Bernard Cornwell – Die Galgenfrist

Im Jahre 1817 beauftragt der englische Innenminister einen ehemaligen Offizier, ein wegen Mordes verhängtes Todesurteil zu überprüfen. Zum Unwillen der Justiz entdeckt dieser, dass die Beweise gefälscht wurden und der angebliche Täter unschuldig ist … – Gelungener Historienkrimi, der sich geschickt der zeitgenössischen Rechtsprechung bedient. Das alte London und seine pittoresken Bewohner nehmen vor dem Leser Gestalt an, ohne um der Unterhaltung willen in historische Zerrbilder verwandelt zu werden: ein durchweg empfehlenswertes Lektürevergnügen.

Das geschieht:

London 1817: Noch vor einem Jahr war er Rider Sandman ein Offizier und Gentleman aus gutem Londoner Haus. Doch dann machte sein Vater betrügerischen Bankrott und schoss sich eine Kugel durch den Kopf. Um der Ehre willen übernahm Sohn Rider die Schulden; die Schande bekam er gratis. Seitdem ist er persona non grata in den feinen Kreisen. Seine Verlobung wurde gelöst, er haust in einer billigen Absteige und verdient sich seinen kargen Lebensunterhalt als Kricketspieler.

Im blieben nur sein Stolz und seine Redlichkeit. Trotz aller moralischen Bauchschmerzen schlägt Sandman aber ein, als ihn Innenminister Lord Sidmouth um einen Dienst bittet. Der junge Maler Charles Corday hat angeblich die Gattin des Earl of Avebury vergewaltigt und erstochen. Dafür wurde er, der die Tat heftig abstreitet, zum Tode verurteilt und wartet nun im berüchtigten Newgate-Gefängnis auf seine Hinrichtung. Seine Mutter hat das Ohr der Königin gefunden und ein Gnadengesuch aufgesetzt. Königin Charlotte hat die Angelegenheit an den wenig erfreuten Innenminister weitergereicht. Dieser übergibt sie nun Rider Sandman, der dem Verurteilten ein eindeutiges Geständnis abpressen soll.

Doch Sandman beginnt den Unschuldsbeteuerungen des Malers Glauben zu schenken. Er beschließt, echte Ermittlungen aufzunehmen. Wie sich zeigt, hätte der Gatte der ermordeten Lady guten Grund gehabt, sich ihrer zu entledigen: Sie hat ihm ständig Hörner aufgesetzt. Zudem hat sich der Earl of Avebury mit verdächtiger Eile auf seinen Landsitz zurückgezogen. Spuren weisen außerdem in den geheimen Seraphim-Club, in dem dekadente Adlige ungestraft ihrem Hang zum Verbotenen frönen. Mehr als genug Verdächtige gibt es, und einige werden offenbar nervös, denn es mehren sich die Mordanschläge auf den hartnäckig weiter bohrenden Sandman …

Der ewige Wettlauf mit der Zeit

Ein Mann womöglich unschuldig in der Todeszelle, ein zweiter zwar frei, aber immer wieder Opfer widriger Umstände in seinem verzweifelten Versuch, den anderen zu retten, bevor ihn sein Schicksal ereilt: eine höchst altmodische, aber bewährte Ausgangssituation wählt Schriftsteller-Routinier Bernard Cornwell für sein historisches Krimi-Garn. Aber wieder einmal zählt, was aus einem solchen Plot gemacht wird. Hier hat der Verfasser zweifellos gute Arbeit geleistet. „Die Galgenfrist“ ist keine Breitwand-Attacke auf seine Leser, die unter brachialem Einsatz von Ergebnissen ausgiebiger historischer Recherchen quasi überwältigt werden sollen. Es gefällt die Beschränkung aufs Wesentliche – die Story – während das zeitgenössische Umfeld dieser untergeordnet bleibt. Immer geschieht etwas Interessantes, die Handlung schreitet flott voran, die Figuren treten uns sofort vor das geistige Auge. Noch besser: Cornwell verzerrt sie nicht à la Anne Perry zu Stereotypen der Vergangenheit. Die Seiten blättern sich wie von selbst um, während man wissen möchte, welche Schlangengrube Sandman nun wieder aufdeckt.

Dass „Die Galgenfrist“ so gefallen kann, liegt vor allem an Cornwells Bestreben, der Unterhaltung ein Körnchen historische Realität beizumischen. Die Idee für dieses Buch gab ihm laut Nachwort die Entdeckung ein, dass im England des frühen 19. Jahrhunderts Kriminelle praktisch wie am Fließband gehenkt wurden. Der Tod am Galgen galt nach Ansicht der Obrigkeit als lehrreiche Abschreckung für alle Schurken, die man noch nicht erwischt hatte – und das waren eigentlich alle Bürger, die nicht der vornehmen Oberschicht angehörten. Gleichzeitig steckte die Justiz noch immer tief im Mittelalter. Es wurde weniger gerichtet als gerächt. Einen Verteidiger bekamen Angeklagte nur, wenn sie sich einen leisten konnten. Ansonsten standen sie voreingenommenen, gelangweilten oder offen feindseligen Richtern gegenüber, die sie ohne Federlesens dem Henker überantworteten – Abschaum allesamt, soll Gott sie später sortieren!

„Die Galgenfrist“ beginnt mit einem eindringlichen Prolog, der die Konsequenz solchen Unrechts verdeutlich. An Brutalität ist die Schilderung einer Mehrfach-Hinrichtung kaum zu übertreffen. Fast noch erschreckender ist die offensichtliche Alltäglichkeit des Geschehens: Der Tod am Galgen ist nicht Mahnung und vollzogenes Recht, sondern ein Volksfest für Voyeure. Die Intensität dieser wenigen Seiten erreicht Cornwell später nicht mehr. Tot ist tot und bleibt tot; Fehler der Rechtsprechung lassen sich nicht wieder korrigieren. Diese Erkenntnis beginnt sich nur sehr langsam durchzusetzen. Rider Sandman begreift die Fehlbarkeit des Systems, und das lässt ihn zum überzeugten „Galgendieb“ des Originaltitels werden: Er stiehlt dem gleichgültigen Henker sein womöglich unschuldiges Opfer aus der Schlinge.

Held mit menschlichen Schwächen

Dieser Rider Sandman ist ohnehin fast ein bisschen zu gut für diese Welt: Ehrenhaft bis auf die Knochen ist er, kämpft für die Gerechtigkeit und lässt sich auch durch ständige Nackenschläge nicht vom rechten Weg ablenken. Sein eigenes Leben hat er der Sisyphos-Aufgabe geweiht, den Namen der Familie reinzuwaschen. Sogar die geliebte Verlobte musste er verlassen. Darüber hinaus ist er ein gestandener Kriegsheld, dessen ruhmreiche Taten zumindest in Soldatenkreisen Legende sind. Selbst zu den gesellschaftlich Geächteten – vor allem wenn weiblich – ist er zuvorkommend und rücksichtsvoll.

Damit es nicht gar zu arg gutmenschelt, hat Cornwell seinen Sandman mit einer guten Portion Jähzorn gesegnet. Der kommt ihm gut zupass, wenn ihm wieder einmal ein hochnäsiger Adelsspross oder ein mordlustiger Schurke ans Leder will. Rider Sandman hat nichts verlernt seit dem Krieg, wie seine Gegner zu ihrem Leidwesen immer wieder feststellen müssen. Anders ausgedrückt: Mr. Sandman ist eine leicht abgewandelte Version von Bernard Cornwells Sharp, seinem Helden der gleichnamigen, seit vielen Jahren erfolgreich laufenden Serie.

Sandman zur Seite steht seine Ex-Verlobte Eleanor. Selbstverständlich ist sie nicht nur hübsch, sondern klug und unzufrieden mit den Beschränkungen, die ihre Zeit einer geistvollen Frau auferlegt, und natürlich liebt sie ihren Rider immer noch. Nicht ihr Vater ist der Unmensch, der ihr dieses Glück versagt, sondern die verblendete Aufsteiger-Mutter. Die zweite weibliche Hauptrolle spielt Sally Flood, die in gewisser Weise verwirklichen konnte – oder musste -, was Eleanor sich nur erträumen kann. Sie ist selbstständig und in der Lage, den Preis dafür zu zahlen. Der ist nicht gering im Jahre 1817, das beschönigt Cornwell mit keiner Silbe.

Fast alles Übel kommt von oben

Das Sagen hat in England uneingeschränkt die zahlenschwache, aber einflussstarke Oberschicht. Dieses System ist verkrustet und primär auf den ängstlichen Erhalt der errafften Privilegien ausgerichtet. Soziale Gerechtigkeit gilt als Schwäche, ihre Befürworter sind rücksichtslos auszulöschen, auf dass sie dem Establishment nicht gefährlich werden. Bigotterie und Lüge verbrämen nur mühsam den status quo, an dessen Aufrechterhaltung sich auch die Kirche eifrig beteiligt.

So ist die Existenz des perversen Seraphim-Clubs nur der konsequente Ausfluss einer Gesellschaft in Schieflage: Die unteren Schichten stellen für seine Mitglieder endgültig nur noch Menschenvieh dar, das man zu quälen und sogar zu töten das von Gott gegebene Recht hat. Wer sich nicht offen an solchen Auswüchsen beteiligt, unterstützt das System auf eigene Weise. Lord Sidmouth betrachtet die Gnadenersuche der zum Tode Verurteilten hauptsächlich als Unverschämtheit und ärgerliche Belastung, die ihn von wichtigen Tätigkeiten fernhält. Die Gerichte Seiner Majestät irren nicht, und falls doch, dann ist es um das wertlose Pack nicht schade, das sich gefälligst den Regeln unterwerfen, d. h. klaglos hängen lassen soll. Das zur perfiden Perfektion entwickelte Kastensystem prägt jede Lebenssituation; wer sich allzu viele Gedanken darüber macht, verzweifelt daran und gilt der stets um ihre Privilegien besorgten Obrigkeit rasch als Aufrührer. So ist es feine Ironie des Verfassers, dass die klügste Kritik am herrschenden System ausgerechnet von einem Straßenräuber geäußert wird.

Ansonsten ist auch das England des frühen 19. Jahrhunderts ein für seine Bewohner alltäglicher Ort. Mit vielen deftigen Szenen illustriert Cornwell geschickt eine uns heutigen Lesern fremde Welt. Die bunte Beiläufigkeit der brutalen Newgate-Gefängniskulisse wird kontrastiert durch die gar nicht weihevollen Theaterszene, die uns verrät, wieso selbst Künstlergenies wie Shakespeare tunlichst darauf achteten, dass es auf der Bühne möglichst laut vor sich ging.

Autor

Bernard Cornwell wurde 1944 in London geboren. Sein Vater war ein kanadischer Flieger, seine Mutter ein Mitglied der Britain’s Women’s Auxiliary Air Force. Cornwell wurde zur Adoption freigegeben und wuchs bei einer Familie in der Grafschaft Essex auf; eine freudlose Kindheit, da seine Eltern einer strengen religiösen Sekte angehörten. Schon früh machte sich Cornwell deshalb selbstständig. Er ging nach London, studierte an der London University, arbeitete als Lehrer und ging dann zur BBC, wo er zehn Jahre in der Fernsehabteilung arbeitete.

Zuletzt war Cornwell in Nordirland tätig. In Belfast lernte er auch seine spätere Frau kennen. Aus familiären Gründen wanderte das Paar in die USA aus. Hier verweigerte man Cornwell die Greencard, die ihm die Ausübung eines Berufes gestattet hätte. So beschloss er sich als Schriftsteller zu versuchen. Nach den üblichen schwierigen Anfangsjahren erwies sich Cornwell als fähiger und vor allem fleißiger Autor. Seinen Durchbruch erreichte er mit seiner Sharp-Serie, den Abenteuern eines britischen Soldaten in den napoleonischen Kriegen um 1800.

Sharp ist Cornwell bis auf den heutigen Tag treu geblieben. Darüber hinaus schrieb er viele serienunabhängige historische Romane, die angenehm unangestrengt und ohne Ringen um literarischen Anspruch unterhaltsame Geschichten aus unterschiedlichen Epochen erzählen.

Bernard Cornwells reiches schriftstellerisches Werk wird vorbildlich vorgestellt auf seiner auch sonst informativen Website.

Taschenbuch: 349 Seiten
Originaltitel: Gallows Thief (London : HarperCollins Publishers 2001)
Übersetzung: Ulrike Bischoff
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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