Eine unendliche (und traurige) Geschichte, erzählt in sieben lehrreichen Kapiteln: Wie konnte es geschehen, dass sich ausgerechnet Naturforscher, die für sich selbst in Anspruch nehmen, nur den reinen Fakten verpflichtet zu sein, bis auf wenige Ausnahmen so bereitwillig in den Dienst der Nazis und ihrer absurden, Menschen verachtenden, auf Pseudo-Wissenschaft basierenden Ideologie stellten?
Unter dem Kapiteltitel „Das wissenschaftliche Erbe der Weimarer Republik“ zeichnet Cornwell die Vorgeschichte der „Führer“-Forschung nach. Vor dem I. Weltkrieg war Deutschland ein Mekka der Naturwissenschaften, dessen Vertreter jeden zweiten Nobelpreis gewannen. Schon jetzt gab es hässliche Züge in der insgesamt erfolgreichen Forschergemeinde, war beispielsweise der Antisemitismus eine existente Größe. Doch im Vordergrund stand die Arbeit im Labor und am Zeichenbrett, echte Spinner und Fanatiker wurden erkannt und fachlich ausgehebelt.
Im Kapitel „Die neue Physik (1918-1933)“ greift Cornwell einen naturwissenschaftlichen Teilbereich heraus, um exemplarisch darzulegen, wie der „nationalsozialistischen“ Forschung das Fundament bereitet wurde. Der I. Weltkrieg und seine von der ersten deutschen Republik nie in den Griff bekommenen Folgen – Staatsbankrott, Inflation, politische und wirtschaftliche Dauerkrise, Massenarbeitslosigkeit – verschonte auch die akademische Elite nicht, schürte Konkurrenzneid, Zukunftsangst, Ellenbogeneinsatz. Die Sehnsucht nach der „guten, alten Zeit“ mit ihren klar gegliederten Autoritäts- und Kompetenzebenen ging gefährlich nahtlos in die Bereitschaft über, einen „Führer“ zu unterstützen, der hier Abhilfe versprach.
Damit waren „Nazi-Fanatismus, Willfährigkeit und Unterdrückung (1933-1939)“ freilich Tür und Tor geöffnet. Wissenschaftler sind keine Politiker und in dieser Beziehung tatsächlich oft weltfremd, deutsche Wissenschaftler um 1933 dazu autoritätsgläubig oder gar -hörig. Hinzu kamen die bei der Vergabe begehrter Stellen zu kurz gekommenen oder fachlich unfähigen Vertreter ihres Standes, die unter den Nazis Morgenluft witterten und sich bedingungslos in ein System integrierten, das ihnen den ersehnten Aufstieg ermöglichte. Unerfreuliche Begleiterscheinungen wie den erzwungenen Exodus jüdischer Kollegen blendete man deshalb aus oder begrüßte ihn sogar. Ebenso reagierte man auf den Aufstieg obskurer Nazi-Pseudo-Wissenschaften, die der echten Forschung schadeten und ihrem Ruf ernsten Schaden zufügten.
Nun brach sich „Die Wissenschaft der Vernichtung und Verteidigung (1939-1943)“ Bahn. Nach 1933 wurde allmählich deutlich, dass Hitler zielstrebig für einen neuen Krieg plante und die Wissenschaft als ein Instrument von vielen betrachtete, die ihm die dafür notwendigen militärischen Mittel entwickeln sollten. Die erzwungene Verklammerung von Ideologie und Forschung sorgte dafür, dass dies in Deutschland nur bedingt gelang.
Im Ausland klappte die Zusammenarbeit dagegen besser. „Die nationalsozialistische Atombombe (1941-1945)“ drohte und führte zur Entwicklung eines Gegen-Projekts, an dem sich – Treppenwitz der Geschichte – viele der von Hitler aus dem Land gejagten Physiker beteiligten. Cornwell schildert die eigentlich unlösbare moralische Zwickmühle, in der sich die Beteiligten sahen, als sie die gefährlichste Waffe aller Zeiten schufen, um einem skrupellosen Gegner zuvorzukommen.
Dieser gab unter dem Druck der feindlichen Übermacht in der zweiten Hälfte des Krieges jegliche Rücksicht und moralische Integrität auf. „Wissenschaft in der Hölle (1942-1945)“ zeigt deutsche Naturwissenschaftler als Kriminelle, die Sklavenarbeiter beim Bau wahnwitziger „Wunderwaffen“ einsetzten, grausame medizinische Menschenversuche durchführten und Methoden ersannen, die „Feinde“ des Regimes in Millionenzahl umzubringen.
1945 war dann der Tag der Abrechnung gekommen – scheinbar, denn tatsächlich gediehen nicht nur die Trittbrettfahrer, sondern auch die echten Verbrecher unter den deutschen Forschern „In Hitlers Schatten“ prächtig. Sie wurden gebraucht, um dem neuen Feind – den „Weltsozialismus“ – zu bekämpfen, waren auch sonst eine wertvolle Ressource und mussten daher bei Laune gehalten werden, um sie zur Mitarbeit zu bewegen.
So gibt es zum „Forschen für den Führer“ nicht nur eine Vorgeschichte, sondern auch eine ziemlich ungebrochene Fortsetzung: „Vom Kalten Krieg bis zum Krieg gegen den Terror“ zeigt die Naturwissenschaft auch nach 1945 permanent auf dem Kriegspfad. Die Erfahrungen der Nazi-Ära sowie die Neubeschäftigung vieler ihrer Repräsentanten mag dies mehr gefördert haben als es bisher klar war oder diskutiert werden wollte. Von Vergangenheitsbewältigung kaum eine Spur, so Cornwells Resümee, stattdessen wurde und wird verdrängt und nach altem Muster weitergemacht – mit den zu erwartenden Folgen für die Zukunft.
Adolf Hitler und seine Paladine waren an der Wissenschaft als Instrument für ihre wahnwitzigen Welteroberungspläne interessiert, aber zu dumm, ihre Möglichkeiten und Beschränkungen zu begreifen. Auf diesen kurzen Nenner lässt sich eine grundsätzliche These dieses faszinierenden Sachbuchs bringen. Tatsächlich klafft eine Lücke zwischen dem Selbstverständnis der Nazis als Repräsentanten des modernen Technik-Staates und der traurigen Realität, dass sie die wahren Genies des Landes längst in die Flucht geschlagen, aus ihren Stellen gedrängt oder gar eingesperrt und umgebracht hatten. Übrig blieben die mehr oder weniger fanatischen Mitläufer und Opportunisten, die um ihrer (oft obskuren) Forschungen und ihrer Karrieren willen bereit waren, die Prinzipien der Menschlichkeit aufzugeben.
Was den Verfasser zur einer echten Binsenweisheit bringt: Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Intelligenz ist nicht identisch mit Weitsicht oder charakterlichen Qualitäten. So sollte es eigentlich sein, so war es manchmal. Vor allem ist sich in der Krise freilich jede/r selbst der/die Nächste.
Das Regime der Nazis bündelte unheilvoll diverse unschöne bis kriminelle Strömungen in Deutschland, die für sich allein genommen nur eine eingeschränkte Gefahr darstellten. Die Elemente, aus denen sich die Nazi-Wissenschaft zusammensetzte, waren schon lange da, wie uns John Cornwell überzeugend belegt. Sie wären ohne Hitler weiterhin präsent geblieben, aber sehr wahrscheinlich dort, wo sie hingehören: im politisch-gesellschaftlichen Abseits.
So aber wurde Nazi-Deutschland zum Schauplatz eines grausamen Planspiels: Was geschieht, wenn sowohl das Gesetz als auch die Moral außer Kraft gesetzt werden? Nicht nur die Forschung war davon betroffen. Sie fügt sich nur besser ins Gesamtbild, als dies womöglich bisher erkannt wurde.
John Cornwell legt seine Darstellung als Sachbuch mit Romanqualitäten an. Dies fördert zweifellos die Lesbarkeit, was angesichts des zunächst abschreckend wirkenden, weil „trockenen“ Themas wohl auch ratsam ist. Schon nach kurzer Lektüre bestätigt sich einmal mehr die alte Weisheit, dass es im Grunde kaum langweilige Geschichte/n gibt: Sie müssen nur interessant erzählt werden!
Das gelingt Cornwell, indem er die referierenden Passagen immer wieder mit biografischen Fallbeispielen durchsetzt und zusätzlich durch Anekdotisches auflockert. Das manchmal schwer verständliche Geschehen gewinnt auf diese Weise „Gesichter“. Dem Puristen mag dieses Vorgehen zu populistisch sein, aber es erfüllt seinen Zweck.
Ein informatives und gleichzeitig spannendes Sachbuch also. Der positive Eindruck wird allerdings durch die Tatsache verdunkelt, dass der Verfasser praktisch ausschließlich auf Sekundärliteratur zurückgreift und Quellen „aus zweiter Hand“ zitiert – eine aus der Sicht des Historikers zweifelhafte Methode, das „Forschen für den Führer“ eher als Zusammenfassung des Forschungsstandes denn als eigenständige Forschungsarbeit klassifiziert.
Tatsächlich ist John Cornwell als Historiker kein „Grundlagenforscher“, sondern in erster Linie Journalist mit dem Fachgebiet Wissenschaftsgeschichte. Als solcher darf er sich in der Tat darauf beschränken, die Ergebnisse von Kolleginnen und Kollegen zu raffen bzw. ein konzentriertes Gesamtbild aus ihnen zu destillieren. Unter dieser Prämisse erfüllt das Buch seine Aufgabe, zu informieren und zu unterhalten, allerdings vorbildlich.