisesa und Co., so könnte man meinen, sind Nachfahren von Michael Moorcocks „Zeitnomaden“, als da wären Colonel Oswald Bastable aus dem späten 19. Jahrhundert sowie diverse Agenten wie etwa Una Persson. Doch während diese Figuren einfach als Gäste durch die Zeiten hüpfen, verhält es sich bei Bisesa auf Mir umgekehrt: Verschiedene Zeiten sind zusammengelegt worden, so dass sich eine Reise über die Erde ebenfalls wie eine Zeitreise anfühlt, doch nirgends ist man Gast, sondern lediglich Gestrandeter, Fremder.
Das ist natürlich Teil des Alien-Experiments: Wie richtet sich eine dezimierte Menschheit unter radikal geänderten Bedingungen neu ein? Nun erweist sich, dass die „Modernen“ trotz all ihrer Technik kein Deut besser dastehen als die Mazedonier aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Im Gegenteil: Mit ihren demokratischen Ideen können sie überhaupt nichts bewegen, Alexander, der Gottkönig, aber schon. Er errichtet ein neues Imperium – so gut es eben geht.
Die Patchwork-Erde
Dass mit Clarke und Baxter zwei naturwissenschaftlich bewanderte Autoren an diesem Buch geschrieben haben (Clarke lieferte die Gliederung und Grundideen, Baxter besorgte das Fleisch auf den Knochen des Gerüsts), ist ein Glücksfall. Denn das verhindert, dass sich Mir als eine Wunscherfüllungsmaschine präsentiert, die nur den Zweck hat, als Bühne zu dienen, die keinen erschreckt.
Das realistisch geschilderte Gegenteil trifft jedoch zu. Mir hat sich so tiefgreifend geändert, dass sich der Erdkern ebenso gewandelt hat wie der Erdmantel und die -kruste. Folglich hat Mir das Magnetfeld verloren, und alle möglichen negativen Auswirkungen treten auf: Die Vögel verlieren die Orientierung, die harte kosmische Strahlung wird nicht mehr zu den Polen abgelenkt, sondern trifft die Erdoberfläche ungehindert und verursacht selbst bei braun gebrannten Mazedoniern eine Art „Sonnenbrand“. Offenbar ist auch die Ozonschicht den Bach runter. Die Wälder verdorren, die Wüste dringt vor.
Man kann es Bisesa wahrlich nicht verübeln, wenn sie sich auf diesem Chaosplaneten nicht wohlfühlt. Sie würde sogar ihren Geliebten Josh (einen der zwei Reporter) zurücklassen, um nach Hause ins Jahr 2037 zurückkehren zu können, zu ihrer Tochter Myra. Weil sie als Hauptfigur sehr deutlich charakterisiert wird, nehmen wir an ihrem Schicksal regen Anteil und können ihre Entscheidung verstehen. Wird sie es schaffen?
Die Viktorianer
Dass die Autoren Briten sind und sich somit in einer großen Science-Fiction-Tradition sehen, macht sich immer wieder dezent bemerkbar. [„Krieg der Welten“ 1475 ist heute in aller Munde, und H. G. Wells hat ein Muster geschaffen, dass sich immer wieder nutzen lässt: die Invasion der Aliens. Doch während Wells Sozialkritiker und darwinistischer Pessimist war, trat Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling als technikbegeisterter Optimist auf. „Ruddy“ (der Rötliche), wie er von seinen Kameraden neckisch genannt wird, macht sich immer wieder durch hoffnungsfrohe Monologe à la „welch tapfere neue Welt“ lächerlich. Doch wider Erwarten geht uns sein Tod sehr nahe, so als ob wir in ihm etwas Wichtiges verlieren würden.
Die Übersetzung
Es ist schon ein Kreuz mit deutschen Sprache, vor allem dann, wenn sie von der englischen so verschieden ist. Aber das braucht einen Übersetzer nicht zu verdrießen, denn schließlich gibt es ja viele Fremdwörter im Englischen, die man einfach so übernehmen kann. Zum Beispiel „Pharaoh“ auf Seite 311. Blöd nur, dass das H am Schluss im Deutschen ein wenig stört. Dort lässt man es nämlich weg.
Auch Pay-per-View ist so ein Idealfall. Braucht man nicht zu übersetzen, kennt eh jeder. Oder doch nicht? Dann wären „Bezahlfernsehen“ oder „Abo-TV“ vielleicht die bessere Lösung gewesen. Dann wäre da noch die Sache mit der Passion auf Seite 397. Sicher, „Passion“ könnte man stehen lassen, denn gleich daneben steht ja das hilfreiche Wörtchen „Christus“. Die meisten Leser kapieren dann, dass es sich bei der „Passion“ Christi wohl um seinen Leidensweg handeln dürfte – und nicht um irgendein Hobby, dem er leidenschaftlich frönt. Das bedeutet „Passion“ im Deutschen dummerweise auch.
Ob Schmerzensschreie nicht nur „entsetzlich“, sondern wie auf Seite 321 auch „grässlich“ sein können, darüber streiten sich die Sprachgelehrten und Stilexperten wohl noch in hundert Jahren. Man kann aber auch einen grässlichen Geschmack in Sachen Sprachgefühl haben. Hoffen wir, dass er nicht noch „entsetzlich“ wird.
Unterm Strich
Ich habe „Zeit-Odyssee“ wirklich gern und mit Vergnügen gelesen. Nicht nur, dass es eine spannende Entwicklung zu verfolgen gibt, die in einer Entscheidungsschlacht gipfelt. Es gibt auch jede Menge Humor und beißende Ironie zu genießen. Wenn sich eine der Kosmonauten an Dschingis Khan zwecks Schäferstündchen heranmacht, muss sie sich erst nach Mongolenart mit diversen stinkenden Materialien (die aufzuzählen sich meine Finger sträuben) einschmieren, bevor sie für den Großkhan „präsentabel“ genug ist.
Es gibt zahllose solche Episoden, aber auch ziemlich grausame Details, die einem zartbesaiteten Zeitgenossen auf den Magen schlagen können. Man schlage mal die Geschichte der Mongolen nach. Und Alexander war kein Deut besser, auch wenn die Geschichtsschreiber etwas anderes behaupten. Wenn der Leser hofft, mit Alexander ein Friedensreich errichten zu können, sollte er sich das nochmal überlegen. Die Autoren führen sehr realistisch klingende Beschreibungen ins Feld, warum man solchen Gottkönigen mit Vorsicht begegnen sollte.
Wie leicht ließe sich nun eine ganze Serie von Patchwork-Welten als Bühne für eine Endlosserie heranziehen. Dazu wird es aber wohl (und zum Glück) nicht kommen. Der nächste Roman aus der Schreibfabrik Baxter/Clarke trägt den Titel „Sonnensturm“ und scheint vom Kaliber Katastrophenroman zu sein.
Taschenbuch: 443 Seiten
Originaltitel: Time’s Eye, 2004
Aus dem Englischen übersetzt von Biggy Winter
ISBN-13: 9783453520370
www.heyne.de
Der Autor vergibt: