David Lagercrantz – The Girl Who Takes an Eye for an Eye (Millennium 5)

Das Rätsel der Zwillinge

Obwohl sie zu zwei Monaten Hochsicherheitsgefängnis verurteilt worden ist, weil sie einem entführten Jungen das Leben rettete, sagt Lisbeth Salander wie so häufig kein Wort zu ihrer Verteidigung. Als Salanders Ziehvater und Vormund Holger Palmgren von der Vergangenheit und alten Unterlagen erzählt, erinnert sie sich an die bedrohliche Frau mit dem Brandmal am Hals. Weil diese Frau Lisbeths prügelnden Vater Zalachenko in Schutz nahm, hasst Salander sie. Doch vorerst muss sie sich darum kümmern, dass eine junge Pakistani die Übergriffe einer Tyrannin überlebt…

Der Autor

David Lagercrantz, 1962 geboren, debütierte als Autor mit dem Bestseller „Allein auf dem Everest“. Seitdem hat er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht, zuletzt die Lebensgeschichte Zlatan Ibrahimovics. Im Dezember 2013 wurde er vom schwedischen Originalverlag und Stieg Larssons Familie ausgewählt, den 4. Band der MILLENNIUM-Romane zu schreiben. Die Idee zum 5. Band kam ihm beim Besuch einer alten Stockholmer Kirche. Lagercrantz ist verheiratet und lebt in Stockholm.

Der MILLENNIUM-Zyklus

1) Verblendung (The girl with the dragon tattoo)
2) Verdammnis (The girl who played with fire)
3) Vergebung (The girl who kicked the hornet’s nest)
4) Verschwörung (The girl in the spider’s web)
5) Verfolgung (The Girl Who Takes an Eye for an Eye)

Handlung

Der Staatsanwalt hat es endlich geschafft, Lisbeth Salander einbuchten zu lassen. Sie hatte einem entführten Jungen mit allen notwendigen Mitteln das Leben gerettet (siehe Band 4), doch keine gute Tat bleibt unbestraft. Nun soll sie hier zwei Monate im Flodberga-Hochsicherheitsgefängnis absitzen. „Hochsicherheit“ deshalb, weil der Staatsanwalt wenigstens das kapiert: Dass Lisbeths Zwillingsschwester Camilla und ihre russischen Gangster eine Bedrohung für die Insassin darstellen.

Dumm nur, dass in Flodberga auch richtige Schwerverbrecher einsitzen. Mörderinnen wie Benito etwa, die ehemalige Beatrice Andersson, die angeblich malaiische Dolche besitzt. Lisbeth hat schnell gemerkt, dass Benito in diesem Knast das Regiment führt, sowohl unter den Häftlingen als auch unter den eingeschüchterten Aufsehern. Benito droht damit, dass ihr malaiischer Kris-Dolch auf sie warte.

Aber sie ahnt nicht, dass Lisbeth für jede unterdrückte Frau alles tun würde, um sie zu schützen. Eine Frau wie die Pakistani Faria Kazi beispielsweise, die nichts weiter getan hat, als einen ihrer tyrannischen Brüder aus dem Fenster zu stoßen, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Brüder ihren Geliebten, einen pakistanischen Liberalen, vor eine einfahrende U-Bahn stoßen ließen.

Lisbeth sieht nur eine Chance, mit Benito fertigzuwerden und weitere Repressalien zu vermeiden: Sie muss den Oberaufseher Krister Olsen auf ihre Seite ziehen. Natürlich wird er ebenfalls von Benito erpresst. In einer Krisensituation kommt es zum Showdown zwischen Lisbeth, Krister und Benito. Doch Lisbeth hat es vor allem auch auf Kristers Computer und dessen Internetzugang abgesehen…

Projekt 9

Den Anlass, im Internet zu recherchieren, hat Lisbeth der einzige Besuch ihres geliebten Ziehvaters und Vormunds Holger Palmgren gegeben. In seinem Rollstuhl kam der kranke, alte Mann hinaus in die kalte Pampa von Flodberga, um ihr eine wichtige Frage zu stellen. Er hatte Unterlagen erhalten, Unterlagen über St. Stefan, das Psychiatrie-Institut, in dem Dr. Peter Teleborian Lisbeth psychisch gefoltert hatte.

Offenbar war das vor Jahren auf Veranlassung einer selbsternannten Kommission von Wissenschaftlern geschehen, das sich sozial-genetischen Experimenten an Zwillingen verschrieben hatte. Dass dieses „Projekt 9“ von der Kommission auch an St. Stefan realisiert wurde, gehe aus den Unterlagen der Assistentin der inzwischen verstorbenen Direktors von St. Stefan hervor.

Besonders verstörend ist indes nicht nur der Fall der Zwillinge Lisbeth und Camilla Salander, sondern auch der von Leo Mannheimer, dessen Zwilling vermisst wird. Palmgren wollte nicht nur darüber etwas wissen, sondern vor allem über die Frau, die zwischen der Kommission und St. Stefan bzw. Teleborian Anweisungen und Erkenntnisse übertrug. Sie hatte ein auffälliges Brandmal am Hals, erinnert sich Lisbeth. Die Frau tauchte erstmals auf, als Lisbeth sechs Jahre alt war – also ein halbes Dutzend Jahre vor ihrem Anschlag auf ihren Vater.

In letzter Sekunde

Als Mikael Blomkvist wieder mal einen seiner regelmäßigen Besuche bei Lisbeth abstattet, die ihm nicht nur gute Stories fürs MILLENNIUM-Magazin geliefert, sondern auch sein Leben gerettet hat, sagt sie ihm, er soll nach dem Namen Leo Mannheimer suchen – und Holger Palmgren, ihren Anwalt und Ziehvater, besuchen.

Pflichtschuldigst recherchiert Mikke nach Mannheimer – und stößt auf jenen aufsehenerregenden Jagdunfall, bei dem der Psychologe Carl Seger auf so mysteriöse Weise erschossen wurde, dass er Schlagzeilen machte. War es wirklich ein Unfall, wie der Jagdveranstalter, der Großindustrielle Ivar Ögren, behauptet, oder Mord? Wusste Carl Seger zu viel über Mannheimer? Ivar Ögren ist der Halbbruder von Mannheimer, also musste Leo Mannheimer von Ögren senior adoptiert worden sein. Woher stammt Mannheimer, hat er einen Zwilling, und wer ist seine Verbindung zu Projekt 9?

Als Mikael endlich Zeit hat, das Pflegeheim zu besuchen, wo Holger Palmgren, den er bestens kennt, bettlägerig lebt, ist er bestürzt über den Anblick, der sich ihm bietet. Der alte Mann liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinem Bett und ringt mit aller Kraft nach Luft…

Mein Eindruck

Der Plot besteht also aus drei bis vier Strängen, aber die Frage ist, ob sie als Gesamtheit einen Sinn ergeben und eine Botschaft vermitteln. Dass Lisbeth unter den halbstaatlichen Institutionen auf ungerechteste Weise hat leiden müssen, wissen wir aus der ersten Trilogie, spätestens aus Band 3. Nun leidet sie wieder: in Flodberga. Sie will eigentlich Quantenphysik studieren, aber das hält sie nicht davon ab, Faria Kazi zu beschützen und sich dafür mit Benito anzulegen. Als der Showdown vorüber, ist der Aufruhr natürlich groß – bis in die Verwaltungskreise und die Landeskripo um Kommissar Bublanski.

Dass Benito eine Waffe hat, ist eh schon ein Skandal, aber dass sie nun auch noch einen Auftrag von Faria Kazis mörderischen Brüdern annimmt, führt geradewegs in eine Katastrophe: Lisbeth will den geplanten Ehrenmord an Faria auf jeden Fall verhindern, was sie in die Schusslinie bringt.

Faria Kazis Leben in dem Gefängnis ihres Elternhauses nimmt einen überraschend großen Teil des Buches ein. Der Autor stellt keine Verbindung zwischen Farias Handlungsstrang und dem Handlungsfaden von Leo Mannheimer her, was ich reichlich unbefriedigend fand – eine Geschichte sollte keine losen Fäden aufweisen. Die Verbindung zu Leo Mannheimer stellen vielmehr Holger Palmgren und Mikael Blomkvist her – Projekt 9.

Projekt 9

Worum es sich dabei handelt, ist Gegenstand von Mikaels Recherche, Bublanskis Suche und Leo Mannheimers Neugier. Mannheimer befindet sich in einer einzigartigen Lage: Sein verschollener Zwilling ist aufgetaucht und bietet ihm, nach einigen Unterredungen, einen einzigartigen Deal an: Rollentausch. Mikaels Aufgabe und die vieler anderer besteht nun darin herauszufinden, wer welcher Zwilling ist.

Dies trifft allerdings auch auf den Racheengel zu, der Holger Palmgren auf dem Gewissen hat. Niemand soll etwas über das schiefgelaufene Projekt 9 erfahren, am wenigsten die Zwillinge, die Opfer des Projekts. Denn inzwischen sind die früheren Kommissionsmitglieder angesehene Inhaber von Ämtern und Würden – sie wollen nicht, dass die Vergangenheit sie einholt. Der Racheengel aber hat keine Zukunft mehr. Todkranke haben nun mal nichts mehr zu verlieren. Schon bald hinterlässt der Killer eine Fährte von Leichen hinter sich…

Unterm Strich

Prinzipiell hat der Plot das Zeug zu einem mitreißenden Thriller, aktuell, serienkompatibel und anrührend. Doch das reichte Lagercrantz nicht: Er musste auch noch, um sein Seitenpensum zu erreichen, die Schicksale des zweiten Mannheimer-Zwillings und von Faria Kazi lang und breit auswalzen.

Das sorgt zwar für viel „human touch“, aber wenig Spannung. Stattdessen hätte er sich besser noch ein paar Wendungen einfallen lassen sollen, die den Leser bei der Stange halten. Leider ist dies kein Agententhriller, denn man à la Jason Bourne endlos mit Wendungen spicken und weiterspinnen kann.

So aber steuert die verzweigte Story auf zwei oder drei Ebenen auf eine Krise, einen Showdown und eine Auflösung zu. Das ist zwar auch in gewissem Maße befriedigend, zwingt den Leser aber, die Längen in der Mitte in Kauf zu nehmen. Mir war das zu wenig Adrenalin, sondern zuviel Oxytocin – das Hormon, das in Menschen für Bindung und Mitgefühl zuständig ist. Weibliche Leser dürften sich von diesem Mischungsverhältnis vermutlich mehr angesprochen fühlen.

Lisbeths Drache

Fans von Lisbeth Salander, der dunklen Schwester von Pippi Langstrumpf, erwarten, dass ihnen das Buch mehr über ihr Idol verrät. Für den Autor war dies die Frage: Warum hat Lisbeth eigentlich ein Drachen-Tattoo auf dem Rücken? Und wie steht sie zu Drachen und Rittern im Allgemeinen? Dass sie sich selbst zu helfen weiß, dürfte allgemein bekannt sein. Soll der Drache sie an den Racheengel mit dem Brandmal erinnern, der so viel Unglück über ihre Familie gebracht hat? Ob es der Autor schafft, die erwarteten Antworten zu liefern, muss jeder Leser selbst beurteilen. Mir leuchteten sie nicht ein, aber ich nahm mir wohl nicht genügend Zeit zum Überlegen.

Deshalb reicht es in der Wertung zu nicht mehr als drei von fünf Sternen.

Taschenbuch: 362 Seiten
Sprache: Englisch
Info: Mannen som sökte sin skugga; The Girl Who Takes an Eye for an Eye, 2017
Üübersetzt von George Goulding.

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