Matthias Claudius & Friedrich Hölderlin – Gedichte von Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin

Wunderbarer Vortrag, strittige Auswahl

Das Hörbuch enthält Aufnahmen aus dem Jahr 1955, in denen der Theaterschauspieler Mathias Wieman Gedichte von Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin vorträgt. Das beigefügte Booklet beschreibt die beiden deutschen Dichter und den Sprecher.

Die Autoren

A) Matthias Claudius

Der am 15.8.1740 im holländischen Reinfeld geborene und am 21.1.1815 in Hamburg gestorbene Claudius war kein unverbesserlicher Idylliker, sondern ein unruhiger Geist, ein Freund der Mächtigen, aber auch ihr unbestechlicher Kritiker. Nur vier Jahre lang, von 1771 bis 1775, redigierte er die Zeitschrift „Der Wandsbeker Bote“, aber der Name der Zeitschrift wurde zum Synonym für ihn selbst. Seine kleinen literarischen Kunststücke ließ er danach in acht Teilen bis 1812 erscheinen. Er hatte eine große Familie, mit der er, wie in allen Biografien betont wird, glücklich zusammenlebte. Auch das gab ihm die Kraft für seine Arbeit als Schriftsteller. (Verlagsinfo)

B) Friedrich Hölderlin

Das Leben des am 20. März 1770 – also 30 Jahre später – in Lauffen geborenen Friedrich Hölderlin verlief völlig anders. Nach dem Studium in Tübingen wurde er 1796 Hauslehrer beim Bankier Gontard in Homburg. Er schrieb Oden, Elegien und andere Gedichte in klassischen Versmaßen. Seine unruhige Zeit – Napoleon besiegte Preußen und Österreich und ordnete 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation völlig neu – kommentierte er in zahlreichen Gedichten.

Seine Liebe zur Bankiersgattin Susette Gontard, seiner „Diotima“, blieb unerfüllt, und spätestens ab 1806 lebte er, zumindest zeitweise, in geistiger Umnachtung. (Um diese Zeit reiste er nach Bordeaux und zurück.) Von Homburg aus, wo ihn sein Freund Isaak Sinclair fast rührend umsorgt hatte, wurde er in die Autenrithsche Klinik nach Tübingen gebracht und wohnte ab 1807 bei dem Schreinermeister Ernst Zimmer. (Im Hölderlin-Turm am Neckar ist heute ein entsprechendes Museum eingerichtet.) Er schrieb zwar weiter, aber seine Texte wurden immer rätselhafter. Er starb am 7. Juni 1843 in Tübingen im relativ hohen Alter von 73 Jahren.

Der Sprecher

Mathias Wieman, laut Verlag „einer der großen deutschen Schauspieler des vergangenen Jahrhunderts“, lernte im Jahrzehnt großer deutscher Schauspielkunst, den „goldenen 20er Theaterjahren“ Berlins, sein Handwerk, als er 1924, von einer Wanderbühne kommend, an das Deutsche Theater Max Reinhardts verpflichtet wurde. In Berlin hatte er große Vorbilder neben und um sich und vermochte es sehr bald, seine eigene unverwechselbare Interpretation umzusetzen. Seine besondere Vorliebe galt neben dem Film und der Bühne jedoch dem Vortrag dichterischer Werke, z. B. im Rundfunk. (Davon zeugt das Foto auf dem Rückumschlag des Hörbuchs.)

Er hat 1955 neben den literarischen Kleinodien von Matthias Claudius auch Gedichte von Friedrich Hölderlin gelesen. „Seine Interpretation macht deutlich, wie weit Hölderlin als Dichter seiner Zeit voraus war.“

Inhalte

A) Matthias Claudius

1) Der Mensch: Das Gedicht beschreibt den Lebensweg des Menschen von der Wiege bis zur Bahre.

2) Ein Wiegenlied, bei Mondschein zu singen: Ein kleinen Kind wird von seiner Mutter etwas vom Mond und so weiter vorgesungen – sehr melodiös.

3) Täglich zu singen: Der Text dankt Gott und dem Leben als eine Gnade. Witzig ist, dass der Autor dankbar dafür ist, weder ein König zu sein noch über materiellen Reichtum zu verfügen. Beide seien nur Bürden, die den Charakter verderben.

4) Rheinweinlied: Ein kundiges Lob des deutschen Weines. Doch der Kenner findet die Weine aus mitteldeutschen Landen nicht besonders gut, für ihn ist nur der Wein vom Rhein das Wahre. Kann man verstehen.

5) Von der Freundschaft: Der Autor fragt sich, wo die Freundschaft in seiner Zeit zu finden sei. Wie sieht sie aus – oder vielmehr: wie nicht? Dann beschreibt er, was wahre Freunde auszeichnet und gibt ihnen selbst guten Rat.

6) An Frau Rebecca, zur Silberhochzeit 1797: Der Autor lobt seine langjährige Gattin und dankt, abschließend erneuert er sein Liebes- und Ehegelöbnis.

7) Kriegslied: „’S ist Krieg! `S ist Krieg! O Gottes Engel wehre, und rede du darein! `S ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!“ Es waren raue Zeiten am Ende des 18. Jahrhunderts, und die Franzosen drängten 1796 mit Macht über den Rhein. Bemerkenswert ist an diesem Text, dass das lyrische Ich den Krieg sofort auf sich selbst bezieht, ganz so, als habe er eventuell eine Mitschuld am Ausbruch dieser Katastrophe. Der Trick dabei: Der Sprecher versetzt sich in die Lage eines Königs oder anderen Landesherrschers.

8) Auf den Tod der Kaiserin: Der Autor bringt ein Leben auf den Punkt: „Sie machte Frieden.“ Das ist alles, was man über die Kaiserin (Maria Theresia?) wissen muss.

9) An meinen Sohn Johannes: Ein sehr umfangreiches, 9 Minuten 30 Sekunden langes Gedicht. Der Autor nimmt darin als alter Mann Abschied von seinem Sohn Johannes und gibt ihm eine ganze Wagenladung voll guter Ratschläge auf den Lebensweg. Allerdings könnte man diese aus Erfahrung gewonnenen Ratschläge aufgrund ihrer Formulierung auch als Vorschriften auffassen …

10) Abendlied: „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen“ – wer kennt diese Anfangszeilen nicht? Das – erstaunlich lange – Gedicht wurde sogar in „Das Buch der Deutschen. Alles was man kennen muss“ (Lübbe Verlag) aufgenommen. Der Tonfall ist so einfach, dass auch ungebildete Menschen Inhalte daraus entnehmen können, die normalerweise nur Gebildeten bekannt sind. So soll es nach dem Willen des Autors der Volksbildung dienen. Leider wird es heute oftmals als weltfremde Idylle verkannt.

B) Friedrich Hölderlin

1) An die Parzen: „Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!, und einen Herbst zu reifem Gesange mir, dass williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe. (…) Einmal lebt’ ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.“ Der Dichter hat sich durch seine „heilige“ Kunst ein winziges Stück Unsterblichkeit verschafft.

2) Die Jugend: „Da ich ein Knabe war, rettet’ ein Gott mich oft vom Geschrei und der Rute der Menschen. Da spielt’ ich sicher und gut mit den Blumen des Hains, Und die Lüftchen des Himmels spielten mit mir. (…) Im Arme der Götter wuchs ich groß.“ Hier wird Hölderlins Liebe zur Natur offenbar und vielleicht klingt auch eine gewisse Naturphilosophie im Rahmen des Pantheismus an.

3) An Diotima: „Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen und der Jüngling Apoll, heilend, begeisternd wie du. (…) es schufen sich einst die Einsamen liebend nur von Göttern gekannt ihre geheimere Welt.“

4) Die Liebe: „Wenn ihr Freunde vergeßt, wenn ihr die Euern all, O ihr Dankbaren, sie, Euere Dichter, schmäht, Gott vergeb es, doch ehret nur die Seele der Liebenden. (…) Sprache der Liebenden sei die Sprache des Landes, ihre Seele der Laut des Volks!“ Die Liebe und ihre Sprache soll das zerrissene, unter dem Krieg der Franzosen leidende deutsche Volk heilen von Sorge und Not.

5) Der Friede: Der Dichter entwirft ein entsetzliches Bild des Krieges und der Schlacht, schreibt die Ursache der rächenden Nemesis zu („wer brachte den Fluch?“, „Strafst du die Toten noch?“) und sehnt sich nach dem Frieden, den „Mutter Erd“, der Sonnengott Helios und die Sterne, die „Heiligfreien“, schenken sollen.

Allerdings tauchen in der vorgelesenen Fassung weder Helios noch Sterne auf, denn drei Strophen fehlen. Der vorgelesene Text endet mit dem schönen Vers: „Komm du nun, du der heiligen Musen all und der Gestirne Liebling, verjüngender ersehnter Friede, komm und gib ein Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder.“

6) Andenken: „Geh aber nun und grüße die schöne Garonne und die Gärten von Bourdeaux [sic]…(…) zur Märzenzeit, wenn gleich ist Nacht und Tag, und über langsamen Stegen, von goldenen Träumen schwer, einwiegende Lüfte ziehen…. Es nehmet aber und gibt Gedächtnis die See, und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, was beleibet aber, stiften die Dichter.“

Wieder lobt der Autor die Dichtkunst, obwohl das Land an der Garonne alles tut, um ihn zum Schwelgen in materiellen Dingen zu verführen. Hölderlin war von Januar bis Juni 1802 in Bordeaux angestellt.

7) Brot und Wein: ein sehr langes Gedicht. Wieder einmal lobpreist der Dichter das antike Griechenland, wie er es aus der Studentenzeit kennt, doch diesmal erkennt er, dass die Götter woanders weilen als in der Welt, doch an der Erinnerung an sie und ihr Walten kann sich der heutige Mensch erbauen und zu einem Ideal streben. Doch „wozu Dichter in dürftiger Zeit?“

Am Schluss tritt Jesus, „der Syrier“, als Fackelschwinger in die Welt ein, und die mythischen Wesen wie ein Titan und Cerberus, der Wachhund der Unterwelt, legen sich schlafen. Mein Lieblingsvers: „So komm! dass wir das Offene schauen, daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“

Mein Eindruck

Keine Angst. Ich werde hier weder über Strophenformen noch Gedichtarten noch über Versmaße dozieren. Das haben meine Kollegen Literaturwissenschaftler schon für mich erledigt, und es hat sich für sie als ein ergiebiges Forschungsfeld erwiesen. Außerdem brauche ich mich nicht mit der Problematik der verschiedenen Fassungen – vor allem bei Hölderlin – zu beschäftigen, denn sie ist bei einem Hörbuch irrelevant. Wir haben es nur mit einer Fassung zu tun, und damit basta.

Interessanter ist da schon die Frage nach der Auswahl der Texte, die Wieman vorträgt. Es war bei Claudius klar, dass er das „Abendlied“ und vielleicht auch das „Kriegslied“ auswählt, aber die Wahl der übrigen war nicht so offensichtlich. Wie sich bei einem Vergleich mit der Hölderlinauswahl zeigt, weist jede Sequenz ein einziges sehr langes Gedicht auf. Bei Claudius ist es „An meinen Sohn Johannes“, bei Hölderlin ist es „Brot und Wein“. Der Vortrag dauert jeweils ungefähr zehn Minuten.

Was Wieman von Hölderlin herausgepickt hat, ist teils klassisch, teils abgelegen. In meiner Goldmann-Ausgabe taucht beispielsweise das Gedicht „An Diotima“ unter einem ganz anderen Titel auf. Es gibt so viele Diotima gewidmete Gedichte dieses Autors, dass dieses einfach mit dem Anfangsvers „Götter wandelten einst bei Menschen“ betitelt ist, um es besser unterscheiden zu können. Auch ein Gedicht mit dem Titel „Die Jugend“ suchte ich vergeblich. Auch dieses ist mit seinem Anfangsvers „Da ich ein Knabe war“ einsortiert.

Wenig sieht man hier vom patriotisch gesinnten Hölderlin, der sich „An die Deutschen“ wendet, über den Neckar (dieser fließt durch seine Heimatstadt Nürtingen, aus der auch Harald Schmidt stammt) und über Heidelberg schreibt. Die patriotische Emphase Hölderlins war wahrscheinlich im Jahr 1955, aus dem diese Aufnahme stammt, nicht besonders opportun. Man stritt damals sogar darüber, ob man wieder ein Heer aufstellen solle oder nicht. (Die Bundeswehr wurde 1956 gegründet.)

Was aber meiner Ansicht nach der Kardinalfehler dieser Hölderlin-Auswahl ist, besteht im Fehlen von Hölderlins mittlerweile berühmtestem Gedicht: „Hälfte des Lebens“. Danach wurde sogar die Verfilmung seines Lebens benannt. Ich habe das Gedicht, das zu meinen lyrischen Lieblingen zählt, deshalb an den Schlusses dieses Berichts gestellt.

Der Sprecher

Mathias Wieman trägt so ungemein deutlich und betont vor, dass es eine Freude ist, seinem Vortrag zu lauschen. Das genaue Zuhören ist besonders bei dem komplexen Versmaß und dem ungewöhnlichen Satzbau Hölderlins dringend notwendig. Doch Wieman holpert nicht eilig durch die Verse, sondern lässt jeden einzelnen für sich gelten, so wie es der jeweilige Dichter beabsichtigt hat. Die Wirkung ist die einer großen Gelassenheit, einer Souveränität über das gesprochene Wort.

Die Gelassenheit ist nicht mit Langsamkeit oder gar Lässigkeit zu verwechseln. Vielmehr variiert der Sprecher das Tempo, wie es ihm angemessen erscheint. An einer Stelle im Bordeaux-Gedicht Hölderlins verlangsamt sich das Tempo zwar in träumerischer Weise fast bis zum Stillstand, doch gleich darauf verfällt der Sprecher wieder in Trab, weil sich der Dichter mit einer Aufforderung an seine Hörer wendet. In den Liedern Claudius’ kommt es naturgemäß nie zu solchem Stillstand.

Auf diese Weise ergibt sich der Eindruck, dass Wieman seine Anteilnahme an den Inhalten der Gedichte und ihren Aussagen nie verhehlt, aber keinesfalls in Pathos verfällt, was eine lästige Übertreibung wäre. Schon häufig wurden Hölderlins Verse von Nationalisten missbraucht, denn er rief zu Frieden und Einigung auf. Doch in Wiemans Interpretation ist dieser Missbrauch ausgeschlossen.

Vielmehr stiftet Wieman mit seinem fein nuancierenden und pausenreichen Vortrag der komplizierten Hölderlinverse gerade dann Sinn, wenn dem Hörer dieser zu entgleiten droht. Die langen Verse, deren Satzbau umgestellt ist, verleiten dazu, den Überblick zu verlieren – der Sprecher stellt ihn wieder her. Dies ist natürlich seine eigene Interpretation, die vielleicht nichts mit der Absicht des Dichters zu tun hat. Aber sie ergibt ihren eigenen Sinn, und wie ich hören konnte, ist dieser durchaus nachvollziehbar. Wiedergabe von Lyrik ist stets auch Deutung, genau wie in der Musik. (Würde jeder Musiker ein Stück genauso interpretieren wie alle anderen, könnte man ja gleich Roboter dafür bauen.)

Die Aufnahme der CD erfolgte 1955 in Mono-Qualität und obendrein auch noch in einem schwach hallenden Studio. Diese Aufnahmequalität findet man heute nur noch bei blutigen Amateuren. Aber hier muss man sie hinnehmen. Immerhin ist sie durchaus erträglich und von Profis – eventuell beim Rundfunksender – gemacht worden. Das Copyright hält die WARNER Music Group Germany Holding GmbH.

Unterm Strich

Solange man nicht vergisst, dass es sich hierbei um eine subjektive Auswahl und eine subjektive Interpretation handelt, ist diese Sammlung von Gedichtvorträgen durchaus akzeptabel. Der Vortrag an sich ist sogar mehr als akzeptabel, sondern großartig und bewegend. Über die Auswahl lässt sich streiten, aber das ist ja immer so. Und ich habe das Nötige dazu oben gesagt.

Allerdings gibt es für den Hörer, der diese beiden Dichter nicht kennt, kaum Interpretationshilfen, denn die Angaben im Booklet sind hauptsächlich biografischer Natur. Und der Vortragende selbst ist kein Reich-Ranicki, der uns zwei der berühmtesten deutschen Dichter angemessen vorstellen könnte, wie er dies für Bertolt Brecht getan hat.

Für Hölderlinliebhaber ist der Vortrag Wiemans ein Fest – und für seine Experten wahrscheinlich Folter. Ich habe den Vortrag mit dem Text in meiner Ausgabe verglichen und musste besonders in „Brot und Wein“ eine Reihe von Abweichungen feststellen. Das macht mir aber nichts aus, denn ich bin nicht der Hohepriester des Hölderlinkults.

Hälfte des Lebens“ von Friedrich Hölderlin:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen*.
(*Wetterfahnen)

57 Minuten auf 1 CD