Dieter Wellershoff – Der Liebeswunsch (Hörbuch)

Im Viereck der Begierden: Liebeswahn und Liebestod

Wellershof erzählt in seinem Roman die dramatische Geschichte eines Ehebruchs und dessen Folgen. Marlene hat vor Jahren ihren Mann Leonhard verlassen, um mit dessen bestem Freund Paul zusammenzuleben. Nur mühsam gelang es ihnen, den Freundschaftsbund wieder in Balance zu bringen. Als Leonhard die junge Anja heiratet, scheint das Glück wiederhergestellt. Aber Leonhard kann Anjas verzweifelten Wunsch nach Liebe nicht erfüllen. Und so wiederholt sich die Geschichte. Anja betrügt ihren Mann mit Paul – und zahlt dafür einen hohen Preis…

Der Autor erzählt die subtile Dramatik des Geschehens aus den wechselnden Perspektiven seiner Figuren. Man erlebt sie in ihren privaten und beruflichen Lebenswelten und blickt in die Intimität ihrer heimlichen Gedanken und Gefühle. Jeder versucht die anderen zu durchschauen und zu beeinflussen, während sich etwas vollzieht, das ihnen allen aus der Hand gleitet. (Verlagsinfo)

Der Autor

Dieter Wellershoff (* 3. November 1925 in Neuss; † 15. Juni 2018 in Köln) war ein deutscher Schriftsteller.

Sein vielseitiges Werk umfasst Romane, Erzählungen, Novellen, Hörspiele, Bühnenstücke, Drehbücher und Lyrik. Begleitet werden diese Arbeiten von zahlreichen Essays zu literarischen, kunst- und zeitgeschichtlichen Themen. Mit autobiographischen Werken hat er zeitgeschichtliche Dokumente geschaffen.

Stark geprägt durch die Erfahrung des zufälligen Sterbens und Überlebens als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg, stellte Wellershoff in seinen Schriften immer wieder scheinbare Gewissheiten in Frage. Als Sinn seines Schreibens sah er „die Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung des Lebens.“ „Eine ‚Probebühne des Lebens‘ sollen seine fiktionalen Geschichten sein, ein literarischer Simulationsraum, in dem man sich riskante Karrieren quasi gefahrlos ansehen kann, ohne den oft tödlichen Preis der Protagonisten dafür zahlen zu müssen.“ (Quelle: Wikipedia)

Biografie und Werkverzeichnis: https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Wellershoff

Die Sprecher

Gudrun Landgrebe (Marlene) war „Die flambierte Frau“ und trat in „Rossini“ neben den bekanntesten deutschen Schauspielern auf. Sie fing als Theaterschauspielerin an, tritt aber heute in erster Linie in Film und Fernsehen auf. Die Figur der Marlene ist ihr wie auf den Leib geschnitten.

Ulrich Pleitgen (Paul), geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatl. Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken.

Udo Schenk (Leonhard), geboren 1953 im ostdeutschen Wittenberge, erhielt seine Schauspielausbildung an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in leipzig. Er ist uns bekannt als die deutsche Stimme von Keanu Reeves (The Matrix), Kevin Bacon (The Hollow Man) und Ralph Fiennes (Der englische Patient). Er tritt auch selbst auf der Bühne, in Film und Fernsehen auf. Seine Figur des Leonhard erscheint zugleich kraftvoll als auch verletzlich.

Anne Moll (Anja), geboren 1966 in Rostock, studierte Schaspielkunst und machte sich auf Bühnen zwischen Hamburg und Dresden, als Sprecherin beim Rundfunk und als Synchronsprecherin einen Namen. Sie interpretiert Anja als eine fragile und sensible Person.

Handlung

Es geht um ein Quartett von Freunden, das in einem fragilen Gleichgewicht wie ein Mobile existiert.

Marlene, die einst Leonhard verlassen hat, um seinen besten Freund Paul zu heiraten, kann endlich aufatmen: Leonhard hat schließlich wieder geheiratet – Anja, eine knapp 30-jährige Germanistikstudentin, die viel jünger ist als er. Nun scheint die Balance der freundschaftlichen Beziehungen vollends wieder hergestellt.

Doch die Freundschaftsrituale scheitern, die gemeinsamen Rommé-Abende werden zum Fiasko. Das labile Geflecht gerät durch den Liebeswunsch der jungen Ehefrau Anja, die ihrer als falsch empfundenen Ehe mit dem gestrengen Richter Leonhard zu entkommen sucht, erneut aus dem Gleichgewicht.

Als ihr dreijähriger Sohn Daniel sich mit kochender Milch verbrüht – sonst macht sie immer sein Frühstück, doch sie verschlief, und Leonhard musste zu einem Gerichtstermin – gerät Anjas eh schon labile Welt aus den Fugen. Sie erzählt nicht mehr von sich in der ersten, sondern in der dritten Person: All der Wahnsinn, der nun folgt, scheint einer Anderen zuzustoßen, mit der sie lediglich den Körper teilt, aber nicht denselben Geist.

Schließlich taucht endlich auch Paul auf, Marlenes Mann, ebenfalls ein Arzt, noch dazu in der gleichen Klinik. Marlene registrierte schon, wie sich Anja an ihn herangemacht hat. Paul kann sich Anjas Anziehungskraft, ihrem „Liebeswahn“, wie er sagt, nicht verschließen. Marlene hat es in der Hand, alle Bindungen auseinanderfallen zu lassen. Dabei steht von vornherein eines fest: Anja wird es büßen müssen. Die Frage ist nur, ob ihr irgendjemand zu Hilfe kommen wird.

Mein Eindruck

Die Geschichte wird aus den wechselnden Perspektiven der Figuren erzählt. Das Geschehen entwickelt eine unterschwellige Art von Dramatik. Der Hörer erlebt die Figuren in ihren privaten, aber auch ihren beruflichen Lebenswelten. Immer tiefer blickt man in den intimen Bereich ihrer heimlichen Gedanken und Gefühle. Jeder versucht die anderen im Viereck zu durchschauen und zu beeinflussen. Doch währenddessen vollzieht sich etwas, das allen miteinander außer Kontrolle gerät: So etwas wie Verhängnis.

Dabei ist Anjas Figur, mit der die Geschichte beginnt, sicherlich die interessanteste: Sie hat den Liebeswunsch. Sie stimmt Leonhards Heiratswunsch beiläufig zu, als habe er sie zu einem Pizzaessen eingeladen. Im Vergleich zu ihr nimmt sich die erfahrene Marlene wie eine ältere Schwester aus. Als Anjas Ehe zu einer hohlen Fassade verkommt und sie in die seelische Dissoziation abdriftet und dem Alkohol verfällt, muss Marlene immer öfter Krankenschwester spielen.

Dabei weiß Marlene sehr wohl, welches üble Spiel Leonhard mit Anja treibt: Die neue „Frau an seiner Seite“ ist nur der Platzhalter, den er braucht, um als respektabler Familienvater renommieren zu können, wenn er sich als Paradebeispiel der bürgerlichen Gesellschaft selbst zelebriert: auf Soireen, Empfängen, in der Zeitung, natürlich auch vor Gericht. Er ist eine Instanz – im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar vorerst nur am Landgericht, aber er strebt zu Höherem (und das tritt auch ein: im Epilog „Nachspuk“). Doch Anjas Schultern, auf denen er steht, werden ihn nicht lange tragen…

Auch Marlene ist sich ihrer Macht bewusst, ihrer Macht über Männer. Sie hat sich von Leonhard getrennt und Paul, seinen besten Freund vor die Wahl gestellt: ich oder deine Familie. Paul wählt Marlene, doch ist er glücklich mit seiner Wahl? Paul ist der rätselhafteste der drei Ur-Freunde, da er seine Zuwendung jeder schenkt, die sie haben will. Am Ende dürfte er damit auch Probleme für seine Karriere heraufbeschwören. Wer will schon einen Chefarzt, der jedes Karbolmäuschen flachlegt?

Die Sprecher

Die vier Sprecher leihen ihrer jeweiligen Figur mit großem Einfühlungsvermögen ihre Stimme. Sie geben ihr jeweils ein eigenes unverkennbares Gesicht und bringen die Gemütslage mit Hilfe feiner Nuancen zum Ausdruck. So versetzen sie den Hörer in die Seelenwelt der verschiedenen Charaktere – Voraussetzung für das Miterleben des zu entfaltenden Dramas.

Am stärksten hat mich die Sprecherin der Anja beeindruckt. Anne Moll versteht es, durch zurückhaltendes und akzentuiertes Sprechen die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu fesseln und selbst über längere Zeit zu binden. Das gelingt den anderen „Figuren“, die sich in rationalen Erwägungen ergehen und alle Emotionen intellektuell sezieren, nur selten.

Anjas Wahn hingegen, der durchaus Methode hat, auch wenn ihr nicht zu helfen ist – Anjas Liebeswunsch provoziert die Sympathie in jeder romantisch veranlagten Seele und sammelt Pluspunkte. Der Grund, warum sie damit scheitern muss, scheint in den weit auseinanderklaffenden Werten und Zielen zweiter unterschiedlicher Generationen zu sein. Doch jeder Held – zumal auf dem Schlachtfeld des Generationenkonflikts — muss sterben, um unsterblich zu werden. Der Freitod: Halb zog er sie, halb sank sie hin.

Unterm Strich

Es ist immer etwas heikel, wenn ein Buch über die Liebe mit vier Hauptfiguren jonglieren muss. Das war schon in Goethes „Wahlverwandtschaften“ so, diesem Experiment in chemischen Verbindungen des Herzens. Die Konstellation verlangt nämlich vom Leser/Zuhörer, nicht mit einem Helden bzw. einer Heldin „mitzuleiden“, sondern seine Sympathie zu verteilen und die Ergebnisse gegeneinander abzuwägen. Fast immer schneiden dabei alle schlecht ab.

Deshalb ist die Figur der Anja in dieser Geschichte von entscheidender Bedeutung: Wenn es gelingt, für ihr Verhalten des vergeblichen und scheiternden Liebeswunsches Verständnis, ja sogar Mitgefühl zu wecken, so wird das Buch insgesamt eine positive Beurteilung erreichen. Lehnt man aber Anjas Sterben nach Liebe und Zuwendung als närrisches Getue ab, so wird auch der Rest der Konstruktion scheitern. Bei mir war ersteres der Fall.

Aber das reicht mir nicht. In einem derart fragil konstruierten Gesellschafts- und Liebesroman sind zwar realistische Schilderungen von Körpern, meist weiblichen, durchaus nicht abzulehnen, aber sollen sie vielleicht der Unterhaltung, sprich: dem Aufgeilen des Lesers/Zuhörers dienen? Hoffentlich nicht. Erotik wäre also nicht der primäre Anreiz für das Lesen/Anhören dieses Buches.

Aber auch Spannung nicht. Obwohl es zahlreiche Leerstellen und die Kluft zwischen Worten und Taten, Gedanken und Gefühlen gibt, so entsteht doch nur selten ein Verdacht, der mörderische Konsequenzen hat. Dies ist kein Krimi: Die drei Ur-Freunde zügeln ihre Leidenschaften, ebenso wie sie ihre Zukunft planen und in die rechten Bahnen lenken. Nicht so Anja: Sie wäre eine potentielle Mörderin aus Leiden-Schaft, doch der einzige Mensch, den sie zugrunde richtet, ist sie selbst. Wenn man von einem Verbrechen reden möchte, so ist es das der unterlassenen und sogar vereitelten Hilfeleistung. Selbst noch dann, wenn Anjas einen letzten Appell an Leonhard richten will, fällt ihr die vernünftige Marlene in den Arm und fährt sie nach Hause (wo nur Unbehaustheit wartet).

Zielgruppe

Wer nichts für die „Wahlverwandtschaften“ und für leidende Romantiker übrighat, wird sich bei dieser Geschichte tödlich langweilen. Doch selbst noch unter diesen Bedingungen findet sich nur selten unterhaltende Sprachkunst: ein Psychogramm der Erfolgsgesellschaft, die so etwas Wahnwitziges wie Liebe nur in fein abgeschotteten Reservaten (das Ehebett, das Kinderzimmer, das Liebesnest usw.) duldet und dabei in Kauf nimmt, dass sie dort an sich selbst zugrundegeht.

457 Minuten auf 6 CDs
ISBN-13: 978-3785711897

www.luebbe.de

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