Martina Dierks – Zauber der Johannisnacht

Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Auf dem Landgut Fünf Eichen von Baron und Baronin von Steckel in der Mark Brandenburg wachsen zwei ungleiche Schwestern auf. Die dreizehnjährige Tessa ist ein rothaariger Wildfang. Sie liebt es, in den Wäldern umherzustreifen und Abenteuer zu erleben. Die kleine Florentine dagegen ist ein sanftes blondes Mädchen, das von den Eltern behütet wird. Seit Jahren leidet Tessa darunter, dass ihre Schwester bevorzugt wird, obwohl Florentine nichts für die Zurücksetzung kann.

Im Sommer hält die lebenslustige Marcia aus Berlin als Kindermädchen Einzug auf das Gut. Tessa ist sofort begeistert von der hübschen jungen Frau, die wie eine große Schwester zu ihr ist. Florentine aber mag Marcia nicht. Nach einem Zwischenfall beschuldigt sie Marcia, die daraufhin ihre Sachen packt und verschwindet. Tessa ist todunglücklich und wütender denn je auf ihre Schwester. In der Johannisnacht spricht Tessa einen verhängnisvollen Wunsch aus.

Am nächsten Tag wird der Wunsch Realität: Florentine ist verschwunden. Alles weist darauf hin, dass ein Bär sie verschleppt hat. Tessas Eltern versinken im Unglück und schicken ihre Tochter zur unfreundlichen Tante Mimi nach Berlin. Von Schuldgefühlen geplagt, ergibt sich Tessa in ihr Schicksal. Doch immer wieder meint sie, Florentines Stimme zu hören und ihr Gesicht zu sehen. Allmählich ahnt sie, dass ihre Schwester gar nicht tot ist – sondern gefangen in der Dunkelwelt. Nur Tessa kann sie von dort retten …

Im Zauber der Johannisnacht, die jedes Jahr vom 23. auf den 24. Juni mit einem großen Feuer gefeiert wird, werden nach der Legende Wünsche wahr – auch so mancher unbedacht ausgesprochene Gedanke, wie die Heldin dieses Buches am eigenen Leib erfahren muss.

Spannendes Abenteuer in vergangener Zeit

Autorin Martina Dierks versteht es, vor allem junge Leserinnen an die Handlung zu fesseln mit einer Mischung aus wilder Romantik und Fantasy mit einem Hauch des Unheimlichen. Zunächst wird das Bild einer Idylle gezeichnet mit dem Landgut Fünf Eichen, den umliegenden Wäldern und dem Leben fernab der modernen Großstadtwelt. Der Leser wird in die Zeit des Deutschen Reiches von Kaiser Wilhelm II. versetzt, in eine Epoche, in der fließendes Wasser ein Luxus ist, Pferdekutschen über die Straßen fahren, Gaukler auf dem Marktplatz ihre Künste zeigen und sich der Adel auf feinen Gesellschaften trifft. Der historische Hintergrund wird lediglich angerissen, sodass Kinder keine Vorkenntnisse mitbringen müssen.

Stattdessen konzentriert sich alles auf das Einbrechen der gefährlichen Dunkelwelt in das Leben der Hauptfigur Tessa. Es gilt herauszufinden, was mit der kleinen Florentine geschehen ist, wie ihre Schwester sie retten kann und wer alles darin verwickelt ist – vielleicht die liebenswerte Marcia, mit deren Auftreten alles begonnen hat? Die seltsame Puppe Clarissa, die Marcia dem Mädchen schenkte und die angeblich nachts lebendig wird? Das Zigeunermädchen, das sie verkauft hat, und der Zauberer und Spielzeugmacher, der sie herstellte? Der Zwerg auf dem Jahrmarkt, dem Tessa mehrfach begegnet? Vielleicht sogar die Dienstmädchen Klara und Berta, von denen sich Tessa beobachtet fühlt? Immer häufiger sieht das Mädchen dunkle Schatten und hört wispernde Stimmen, die niemand außer ihr wahrzunehmen scheint. Ein altes Amulett beschützt sie, aber dennoch ist es ein weiter und vor allem gefährlicher Weg zu ihrer kleinen Schwester, und Tessa muss Prüfungen bestehen, um Florentine vielleicht doch noch in ihre Welt zurückzuholen.

Sympathische Charaktere

Keine der Figuren ist besonders tief gezeichnet, aber vor allem Tessa ist sehr sympathisch, gerade trotz ihrer Fehler. Obwohl sie als Baronesse nach außen hin scheinbar ein sorgenfreies Leben führt, leidet sie sehr unter der Zurückweisung der Eltern gegenüber Florentine. Oft muss sie zugunsten der kleinen Schwester zurückstecken, muss den Babysitter spielen und wird ständig beschuldigt, die Kleine geärgert zu haben. Da ist es verständlich, dass sie Neidgefühle entwickelt und ihrerseits Florentine immer öfter abweist.

Eine interessante Person ist Marcia, die für Tessa zunächst einen Lichtblick im grauen Alltag darstellt. Als einer der wenigen Menschen von Fünf Eichen ist sie Florentine nicht sogleich verfallen und konzentriert sich stattdessen auf Tessa. Das heranwachsende Mädchen bewundert sie selbstbewusste Art der junge Frau, die den Großstadtflair von Berlin auf dem Landgut lebendig werden lässt. Marcia duftet nach Parfüm, reitet im Herrensitz und liebt Unternehmungen ebenso wie Tessa, ganz anders als die langweiligen Gouvernanten, die es bisher auf Fünf Eichen gab.

Eine sehr liebenswerte Nebenfigur ist die alte Magd Emilia, seit Jahren eine enge Vertraute von Tessa, die die Geheimnisse der Dunkelwelt kennt und ihr das Amulett vermacht, das Tessa noch lebenswichtige Dienste erweisen wird. In Berlin treten außerdem noch der pfiffige Botenjunge Pierre, der bald mit Tessa Freundschaft schließt, und ein aufdringlicher Dichter in Erscheinung, der zunächst nur einen sensationsgierigen Artikel über die verschwundene Florentine schreiben will und schließlich Tessa doch noch gute Hilfe leistet.

Nur kleine Schwächen

Bei der Charakterisierung der Figuren sind leider Baron und Baronin von Steckel etwas zu kurz gekommen. Außer dass sie wenig Zeit für Tessa aufbringen und Florentine ihr Liebling ist, erfährt man kaum etwas über sie; sie bleiben Abziehbilder, vielbeschäftigte reiche Eltern ohne erkennbare nähere Züge.

Weiterhin fällt auf, dass Tessa bei ihrem Unterfangen, die Schwester zu befreien, mehrfach durch den Zufall unterstützt wird. Einen Verräter etwa erkennt sie nur, weil sie ein verborgenes Accessoire bei ihm entdeckt. Stilistisch ist vor allem anfangs zu bemerken, dass es einige Wiederholungen bei den Inquit-Formeln gibt, etwa wenn Marcia alle paar Sätze etwas „flüstert“ oder „lachend“ sagt, gerade weil die Autorin einen sonst souveränen Stil pflegt.

Als Fazit bleibt ein empfehlenswerter Roman für Mädchen ab zehn Jahren, der Historie mit Fantasy und etwas Grusel verbindet. Hauptfigur Tessa ist eine sympathische Identifikationsfigur, die eine spannende Geschichte erlebt und ein paar Kenntnisse über eine vergangenen Epoche werden nebenbei vermittelt. Vielleicht erscheint ja sogar mal eine Fortsetzung, es wäre auf jeden Fall zu wünschen.

Die Autorin Martina Dierks wurde 1953 in Ostberlin geboren und siedelte 1961 nach Westberlin über. Nach ihrem Studium der Germanistik und Slawistik arbeitete sie in zahlreichen Berufen, ehe sie sich ab 1987 hauptberuflich dem Schreiben widmete. Ihr Spezialgebiet sind Kinder- und Jugendromane. Weitere Werke sind u. a. „Hexengewitter“, „Der Feenkrieg“ und „Die Rollstuhlprinzessin“.

Gebundene Ausgabe: 280 Seiten
www.arena-verlag.de