Die Menschen mutieren zu tierhaften Kreaturen, deren Handeln von Instinkten gesteuert wird; nur wenige bleiben verschont, während die Zivilisation in Brutalität und Kannibalismus verendet … – Am Beispiel einer US-Kleinstadt exerziert der Autor diesen Prozess durch; der Horror bleibt vordergründig, ist auf den Schock getrimmt und neutralisiert sich selbst, weil die entsprechenden Effekte sich bald wiederholen: routinierter Tabubruch-Grusel für zartbesaitete Fans des ‚harten‘ Horrors und Schlachtplatte für die „Boah – hammergeil!“-Fraktion.
Das geschieht:
Greenlawn im US-Staat Indiana gehört zu den unzähligen gesichtslosen Städten mittlerer Größenordnung, in denen die Menschen oberflächlich eine Gemeinschaft bilden, während sie eigentlich nur an einem gemeinsamen Ort leben. Man kümmert sich um die Nachbarn oder erträgt sie und widmet sich ansonsten den eigenen Geschicken.
Diese Alltagsroutine endet eines Tages, als weltweit ein mysteriöses Phänomen die Zivilisation zusammenbrechen lässt. Dieses Mal steigen nicht die Toten aus ihren Gräbern, sondern dir Lebenden sind betroffen: In ihren Hirnen fällt jener Regelmechanismus, der den Menschen vom Tier trennt, vollständig aus. Die in Jahrzehntausenden mühsam entwickelten Verhaltenskontrollen, die es dem Menschen erst ermöglichten, eine Kultur zu entwickeln, lösen sich auf. Der urzeitliche Höhlenmensch kehrt zurück, der ausschließlich seinen Instinkten gehorcht.
Auch Greenlawn versinkt im Chaos einer Gesellschaft, die in ‚Rudeln‘ neu zusammenfindet, deren Mitglieder in blutigen Kämpfen ihre ‚Territorien‘ sichern und mit primitiven Waffen auf die ‚Jagd‘ gehen. Meist rösten unterlegene ‚Rivalen‘ über den lodernden Lagerfeuern. Erst recht gefährdet sind die wenigen Menschen, die von der Veränderung nicht betroffen sind.
Zu ihnen gehört Louis Shears, der mit der 16-jährigen Macy Merchant durch das zur Hölle auf Erden degenerierte Greenlawn irrt. Shears sucht nach seiner Frau, die irgendwo hoffentlich lebt sowie gesund geblieben ist, während Macy sich fragt, wie es ihrer Mutter ergangen ist. Zu Gefährten in dieser grotesken Apokalypse geworden, versuchen Louis und Macy einerseits zu begreifen, was geschehen ist und noch geschehen wird, während sie andererseits in die immer heftiger werdenden Straßenkämpfe verwickelt werden. Die Grenzen zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Menschen verwischen sich schnell, denn um zu überleben, müssen Louis und Macy noch brutaler als ihre Gegner zuschlagen, um deren Überlegenheit einigermaßen auszugleichen …
Der Mythos vom tumben Urmenschen
Schmutzverkrustet in einer verqualmten Höhle hockend, hungrig halb gegartes Bärenfleisch direkt vom Knochen reißend & grunzend die zotteligen Weiber besteigend: Dieses Bild von der wilden Gemeinschaft der Ur- und Eiszeit ist tief in jener kollektive Datenbank verankert, aus denen noch die Menschen des 21. Jahrhunderts ihre Vorurteile ziehen. Nicht nur der gesunde Menschenverstand sollte einem sagen, dass niemand auf die beschriebene Weise leben wollte oder musste. Tatsächlich hat die Archäologe längst entdeckt, dass der ‚primitive‘ Höhlenmensch durchaus wusste, was Hygiene war.
Auch das Zusammenleben gehorchte bereits festen Regeln, da es der Mensch sonst miteinander niemals ausgehalten hätte. Insofern ist es Unfug und üble Nachrede, wenn Tim Curran eine Regressions-Seuche ausbrechen lässt, die den Betroffenen einen Rücksturz in die Urzeit beschert. Selbst Paviane benehmen sich ‚zivilisierter‘ als die Bewohner von Greenlawn.
Immerhin bietet Curran eine Deutungsalternative an: Keine Epidemie lässt die Kultur enden. Möglicherweise zieht Mutter Natur persönlich die Notbremse. Weil sich der Mensch nicht nur unkontrolliert vermehrt, sondern dabei auch der Ökologie des gesamten Planeten den Garaus zu machen droht, aktiviert sie einen bisher verborgenen genetischen Mechanismus, der bisher den Lemmingen vorbehalten blieb: Wenn diese Nager an Zahl zu stark zunehmen, bilden sie gewaltige Herden und suchen eine Klippe auf, von der sie sich ins Meer stürzen. Die zurückbleibenden Lemminge können in einer aufgeräumten Welt neu anfangen.
Zwar ist auch dies ein Mythos, der aber im Rahmen dieser Geschichte als ‚Erklärung‘ taugt. Schließlich will Tim Curran ganz sicher kein stimmiges Bild einer globalen Katastrophe zeichnen. „Zerfleischt“ – der Schöpfer des deutschen Titels gießt noch ein wenig Öl ins Feuer – ist ein Horror-Roman; der Verfasser würde dies womöglich so schreiben: HORROR-Roman.
Overkill und Geisterbahn
Denn „Zerfleischt“ ist eine Orgie der vordergründigen Effekte. Schock und Ekel sollen eine Geschichte richten, die sich simpel in einer Reihung einschlägiger Szenen erschöpft. Die Kapitel sind kurz und enden als Cliffhanger, bevor wir uns an einer anderen Stätte wiederfinden und mit weiteren Scheußlichkeiten konfrontiert werden: Mord, Vergewaltigung, Inzest, Pinkeln in der Öffentlichkeit; Babys werden gebraten, ein Schulkind wird vom Lehrer-Pkw in den Straßenasphalt gewalzt usw.
Aber wie funktioniert Schrecken? Auf diese Frage gibt es viele, meist ausführliche sowie einander widersprechende Antworten. Was „Zerfleischt“ angeht, wird auf jeden Fall jener Dualismus wichtig, nach dem sich der Schrecken angeblich einerseits auf die spukhafte Andeutung bzw. die aus der menschlichen Psyche geborenen Phantome beschränkt und andererseits vordergründig als ‚realer‘ Horror in Gestalt des Monsters, des Zombies oder eben des wiedergeborenen Urmenschen auftritt.
Wie man sich denken kann, gilt Variante 1 als die ‚bessere‘ Phantastik. Wer einmal einem tollwütigen Hund gegenübergestanden hat oder in ein offenes Grab gefallen ist, dürfte dies wohl nicht unterschreiben, was deutlich macht, dass der ‚Wert‘ einer Gruselstory nicht vom dargestellten Horror, sondern von der Darstellung des Horrors bestimmt wird. Dies ist ein gewaltiger Unterschied, weshalb es durchaus miserable Spukgeschichten und ausgezeichneten Horror gibt.
Das Talent des jeweiligen Verfassers gibt den Ausschlag. Tim Curran belegt auf dieser Skala höchstens (aber immerhin) ein Mittelfeld. „Zerfleischt“ ist handwerklich zufriedenstellend geschrieben (und übersetzt). Der Leser stolpert selten in Handlungslöcher oder wird auf andere Weise für dumm verkauft. (Eine gewichtige Ausnahme stellen die didaktisch dem Text aufgepfropften ‚wissenschaftlichen‘ Erklärungen für die Flintstonisierung dar, die u. a. auf längst überholten Theorien des Paläo-Anthropologen Raymond Dart basieren.)
Den Verzicht auf Raffinesse kann man Curran angesichts des gewählten Themas schwerlich vorwerfen. Mit der Abwesenheit von Originalität sieht es anders aus. Curran scheint der Ansicht zu sein, diese durch die gipfelhohe Häufung schauriger Blut- u. ä. Übeltaten beweisen zu können. Damit liegt er allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt richtig.
Das richtige Publikum
„Zerfleischt“ erfordert einen Leser, der sich durch drastische Szenen schrecken oder besser: schockieren lässt. Er ist heutzutage nicht mehr einfach zu finden. Vor allem dank TV-Nachrichten, Internet & Horrorfilm haben wir eigentlich alle Methoden kennengelernt, mit denen sich der menschliche Körper deformieren lässt. Auch die sexuelle Komponente ist längst kein Tabu mehr. Faktisch bereichert Curran die Ekel-Skala höchstens durch den exzessiven Einsatz menschlicher Fäkalien, die von ihm offenbar als besonders wirksamer Schock-Effekt begriffen werden.
Dies belegt einen Autor auf der geradezu verzweifelten Suche nach einem Tabu, das sich noch brechen lässt. Gelingen kann dies wie gesagt allerdings höchstens dort, wo eine grundsätzliche Empfindsamkeit vorhanden ist, die den Betroffenen beispielsweise erschüttert aufschreien lässt, weil Curran einen Polizisten = Retter in der Not & Respektsperson als Totschläger und Kannibalen auftreten lässt.
Auf der anderen Seite stehen jene Leser, denen entsprechende Lektüre- oder Filmerfahrungen (noch) fehlen oder die an eine Buchlektüre vor allem sportliche Ansprüche knüpfen, die sie auch an eine Achterbahnfahrt stellen: Wer kommt ins Ziel, ohne zu kotzen? Die offene, unverstellte, pubertäre Freude am möglichst plakativen Schrecken ist eine Quelle, die schon im 19. Jahrhundert das Theater des „Grand Guignol“ speiste. Sie wird allerdings durch Alter und ‚Reife‘ oft ihre Wirkung beraubt.
Bei nüchterner Betrachtung schlägt dieser forcierte Horror rasch ins Gegenteil um: Der mörderische Overkill wird lächerlich, was keinesfalls im Sinn des Verfassers sein dürfte. Doch die Gefahr ist groß. „Zerfleischt“ dehnt eine simple Story auf mehr als 400 Seiten. Curran ist ein engagierter Autor, aber auch ihm gelingt es auf Dauer nicht, den Horror-Level der Gore-&-Sex-Szenen aufrechtzuerhalten. Nach dem x-ten ausgeweideten, geschändeten, vollgepinkelten Pechvogel gibt es keine Steigerung mehr.
Die Flucht ist das Ziel
Dem steht kein narrativer Ausgleich gegenüber. Curran bemüht sich durchaus und lässt die Hauptfiguren Louis und Macy immer wieder in dem blutrünstigen Greenlawn-Getümmel auftauchen, wo sie die allmählich verklingende ‚Stimme der Vernunft‘ bzw. den entsetzten Leser repräsentieren. Sie benehmen sich weder planvoll noch außergewöhnlich panisch, sondern queren Greenlawn beinahe gemächlich, um dorthin zu geraten, wo etwas Interessantes = Schauerliches geschieht.
Curran ist zudem kein Stephen King, der uns auch absolute Durchschnittsbürger ans Herz legen kann. Das Schicksal dieser Figuren rührt uns nicht. Deshalb kann das happy-end-frei Finale keinen erschütternden Schlusspunkt setzen, sondern beendet eine Geschichte, die längst erzählt ist und ins Leere zu laufen beginnt.
Achtung muss man Curran für die Entscheidung zollen, die detailfroh geschilderten Gräuel nicht durch die heute so beliebten Zynismen zusätzlich zu ‚würzen‘. Was geschieht, wird als furchtbar anerkannt und nicht ‚humorvoll‘ gebrochen. Die Geschichte wird dadurch freilich nicht wirklich besser. Vor allem straft sie die begleitende Werbung Lügen, die u. a. so hechelt: „Der ultimative Thriller! Wenn Lesen zur Mutprobe wird …“ Dies ist ein trauriges Fischen nach den Armen im Geiste und entwertet unnötig einen Roman, der auf seine durchschnittliche Weise reibungslos funktioniert, d. h. auf Bauchebene unterhält.
Autor
Tim Curran (geb. 1963) hält sich zumindest in Sachen Privatleben bedeckt. Er lebt mit Ehefrau und drei Kindern im US-Staat Michigan und ist kein Vollzeit-Autor, sondern arbeitet hauptberuflich in einer Fabrik.
Auf seiner Website weicht er einer ‚ordentlichen‘ Biografie aus und schreibt stattdessen über seine Kinder- und Jugendjahre und wie er die Liebe zur Phantastik entdeckte. Curran schätzt die Altmeister wie Lovecraft ebenso wie den zynisch-groben Horror der EC-Comics aus den 1950er Jahren.
Taschenbuch: 411 Seiten
Originaltitel: The Devil Next Door (Melbourne : Severed Press 2009)
Übersetzung: Verena Hacker u. Felix F. Frey
Cover: Ben Baldwin
http://www.festa-verlag.de
eBook: 1112 KB
ISBN-13: 978-3-86552-168-2
http://www.festa-verlag.de
Der Autor vergibt: