Charles P. Crawford – Der Drohbrief

Die drei Freunde Chad, B.G. und Frosch besuchen gemeinsam den Englischkurs von Mr. Patterson. B.G. ist ein vorlauter Anführertyp, der sich in der Schule durchmogelt. Frosch ist ein skurriler Spaßvogel, der alle Dinge als Spiel betrachtet. Chad, ein guter Schüler, ist der Zurückhaltendste und Vernünftigste der drei. Mr. Patterson ist der strengste Lehrer von allen; sein Unterricht ist nicht nur anspruchsvoll, sondern er liebt es auch, böse Witze über seine Schüler zu machen.

Während einer Klassenarbeit beobachtet er, wie B.G. vom deutlich besseren Chad abschreibt. Als Strafe gibt er beiden eine Fünf, was vor allem Chad ärgert. In ihrem Frust über die Schule kommen die Jungen auf die Idee, sich ein paar Streiche einfallen zu lassen, um „das perfekte Verbrechen“ zu üben. Dabei wollen sie keine wirklichen Delikte begehen, nur kleine Mutproben. Sie schleichen sich heimlich ins Kino ein, stehlen eine Flasche Wein, deponieren einen BH auf einer Jagdtrophäe in der Schule. B.G. hat es vor allem auf Mr. Patterson abgesehen. Er deponiert verfaultes Katzenfutter in der Lüftung, so dass Mr. Patterson schließlich den Hausmeister zu Hilfe rufen und die Englischstunde ausfallen lassen muss.

Die Jungen sind begeistert vom Nervenkitzel, der von ihren Streichen ausgeht und lassen sich immer wieder neue Sachen einfallen. Bei einer Verfolgung von Mr. Patterson fällt Chad ein Brief an den Lehrer in die Hände. Gemeinsam mit seinen Freunden öffnet er ihn und stößt dadurch auf ein brisantes Geheimnis des unbeliebten Lehrers. Während Chad eher peinlich berührt ist, wittert B.G. die einmalige Chance, Patterson seine Gemeinheiten zurückzuzahlen. Die drei beschließen, einen anonymen Drohbrief zu verfassen, der Mr. Patterson unter Druck setzen soll. Sie kleben einen Brief aus Zeitungsbuchstaben zusammen, in dem sie eine kleine Geldsumme von ihm erpressen. Anderenfalls wollen sie mit dem aufschlussreichen Schreiben an die Schulleitung oder sogar an die Presse gehen.

Doch Mr. Patterson reagiert anders als geplant auf diese Drohung. Vor allem B.G. fühlt sich durch dieses Verhalten beleidigt und herausgefordert. Was zunächst als frecher Spaß gedacht war, zieht immer weitere Kreise. Der nächste Drohbrief geht auf Reisen, diesmal mit noch größeren Forderungen. Chad ahnt allmählich, dass er und seine Freunde in einer gefährlichen Lage stecken. Am liebsten würde er aussteigen, doch B.G. und auch Frosch lassen nicht mit sich reden. Ihnen kommen stets weitere Einfälle, wie man Mr. Patterson angreifen kann. Chad fühlt sich immer elender – und immer größer wird seine Befürchtung, dass eines Tages ihre Taten auffliegen werden …

Wenn Streiche aus der Bahn geraten und ungeahnte Folgen nehmen … Fast jeder kennt diese Situation, deshalb ist es ein Leichtes, sich in die Lage der Hauptfiguren hineinzuversetzen. Charles P. Crawford gelingt ein in jeder Hinsicht überzeugender Mix aus Spannung, Abenteuer, jugendlichem Leichtsinn und lehrreichen Erfahrungen.

|Anschauliche Charaktere, spannende Handlung|

Die drei Freunde sind unterschiedlichste Charaktere, doch vor allem der Ich-Erzähler Chad ist eine perfekte Identifikationsfigur, gerade für junge Leser. Jeder kennt aus der Schulzeit solche Tage, an denen man sich im Unterricht nur noch ungerecht behandelt fühlt und das ganze Schülerleben entweder als langweilig oder als Qual empfunden wird. Genauso so ergeht es den drei Protagonisten, vor allem wegen des strengen Lehrers, vor dessen Spitzen man nie sicher sein kann.

Dabei ist B.G. eindeutig der Anführer der drei, der kein Risiko scheut und nur wenig Skrupel kennt. Trotzdem erscheint er zunächst nicht als schlechter Kerl; er ist lediglich übermütig und bringt der Schule nicht viel Ernst entgegen. Für ihn steht fest, dass er Mr. Patterson sein zynisches Auftreten heimzahlen will, und dafür ist er gerne bereit, gewisse Grenzen zu übertreten.

Der Frosch dagegen ist eine zurückhaltendere Person. Für seine Umwelt ist er ein lebendes Kuriosum, was sich unter anderem in seinen außergewöhnlichen Essgewohnheiten manifestiert. Mit Ekel registrieren seine Freunde seine Pausenbrote, die gerne mit solch exotischen Kombinationen wie Rice Crispies und Banane oder Toast mit Schokoladenpudding daherkommen. Der Frosch, wie er von allen genannt wird, ist eine Spielernatur, ständig auf originelle Wetten oder Zeitvertreibe aus. Trotz oder gerade wegen seiner seltsamen Anwandlungen ist er den Freunden ein treuer Kamerad, den sie schätzen und der in seiner unbekümmerten Art stets für etwas Abwechslung sorgt.

Chad ist der durchschnittlichste, aber auch der sympathischste Charakter unter ihnen. Er ist ein guter Schüler mit einem gewissen Ehrgeiz, ohne in Streberei zu verfallen. Er ist aufgeschlossen und interessiert am Unterricht, aber ohne Interesse daran, sich beim Lehrer einzuschmeicheln.

B.G.’s Motiv für die Streiche ist sein Dominanzgehabe, der Frosch sieht es wie alles zunächst als Spielerei, und bei Chad ist es eine Mischung aus beiden, ein Reiz am Verbotenen, den jeder Leser nachempfinden kann. Chad ist kein Musterknabe, denn obwohl er Gewissensbisse bekommt, als die Rachemaßnahmen gegen Patterson entgleisen, wagt er es nicht, gegen seine Freunde aufzubegehren. Seine zaghaften Versuche werden abgeschmettert, und auch wenn er sich sichtlich unwohl fühlt, macht er die immer böseren Streiche mit. Hautnah erlebt man mit, wie unwohl er sich in seiner Lage fühlt, wie er Pro und Kontra abwägt und wie er doch Hemmungen hat, seine Freunde zu bremsen und aus dem Spiel, das bereits längs kriminelle Züge erlangt hat, auszusteigen.

Nicht nur die Charaktere sind gut gestaltet, auch der Spannungsfaktor ist hoch. Der schnelle, unvermittelte Einstieg in die Handlung reißt auch den Leser hinein ins Geschehen. Schon bald ist man gefesselt von den Entwicklungen und fragt sich, wohin sich die Geschichte bewegen wird, wie Mr. Patterson auf die Erpressungsversuche reagiert, wie gut die Freundschaft der drei Jungs die Belastung verkraftet und welche Folgen auf sie zukommen. Da das Büchlein nur knapp 166 Seiten umfasst, existieren keine ablenkenden Nebenschauplätze. Die Handlung verläuft straff und ist kompakt gefasst, ohne eine einzige Länge. Zügige Leser können den Roman an einem Tag bewältigen, nicht nur wegen des geringen Umfangs, sondern auch wegen der Spannung, die dazu drängt, den Ausgang möglichst bald zu erfahren.

|Vermittelung moralischer Werte|

Am Schluss siegt letztlich doch Chads Gewissen – aber wer glaubt, dass sich damit ein Friede-Freude-Eierkuchen-Ende ergibt, der täuscht sich. Chads Geständnis wird belohnt, aber er wird nicht zum Helden stilisiert. Gewisse Fehler lassen sich nicht durch Entschuldigungen rückgängig machen. Auch er selber sieht ein, dass er sich durch seine Reue nicht wieder unschuldig machen kann. Die Taten haben ihre Folgen nach sich gezogen, die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Sowohl Chad als auch Mr. Patterson müssen mit dem leben, was geschehen ist. Vor allem die Reaktion des Lehrers sorgt dafür, dass der Roman so realistisch wirkt. Phasenweise hasst man seine selbstgefällige Art und seine gemeinen Bemerkungen, die er über die Schüler abgibt, und gönnt ihm eine Blamage. Doch am Ende müssen Chad und der Leser einsehen, dass weit mehr hinter seiner Fassade steckt, als man ihm auf den ersten Blick anmerkt. Chad lernt seinen „Feind“ erst spät schätzen – ebenso spät wie den wahren Charakter seiner Freunde. Es gibt kein kitschiges Ende, das über die Geschehnisse hinwegtäuscht. Stattdessen stehen am Schluss tiefgreifende Veränderungen und neue Erkenntnisse, die zum Teil schmerzhaft sind, die aber Chad auf seinem Weg ins Erwachsensein reifen lassen und ihm mehr helfen, als wenn man es ihm zu einfach gemacht hätte.

Obwohl das Buch über weite Strecken humorvoll gestaltet ist, liegt ein tiefer Ernst in der Moral des Inhalts. Jugendliche lernen hier, wie leicht es passieren kann, dass aus einem Spiel gefährlicher Ernst wird. Jeder kennt Mutproben, die mal mehr und mal weniger riskant sind, und viele Lesern werden sich selbst in den Streichen der drei Jungs entdecken. Chad und seine Freunde übertreten den Pfad der Unschuld und der Harmlosigkeit jedoch. Kein Nervenkitzel rechtfertigt ihr Vorgehen, unter Umständen hätten drastische Konsequenzen die Folgen sein können. Gerade die schleichende Entwicklung der Taten, die mit albernen Streichen beginnen und mit Psychoterror enden, signalisiert, wie wichtig es ist, dass man über die Rechtmäßigkeit seines Tuns reflektiert.

Gleichzeitig wird vermittelt, dass man nicht vorschnell andere Menschen verurteilen soll und dass der erste Eindruck täuschen kann – sowohl im negativen wie im positiven Sinn. Mr. Patterson scheint ein Sadist zu sein, der kein Verständnis für seine Schüler hat. Chad hätte nie gedacht, dass er am Schluss so anders über seinen Lehrer denken würde. Im Gegensatz dazu sind B.G. und Frosch seine besten Freunde, mit denen er ständig zusammenhängt und denen er vertraut. Doch die bittere Erfahrung lehrt ihn, dass auch Freunde ihr wahres Gesicht oft erst in Notsituationen zeigen und dass es dann, wie hier, ganz anders aussieht als erwartet … Die Geschichte ermutigt zudem, sich gegen Gruppenzwang zu wehren. Freunde, die keine andere Meinung akzeptieren, sind keine wahren Kameraden und die Treue nicht wert.

|Ideale Schullektüre|

Das Buch eignet sich nicht nur ideal für junge Leser, sondern auch als Schullektüre. Der Stil ist unkompliziert gehalten und an die Lockerheit der jugendlichen Sprache angepasst. Hier spricht ein Jugendlicher zu Gleichgesinnten, mit teils flapsigen Dialogen und Sprüchen und ohne jede Hochgestochenheit. Auch der englische Originaltext ist demnach für Schüler der Mittelstufe gut zu bewältigen.

Dass sich der Stoff um schulische Erlebnisse dreht, ist ein weiterer Pluspunkt. Vielleicht gibt das Lehrern Raum, um das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern zu diskutieren, um Mr. Pattersons Verhalten zu analysieren und zu besprechen, inwieweit man die Reaktionen der Freunde auf die Drangsalien nachvollziehen kann.

Sehr reizvoll ist außerdem der Kniff des Autors, die Geschichte von Chad vor allem im zweiten Teil der Handlung mit Miltons „Verlorene(m) Paradies“ zu kombinieren. Das jahrhundertealte Epos ist Thema des Englischunterrichts. Die Schüler debattieren mit Mr. Patterson um Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies, im weiteren Sinn also über Schuld und Sühne, über die Folgen seiner eigenen Handlungen und die Verantwortung dafür. Für Chad liegt darin eine direkte Parallele zu seinem eigenem Empfinden und es fällt ihm daher nicht schwer, einen perfekten Aufsatz darüber zu schreiben. B.G.’s Äußerungen über Eigenverantwortung, Loyalität und Risikobereitschaft decken sich haargenau mit seinem Verhalten gegenüber Mr. Patterson und seinem Freund Chad. Für Chad wiederum erhält die Aussage über die Vergänglichkeit des Schönen, eben den Verlust des Paradieses, am Ende der Ereignisse eine ganz persönliche Bedeutung.

Scheinbar zufällig werden hier der Unterrichtsstoff und die Äußerungen der Schüler und Mr. Patterson in Bezug gesetzt zu den privaten Vorfällen, die sich zwischen ihnen abspielen, wie eine zweite Ebene mit Symbolcharakter. Darüber hinaus werden wie nebenbei kleine Einblicke in Miltons Meisterwerk gewährt, die bei manchem Leser Interesse daran wecken können – denn an Aktualität hat es, wie man an Chads Geschichte erkennt, nichts eingebüßt. Es ist sehr erfreulich, dass das zeitweise vergriffene Werk in diesem Herbst neu aufgelegt werden soll.

_Als Fazit_ bleibt ein in jeder Facette überzeugender und empfehlenswerter Jugendroman, der nicht nur gut unterhält, sondern auch wichtige Werte vermittelt. Anhand der Hauptfigur Chad erlebt der Leser, wie leicht aus spaßigen Streichen gefährlicher Ernst werden kann und wie es passieren kann, dass man Menschen falsch einschätzt. Die Charaktere sind lebendig und anschaulich gestaltet, die Handlung ist spannend bis zum Schluss, der Stil einfach und leicht verständlich. Anhand der Thematik, die sich auch mit dem Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern befasst, ist das Werk ideal als Schullektüre geeignet, auch in der englischen Originalsprache.

_Der Autor_ Charles P. Crawford arbeitete seit 1976 als Lehrer in seiner Geburtstadt Wayne in Pennsylvania. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, dem er seinen Roman „Der Drohbrief“ gewidmet hat. Weitere Werke von ihm sind „Ein böser Fall“ und „Das Dreibeinrennen“.

Taschenbuch: 176 Seiten
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