Janice Deaners Debütroman „Als der Blues begann“ wurde bereits 1994 in Deutschland veröffentlicht und erhielt viel Lob. Im Sommer 2007 bringt |Rowohlt| das Buch als Neuauflage heraus, um dem geneigten Leser mit einem wunderbaren Familienroman in der heißen Jahreszeit zu erfrischen.
Die zehnjährige Maddie lebt mit ihrer älteren Schwester Elena, dem kleinen Bruder Harry und den Eltern Leo und Lana in den Siebzigern in Detroit. Leo gibt Klavierunterricht, während Lana von sich behauptet, Schriftstellerin zu sein, und den ganzen Tag in einem Sessel sitzt und in Notizbücher schreibt, die ihre Kinder nicht lesen dürfen.
Der gefestigte Kosmos der Familie wird durcheinandergebracht, als sie in eine winzige, provinzielle Stadt im Staat New York ziehen, weil Leo eine Stelle an der Colgate-Universität bekommen hat. Lana, die ihre Vergangenheit sorgsam hütet, verändert sich plötzlich. Ihre Launen schwanken heftig von zornig bis ängstlich. Immer wieder ist sie krank. Es scheint, als ob sie und Leo etwas vor ihren Kindern verbergen. Wieso zum Beispiel hinkt Lana? Warum mag sie es nicht, wenn Leo Jazz auf dem Klavier spielt? Und was hat es mit der großen Narbe an Lanas Hüfte auf sich, die Maddie eines Tages zufällig entdeckt?
Für die beiden Schwestern wird die angespannte Lage in der Familie so unerträglich, dass sie eines Tages anfangen, Lanas gehütete Notizbücher zu lesen – und Dinge herausfinden, die weitreichende Folgen für sie und ihre Familie haben …
Janice Deaner erzählt ihre Geschichte aus der Sicht der zehnjährigen, neugierigen Maddie und trifft die kindliche Perspektive dabei sehr gut. Sie erzählt mit wachem Auge und viel Liebe zum Detail von den Erlebnissen der Familie und legt über alles diese gewisse kindliche Magie. Maddie, die in der Halbschwarzen Lizzy eine gute Freundin findet, haftet ein gewisser Aberglaube und eine naive Leichtgläubigkeit an, die sie sehr authentisch wirken lassen. Maddie ist zum Beispiel fest davon überzeugt, dass das erste Lesen von Lanas Notizbüchern dazu geführt hat, dass es ihrer Mutter wieder schlechter geht. Auch das Dorfmärchen, das man über die alte verwirrte Minnie Harper erzählt – nämlich dass ihr die Zunge herausgeschnitten wurde und sie einen Nazi in ihrem abgelegenen Haus versteckt -, schluckt sie, ohne es zu hinterfragen, und macht es sich zusammen mit ihrer Freundin zu ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung, die alte Frau zu ärgern.
Deaners Feingefühl für ihre aus der Ich-Perspektive erzählende Protagonistin wirkt am stärksten bei dieser ominösen Sache mit den Nerven. Nachdem Maddie einmal aufgeschnappt hat, dass Lana, immer wenn sie mal wieder ausrastet, etwas mit den Nerven hat, geht sie davon aus, dass das Kribbeln in ihrem Körper, dass sie in emotional aufwühlenden Situationen verspürt, ebenfalls mit ihren Nerven zusammenhängt. Ihre Nerven werden ihr regelmäßiger Begleiter und sie redet von ihnen, als ob sie ein Eigenleben in ihrem Körper führten.
„Meine Nerven wurden schlimmer. Entweder sie wuchsen oder sie bekamen Babys, denn plötzlich lasteten sie viel schwerer in meinem Körper.“ (Seite 320)
Maddies Persönlichkeit und Deaners Schreibstil gehen eine Personalunion ein, die dem Buch eine gute erzählerische Grundlage untermauert. Besonders Letzterer tut sich durch seine angenehme Art und Weise hervor. Deaner erzählt kindlich-einfältig, aber dennoch sehr weitblickend. Sie wählt ihre Worte geschickt und aus einem großen Wortschatz, der sich aber nie über seine Protagonistin erhebt.
Einfache, aber effektive Metaphern und Bilder runden das Spektakel ab, das immerhin über 570 Seiten füllt. Maddies plappernde Erzählweise zieht sich vom Anfang bis zum Ende durch, nur unterbrochen von den deutlich erwachseneren Tagebucheinträgen von Lana, und rundet das Buch wunderbar ab.
Würze erhält die Geschichte von den anderen, teils sehr abstrusen Charakteren, die sich durch Originalität auszeichnen. Neben der gruseligen Minnie Harper spielt vor allem die leicht verrückte, aber liebenswerte Mrs. Thomas, die Nachbarin der Familie, eine große Rolle. Sie hat ein Zimmer voller Vögel und hält auch sonst immer wieder eine Überraschung für die Kinder bereit. Da Maddie ihr morgendliches Gebet auf Hindu falsch deutet (|“‚Sie verliert den Verstand‘, flüsterte ich. ‚Das passiert immer frühmorgens, und dann geht es wieder weg. In ein paar Stunden ist sie wieder ganz normal.'“| (Seite 198)), glaubt sie, ihr die Sache mit den Nerven anvertrauen zu können. Tatsächlich gibt Mrs. Thomas ihr eine kleine indische Statue, und Maddie ist natürlich fest davon überzeugt, dass das kleine Metallwesen ihr hilft.
Derartig gut ausgearbeitete und unkonventionelle Charaktere bereichern die Geschichte, deren Handlung manchmal auf der Stelle tritt, ungemein. Überhaupt ist die Länge des Buches vermutlich der einzige Kritikpunkt. Deaner stellt Lanas Geheimnis nicht unbedingt in den Vordergrund des Geschehens, auch wenn es immer wieder ins Rampenlicht stolpert. Sie benutzt das Auftreten der familiären Probleme, die ihren Ursprung in dem Geheimnis haben, und dessen Auflösung vielmehr als Eckpunkte für einen bestimmten Zeitraum, in dem sie ihre vielschichtige Geschichte ansiedelt.
Ab und zu verliert sie Lanas Geheimnis aus den Augen, weil für Maddie kurzzeitig andere Dinge wichtig sind. Man kann also nicht von einem linearen Handlungsstrang sprechen, und wenn man es dennoch wollte, hätte der Strang einige Knoten und Schleifen. Deaner begeht den Fehler, dass sie dem Leser zwar häppchenweise Hinweise auf Lanas Vergangenheit hinwirft, diese aber wiederholt anstatt neue in ihr Repertoire aufzunehmen. Bei fast 600 Seiten Länge kann das schon mal stören und gerade in der Mitte des Buche entstehen dadurch einige Längen in der ansonsten interessanten und unterhaltsamen Handlung.
Als Fazit lässt sich sagen, dass Janice Deaner mit „Als der Blues begann“ ein wunderbares Buch gelungen ist, das sehr ungezwungen aus der Perspektive eines zehnjährigen Mädchens erzählt wird. Einzig die Handlung stolpert an einigen Stellen über ihre eigenen Ansprüche, doch insgesamt ist der Roman wirklich lesenswert.
Taschenbuch: 576 Seiten
Originaltitel: Where Blues Begins
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