Doyle, Arthur Conan / Gustavus, Frank – Die vergessene Welt (Hörspiel)

Edel-Hörspiel eines Abenteuerklassikers

Der verschrobene Wissenschaftler Professor Challenger behauptet, auf einem Hochplateau im südamerikanischen Dschungel lebendige Dinosaurier entdeckt zu haben. Obwohl seine Kollegen ihn für verrückt halten, wird eine Expedition zum Amazonas gesandt. Die Teilnehmer entdecken dort tatsächlich urzeitliches Leben und müssen die haarsträubendsten Abenteuer bestehen: Sie werden von Flugechsen angegriffen, von fleischfressenden Dinosauriern gejagt und geraten in die Fänge blutrünstiger Affenmenschen. (Verlagsinfo)

Der Autor, das Buch

„DIE VERGESSENE WELT“ (The Lost World) aus der Feder von Sherlock Holmes-Erfinder Sir Arthur Conan Doyle wurde im Jahr 1912 zunächst als Fortsetzungsroman im britischen „Strand Magazine“ veröffentlicht, eroberte kurz darauf als Buch die Bestsellerlisten und gilt heute zusammen mit Werken wie Jules Vernes [„20.000 Meilen unter den Meeren“ 518 und H. G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ als Meilenstein der Phantastischen Literatur und des SciFi-Genres. Die GREAT BRITAIN OXFORD PRESS nennt „The Lost World“ eine der größten Abenteuergeschichten, die je geschrieben wurden. Conan Doyles Urzeitriesenspektakel war außerdem Inspirationsquelle für Werke wie „King Kong“ und „Jurassic Park“. (Verlagsinfo)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher in der Reihenfolge ihres Auftretens:

Maple White: Robert Missler
Blondell: Thomas Nicolai
McArdle: Jochen Schröder
Edward D. Malone: Timmo Niesner (dt. Stimme von Elijah Wood)
Der alte Malone (Erzähler): Peter Weis
Professor Summerlee: Jürgen Thormann (dt. Stimme von Michael Caine)
Dr. Illingworth: Lothar Blumhagen
Professor Challenger: Klaus Sonnenschein (dt. Stimme von Bob Hoskins)
Lord Roxton: Ronald Nitschke (dt. Stimme von Tommy Lee Jones)
Sir Douglas: Friedrich Schoenfelder
Affenmenschen und Indianer: Die Maulhelden

Die Macher:

Musik und Sounddesign: Jan-Peter Pflug
Geräusche: Martin Langenbach
Technik Berlin: Ahmed Chouraqui und Max von Werder
Technik Hamburg: Fabian Küttner
Regieassistenz: Antje Seibel/Kai Lüftner
Hörspielbearbeitung, Produktion und Regie: Frank Gustavus
Aufgenommen im On Air Studio Berlin, April 2005
Hörsaalaufnahmen: Museum für Völkerkunde Hamburg, Mai 2005
Gemischt im Eimsbütteler Tonstudio Hamburg, Juli/August 2005

Handlung

Etwas hat überlebt … und es ist ein Amerikaner. Man schreibt das Jahr 1910, und die erste Challenger-Expedition in die Verlorene Welt ist gescheitert. Noch hetzt der Amerikaner auf seiner Flucht durch die urzeitliche Vegetation. Doch unheimliche Geräusche der Verfolger nähern sich ihm unaufhaltsam. Ein Schrei, der abrupt abbricht …

Die Herausforderung

London im Jahr 1912. Bei Redakteur McArdle von der „Daily Gazette“ taucht dieser junge Journalist namens Edward Dunne Malone auf, der natürlich unbedingt die Riesenstory liefern will. Er habe zwar eine Verlobte namens Gladys, doch die wolle ihn erst heiraten, wenn er eine Heldentat vorzuweisen habe. Leider ist für Helden und Ritter im Jahr 1912 kein Platz mehr, weshalb die Chancen für die Heirat mit Gladys schlecht stehen.

Aber man kann ja nie wissen, und so gibt McArdle Malone den Auftrag, diesem Hochstapler namens Prof. Challenger auf den Zahn zu fühlen und ihn möglichst zu entlarven. Der Mann kam vor zwei Jahren mit einem Foto aus dem Dschungel Südamerikas zurück. Das Foto soll angeblich einen Flugsaurier zeigen. Einfach absurd! Aber der Prof ist rabiat in der Abwehr von Schnüfflern, also sollte Malone die Gelegenheit ergreifen, den Prof bei einer Veranstaltung in der Halle des Zoologischen Gartens zu erwischen.

Dort hält Dr. Charles Illingworth einen Vortrag über die Zeitalter der Erde. Da platzt Challenger herein und widerspricht ihm: Die Dinosaurier seien noch nicht ausgestorben und als Beweis präsentiert er einen „Flügelknochen eines Pteranodon“, eines Flugsauriers. Garantiert eine Fälschung, ruft Illingworth. Challenger macht seinem Namen („Herausforderer“) alle Ehre und ruft zu einer Expedition an den Amazonas auf, die den Beweis für seine Behauptung erbringen werde.

Lord Roxton, der Großwildjäger, stimmt sofort begeistert zu. Malone, der rasende Reporter, will natürlich ebenfalls mit – möge Gladys ihm gnädig sein. Challenger lädt auch Prof. Summerlee, den Direktor der Zoologischen Sammlung, ein, der einwilligt, nachdem Lord Douglas, der Förderer im Hintergrund, zugesagt, hat die Kosten zu decken. Redakteur McArdle ist begeistert: Er sieht sich schon auf dem Sessel des Ressortleiters.

Die Expedition

Dass die Expedition unter keinem guten Stern steht, enthüllen Malones Berichte spätestens dann, als die Gruppe der Forscher den Abgrund zwischen bekannten Teil der Welt und dem Hochplateau überwinden muss. Am Fuß der Klippe hatten sie bereits das Skelett eines abgestürzten Amerikaners gefunden, neben dem eine Taschenuhr lag. Und ein Flugsaurier hatte sich ihr Abendessen geschnappt, doch Roxton verfehlte das Flattervieh.

Nun stehen sie an der Kluft, und mit Hilfe eines gefällten Baumes, der sie überspannt, können sie auf die andere Seite gelangen. Aber nicht mehr zurück! Der Mestize Gomez, ihr Führer, will sich an Roxton für dessen Ermordung seines Bruders rächen und wirft den Baum in den Abgrund. Roxton erschieß zwar Gomez postwendend, aber der Rückweg ist versperrt. Wenn sie nichts zu essen finden, werden sie zugrunde gehen. Sofern die Saurier sie nicht vorher aufspüren …

Ein gefährliches Plateau

Sie richten sich in etwas ein, das sie großspurig ihr „Fort“ nennen, und erkunden die Gegend. Die Iguanodons sind ja ganz niedlich (weil Pflanzenfresser), aber mit den Pteranodons, die sich ein riesiges Nest in einem Vulkankrater eingerichtet haben, ist nicht zu spaßen. Malones Nerven werden schwer von einem Allosaurus strapaziert, der ihn verfolgt. Er stürzt in eine Fallgrube und verfehlt um Haaresbreite einen zugespitzten Pfahl.

Nanu, wer ist denn in dieser unzugänglichen Gegend noch auf der Jagd? Könnte es sich um das Wesen handeln, das ihr Fort verwüstet hat – jenes Wesen, das ihr Indioführer als „Dschungelteufel“ bezeichnet hat?

Mein Eindruck

Diese Version des altbekannten und schon x-mal verfilmten Klassikers hält sich als eine der wenigen eng an die literarische Vorlage aus dem Jahr 1912 (siehe oben unter „Autor“). Deshalb ist auch das „Vorspiel“ ziemlich ausgedehnt, etwas, was sich ein Kinofilm nicht leisten kann. Aber es gibt auch eine bedeutende Abweichung von der beachtlichen TV-Verfilmung, in der Bob Hoskins den Prof. Challenger spielt: Im Original nimmt keine Frau an der Expedition teil. Frauenzimmer hatten auf gefährlichen Expeditionen ins Unbekannte nichts zu suchen. Auch die gute Gladys erfüllt alle Klischees der Zeit: Sie geht auf Nummer Sicher (ohne Zweifel von ihrer Mutter dazu ermahnt) und heiratet einen Buchhalter.

Ein zweiter Unterschied: Malones Berichte werden von McArdle, Illingworth und Lord Douglas kommentiert. (Die Antwort auf die Frage, auf welchem Wege Malone die Nachrichten vom Plateau nach England übermitteln konnte, bleibt ziemlich im Dunkeln.) Anhand der Kommentare der beiden Wissenschaftler zeichnet sich ab, dass Prof. Summerlee wohl die längste Zeit seinen Posten innegehabt hat: Es geht einfach nicht, dass ein Beamter mit einem offensichtlich Verrückten in den Urwald verschwindet, ganz egal, ob er dabei Erfolg hat und überlebt oder nicht. Ergo: Den Buchhaltern wird die Welt gehören, nicht aber den Abenteurern. Der Autor übt hier doch handfeste Kritik an den Bürokraten des British Empire und an seiner eigenen Kultur.

((Vorsicht: Spoiler!))

Ein dritter Unterschied, der mich ziemlich unangenehm berührte: Die Affenmenschen, die Challenger & Co. vorfinden, sind die erbitterten Feinde der Indios aus dem Tiefland. Die Opfer werden offenbar auch nicht als Mahlzeit verschmäht. Das hat noch nichts Schlimmes zu besagen, bis wir erfahren, dass Challenger aufgrund seiner starken Behaarung etc. von den Affenmenschen als einer der Ihren akzeptiert und auf den Thron gesetzt wird!

Die Implikationen sind ziemlich beunruhigend. Man braucht nur 2 und 2 zusammenzuzählen, dann wird klar, dass Challenger als potenzieller Kannibale hingestellt wird – und dies als ein Bürger des British Empire. Dass Challenger dies überhaupt nicht kapiert und auch Malone in seinen Berichten geflissentlich darüber hinwegsieht, ist doch recht bedenklich. Hält es der Autor wirklich für möglich, dass ein Mensch der Neuzeit einen atavistischen Rückfall erleidet und wieder in die brutalen Rituale seiner Urväter zurückkehrt? Sieht man sich die Geschichte der Weltkriege an, die kurz nach 1912 ausbrechen, so erscheint diese (von diversen Philosophen geteilte) These – leider Gottes – nicht allzuweit hergeholt.

Jurassic Humanoids

Natürlich ist das Plateau der „Vergessenen Welt“ das Paradies für alle großen Jungs. Wer könnte anderes erwarten, wenn es um Dinosaurier geht? Aber Pteranodons und Allosaurier sind relativ gefährliche Spielgefährten, wie Malone herausfindet. Doch sie sind Welpen im Vergleich zu den Affenmenschen, die über so etwas wie Intelligenz verfügen. Und so kommt es, dass es andere Menschen sind, die die gut bewaffneten Eindringlinge überwältigen. Dadurch wird die Spannung noch einmal erhöht, denn nun steht Malones Leben und das seiner Gefährten wirklich auf dem Spiel.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Wir erleben in dieser ersten deutschen Hörspielfassung des Klassikers die gefährlichen Erlebnisse der Gefährten so hautnah, wie es unser Gehör und unsere Vorstellungskraft erlauben – und das kann ganz schön nah sein! Man braucht nur die Lautsprecher ordentlich aufdrehen und kann die Illusion erleben, dass ein Allosaurus direkt auf einen zukommt. Die erste CD bricht genau in dem Moment ab, als Roxton nach dem Professor, der ins Flugsauriernest geklettert ist, schreit: „Challenger!“ Schüsse fallen … Na, wer wollte da nicht sofort weiterhören?

Der wichtigste Grund, warum die Authentizität so beeindruckend gelungen ist, sind nicht nur die Sprecher und die filmische Musik, sondern vor allem die ungemein realistisch gestalteten Geräusche, die an jeder passenden Stelle eingesetzt werden, so dass ein Klangteppich entsteht, wie man das von einem visuellen Film gewöhnt ist. Dieser Mittelpart, wo die meiste Action stattfindet, ist denn auch der Höhepunkt des Hörspiels und macht am meisten Spaß. Und natürlich kabbeln sich die Wissenschaftler: War das nun ein Allo- oder ein Megalosaurus, was uns da verfolgt hat?

Das „Booklet“

Es gibt keines der gewöhnlichen zusammengehefteten Booklet von vier, acht oder zwölf Seiten Umfang. Dafür liefert Ripper Records etwas viel Witzigeres: eine gefaltete Ausgabe der „Daily Gazette“ von 23. August 2005: „London’s Number One Newspaper“. Das ist einfach ein cooler Einfall. Neben dem Titelbild in der Manier alter Stiche finden sich weitere Bilder im gleichen Stil: die vier wichtigsten Sprecher (Klaus Sonnenschein, Jürgen Thormann, Ronald Nitschke und Timmo Niesner) – in passendem Forscher-Outfit – und Frank Gustavus, der Dramaturg/Produzent/Regisseur.

Zwei kurze Artikel klären darüber auf, wie es dem Stoff des Klassikers in der Filmwelt erging – von der ersten Verfilmung 1925, an der der Autor selbst in einer Nebenrolle teilnahm und in der am Schluss ein Brontosaurus durch Londons Straßen stapft – bis hin zu Spielbergs Verfilmungen zweier Romane von Michael Crichton. Im Hörspiel gab es lediglich 1997 eine „amerikanische Bühnenversion“, schreibt Gustavus.

Er hat zwei Änderungen am Text vorgenommen. Aus dem gansgroßen Pterodactylus ist ein gigantischer Pteranodon geworden, und die Gefährten entkommen nicht durch ein Höhlenlabyrinth, sondern mit Hilfe eines Ballons.

Die restlichen Seiten des Faltblatts listen die Kapitelüberschriften auf und weisen auf die vier anderen Hörbücher aus dem Hause http://www.frankgustavus.de/ (NICHT SICHER!) hin. Der Verlag heißt so, weil alles mit einem Hörspiel über Jack the Ripper anfing.

Unterm Strich

Frank Gustavus hat aus dem bekannten Abenteuerklassiker ein lebhaften Stück Kino für die Ohren gestaltet. Es nimmt die Aufmerksamkeit des Hörers schon bald gefangen und wartet besonders im Mittelteil mit aufregender Action auf. Allerdings wird die Begegnung mit den Affenmenschen doch reichlich ungemütlich – und so ist der Zuhörer ziemlich erleichtert, dass das Abenteuer auf dem Plateau einen guten Ausgang nimmt. Dass sich die Welt außerhalb der „Vergessenen Welt“ weitergedreht hat, verwundert nicht: Aber da kommen noch einige Überraschungen. Very clever, Sir Arthur.

Die Sprecher, die Musik und der Soundteppich der Geräusche bildet eine perfekte Illusion. Man möchte am liebsten selbst gleich zu einer abenteuerlichen Expedition aufbrechen, vielleicht nach Jakutien oder Kamtschatka. Hier sind jedenfalls Profis am Werk gewesen, die an alles gedacht haben. Da solch eine Produktion nicht bloß eine Kleinigkeit kostet, erscheint mir der Preis von rund 20 Euro durchaus vertretbar. Diese Doppel-CD ist ein Sammlerstück.

Originaltitel: The Lost World, 1912
2 CDs, 122 Minuten
ISBN-13: ‎9783785730584