Donald Wollheim & Arthur Saha (Hg.) – World’s Best SF 7. Die besten SF-Geschichten des Jahres 1987

Klassische SF-Geschichten des Jahres 1987

„Alljährlich stellt Donald A. Wollheim, einer der Väter der Science Fiction, die besten SF-Geschichten seiner Wahl zu einer vielbeachteten Anthologie zusammen, die in die Bibliothek jedes SF-Lesers gehört. Wollheims Jahres-Anthologien machen in überzeugender Weise deutlich, dass Science Fiction das wohl lebendigste und faszinierendste Literaturgenre unserer Zeit ist.“ Soweit die Verlagsinfo. Diese SF-Auswahl beschränkt sich jedoch nur auf den angelsächsischen Sprachraum (USA & UK), denn fremdsprachige SF-AutorInnen sucht man hier vergeblich. Somit kann man sie keineswegs als repräsentativ bezeichnen.

Die Herausgeber

>>Donald A. Wollheim (* 1. Oktober 1914 in New York City; † 2. November 1990 ebenda) war ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor und -Herausgeber.

Wollheim veröffentlichte seine erste Geschichte „The Man from Ariel“ im Jahr 1934 bei Wonder Stories, begann aber erst in den 1940ern, regelmäßig Science-Fiction zu veröffentlichen. Als er das vereinbarte Honorar von Hugo Gernsback nicht pünktlich überwiesen bekam, tat er sich mit anderen Autoren zusammen und verklagte den berühmten Herausgeber erfolgreich. Wollheim organisierte die erste große Convention der Geschichte 1936 in Philadelphia und gründete sowohl die Fantasy Amateur Press Association (FAPA) als auch die Futurians, zu dessen Mitgliedern beispielsweise Frederik Pohl, Cyril M. Kornbluth, Damon Knight, Isaac Asimov und Judith Merril zählten. Wollheim selbst schrieb zahlreiche Erzählungen und einige Romane. 1941 wurde er Herausgeber der Heftreihen „Cosmic Stories“ und „Stirring Science Stories“, in denen er viele Werke von befreundeten Futurians veröffentlichte.

Er gab 1943 die erste Storysammlung heraus, die den Begriff ‚Science Fiction‘ im Namen führte, begründete mehrere langjährig existierende Anthologie-Reihen und gab 1945 die ersten Hardcover-Anthologien heraus. In dem von 1947 bis 1952 in achtzehn Bänden publizierten Avon Fantasy Reader druckte er die seiner Meinung nach besten Stories aus dem Magazin Weird Tales nach.

1952 war Wollheim Mitbegründer von Ace Books, für den er 1964 den Hugo Award entgegennahm. Er erfand die Ace Doubles, bei denen ein Nachdruck eines bekannten und erfolgreichen Buches Rücken an Rücken mit einer Neuerscheinung eines neues Autors zusammengebunden erschien. Auf diese Art baute er zahlreiche bis dato unbekannte Namen auf: Robert Silverberg, Marion Zimmer Bradley, Poul Anderson, Samuel R. Delany, Thomas Burnett Swann, John Brunner, Avram Davidson, A. Bertram Chandler, A. E. van Vogt, Philip K. Dick, Ursula K. Le Guin, Fritz Leiber, R. A. Lafferty, Roger Zelazny, Gordon R. Dickson und Andre Norton.

Außerdem brachte Wollheim – vom Autor nicht autorisiert – eine Paperbackausgabe von Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien heraus, weil Tolkien ihm auf seine Anfrage hin 1964 geantwortet hatte, er wünsche keine Ausgabe seines Werkes in derart degenerierter Form. Diese Zurückweisung ärgerte Wollheim derart, dass er nach einem Schlupfloch in den Urheberrechten daran suchte. Tatsächlich waren die Taschenbuchrechte für die USA nicht eindeutig geregelt. Wollheim schloss daraus, die Rechte für die Staaten seien frei, und legte mit dem, was später als Raubdruck bezeichnet wurde, die Grundlage für den immensen Erfolg des Buches in den USA. Der resultierende Rechtsstreit wurde später zuungunsten von Ace Books entschieden.

1971 gründete er zusammen mit seiner Frau Elsie B. Wollheim seinen eigenen Verlag DAW (nach seinen Initialen) und publizierte dort sehr erfolgreich über Jahrzehnte. Neben denen, die ihm von Ace Books in den neuen Verlag gefolgt waren, entdeckte Wollheim im Lauf der Jahre Caroline Janice Cherryh, Tanith Lee, Tad Williams, Michael Moorcock, Brian Stableford, Jennifer Roberson, E. C. Tubb und Barrington J. Bayley bzw. half ihnen, auch außerhalb Großbritanniens in den USA Fuß zu fassen. Darüber hinaus brachte er auch Science-Fiction aus dem nicht-englischsprachigen Raum heraus, etwa die Gebrüder Strugatzki, Wolfgang Jeschke, Herbert W. Franke, Gerard Klein oder Pierre Barbet.

Erst 1985 übergab er die Chefredaktion an seine Tochter, war aber trotz eines Schlaganfalls 1988 bis zu seinem Lebensende in die Verlagsarbeit als Berater eingebunden.<< (Quelle: Wikipedia.de)

Arthur William Saha (31. October 1923 – 19. November 1999); Nachfahre finnischer Einwanderer, war ein amerikanischer Herausgeber und Anthologist von spekulativer Prosa. Er arbeitete eng mit mit dem Verleger Donald A. Wollheim zusammen und brachte zusammen mit DAW von 1972 bis 1990 neunzehn „Annual World’s Best SF“-Anthologien und eigenständig acht Anthologien „The Year’s Best Fantasy Stories“ (1981-88) heraus. (Quelle: Wikipedia.org)

Die Erzählungen

1) Robert Silverberg: Die Geschichte des Ablassverkäufers (The Pardoner’s Tale)

Die Alien, genannt „Wesenheiten“, haben die Welt erobert und viele Städte mit einer dicken, hohen Mauer versehen. Diese wurde natürlich nicht von ihnen, sondern von Menschen errichtet, so wie die von Los Angeles. Allein schon der Tunnel, der vom Alhambra-Tor ins Becken von L.A. führt, ist 50 Meter lang. Der Mann, der sich gegenüber der Wächter-KI als „John Doe“ ausgibt, ist bis zur Halskrause mit elektronischen Implantaten gespickt. Die doofe KI auszutricksen, ist eine seiner leichtesten Übungen.

John Doe ist ein Ablassverkäufer, das heißt, es verkauft Vergünstigungen gegenüber den drakonischen Verfügungen, Gesetzen und Strafen, mit denen die Wesenheiten die Bürger der Stadt unterjochen und schwach halten. Weil alle Guthaben digital verwaltet werden, kann ein Kunde John Doe die Zugangscodes geben, um a) seinen Kreditstatus nachzuweisen und b) Abhebungen vornehmen zu lassen. So ein Ablass ist nicht billig, aber es ist besser, als die vollen zehn Jahre an der Mauer schuften zu müssen. Besser bloß drei Jahre Restschuld und einen anschließenden Transit, nicht wahr? Der erste Klient am Pershing Square braucht nur 15 Minuten Überredung.

Bei Klientin Nummer zwei geht es sogar noch schneller: Die Japanerin hat zwei Säuglinge daheim, deren Vater gestorben ist. Nun wird sie nur von ihrem Schwiegervater unterstützt, der recht gutbetucht aussieht. Der letzte Bescheid der Aliens hatte ein verheerende Wirkung: Sie soll in Zone 5 wechseln, um dort Zerstörungstests ausgesetzt zu werden. Sie ist völlig verzweifelt, doch ihr Schwiegervater hilft aus. Ein ehrlicher Deal, der den TAZ-Vermerk binnen sieben Tagen erlöschen lässt.

Erwischt!

Doch John Doe wird ein klein wenig zu gierig. Er bleibt und gerät an einen Anti-Ablassverkäufer-Androiden. Der sieht wie eine graue Maus aus, doch kaum hat John Doe sein Implantat an das des vermeintlichen Kunden gelegt, bricht die digitale Hölle über ihn herein. Nach mehreren Anläufen des widerstands kann er sich gerade noch davor bewahren, dass erst sein Bio-Computer-Implantat und dann sein Gehirn zu Mus zerquetscht wird. Bisher hat er sich selbst für den besten Hacker der freien USA gehalten, aber dieser Android verfügt über unglaubliche Rechenkapazität und Einfallsreichtum: Er ist sogenannter Borgmann, ein Typ mit einem terminal, das mit den Großrechnern der Aliens verbunden ist. John Doe gibt auf und wird abgeführt.

Im Verwaltungszentrum der Aliens an der Figueroa Street erlebt er eine Überraschung. Die Ermittlungsrichterin ist eine ehemalige Klientin von ihm. Als sie vor 20 oder noch mehr Jahren jung, hübsch und in Not war, gab er ihr eine Niete. Der Ablass platzte, als sie die Stadt verlassen wollte. Deswegen ist sie heute noch stinksauer auf ihn. Was blieb ihr anderes übrig, als in die Dienste verhassten Eroberer zu treten? Aber er erklärt ihr, dass er sich seinerzeit in sie verliebt hätte, und das sei ganz schlecht fürs Geschäft. Daher die Niete.

Die Richterin bewundert seine Leistung, die er als Hacker im Duell bewiesen hat, und will ihn rekrutieren. Er ist einverstanden, hat aber eine klitzekleine Bedingung: Ein letztes Duell mit dem Borgmann-Androiden. Sie ist einverstanden, denn was kann schon passieren? Zu ihrer Überraschung ignoriert John Doe den Androiden völlig und fällt gleich über die Datenbanken des Großrechners her. Es dauert geschlagene 1000 Millisekunden, bevor der Alarm ertönt und Johns Pseudo-Ego aus dem Mainframe geworfen wird.

Die Richterin ist schockiert und geradezu angeekelt von Johns ketzerischem Verhalten. Da er bewiesen hat, dass er nur Sabotage und Widerstand im Sinn hat, kommt Kollaboration nicht infrage: Sie verweist ihn der Stadt. John gehorcht gerne und lässt Los Angeles hinter sich. Es gibt ja noch viele weitere Städte, wo es menschliche Sklaven zu befreien gibt.

Mein Eindruck

Es ist kaum zu glauben, dass eine derart erstklassige Story nie vom Heyne-Verlag übersetzt wurde. Sie erschien erstmals in dem Band „Die besten Stories der amerikanischen Science Fiction – World’s Best SF 7“ (1988). Offenbar bevorzugte Wolfgang Jeschke in seiner Anthologie „Ikarus 2002“ die 1985 veröffentlichte Novelle „Sailing to Byzantium“, die 1986 den Nebula Ward erhalten hatte.

Die Erzählung zeigt, dass auch Profi-Hacker nicht unverwundbar sind, aber sie schlagen zurück, wenn man ihnen auch nur die winzigste Chance gibt. Das sorgt für eine Menge Spannung. Interessanter ist jedoch das Szenario, das direkt aus Silverbergs Roman „Die Jahre der Aliens“ stammen könnte: Die Aliens haben die Menschheit erobert und unterjocht, doch nach Jahren der Anpassung wächst eine Generation des Widerstands heran, die hoffen lässt, das Joch abzuwerfen.

Was mich beim Lesen beeindruckte, ist die Menschlichkeit des Hackers: Er gibt zu, wenigstens einmal „verliebt“ gewesen zu sein – was man halt so „Liebe“ nennt. Dieses Argument besänftigt die Richterin ebenso sehr wie seine aufrichtig gemeinten Entschuldigungen. Letztes Endes läuft es auf das gleiche hinaus, wie bei seinen Deals mit den Klienten: auf Treu und Glauben, auf Vertrauen. Wie sich zeigt, ist dies auch ihre Achillesferse.

2) Pat Murphy: Rachel verliebt sich (Rachel in Love)

Rachel ist eine ganz besondere Schimpansin. Ihr „Vater“ Aaron war ein Mensch, der seine eigene Tochter, die bei einem Verkehrsunfall zusammen mit ihrer Mutter ums Leben kam, sehr lieb hatte. Er hatte sie so lieb, dass er ihre geistig-seelische Signatur aufzeichnete, speicherte und nach ihrem Tod auf das Gehirn einer jungen Schimpansin übertrug. Seitdem verfügt Rachel, die Schimpansin mit der Mädchenpersönlichkeit, über eine verwirrende Mischung von zwei Seelen. Doch Aaron behandelte sie weiterhin wie seine eigene Tochter, denn er kann sich mit ihr in Amerikanischer Zeichensprache (AZS), die er sie gelehrt hat, verständigen.

Als er an einem Herzinfarkt im Bett stirbt, wird Rachel von Wissenschaftlern eingefangen, die sie in ihre Forschungsstation in der Wüste bringen, nur 50 km von Rachels Elternhaus entfernt. Niemand von den Forschern versteht, dass sie ein Mädchen ist, sondern bezeichnen sie als „gutes Zuchtmaterial“. Nur Jake, der taube, alkoholsüchtige Hausmeister, kann AZS und akzeptiert sie als seine Gehilfin. Mit ihr reinigt er die Flure, Käfige und Büros viel schneller.

Alles wäre vielleicht gutgegangen, wenn Rachel nicht die Liebe kennengelernt hätte. Zunächst liest sie in romantischen Magazinen über die Liebe zwischen mann und Frau – genau ihre Kragenweite. Doch Jake zieht es vor, Pornomagazine anzugucken. Sie denkt, sie habe sich in ihn verliebt. Doch wenn sie sich für ihn schön macht, stößt dies auf wenig Verständnis, und dass sie brünstig geworden ist, versteht er erst recht nicht. Dies kapiert ihr Käfignachbar Johnson, dem sie AZS beibringt, umso schneller.

Eines Nachts bricht Rachel zusammen mit Johnson – aus dem Institut aus, um durch die Wüste nach Hause zu fliehen. Freiheit und Liebe, was könnte es Schöneres geben?

Mein Eindruck

Diese schöne, gefühlvolle Erzählung schließt thematisch an die Story von James Tiptree jr (alias Alice Sheldon) an. Wieder wird die Tierforschung als eine Art Gefängnis dargestellt. Hier findet aber auch Rachels Verwandlung statt: Aus einem scheuen Mädchen in Affengestalt wird eine Primatin, die andere Primaten erzieht und auf ein höheres Intelligenzniveau bringen kann. Aus der drohenden Schizophrenie wird eine Verschmelzung der beiden Persönlichkeiten.

Leider fand ich die Aussage durch den Umstand etwas beeinträchtigt, dass die Handlung ein wenig viel romantisches Wunschdenken aufweist, besonders das Happy-End. Das ist zwar schön für bürgerliche SF-Leserinnen, aber mit der Realität hat es wahrscheinlich herzlich wenig zu tun. Man könnte die Geschichte aber gut als Märchen genießen.

3) Orson Scott Card: Amerika (America, 1986)

Dies ist eine Heiligenlegende und sollte entsprechend gewürdigt und beurteilt werden. Sie handelt vom Gouverneur des amerikanischen Staates Deseret, Sam Monson, und von Virgem America, der Heiligen Muttergottes, geboren als Anamari Boagente in Guayana-Brasilien.

Vierzig Jahre davor. Sam ist 15 Jahre alt und mit seinem saufenden Vater auf Erdölprospektion im Amazonas-Urwald des Xingu-Parks. Wieder einmal wollen sich die Norteamericanos den Urwald unter den Nagel reißen, um das schwarze Gold zu fördern. Doch Sam hat sich vorgenommen, das genaue Gegenteil seines mormonischen, aber ehebrecherischen Vaters zu sein und hilft der etwa 40 Jahre alten Eingeborenen Anamari, wo er nur kann, wenn sie Kranke und Bedürftige versorgt. Ausnahmsweise spricht er sogar brasilianisches Portugiesisch. Er ist so bemüht, ihr zu helfen, dass Anamari nicht umhin kann, ihn zu mögen. Denn wie sie selbst ist er ein Wahrträumer.

Sams Bemühen wird natürlich von den verdorbenen Gringos missverstanden: Er will Anamari bestimmt aufs Kreuz legen, wenn er’s nicht schon getan hat. Und zu seinem eigenen Verdruss bekommt er einen Ständer, sobald er nur ein paar Minuten bei ihr ist, um Kranken zu helfen. Früher oder später müssen sie über ihre Wahrträume sprechen. Sie träumen jeweils von einer gefiederten schlage, die die Welt retten werde. Sam weiß Bescheid, denn er liest Bücher: Es handle sich um den Aztekengott Quetzal(coatl), der als Heilsbringer verehrt werde.

Wenn das die Zukunft der beiden Amerikas sei soll, wer sollen dann Quetzals Eltern sein? Liegt das nicht auf der Hand, fragt ihn Anamari. Sein Widerstand ist zwecklos, selbst wenn er kein Ehebrecher sein will: Als er aus einem sehr lebhaften Traum erwacht, liegt er direkt neben der nackten Anamari! Und sie ist ihm auch noch dankbar. Aber es hilft alles nichts, um Sam davon abzuhalten, schnellstens abzureisen.

40 Jahre später trifft sich Sam als Gouverneur von Deseret mit Anamari wieder, der leibhaftigen Muttergottes Virgem America. Sie kommt als Abgesandte ihres Sohnes Quetzal, der mit seinen Anhängern Latein- und Norteamerica unterworfen hat. Dies ist Navaho-Land, aber nicht mehr die unfruchtbare Wüste von einst, sondern ein blühender Garten Eden. Weil sie einander immer zugetan sind, erhält der Staat Deseret sehr günstige Bedingungen, als er sich dem Imperiums Quetzals anschließt.

Mein Eindruck

Sex führt also zu Freiheit, scheint die Botschaft zu lauten. Falsch: Der Sex ist gottgewollt, und dieser Gott, das wird immer wieder betont, ist das Land. Es schickt die Träume, die zur Vereinigung von Nord- und Lateinamerika unter einem Messias namens Quetzal führen. Der gewiefte Leser der Bibel ist an etliche Stellen im Alten Testament (das der Autor als Mormone auswendig kannte) gemahnt, in denen Gott Jahwe seinen Günstlingen erscheint, heißen sie nun Abraham oder Josef oder sonstwie. Tatsächlich wird an einer Stelle sogar auf die Prophezeiungen des „Buches Mormon“ verwiesen, das ein Paradies in Aussicht stellt und natürlich einen Heiland.

Die Schilderungen des Amazonasdschungels sind sehr realistisch gehalten. Das müssen sie auch sein, um das traumartige Geschehen zu rechtfertigen. Sams sexuelle Notstände sind ebenso lebhaft geschildert und alles andere als lachhaft, selbst wenn die anderen grinsen und selbst Anamari schmunzelt. Es kann seiner Bestimmung nicht entgehen. Und Bestimmung kann man über die ganze Geschichte schreiben: Die Handlung ist gottgewollt. Es bleibt unmissverständlich, wer oder was dieser Gott ist: Gaia selbst.

4) Tanith Lee: Tränen im Regen (Crying in the Rain)

Greena wächst in einem strahlenschutzgesicherten Bauernhaus auf und hat daher beste Aussichten. Die verflixte Radioaktivität hat dazu geführt, dass die Hühner kaum noch unverseuchte Eier legen und zwei von Mutters Gatten an Krebs gestorben sind. Der Haushalt mit vier Kinder wird von einer strengen Mutter geleitet, die keinen Widerspruch duldet. Sie weist Greena an, sich hübsch zu machen und das weiße Kleid anzuziehen. Offenbar gibt es einen besonderen Anlass.

Obwohl die Behörden wieder mal eine Regenwarnung ausgegeben haben, brechen die beiden Frauen zu Fuß ins Zentrum auf, aber unter dessen Kuppel würden sie sich sein, hofft Greena. Auf dem Weg werden sie von einer Polizeikontrolle angehalten, aber es gibt keinen grund, Fußgänger festzunehmen. Nach einer freundlichen Warnung setzen Greena und ihre Mum ihren Weg fort.

Sie passieren die Strahlenkontrolle am Eingang der Kuppel, ohne dass Alarm ausgelöst wird, außerdem können sie ein legales Ziel vorweisen: das Büro von Mr. Alexander. Ein Bus bringt sie dorthin. Greena staunt. Das Haus hat ein Foyer, einen Säulengang, ein Aquarium und sogar einen Lift. Der Fahrstuhlführer bringt sie in den sechsten Stock, wo in einem Hinterzimmer Mr. Alexander auf sie wartet.

Sie haben es pünktlich geschafft, und mit freundlichem Blick mustert der etwa 22 Jahre alte Herr die angebotene Jungfrau . Offenbar sind die Details schon im Voraus geregelt worden, so etwa der Brautpreis. Aber Mum macht Druck: Sie habe noch einige andere Angebote. Mr. Alexander will sich beeilen, um den Vertrag zu schicken. Zum Abschied küsst Mr. Alexander Greena, die in seinen Besitz übergehen soll, auf beide Wangen. Greenas künftiges Leben unter der strahlensicheren Kuppel scheint gesichert. Denn sie schon lange sterilisiert ist, wird sie als Ansagerin arbeiten, und weil Mr. Alexander schon eine eingetragene Gefährtin an den Krebs verloren hat, wird sie mit ihm leben.

Draußen vor der Kuppel ist nach dem Regen schon wieder Entwarnung gegeben worden, und sie schaffen es unbehelligt in ihr strahlengeschütztes Haus. Mum gesteht Greena im Vertrauen, dass sie mit 30 Jahren schon überfällig sei, und tatsächlich habe sie nur noch etwa drei Monate zu leben. Mr. Alexander müsse die drei anderen Kinder übernehmen. Mr. Alexander hält alle seine Versprechen, die Familienzusammenführung wird gefeiert, und nachdem Mum im Krankenhaus gestorben ist, stellt er sogar eine 19-jährige Betreuerin ein, die schon ihr erstes Baby durch eine Fehlgeburt verloren hat.

Im Zentrum unter der Kuppel regnet es nie, aber wenn Greena in ihrem Zimmer mit den singenden Vogel – der habe mindestens noch ein Jahr, sagte ihr Geliebter – am Fenster sitzt, denkt sie an ihre Mutter. Die rettete einmal ein kleines Kind aus dem strömenden Regen vor dem Bauernhaus. Die Rettungstat war natürlich vergebens, und das Kleine starb schon am nächsten Tag. Mum bekam von den Sanitätern eine Gardinenpredigt, die sie ihnen in gleicher Münze zurückgab. Anschließend verprügelte sie Greena mit ihrem Plastikgürtel so hart wie noch nie, als wolle sie ihr die Schuld an allem Unglück geben…

Mein Eindruck

Es ist also ein sehr spezieller Regen, der in der Überschrift gemeint ist. Nach und nach, Detail um Detail erschließt sich dem Leser ganze Grauen der Situation, in der Greena den Besitzer wechselt. Offenbar hat ein Atomkrieg stattgefunden, und der hat nicht nur Großbritannien getroffen, sondern auch den „Kontinent“, also das restliche Europa. Großbritannien liegt mit den USA in einem Handelskrieg, was die Knappheit an allen Arten von Ressourcen erklärt: Medikamente, Treibstoff, Nahrungsmittel.

Nur die Zone, in der Greenas spezialgesichertes Farmhaus liegt, bietet bessere Überlebenschancen. Als Greena endlich ins Zentrum ziehen darf, sind ihre Chancen zwar gut, doch die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 25 Jahren. Greena, die Ich-Erzählerin, verrät uns ihr Alter nicht – das muss der Leser selbst ausrechnen: Sie ist noch sehr jung. Ob sie bereits geschlechtsreif ist oder nicht, ist unerheblich, denn ihre Mutter hat sich schon fünf Jahren sterilisieren lassen, um ihre Chancen zu erhöhen. Dass ihre Mutter erst mit 30 stirbt, ist vor diesem Hintergrund gesehen ein Bonus.

Für den weiblichen Leser dürfte die geschilderte Situation das pure Grauen sein. Dennoch verschont die Autorin niemanden mit den unangenehmen Fakten, die ein Atomkrieg für die Zivilbevölkerung schaffen würde.

5) Lucius Shepard: Die Sonnenspinne (Sunspider, 1988)

Carolyn Dulambre und ihr Mann Reynolds ziehen auf die riesige Helios-Station um, die die Sonne umkreist. Reynolds ist ein Mathematiker, der sich als moderner Alchimist betrachtet und entsprechend geheimniskrämerisch arbeitet. Sowohl die kunstsinnige Carolyn als auch Reynolds pflegen außereheliche Beziehungen, denn das monotone Beisammensein mit einem Mathe-Genie ist gar so langweilig. Dass Reynolds die Sonne als seinen Glücksbringer betrachtet, kann Carolyn nicht nachvollziehen. Sie ihrerseits erzählt ihm nicht, dass sie schwanger ist.

Sie werden von Dr. Davis Brent, dem Verwalter der Physikalischen Abteilung auf „Helios“, empfangen, der sehr an Reynolds‘ Forschungsarbeit interessiert ist. Er will offensichtlich einen Abglanz von dessen Ruhm ergattern, weshalb er Reynolds wie eine schleimige Kröte vorkommt. Brent blitzt auch bei Carolyn ab, die aber viel subtiler vorgeht. Wer weiß, wozu Brent ihr noch nütze sein kann.

Es dauert nicht lange, bis Reynolds die Sonnenspinne entdeckt. Sie ist riesig und erstreckt sich über mehrere zehntausend Kilometer. Je intensiver er sich mit diesem Wesen beschäftigt, desto mehr beherrscht es seine Einbildungs- und Vorstellungskraft. Er kann sich sogar vorstellen, dass es seine Wahrnehmung beeinflusst. Er perfektioniert seine mathematische Gleichung, um das Wesen zu beschreiben.

Als Brent entdeckt, dass Carolyn heimlich einen Fötus in eine künstliche Gebärmutter implantiert und verschickt hat, verfügt er über ein Druckmittel, dem sich Carolyn nicht entziehen kann, will sie ihre – angeblich verschollene – Tochter behalten: Sie muss für Brent spionieren. Doch als Reynolds am Abend seiner Geburtstagsfeier früher „heimkommt“ als erwartet, erwischt er sie beim Datendiebstahl. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Doch sein Mordversuch an Brent schlägt fehl. Er wird gezwungen, in ein Shuttle zu steigen und zur Sonne zu fliegen. Das Gefährt wird natürlich ferngesteuert…

Der Verlust ihres Gatten verwandelt Carolyn. Durch ein nachgelassenes Gedicht mit dem Titel „Der standhafte Liebende“ ist sie sich seiner Treue sicher. Unbändiger Hass auf diese falsche Schlange Brent erfüllt sie, besonders wenn diese Kröte ihr anzügliche Angebote macht, mit ihm zusammenzuziehen. Nach einem besonders tiefen Traum entdeckt Carolyn, dass ihre rechte Hand aus einer leuchtenden Flamme besteht. Mit ihr kann sie nicht nur Schlösser knacken, sondern auch den Wachtposten mit einem Griff um sein Herz töten. Ihr nächster Bestimmungsort ist die Suite von Dr. Davis Brent…

Mein Eindruck

Was als naturwissenschaftlich orientierte Erzählung beginnt, wandelt sich zunehmend zu einer phantastischen Geschichte, in der Magier auftreten und Wunder geschehen. Anders als in den gewohnten Hard Science Storys steht nicht das Phänomen an sich im Mittelpunkt, sondern wie es sich eines Ehepaars bemächtigt, das um seine emotionale Einheit ringt. Neidisch wie Loki will sich Dr. Brent sowohl des Geheimnisses wie auch der Frau bemächtigen. Doch er hat ebenso wenig wie sie mit dem Erscheinen eines „Drachen“ gerechnet, der Carolyn verwandelt und Brent den Tod bringt.

Das ist aber längst nicht das Ende der Geschichte. Die Transzendenz war schon immer das Hauptthema dieses Autors, und sie ist es auch hier. Das Leben mag kurz gewesen sein, aber wer sagt denn, dass der Tod nicht viel schöner und v.a. dauerhafter sein kann? Zusammen mit Reynolds‘ Klon überschreitet Carolyn die Grenzlinie… Naturwissenschaftler dürften mit dieser metaphysischen Wendung wenig anzufangen wissen. Und so verwundert es wohl kaum, dass die Story nicht wie erhofft im ANALOG Magazin für Naturwissenschaftler erschien, sondern in Isaac Asimov’s SF Magazine.

6) Pat Cadigan: Engel (Angel, 1987)

Der Ich-Erzähler ist eine Partnerschaft mit einem Mann eingegangen, den er wegen seiner besonderen Fähigkeiten einfach „Engel“ nennt. Der Mann, der über telepathische Kommunikation verfügt, kann beispielsweise jeden anderen Menschen anstarren und um einen Geldbetrag bitten. Der ist ihm sicher. Dieses besondere Charisma erfordert offenbar einen emotionalen Katalysator, und das unser Chronist. Seine Belohnung besteht in einer Art magischem Staub, der als silberne Funken auf ihn übergeht. Es gibt noch andere, die so sind wie Engel, so etwa die Kellnerin in der Imbisshalle, der das Gesicht fehlt. Auch sie komme von einer anderen Welt und wurde hierher verbannt.

Warum Engel auf diese brutale Welt verbannt wurde, zeigt sich, als er und sein Partner von einer Frau mit türkisgrünen Augen verfolgt werden. Sich in einer Kneipe zu verstecken, funktioniert nicht: Sie werden erst verprügelt, dann hinausgeworfen. Dort wartet schon Engels größter Fan mit ihrem Automobil. Sie packen den bewusstlosen Engel in das Auto und fahren zur Autobahn.

Unterwegs verhört sie ihn, und Engel gibt zu, dass er auf seiner Welt die Paarung verweigert habe. Nun ist sein Partner an der Reihe. Unser Chronist muss zugeben, dass er als Zwitter auf die Welt kam, doch bei einer Operation aller Geschlechtsorgane beraubt wurde; nun könne er sich überhaupt nicht mehr paaren.

Es kommt zu einem schweren Unfall, bei dem die Frau zu Tode kommt. Auch Engel macht es nicht mehr lange, doch vor seinem Tod überträgt er all seine Staubsubstanz auf seinen Partner. Der versteht, was Engel den Mengel mitteilen wollte, und macht sich daran, andere Verbannte zu suchen und ihnen die frohe Botschaft zu bringen.

Mein Eindruck

Die Botschaft lautet: „Das Universum kennt nur ein mehr oder weniger, kein gut oder böse.“ Und somit sind alle Abweichungen hinsichtlich Fortpflanzung, Paarung und so weiter völlig legitim. Somit kann man feststellen, dass die Aussage dieser feinen, anrührenden Story eine frühe Version des LGBTQ-Liberalismus ist. Und dass auch ein sündiger Engel immer noch etwas Gutes bewirken kann, besonders bei armen Teufeln von der Erde.

7) Kate Wilhelm: In Liebe, Anna (Forever Yours, Anna)

Gordon Sills ist ein Graphologe, der nach der Scheidung von seiner Frau in geliebter Unordnung lebt. Das betrifft aber nicht seine Ausrüstung: einen Safe, einen Kopieren und einen Computer, der das Schloss des Tresors steuert. Eine Industriefirma tritt an ihn heran, die einen ihrer wertvollsten Mitarbeiter verloren hat. Mercer arbeitete in der Forschung und Entwicklung, bevor er sich selbst tötete. Aber warum? Könnte diese mysteriöse Frau namens Anna daran beteiligt sein, die ihm neun Briefe geschrieben hat, spekuliert Avery Roda, offenbar der Firmenanwalt. Sie sei nicht einmal vom FBI zu finden. Sills ist die letzte, relativ verzweifelte Chance, sie und die von ihr gestohlenen Mercer-Papiere zu finden.

Sills soll herausfinden, was eine Art Mensch diese Anna war, mit wem sie verheiratet war und warum sie überhaupt mit Mercer anbandelte. Es sieht alles nach Spionage aus. Doch nach eingehender Analyse der Briefe und der Briefe Mercers ist Sills überzeugt, dass diese Anna, offenbar eine Künstlerin, nie gelogen hat und somit keine Agentin der Sowjets sein kann. Roda ist enttäuscht und nimmt die Originale wieder mit, Sills solle die Rechnung schicken.

Doch damit ist Sills‘ Beschäftigung mit Anna nicht zu Ende, sondern wird zu einer Obsession. Seine Ex wundert sich, ob er eine Freundin, dabei ist er nun in einer ähnlichen Lage wie Mercer: ein einsamer Mann, der nach der Sprache der Liebe, die Anna verwendet, süchtig geworden ist. Er kauft genau jene Topfblumen, die Anna bewundert, und eine Lampe, um sein Zimmer besser zu erhellen. Er sucht sie, die Künstlerin, an der gesamten Ostküste, bis er im kühlen Oktober endlich seinen Freund Rick in dessen Kunstschule besucht. Auf Ricks Schreibtisch liegt ein Brief mit der unverkennbaren Unterschrift Annas!

Es ist eine belanglose Entschuldigung wegen Fernbleibens vom Kunstunterricht, nichts weiter. Und Rick zeigt ihm Anna gerne, sie sitze in der Klasse. Als Gordon die etwa zwanzigjährige Kunststudentin erblickt, wird ihm schlagartig klar, wer Anna ist, was Mercer getan hat – und worin seine eigene Rolle dabei besteht…

Mein Eindruck

Eine umwerfende Pointe, die hier leider um keinen Preis verraten werden darf! Obwohl die Handlung rein psychologisch ist und vielleicht einen hauch von Spionage-Mystery aufweist, wird sie doch zunehmend interessanter, was die Veränderung in und an Gordon Sills anbelangt. So als sei Anna eine Zauberin, die in Sills‘ Vorstellungkraft – oder Einbildung – weiterwirkt, obwohl sie doch spurlos verschwunden sein soll. Die Lösung dieses schweren Falls von Besessenheit ist nicht nur umwerfend, sondern auch völlig logisch.

8) James Tiptree, jr. (= Alice Sheldon): Das Rätsel der Oktopusse (Second Going)

Theodora Tanton ist die über 70 Jahre alte Chefarchivarin der NASA. Endlich plaudert sie ein wenig aus dem Nähkästchen, was die erste Mars-Landung betrifft und wie es kam, dass auf dem roten Planeten Aliens angetroffen wurden. Das war mit der Mission der „Mars Eagle“, die von Cpt. James Aruppa geleitet und von Todd Fiske und Reverend Perry begleitet wurde. Red Blake, inzwischen 99 Jahre alt, arbeitete seinerzeit als Mädchen für alles und bekam im Kontrollzentrum in Houston alles brühwarm mit.

Also, Jim und Todd entdeckten diese Art Hantel-förmiges Shuttle und empfingen sofort per Telepathie einen Willkommensgruß. Entgegen sämtlichen Anweisungen – General Streiter flippte in Houston völlig aus – ging sie an Bord, obwohl durch die beiden Kugeln der Hantel zwei riesige Augen sichtbar waren. Da die Hantel eine Fähre ist, werden sie zum Hauptquartier geflogen. Das sieht wie ein Haufen Seifenblasen, die man aufeinander gestapelt hat. Hier lernen sie die eigentlichen Aliens kennen: Die beiden, die sich als „Azazel“ und „Urizel“ ansprechen lassen, sehen aus wie hellblaue Riesenoktopusse. Und die senden natürlich auch „Willkommen! Freunde! Frieden!“ und so weiter. Zunächst folgt ein langer Kennenlernprozess, in dessen die Fremdwesen vor allem wissen wollen, was all die empfangenen TV- und Rundfunksendungen zu bedeuten haben. So etwa der Begriff „Geld“, der ihnen rätselhaft vorkommt. Die „Angli“ berichten von einigen weiteren Fremdspezies, die aber entweder verschwunden oder auf dem Erdmond in Warterstellung seien. General Streiter erwartet das Schlimmste.

Was wollen sie?

Die große Frage, die aus Houston kommt, lautet natürlich: Was wollen die Aliens in unserem Sonnensystem? Viellicht ergibt sich die Antwort bei einem Besuch auf der Erde. Der Rückflug, den die Angli anbieten, dauert nur wenige Wochen statt Monaten und wird zu einem riesigen, von allen Medien übertragenen Ereignis. Doch in dem Gedränge kommt es unweigerlich zu einer Massenpanik, in deren Verlauf eine Frau stürzt und totgetrampelt zu werden droht. Einer der Angli bemerkt dies und versetzt alle Anwesenden inklusive des US-Präsidenten in Schlaf. Dann bringt er die Frau zu einer Ambulanz. Fortan gelten die Außerirdischen als Engel, oder wie Pater Perry es formuliert: „Non Angli sed Angeli!“ Weitere Rettungsaktionen untermauern diesen Ruf. Dann verkünden die Angli, dass sie abreisen wollen: Die Erde sei als Siedlungsort ungeeignet. Die Erdlinge schütteln verständnislos den kollektiven Kopf.

Aber die Angli interessieren sich sehr für die irdischen Religionen. Da fragt mal: „Habt ihr eigentlich auch Götter?“ Und Azazel (oder Urizel?) antwortet: „Ja, viele.“ Und lässt sie kommen. In einer Nachtaktion, die eine weitere Massenpanik vereiteln soll, steigen die Götter aus einem weiteren Schiff. Zuerst kommen die Stammesgötter, darunter der Kriegsgott und seine Mutter, die Liebesgöttin, sowie etliche weitere. Dann kommt ein sehr erhabener Gott (oder Göttin?) und „Der Gott, der da kommt“, der allerdings nur an seinem Luftwirbel zu erkennen ist.

Die Angli bieten den Menschen an, sie mit auf einen Trip durch die Galaxis zu nehmen, und die Begeisterung, dieses Angebot anzunehmen ist groß. Aber die Transportkapazität ist es nicht, daher beschränken die Aliens die Zahl der Passagiere auf eine Million. Vorbereitungen wie etwa Training sind unnötig, nur ein Minimum an Gepäck wird vorausgesetzt. Was die Passagiere erwartet, lassen die Angli im Unklaren.

Einige Zeit später verbringt Theodora viel Zeit mit einem befreundeten Angli (Anglo?) namens Waefyel. Dem entschlüpfen in den vertrauten Gesprächen ein paar unbeabsichtigte Auskünfte, so dass Theodora schließlich der Wahrheit auf den Grund kommt, die hinter der „Invasion“ der Angli steckt…

Mein Eindruck

Zwei Jahre vor ihrem Freitod beschäftigte sich die 70-jährige Autorin Alice Bradley Sheldon mit den letzten Dingen, also mit Gott und dem Jenseits. Denn ihr geliebter Mann „Ting“ war bereits krank und sein Ende war bereits abzusehen. Sie fragte sich, ob Gott irgendwelche Hoffnung bereithielte bzw. die Religionen, die EINEN Gott in ihren Mittelpunkt stellte. Interessanterweise berücksichtigt ihre Hauptfigur Theodore Tanton auch Religionen mit einem Pantheon an Göttern, etwa den Hinduismus, und sie alten griechen mit ihrem wohlbekannten Pantheon. Daher die Verweise auf Aphrodite, Ares und Hephaistos, von Zeus ganz zu schweigen.

Jetzt kommen also Fremdwesen, die als Engel angesehen werden – oder als Dämonen seitens ihrer Kritiker. Nein, sie warten nicht mir tollen neuen Medikamenten oder Technologien auf, dennoch freuen sich die Erdlinge über ihr Kommen, denn sie befriedigen offenbar einen weiteren Bedarf, nämlich einen metaphysischen. Auf einer Welt, in der alle Götter unsichtbar sind, wirken die sichtbaren Götter ziemlich sensationell.

Oder ist das alles nur ein Taschenspielertrick, fragen sich die Menschen von Anfang an. Na, und ob! Die Aliens haben das Grundproblem der Erdbewohner erkannt: die Überbevölkerung. Sie führt zum Aussterben anderer Spezies, zur Verschmutzung der Umwelt und zur nicht nachthaltigen Ausbeutung aller Ressourcen. Deshalb bestreuen sie die Atemluft unbemerkt mit einer Substanz, die jeweils eine Generation von Männern unfruchtbar macht. Die nachfolgende ist dann wieder fruchtbar, die zweite wieder unfruchtbar und so weiter. Dies findet Theodora als erste heraus, der Rest der Welt wird folgen. Sie hat erstaunlicherweise nichts dagegen, sieht neben Nachteilen für Männer auch Vorteile für die Gesamtbevölkerung.

Doch die Aliens haben noch weitere Tricks auf Lager, und Theodora entdeckt in den Gesprächen mit Waefyel, was für Schlitzohren sie wirklich sind…

9) Walter Jon Williams: Dinosaurier (Dinosaurs)

Der irdische Botschafter Drill landet auf dem Planeten der Shar, um Friedensverhandlungen zu führen. Die Shar, mit denen er sich per Übersetzungsgerät verständigt, sind pelzige, dreibeinige Wesen mit großen Augen, spitzer Schnauze und einer komplexen Sozialstruktur. Ihre Präsidentin Gram begrüßt Drill. Der massige Zweibeiner mit seiner schwarzen Haut und dem langen Penis zwischen den Beinen hört auf seine zwei eingebauten Gehirne, das Metahirn im Beckenbereich und die Erinnerung im Kopf. Die Erinnerung sagt ihm, dass er sich diplomatisch verhalten soll.

Und bald stellt sich in den Verhandlungen heraus, dass die Shar bereits Millionen Opfer auf ihren Welten zu beklagen haben. Der Grund sind die Terraformerschiffe der „Menschen“, die nicht intelligent genug sind, um die Shar als intelligente Rasse zu identifizieren nund zu respektieren. Daher wurden sie als Schädlinge „exterminiert“.

Als die Präsidentin, die mehr Geduld als ihre Minister aufbringt, nachhakt, was denn diese Unterscheidung zwischen intelligent und nicht-intelligent zu bedeuten habe, antwortet ihr Drill in aller Unschuld, dass dies eine Folge der Spezialisierung sei. Nach acht Millionen Jahren habe sich die menschliche Rasse eben zwangsläufig in spezialisierte Unterspezies aufgespalten. Manche davon, wie die Terraformer, benötigen für ihre Tätigkeit nur einfach Instruktionen, andere, wie die Diplomaten, benötigten beispielsweise auch eine komplexe Erinnerung, also die gesammelten Erfahrungen der Menschheit.

All diese Erklärungen reichen nicht, um die Koalition der Präsidentin zusammenzuhalten. Ihre Regierung zerbricht, als Drill – wieder in aller Unschuld – berichtet, woher er die Koordinaten für die Shar-Welt habe. Na, von gefangenen Shar. Und was wurde aus denen? Sie wurden liquidiert, weil man den Garten brauchte, in dem sie untergebracht waren. Dieser erneute Beweis der ahnungslosen Grausamkeit der Menschen führt dazu, dass sich General Vang an die Macht putscht und den Menschen den Krieg erklärt…

Mein Eindruck

„Menschen“ ist in sieben Millionen Jahren ein sehr relativer Begriff geworden: Drill ist ein Abkömmling der Saurier, und zwar ein ganz besonders hässlicher. Dagegen sind die Shar ja richtig putzige Menschlein, mit denen wir uns identifizieren können. Drill jedoch hält sie für primitiv, weil sie noch an seltsame Dinge wie Moral glauben. Als ob dies im Laufe der Evolution irgendeine Rolle spielen würde. Sie sind, wie einst die Saurier, zum Aussterben verurteilt. Was schon ziemlich ironisch ist.

Die eigentliche Kritik des Autors, der im Grunde keine Seite einnimmt, ist jedoch das, was den Shar so widerwärtig erscheint: die ahnungslose Grausamkeit der „Menschen“. Da diese keine Vorstellung mehr von Moral und Prinzipien haben, sondern vor allem durch Protein und Sex – Drills Metahirn quengelt regelmäßig danach – befriedigt werden, muss es etwas anderes sein, das das Verhalten der „Menschen“ steuert. Am Ende ihres letzten Zwiegesprächs erkennt Präsidentin Gram mit bitterer Trauer, um was es sich handelt: Instinkt und Reflex. So weit hat sich also die prächtige „Menschheit“ entwickelt!

10) Don Sakers: Gegen den Tod (All Fall Down)

Die Hlutr singen bereits seit über einer Milliarde Jahre ihre Lieder in der Galaxis, um sich telepathisch miteinander zu verständigen. Die Menschen, die sich immer weiter ausgebreitet haben, wurden vor einiger Zeit von einem der Ihren besucht. Der Reisende, der von der Welt Amny stammte, mochte die Menschen ausnahmsweise, vor allem weil sie so verschiedenartig sind, auch wenn sie das „Innere allumfassende Lied“ nicht kennen.

In letzter Zeit haben den Lehrer der Hlutr Nachrichten erreichten, wonach seit zwei Jahren die Menschen Opfer einer Seuche werden, gegen die es keinen Schutz gibt. Nun wird der Lehrer sogar auf Amny von einem Menschen besucht. Dr. Alex Saburo bittet um Hilfe, denn selbst die besten Mediziner der Menschen, die sich gerade zu einem Kongress zusammengefunden haben, sind ratlos. Eingedenk des „Mitgefühls“ des Reisenden findet sich der Lehrer ausnahmsweise bereit, seinen Geist in einen menschlichen Körper zu übertragen und so an dem Kongress teilzunehmen. Die Reise erfolgt per Tachyonen-Express und wird zu Lehrers Erstaunen von immer mehr Hlutr auf ihren zehntausenden Welten telepathisch mitverfolgt.

Der Kongress besteht in erster Linie aus Vorträgen der Hilflosigkeit und aus Streitigkeiten. Dr. Saburo wird persönlich angegriffen und beleidigt, es ist daher aussichtslos, diesen Leuten helfen zu wollen. Als der Lehrer eine Bemerkung darüber macht, lacht Dr. Saburo bloß bitter. Aber Lehrer hört mental ein Kind durchdringend schreien – von woher kommt der Schrei, will er herausfinden.

Auf der sterbenden Welt Eironea wollen sie eigentlich die große Bibliothek besuchen, doch ein alte Frau hält sie an, denn dort drin sei niemand mehr. Stattdessen lädt sie sie auf einen Tee in ihr Künstleratelier ein. Sie arbeitet mit einem Lichtstab, und eines ihrer Kunstwerke zeigt ein schreiendes Kind vor einer Sternengruppe. Diese Sternengruppe lässt sich ausfindig machen. Es ist nahe dem System Telurbat. Offenbar hat sich Saburo infiziert, denn er hustet dauernd. Seine zeit läuft ebenso ab wie die der restlichen Menschheit, der nur noch zwei Wochen bleiben.

Als sie nahe Telurbat eintreffen, stoßen sie nicht auf eine Welt, sondern auf einen toten Frachter. Er ist mit mehreren tausend Leichen gefüllt. Doch der Kinderschrei gellt immer noch in Lehrers mentalem Ohr. Sie finden das Kind als einzigen Überlebenden und bringen den Jungen Ved an Bord, um ihn nach Telurbat ins Krankenhaus zu bringen. Schließlich muss ja Ved gegen den TOD immun sein, legt Saburo dar. Das leuchtet Lehrer ein. Doch auf Telurbat wartet kein Krankenhaus auf sie, sondern ein Gefängnis voller Kranker und Sterbender, das von Robotern bewacht wird…

Mein Eindruck

Diese schöne, aber ziemlich rührselig erzählte Geschichte wird ausnahmsweise nicht aus dem Blickwinkel der Menschen erzählt, sondern aus dem ihrer Vorgänger, den riesigen telepathischen Bäumen, die sich selbst als Hlutr bezeichnen. Das Verhältnis zwischen den Hlutr und den Menschen kommt mir viel zu friedfertig vor, denn schließlich werden auf allen Siedlerwelten, wo es Bäume gibt, diese gefällt, um Holz usw. zu erhalten. Dennoch gibt es einen Beistandspakt der Hlutr, um den Menschen zu helfen und sie in das „Allumfassende Lied“ einzubinden. Unter den Hlutr mangelt es nicht an Menschenfeinden, was durchaus plausibel ist.

Auch der Schluss ist extrem rührselig. Dr. Saburo ist schon eine Weile krank und als er es endlich mit Lehrer, Ved und dem Mediumkörper Irisa zurück nach Amny geschafft hat, muss die Immunität, die Ved aufweist, auf ihn und den Rest der Menschheit übertragen werden. Dazu sind die Hlutr bereit, selbst wenn es sie auf all ihren Welt Opfer kostet. Womit haben die Menschen bloß diese Gnade verdient, fragen die Menschenfeinde.

Wie man sieht, geht es um grundsätzliche Werte wie Mitgefühl, Beistand, Vergebung und Gnade. Diese haben ja auch auf der Erde hohe Bedeutung, etwa in der Entwicklungshilfe. Schon lange vorher kann der Leser voraussehen, dass Lehrer sich für Ved, Irisa und Saburo opfern wird. Aber das ist für den Autor die Voraussetzung für Lehrers Weiterexistenz auf einer höheren, gesegneten Ebene, nämlich ohne Körper und an der Seite des „Reisenden“. Metaphysik also in Reinkultur.

Die Übersetzungen

S. 15: „der schwel[g]ende Groll“: So schön der Groll auch schwelgen mag, so ist der schwelende doch wesentlich weiter verbreitet.

S. 213: „Ober Streitigkeiten…“: Es sollte „oder“ statt „ober“ heißen.

S. 279: „Es fol[g]ten weitere 20 Jahre der Sterilität.“ Das G fehlt.

S. 325: „Denn wir könnte es ein Lied geben…?“ Statt „wir“ sollte es „wie“ heißen.

S. 329: Verdrehte Satzstellung: „Mitgefühl, sagt die Erinnerung des Reisenden, die der Menschen lieben lernte.“ Korrekt müsste es „der die Menschen lieben lernte“ heißen.

S. 343: „aus dem allumfassen[en]den Lied ausschließen?“ Die Silbe „en“ kann wegfallen.

S. 349: „Einige sagen, dass sie ein natürlicher Auswuchs jener Systeme der Evolution hat…“: Korrekt wäre aber „ist“.

S. 358: „ihr werdet mit (!) Gründe und Meinungen mitteilen…“: Statt „mit“ sollte es korrekt „mir“ heißen.

S. 359: „Sie sie von weither gekommen?“ Statt des ersten „Sie“ sollte es korrekt „Sind“ heißen, denn sonst fehlt dem Satz ein Verb.

Unterm Strich

Auch in dieser Jahresauswahl des Verlegers überwiegen die gelungenen Beiträge die weniger gelungenen. Dass hier nur US-Amerikaner vertreten sind, stört etwas den Anspruch der repräsentativen Auswahl, denn sicherlich gibt es auch anderswo besonders gelungene Zukunftsvisionen. Aber die USA sind nun mal der größte und am besten zahlende Markt für SF-Erzählungen. Wer 1987 in Sachen SF seinen Horizont erweitern, der konnte noch zu den Anthologien mehrerer Verlage greifen, so etwa bei Heyne, Moewig, Goldmann und Knaur. Wenige Jahre später waren sie alle verschwunden, bis auf Jeschkes Auswahlbände bei Heyne. Diese erschienen bis zum Jahr 2002.

Der vorliegende Jahresband enthält überzeugende Beiträge von bekannten Autoren wie Silverberg, Tiptree, Shepard, Card, Tanith Lee, Kate Wilhelm, Pat Cadigan und W.J. Williams. Dass fünf von zehn Beiträgen von Autorinnen stammen, belegt das rasante Wachstum des entsprechenden Marktes, sondern auch an kompetenten Autorinnen. Tanith Lee (1947-2015) stammte aus Großbritannien, fällt also ein wenig aus dem Rahmen der US-amerikanischen Auswahl – hier haben die beiden Herausgeber etwas geschummelt.

Für die vielen Druckfehler gibt es Punktabzug.

Taschenbuch: 366 Seiten,
O-Titel: The 1988 Annual World’s Best SF, 1988;
Bastei-Lübbe, 1988, Bergisch Gladbach;
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern;
ISBN-13: 978-3404241088

www.luebbe.de

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