Disher, Garry – Willkür

Wyatt, inzwischen 40 Jahre alt, kann auf eine 20-jährige Karriere als Berufsverbrecher zurückblicken. Er hatte „klein angefangen, sich zunehmend vervollkommnet, um mit ungefähr dreißig dann ehrgeizigere Vorhaben anzupacken – Banken, Lohngelder, Goldvorräte.“ Jetzt steckt er in einer kritischen Phase: Verschiedene Coups waren in der jüngsten Vergangenheit schief gegangen und ihm fehlt das Geld, weitere Coups vorzubereiten. Zu allem Überfluss hat das Syndikat ein Kopfgeld auf seine Liquidierung ausgesetzt und das macht down-under zu einem gefährlichen Pflaster für ihn.

|“Nicht zum ersten Mal musste er wieder bei null anfangen, doch aus irgendwelchen Gründen stellte er seit neustem langfristige Überlegungen an.“|

Und Wyatt hat noch eine offene Rechnung mit dem Mescis-Clan zu begleichen. Sie hatten ihn in der Vergangenheit um 200.000 Dollar betrogen (von dem im dritten Wyatt-Roman [„Hinterhalt“ 613 erzählt wurde). Wyatt nimmt Kontakt über den pensionierten Berufsverbrecher Rossiter zu seinem alten Partner Frank Jardine auf. Gemeinsam stören die beiden erst mal die operativen Geschäfte des Syndikats, um einerseits die Aussetzung des Kopfgeldes auf Wyatt zu erreichen und andererseits einen Vorschuss für die Ausschaltung des Mescis-Clans zu bekommen. Aber ihre Pläne kollidieren mit den Interessen anderer, die gänzlich andere Absichten verfolgen:

|“Bisher war immer der Ertrag das bestimmende Motiv seines Handelns gewesen. Diesmal jedoch hatten sich zusätzlich Rachegedanken Einlass verschafft.“|

_Victor und Leo Mesic:_ Nach dem Tod des Vaters, dem Clanchef Karl Mesic, droht den beiden Brüdern der Verlust ihrer lukrativen Geschäfte, weil Konkurrenten ihre Schwäche auszunutzen versuchen.

_Bax:_ Der korrupte Detective steht auf der Lohnliste des Mesics-Clans und ist heimlicher Geliebter der Ehefrau von Leo, Stella Mesic. Bax fürchtet nichts mehr als den Verlust seines Lebenstandards, nämlich teure Klamotten und schnelle Autos.

_Rossiter:_ Der ehemalige Berufsverbrecher hat sich aus seinen früheren, erfolgreichen kriminellen Geschäften zurückziehen müssen, als ein Killer ihn übel zurichtete, um Wyatts damaligen Aufenthaltsort herauszubekommen. Eillen, seine Ehefrau, und Niall, sein Sohn und Neonazi, sind deshalb gar nicht gut auf Wyatt zu sprechen.

_Napper:_ Der korrupte Sergant ist geschieden und die Alimentenzahlungen an seine Frau und Tochter haben ihn an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Er sucht verzweifelt Geldquellen, um die sich türmenden Rechnungen bezahlen zu können.

|“Wollte er für den Rest seines Lebens so weitermachen? Würde seine Courage ihm treu bleiben? Wenn er aufhörte zu arbeiten (ein Ende durch Festnahme, Verletzung oder Tod fand keine Berücksichtigung in seinen Erwägungen), besäße er dann ein hinreichend dickes finanzielles Polster für ein angenehmes Leben?“|

Garry Disher erzählt einen komplexen Plot aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner Protagonisten. Souverän verknüpft er dabei die einzelnen Erzählstränge, er wechselt Schauplätze und Perspektiven, beschleunigt und bremst das Tempo und man folgt gespannt und fasziniert seinen Geschichten. Disher erschafft lebendige, unverwechselbare Charaktere, deren Schicksal uns bis zum bitteren Ende fesselt. Die zunächst ruhig dahinfließende Geschichte verdichtet sich mehr und mehr bis hin zu einem furiosen Finale. Garry Disher erzählt seine Geschichte sehr filmisch, knappe Beschreibungen, knappe Dialoge. Sein Stil ist lakonisch, trocken und trotzdem packend. Beeindruckend ist die düstere, |hardboiled| Atmosphäre und die Zwangsläufigkeit, mit der die verschiedenen Interessen der Protagonisten sich in einem großen, explosiven Finale entladen.
Dishers Roman zeichnet sich aber auch durch Ironie, Humor und Persiflage aus. Napper, die heimliche Hauptfigur, wird bis an den Rand der Lächerlichkeit geführt und doch ist er es, der die Zündschnur in Brand setzt.

|“Er schüttelte den Kopf. Ich unterscheide mich nicht im Geringsten von anderen Männern meines Alters, dachte er, mache mir Gedanken über die Jahre bis zum Ruhestand, bis zum Tod.“|

Garry Dishers Wyatt-Romane stehen in der Tradition Donald E. Westlakes, der in den 60er Jahren Furore mit seinen Romanen um den professionellen Dieb Parker machte. Dishers Protagonisten sind ebenfalls Kriminelle und korrupte Bullen. Disher zeichnet dabei seine Figuren als gewöhnliche Menschen mit normalen privaten und beruflichen Problemen. Wyatt plant nicht den großen Coup, sondern sein krimineller Job dient dem ganz normalen Broterwerb. Seine jüngsten Fehlschläge bedrohen seine Unabhängigkeit und zum ersten Mal macht Wyatt sich Sorgen um seine Zukunft. Deutlicher als in seinen früheren Romanen gibt Disher Wyatt menschliche Züge. Er ist nicht mehr der eiskalte Profi, dem niemals Unsicherheit oder Zweifel an seinen Fähigkeiten, eine riskante Situation zu meistern, zu schaffen machen. Wyatt wird zunehmend bewusster, dass er ein Anachronismus in den Zeiten von Kreditkarten und elektronischen Geldtransfers ist, mit seinem Bestreben, ausschließlich Bargeld bei seinen Überfällen zu erbeuten. Mit Wyatt hat Disher eine faszinierend ambivalente Figur geschaffen, die man wider Willen sympathisch findet.

„Willkür“ wird in einem Sog erzählt, der den Leser mitreißt und ihn nicht ruhen lässt, bis die 250 Seiten verschlungen sind. Ein absoluter page-turner. Wyatt macht süchtig … nach mehr Geschichten von Wyatt.
Garry Disher beweist mit seinem vierten Wyatt-Roman seine große Klasse. Er muss einen Vergleich mit dem großen Donald E. Westlake nicht scheuen. Unbedingt empfehlenswert!!!

_Claus Kerkhoff_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|