Josef Dvorak – Satanismus

„Die Verteufelung des ‚kreativen Chaos‘ ist eine Verdrängung, deren Resultat eine erstarrte, lebensfeindliche ‚Gesellschaft‘ ist.“ (J. Dvorak, Konrad Becker zitierend)

Da Bücher über das Phänomen „Satanismus“ nur allzu gern den Federn von Theologen, so wie auch in diesem Falle, und Sektenbeauftragten zu entwachsen scheinen, sieht sich der Leser meist dem vernichtenden erhobenen Zeigefinger des Autors gegenüber und es fällt daher oft schwer, einer differenzierten und objektiven Betrachtungsweise Raum zu geben. Dieses Buch ist anders, in jedweder Hinsicht, zumal, wenn es darum geht, eine konsistente und dem Werk gerechte Klassifizierung zu liefern. Es ist sicherlich für jeden, der sich eingehender mit dem „Leibhaftigen“ und den damit einhergehenden Ausformungen eines Kultus der Selbstvergöttlichung auseinander setzen will, eine der besseren Publikationen zum Thema Satanismus / Okkultismus im deutschen Raum, auch wenn der alles bzw. nichts sagende und etwas plakativ daherkommende Titel zunächst den Anschein eines dieser typischen, an Banalität und Oberflächlichkeit nicht zu überbietenden Werke vermittelt. Dem tut auch der Untertitel („Schwarze Rituale, Teufelswahn und Exorzismus – Geschichte und Gegenwart“) vorerst keinen Abbruch.

Doch weit gefehlt! Selten gab es ein Werk mit einem so breiten und facettenreichen Spektrum an tiefgründigen Informationen auf gerade mal 450 [immerhin kleingedruckten, Anm. d. Lektors] Seiten. Umso überraschender ist es, dass dieses nicht nur von einem katholischen Theologen verfasst wurde, der zudem im österreichischen Fernsehen „Schwarze Messen“ (eine Abwandlung von Crowleys „Missa Phoenix“) zelebrierte, als Tiefenpsychologe tätig ist und Mentor des „Wiener Aktionismus“ war, sondern man Josef Dvorak auch eine für den Laien nicht unbedingt leicht verständliche Fachkenntnis zugestehen kann und muss. Dennoch bleibt, trotz der erwähnten „Performances“, seine eigene Einstellung zu den von ihm zitierten Theorien ein wenig offen, denn, wie er im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von 1991 anmerkt, versteht er diese „lediglich als (wittgensteinsche) Sprachspiele“.

Diejenigen, die mit der Materie vertraut sind werden das fehlende Register und das ebenso nicht vorhandene Glossar bestimmt nicht vermissen, obwohl auch diese sich sicherlich, wollen sie dem Autor konsequent folgen, ab und an der Sekundärliteratur bedienen müssen, denn „Erläuterungen“ beschränken sich fast ausschließlich auf Anmerkungen in Klammern (Ich glaube, dieses Buch hält den Rekord) und mit allem, was der Autor in irgendeiner Weise anreißt, wird wohl nur ein sehr kleiner Teil auf Anhieb etwas anzufangen wissen. Wer jedoch der okkulten / arkanen Terminologie mächtig ist, ein wenig Fremdsprachenkenntnisse oder zumindest den Willen besitzt, nicht nach den ersten Seiten aufzugeben, wird diesem Buch ungeachtet der komplexen Darstellung viel zu entnehmen haben. Die Erfahrung zeigt, dass selbst der aufmerksame Leser nicht nur einmal überrascht feststellen wird, dass ihm sogar nach drittmaligem Lesen Dinge auffallen werden, die ihm völlig neu erscheinen.

Gekonnt spannt der Autor den Bogen von den Koryphäen Aleister Crowley und Anton Szandor LaVey zu dem Motiv des Luziferischen in Literatur (Baudelaire, Lautréamont, de Sade), Moderne und Postmoderne und besonders seinem Steckenpferd, der Tiefenpsychologie (C.G. Jung, Theodor Reik, Sigmund Freud, Otto Groß), mit Hilfe derer Dvorak das Satanische, sprich unterbewusste Moment des Gott-Glaubens sowie dessen Pendant darstellt. Ob Freuds Ödipuskomplex, Reiks „Perversion des verdrängten Trieblebens“ oder C.G. Jungs „Schatten“, der als kollektiver Archetypus zum „Widersacher“ wird, Dvorak liefert ein interessantes Sammelsurium tiefenpsychologischer Herangehensweisen an den „Teufel“ bis hin zu Wilhelm Reichs „Orgon“ und seiner Orgasmustheorie, denn „die Hölle liegt im Hirn“. Ebenso wenig fehlen die „Nine Satanic Statements“ oder das LiberOZ, eine Art thelemitischer Erklärung der Menschenrechte. Sogar dem „Generalgroßmeister“ und Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner ist in Verbindung mit dem Ordo Templi Orientis ein kleines Kapitel gewidmet, bei dessen deutschem Zweig er von 1906 bis 1914 den Vorsitz inne hatte, was von anthroposophischer Seite nur ungern wahrgenommen wird. Auch der kabbalistisch und am Tarot (hauptsächlich dem 15. Trumpf, „Der Teufel“) oder der Al-kimiya Interessierte wird zumindest dem ersten Teil einiges abgewinnen können,
jedoch wird wie bereits erwähnt auf ausschweifende Darstellung von Grundlagenkenntnissen durchgehend verzichtet. Jemand, der den Lebensbaum der Kabbala noch nie zu Gesicht bekommen hat, wird mit dem Gesagten nur bedingt etwas anfangen können.

Es fällt positiv auf, dass sich Dvorak an keiner Stelle des in diesem Genre nur allzu häufig vorkommenden erhobenen Zeigefingers bedient. So beginnt dann auch gleich der erste Teil mit einem „skandalösen Happening“, einem von Dvoraks Fernsehauftritten, in denen er die barbarischen Namen der „urältesten“ Götter aus Lovecraft-Mythos invoziert: „Kur! Masschu! Mummu Tiamat! Baad Angarru! Ninghizzhida?..“ Er schafft das Äquilibrium zwischen Sensation (Charles Manson, Adolf Hitler und der Teufel) und umfassend detaillierter Darstellung mit einer nahezu ungeheuren Informationsflut. Aus diesem Grund und der Darstellungsweise wegen ist auf jeden Fall davon abzuraten, gezielt bestimmte Abschnitte herauszusuchen und sich ausschließlich am Inhaltsverzeichnis zu orientieren, da dieses oft nur bedingt weiterhilft. Meist umfasst eine bestimmte Überschrift wesentlich mehr verschiedene Aspekte als der Leser erwartet.

Es soll jedoch auch nicht verschwiegen werden, dass einige Ausführungen Dvoraks den Klerus geradezu dazu einladen, dass Dargelegte undifferenziert und superfiziell zu ge- bzw. missbrauchen, denn wie bereits erwähnt, sind Erläuterungen rar und Überschriften wie „Satanofaschismus“ bzw. „Sex mit Engeln und Tieren“ respektive die erwähnte Komplexität tun ihr Übriges. So macht es manchmal gar den Eindruck, als würde Dvorak den Begriff des Teuflischen tendenziös mit negativen Konnotationen versehen, um sich selbst nicht ganz ernst zu nehmen. So werden bevorzugt Stellen aus dem berüchtigten dritten Teil des Liber AL zitiert und der Leser anfangs mit Crowleys „Do what thou wilt“ bis auf ein paar wenige Andeutungen etwas allein gelassen, was man ihm jedoch gerne nachsieht, denn die Quintessenz scheint aus psychoanalytischer Sicht eine Art notwendige Resozialisierung des Teufels zu sein,wobei man die anscheinend klischeehafte Schubladisierung von Crowleys „Force and Fire“ und Satanismus getrost wegstecken kann, denn in Josef Dvoraks libertärer Definition ist es satanisch. Doch diese Entscheidung soll jeder für sich selbst treffen. Das Wesen des „Bösen per se“ und dessen nicht unerhebliche Wirkung nicht nur auf psychologische, sondern auch gesellschaftliche Prozesse gilt es zu untersuchen. So schreibt er, Albert Sellner zitierend, in „William Bake: Befreiung der Begierde“: „..glaubt Blake an die Möglichkeit, den ‚Fall‘ der Menschheit durch gesellschaftliche Revolution und individuelle Befreiung der Sinnlichkeit aufzufangen. Katastrophen und Entfremdung folgt endlicher Sieg über das Chaos und das ’neue Jerusalem‘ der Sinnlichkeit, der Unschuld, des Lustprinzips, der Beseitigung der Armut. Geburtshelfer dieser Endzeit ist ‚das Böse‘.“

Eine innerhalb der Ausführung häufig wiederkehrende Thematik betrifft die sexuellen Aspekte des Satanischen und berührt dahingehend das große Gebiet der eigentlichen Sexualmagie und des Yoga sowie den genannten und dem Autor offensichtlich sehr sympathischen tiefenpsychologischen Teil. Sozusagen als Komplement befindet sich im Anhang eine „Skizze über den psycho-physiologischen Teil der alten indischen Yogalehre“ vom O.T.O. Mitbegründer Carl Kellner von 1896, in der die grundlegenden Begriffe des Yoga wie Asana, Pranayama etc. kurz erläutert werden, damit sich der ‚unbeleckte‘ Leser ein, wenn auch rudimentäres und rein theoretisches, Bild von dieser Lehre machen kann. Doch mehr als ein Aufmerksam-machen soll es nach Kellner auch nicht sein. Die Art und Weise der Darstellung oszilliert innerhalb des Begriffspaares Satan-Luzifer – einerseits die unbewusst-triebhafte Zwanghaftigkeit, und die ‚erlösende‘ und befreiende Entität („Gloire et louange à toi, Satan…“) andererseits. Satan lüftet, mit den Worten Baudelaires in „Les fleurs du Mal“, den Schleier des Seins: „Schenk uns dein Gift zur Stärkung ein! Wir wollen, soweit dies Feuer uns das Hirn verbrennt, tauchen zum Grund des Schlunds, ganz gleich ob Hölle oder Himmel, zum Grund des Unbekannten, um Neues zu finden!“

Sehr positiv sollte man noch anmerken, dass sich Dvorak meist, ja fast ausschließlich, der Originalliteratur bedient. Folglich werden die entsprechenden Termini benutzt und nicht groß hin- und her übersetzt. Falls doch, erscheint der ursprüngliche Begriff in einer seiner abertausenden Klammern.

Nicht ohne Grund ist dieses Buch seit seiner Erstauflage 1989 in immer neuen Auflagen erschienen und nunmehr zu einer Art Standardwerk für Leute geworden, die etwas tiefer blicken wollen und dabei keinen Wert auf sensationslüsternes Pseudo-Insider-Wissen legen. Letztendlich bleibt es dem Rezipienten überlassen, sich aus diesem immensen Fundus an Informationen selbst ein Bild über das Phänomen dieser Subkultur mit ihrer nicht zu unterschätzenden Diversität zu machen, was sicherlich im Sinne des Autors ist. Ein auf jeden Fall lohnenswertes Kleinod, das außerdem in den meisten Bücherläden ohne weiteres erhältlich ist, und der Preis stimmt auch…

Und Dvorak stellt (fast) richtig fest (es sind m.E. zwei „Normen“): „Das von Aiwass übermittelte ‚Gesetz‘ schreibt nur eine einzige Norm vor, die des Rabelais: ‚Thelema! Tu, was du willst‘ – was gar nicht so einfach ist, denn zuvor muss man wissen, was man will.“

Weise gesprochen!

Aus dem Inhaltsverzeichnis:
(Das Verzeichnis ist teilweise ein wenig irreführend)

Schwarze Rituale
– Teuflische Musik
– Aleister Crowleys „Missa Phoenix“
– Die Lurianische Kabbala
– Abrahadabra
– Das Henochische – Sprache der Engel
– Ein skandalöses Happening
– „The Dry Halleys“ – reine akustische Angst
– Der „Satanist“ persönlich
– Gottes Totenwürmer
– Das Blut Christi: Der Gral
– Blut und Samen
– Der Tod und die Lust
– Geheimnisse des Tarot
– Satan, das „wüste Scheusal“
– Teufel und Titanen
– Die Yezidi
– Eine Botschaft Satans
– Empörte Katholiken
– Wiener Aktionismus

Erscheinungen einer „Subreligion“
– Hunde, Wölfe und Schakale
– Kalifornische Kulte
– Magische Verwandlungen
– Lust und Drogen
– Das perverse Psychodrama
– Satanofaschismus
– Okkultistischer Rassismus
– Satanistische Nazis?
– Teufelsstaat und Menschenrechte
– Gnostischer Hedonismus
– Charles Manson
– Satanologie nach Alfred Adler
– Crowley Zeugungsversuche und die Folgen
– Die Scientologen
– Das „Mondkind“
– Die gnostischen Wurzeln
– Eine magische „Feldtheorie“
– Mysteriöse Todesfälle

Der Kampf gegen die Hölle
– Kirchliche Exorzismen
– Päpstliche Unfehlbarkeit
– Verschwörungstheorien
– Herz-Jesu und Marienkult
– Der Taxil-Schwindel
– Häretischer Antisatanismus
– Boullan und das Meisterwerk
– Sex mit Engeln und Tieren
– Prophetinnen und Priesterinnen
– Regression ins Paradies
– Die moderne antisatanische Theologie
– Antisatanische Interpretationen der Bibel
– Antisatanische Interpretationen des christlichen Evangeliums
– Antifaschismus oder Antijudaismus
– Adolf Hitler und der Teufel
– Die Augen der dämonischen Mutter
– Hitlers „Borderline-Syndrom“
– War Hitler Schizophren?
– Besessenheit heute: Der Fall Klingenberg
– Der Exorzismus wirkt nicht mehr
– Die Teufelspredigt Pauls VI.
– Pseudoepilepsie
– Satan entmischt die Triebe
– Teuflische Affekte
– Der „Kain-Komplex“
– Das Dämonische ist das Plötzliche
– Die Hölle liegt im Hirn

Die Wurzeln des modernen Satanismus
– Aleister Crowley – Das „Große Tier“ kreuzigt Jesus
– Freimaurer und Bolschewiken
– Mittelalterliche Ketzereien
– Calvis Gott, ein grausamer Tyrann
– Satan-Luzifer – Anwalt der Freiheit
– Miltons Satan
– Absolutismus und Aufklärungsoptimismus
– Die romantische Erlösung Luzifers
– Staattsräson, Klostersatanismus und Sexualmystik
– De Sade contra Rousseau – Triumph der bösen Natur
– Psychologie des Sadismus
– Der Ordo Templi Orientis (O.T.O.)
– Die Symbolisten der Jahrhundertwende
– Rudolf Steiners Fehltritt
– Ordensgeheimnis Sexualmagie
– Der Teufel als literarisches Motiv von Moderne und Postmoderne
– Satan – Reaktionär oder Revolutionär?
– William Blake: Befreiung der Begierde
– Baudelaire. Überbewusst im Bösen
– Lautréamont: Der beherrschte Alptraum
– Tel Quel. Vom Phallus verfolgt
– Rimbaud und die „Grübler der Wollust“
– Satans Absage an die Macht

Der Teufel in der Psychoanalyse
– Frühe psychoanalytische Annäherungen an eine – Theorie des Teufelsglaubens
– Eine Teufelsneurose
– Der erotische Dualismus
– Narzissmus
– Popkultur und Adoleszenz
– Theodor Reik: Der Teufel als Perversion des verdrängten Trieblebens
– C.G. Jung: Der Schatten
– Otto Groß und der Kampf gegen das Patriarchat
– Wilhelm Reich und die „Orgasmusangst“

Anhang
– Eine Skizze über den psycho-physiologischen Teil der alten indischen Yogalehre von Dr. Carl Kellner (München 1896)
– Was ist Yoga?
– Verfahren zur Herbeiführung und Erlangung von Yoga
– Rückblick

Taschenbuch: 445 Seiten
www.heyne.de

Jan Kuschel