Dies ist erneut eine dieser Geschichten, die so abenteuerlich klingen, dass sie nur erfunden sein können. Doch es ist die reine Wahrheit: In den 1930er Jahren existierte in New York ein lockerer Verbund mehr oder weniger begabter, aber entschlossener Killer, die im Auftrag der großen Unterweltbosse unerwünschte Konkurrenten, Spitzel und Verräter aus dem Weg räumten. „Murder Inc.“ nannte man sich selbst mit gewissem Stolz, und selbstverständlich wurde dieser Name von der Presse dankbar aufgegriffen. In den etwa zehn Jahren ihres Bestehens war „Murder Inc.“ verantwortlich für den Tod mehrerer Dutzend Personen; die genaue Anzahl der Opfer konnte nie festgestellt werden – aus leicht nachvollziehbaren Gründen wurde kein Buch geführt …
Die Geschichte von „Murder Inc.“ wurde in der Vergangenheit schon mehrfach erzählt. Zu bizarr ist der Gedanke an eine organisierte Mördertruppe, einer Firma quasi, deren Mitglieder nach Dienstplan töteten, als dass sich nicht zahllose Legenden darum ranken würden. Auch Rick Cohen ist weniger an den nackten Fakten interessiert. Ihn fasziniert die Tatsache, dass in der „Murder Inc.“ fast ausschließlich Juden zusammenfanden.
Die Existenz einer jüdischen Mörderbande stellt ein unerwartetes Problem dar. Spätestens nach den Gräueln des „Dritten Reiches“ sieht die (schuldbewusste) Welt die Juden mehrheitlich in einer Opferrolle. „Böse Juden“ gibt es daher nicht, hat es nie gegeben, darf es nicht geben! Besonders in den USA, wo die Anhänger des „politisch Korrekten“ gern regelrechte Feldzüge gegen jene führen, die in ihren Augen ethnische, religiöse oder andere Minderheiten unterdrücken oder mindestens beleidigen, ist es nicht ungefährlich, sich diesem kollektiven Zwang entziehen zu wollen.
Nun ist Rich Cohen selbst Jude und damit über solche Kritik erhaben – sollte man meinen, aber wie er schlüssig darlegt, ist dem keineswegs so! Fakt ist, dass selbst den amerikanischen Juden die Existenz von „Murder Inc.“ großes Unbehagen bereitet. In den USA war die Mehrheit der Juden der Meinung, dass sie, die wegen ihres Glaubens in Europa verfolgt und in Amerika diskriminiert wurden, sich das Wohlwollen ihrer nichtjüdischen Nachbarn am besten durch Gesetzestreue und einen unauffälligen Lebensstil bewahren könnten. Doch „Murder Inc.“ ist der unwiderlegbare Beweis dafür, dass es Juden gab, für die Ruhe eben nicht die erste Bürgerpflicht war. Die vielleicht einzigen Juden, die wirklich emanzipiert waren im Amerika vor dem Zweiten Weltkrieg, waren ausgerechnet Berufsmörder – Juden, die sich nichts gefallen ließen.
So lässt sich leicht nachvollziehen, wieso Rich Cohen das Thema fasziniert hat. Er befragte während der Recherchen für dieses Buch zahlreiche jüdische Zeitgenossen der „Murder Inc.“ und machte dabei immer wieder die Erfahrung, dass diese das Wissen um die Existenz eines organisierten jüdischen Verbrechens schlichtweg abstritten. Dieses Leugnen objektiv historischer Fakten interessierte Cohen mindestens so sehr wie die eigentliche Geschichte der „Murder Inc.“, und zwischen diesen beiden Polen entwickelte er sein gleichnamiges Buch.
„Murder Inc.“ ist auf mehreren Ebenen provokant. Cohen entreißt nicht nur eine für viele Juden peinliche Episode ihrer Geschichte der Vergangenheit – er macht auch keinen Hehl aus seiner persönlichen Bewunderung für Männer wie Louis Lepke, Abe Reles, Pep Strauss oder Buggsy Goldstein. „Murder Inc.“ ist keine historische Darstellung; die Geschichte ist für Rich Cohen in erster Linie eine Kulisse, in der er die Requisiten nach seinen Vorstellungen, die mit der Realität nicht zwingend übereinstimmen müssen, auf- und umstellt. Immer wieder füllt Cohen blinde Flecken in der Chronologie der „Murder Inc.“ mit fiktivem Material auf, das sich spannend liest, ohne den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben zu können. Manchmal ist es schwierig, Wahrheit und Legende voneinander zu trennen, obgleich die Eckdaten natürlich stimmen.
„Murder Inc.“ ist schließlich eine weitere Etappe auf Rich Cohens Weg, sich seiner großen und nicht unkomplizierten Familie schreibend zu nähern. Seit Jahren schon beschäftigt er sich immer wieder mit dem Cohen-Clan, besonders aber mit seinem Vater Herbie, einem wahrlich farbigen Charakter, der es in New York auch ohne Mitwirkung seines Sohn zu Wohlstand und Prominenz gebracht hat. Herbie und seine Eltern lebten in Brooklyn und in einer Zeit, in der dort die großen Gangster das Sagen hatten, und obwohl sie sich der Unterwelt fern hielten, hat sie das nach Cohens Ansicht nachhaltig geprägt. In einem ausführlichen und sehr persönlichen Epilog, der in seinem Buch dem eigentlichen Ende der „Murder Inc.“ folgt, geht der Autor dem nach.
So beschreibt der Originaltitel „Harte Juden, Väter, Söhne und Gangsterträume“ Cohens eigentümliche Mischung aus Wahrem, Erfundenem und Reflektiertem wesentlich treffender als der dümmliche deutsche Untertitel „Nicht ganz koschere Geschäfte in Brooklyn“. Auch hierzulande scheint es heute nicht opportun (oder verkaufsförderlich) zu sein, die Worte „Jude“ oder „jüdisch“ im Titel eines Werkes erscheinen zu lassen, das kein Sachbuch ist und wissenschaftlichen Anspruch erheben kann. Das ist schade, denn „Murder Inc.“ wurde ansonsten hervorragend übersetzt; der Autor bestätigt es selbst und dankt Bernhard Robben im Nachwort für seine „wunderbare“ Arbeit.
Ergänzt wird der Text durch eine Reihe gut ausgesuchter Bilder, die ihrerseits noch einmal bestätigen, was Cohen im Laufe seiner Nachforschungen klar geworden ist: Zwischen den Gangstern der „Murder Inc.“, seinem Großvater, Vater und dessen zahlreichen Freunden gibt es im Grunde keine echten Unterschiede. Ein kleiner Anstoß hätte womöglich genügt, einen der männlichen Cohens in die Reihen der jüdischen Banden zu bringen – und auf den schmutzigen Boden eines Frisörsalons oder einer düsteren Bar, wo viele endeten, die sich auf diese einträgliche, aber in der Regel kurze Laufbahn begaben.