Stephen R. Donaldson – Der Spiegel ihrer Träume (Mordants Not)

Als die ungeliebte und vernachlässigte Tochter reicher Eltern hat Terisa Morgan viel Zeit, sich ausgiebig im Spiegel zu bewundern. Ihre Einsamkeit wird durch einen mittelalterlichen Besucher unterbrochen, der mitten durch einen Spiegel in ihr Zimmer spaziert und sie bittet, ihm doch nach „Mordant“ zu folgen … was Terisa auch tut.

Dort auf Schloss Orison angekommen, traut Terisa ihren Augen nicht: Sie ist im Mittelalter gelandet, Magie gibt es auch – allerdings nur eine einzige Form, die sogenannte Imagomantie. Die Imagomanten Mordants vermögen durch ihre Spiegel fremde Wesen zu erblicken und sie in ihre Welt zu rufen, oder selbst durch den Spiegel an den Ort zu reisen, den sie in ihm sehen.

Sich selbst im Spiegel zu sehen oder überhaupt durch einen Spiegel zu reisen ist jedoch gefährlich, im günstigsten Fall verliert man nur den Verstand. Genauso ist es umstritten, ob man Wesen aus fremden Welten holt oder sie kraft der Imagomantie erschafft. So ist auch Terisa’s Existenz für die Imagomanten eine Ungeheuerlichkeit: Zeigte doch der Spiegel, dessen sich der Adept Geraden bediente, ein Bild eines mächtigen Sternenkriegers, den die Zunft herbeirufen wollte, um der Bedrohung Mordants Herr zu werden. Stattdessen stolpert Geraden mit einem hübschen Mädchen aus dem Spiegel, das zu nichts nützlich erscheint.

Terisa macht sich ein Bild der Lage Mordants: Der einst geachtete König Joyse und sein bei einer Translation durch einen Spiegel verrückt gewordener Imagomanten-Großmeister Havelock reagieren nicht mehr auf die Gefahren, denen Mordant ausgesetzt ist. Sie spielen stattdessen lieber Dame und verprellen ihre treuen Anhänger damit. Der bösartige Imagomant Vagel bedroht das Reich, in dem Joyse alle Imagomanten in einer Zunft vereint hat, um ihre Fähigkeiten zu nützlichen Zwecken einzusetzen. Die Monster, die Imagomanten rufen konnten, waren zu schrecklich, deshalb darf Imagomantie nur noch von Meistern der Zunft ausgeübt werden, die ebenso exklusiv alle Imagomanten ausbildet. Doch die Feinde Mordants, Cadwal und Alend, scheinen Kontakt zu Großmeister Vagel zu haben, der eine gigantische brennende Feuerkatze und andere Schreckenskreaturen über Mordant heraufbeschworen hat.

Erst auf Drängen der Zunft gestattet der König, einen Kämpen herbeizurufen. Doch der Plan schlägt vorerst fehl, Terisa erscheint stattdessen völlig unerwartet. Da ihr der Rückweg versperrt scheint, lernt sie sich in der fremden Gesellschaft Mordants zu behaupten, in der König Joyses Gefolgsleute, insbesondere die Zunft, ihren schwachen Herrscher zum Handeln bewegen oder notfalls gar stürzen wollen, sollte er nicht auf die Gefahren durch befeindete Königreiche und die abtrünnigen Imagomanten reagieren. Die Verräter sind bereits in Schloss Orison, wie Terisa erfahren muss, während sie allmählich König Joyses seltsames Spiel, ihre eigene Bedeutung und die Geradens darin zu begreifen beginnt.

Stephen R. Donaldson hat mit der Duologie „Mordants Not“ eine faszinierende Welt geschaffen, deren Stärke die Charakterisierung der vielen differenziert dargestellten Personen ist. Die Geschichte selbst kommt erst langsam in Schwung, um eine beachtliche Zahl an Geheimnissen und Intrigen zu offenbaren. Dabei entwickeln sich die Hauptfiguren weiter, man erfährt ihre Motive und Ambitionen. Die anfangs sehr passive und nahezu willenlos alles über sich ergehend lassende Terisa wird jedoch erst im Folgeband merklich aktiver, wie auch bei vielen anderen Charakteren hier erst einmal eine Vorstellung erfolgt.

Die Geschichte kann begeistern, die psychologische Komponente ist von größter Bedeutung. So wird eine der Königstöchter ihren Vater wegen seines beleidigend-senilen Nichtstuns verraten und zum Feind überlaufen, aber wer wirklich auf welcher Seite steht, wird nicht so schnell offenkundig, man wird immer wieder zum Zweifeln gebracht. Vor allem König Joyse selbst ist ein fazinierendes Rätsel. Oft möchte man ihn wie seine Getreuen wegen seiner Ignoranz und seines Mangels jeglicher zwingend notwendiger Aktivität für verrückt erklären, dann überrascht er aber mit Finesse und List; so bringt er den Prinzen von Alend, Kragen, gegen sich auf und beleidigt ihn, kann aber so auf raffinierte Weise seine wahren Absichten eher erfahren als in einem Gespräch. Seine Schwäche scheint mehr eine Finte, sagt er doch selbst, das Leben sei wie ein Springbrett-Spiel (Dame), oft müsse man viele Figuren opfern, um am Ende zu gewinnen …

Dabei spielt die gesamte Handlung ausschließlich auf Schloss Orison, Terisa lernt nach und nach wichtige Personen kennen, von dem treuen, aber vom Schicksal geschlagenen und mürrisch gewordenen Kastellan Lebbick bis hin zu dem verschlagenen und lüsternen Meister Eremis, der die sexuell unerfahrene Terisa erfolgreich umgarnt, was den in Terisa verliebten Schussel Geraden noch mehr in Zorn versetzt als ihn ihre schamlos nymphomane Zofe Saddith in Verlegenheit.

Erst gegen Ende des fast eintausend Seiten starken Buchs werden einige Karten aufgedeckt, es scheint, als ob König Joyse sich vielleicht doch ein wenig verrechnet haben könnte … So endet die Handlung denn auch mit einem Cliffhanger mitten auf dem Höhepunkt. Wer eine Auflösung und die weitere Entwicklung der komplexen Geschichte wünscht, muss zwangsweise den zweiten Band „Die Magier von Mordant“ ebenfalls lesen.

Fazit:

Die tief gehenden Charakterisierungen und die komplexe Story können gefallen, bedingen jedoch anfangs etliche Längen, in denen nichts wirklich Aufregendes geschieht. Erst im letzten Drittel kommt die Handlung in Schwung, was deutlich macht, dass die Duologie als ein Gesamtwerk betrachtet werden muss – eine lange Geschichte, mit einem ebenso langen Start. Der klassische Höhepunkt der Geschichte liegt somit am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Bandes, der auch das Finale beinhaltet.

Wer die nötige Geduld mitbringt, wird jedoch mit einer sehr spannenden und abwechslungsreichen, gut durchdachten Geschichte belohnt, die mit ihren ständig gesähten Zweifeln und Hinweisen hinsichtlich vieler Personen, insbesondere des Königs, den Leser zum Spekulieren und Mitdenken verleitet.

Das Ganze wird gekrönt von den liebenswerten Figuren, die so trefflich charakterisiert werden, dass man sie einfach kennt und schätzt, sie wachsen einem ans Herz. Die Weiterentwicklungen Terisas und Geradens sowie anderer Charaktere wissen dabei besonders zu gefallen. Somit stellt die Duologie einen recht seltenen Kompromiss zwischen „Endloszyklus“ und Einzelroman dar mit ihren knapp zweitausend Seiten Umfang. Wer etwas mehr Action wünscht und etwas mehr von der Welt um Mordant sehen will, muss sich jedoch bis zum zweiten Band gedulden, der insgesamt der bessere der beiden Romane ist, die zusammen die sehr ansprechende Duologie bilden. Erwähnung sollte noch die perfekte Übersetzung von Horst Pukallus finden, der Roman liest sich, als wäre er von Anfang an in deutscher Sprache geschrieben worden.

Die „Mordants Not“-Duologie:

Der Spiegel ihrer Träume (ISBN 3453178777)
Die Magier von Mordant (ISBN 3453178815)

Die im Jahr 2000 erschienene Neuauflage unterscheidet sich von der älteren (ebenfalls von |Heyne|) hinsichtlich der Titelbilder, die bei der älteren thematisch passender waren und Terisa bzw. einen Meister vor einem Spiegel zeigten. Zudem trug der zweite Band damals den wörtlich übersetzen Titel „Einer reitet durch“. Beide Fassungen sind fast nur noch über eBay und Antiquariate erhältlich.

Taschenbuch: 942 Seiten
www.heyne.de