E. C. R. Lorac – Unfall oder Mord

lorac-unfall-oder-mord-cover-1964-kleinNoch während der sieche Erblasser mit dem Tode ringt, beginnen sich die Erben gegenseitig zu ermorden. In seinem 35. Fall muss Chefinspektor Macdonald von Scotland Yard sich sputen, bevor ihm die Verdächtigen ausgehen … – Routiniert aber dennoch unterhaltsam setzt die Autorin ihre langlebige Reihe fort und präsentiert abermals einen handfesten, angenehm altmodischen Rätselkrimi.

Das geschieht:

In Templedean Place, dem palastartigen Landsitz der Familie Vanstead, liegt Sir Charles, der betagte Patriarch, im Sterben. Alle Nachkommen – und Erben – sind gekommen, warten und streiten sich. Tochter Judith spielt bereits die Herrin im Haus, eine Rolle, die ihr von Schwägerin Meriel streitig gemacht wird, die für ihren Sohn Alan um ein Stück des Kuchens kämpft. Gatte Gerald, Judiths Bruder, will Vanstead-Köpfe rollen lassen, sobald er geerbt hat; auch den Hochmut der Vanstead-Bediensteten hat er nicht vergessen; dies lässt er mehr als einmal rachsüchtig durchblicken.

Keine kluge Idee, dies laut werden zu lassen, obwohl es ja sein könnte, dass Gerald und Meriel einfach nur Pech haben, als des Nachts vor ihrem Automobil plötzlich eine ungünstig auf der Straße abgestellte Dampfwalze auftaucht. Als dann jedoch der junge Alan einer Giftattacke erliegt, gibt es keine Ausflüchte mehr: Ein Mörder geht um! Leider ist die Zahl der Verdächtigen quasi identisch mit den Bewohnern von Templedean. War es Herbert Standish, der devote, heimlichtuerische Privatsekretär, der um seine bequeme Stellung fürchten musste, weil ihn Gerald nicht ausstehen konnte? Oder Gilbert Barton, der brave Pächter und Verwalter der Ländereien von Templedean, zwar schlicht im Geiste aber arg besorgt, von Gerald davongejagt zu werden, und das, wo er doch gerade heiraten möchte? Oder Edward Beach, der zwielichtige Chauffeur der Vansteads, der Gerald ob einer Jugendsünde einst heftigen Verdruss mit dem Vater beschert hatte? Oder Walter Vanstead, Sir Charles‘ Bruder, ein mürrischer, alter und vor allem mittelloser Hagestolz, der wenig Wohlwollen von seinem Neffen Gerald zu erwarten hatte, mit dem er sich schon lange überworfen hatte? Oder …

Eigentlich konnte niemand Gerald, seine Gattin oder den jungen Alan leiden, wie Inspector Young und Sergeant Brown von der örtlichen Polizei zu ihrem Leidwesen feststellen müssen. Nachdem feststeht, dass Alans letzter Mahlzeit einige giftige Tollkirschen beigemischt wurden, schickt Scotland Yard den berühmten Oberinspektor Macdonald in die Provinz. Der steckt bald tief im Gefühlssumpf von Templedean und muss erkennen, dass ihm vor allem eines gelingt: den Mörder in Unruhe zu versetzen – und zu neuen Untaten aufzustacheln …

Erbe ohne Segen: ein Dauerbrenner

Der alte Mann hat viel zu vererben. Mit seiner Verwandtschaft ist er nach deren Ansicht weder freundlich noch – und das zählt hier mehr – generös umgegangen. Stattdessen war Sir Charles immer schnell mit guten Ratschlägen und Vorwürfen zur Hand, statt Geld herauszurücken, wenn wieder einmal eines seiner Schäfchen es in Erwartung des Erbes allzu ordentlich krachen ließ.

Mit Dank darf er nicht rechnen. Obwohl sie im Stockwerk unter seinem Sterbezimmer warten, kreisen die Erben geiergleich über Charles‘ Bett. Vor allem im klassischen Kriminalroman ist dies ein bekanntes Bild. Die Gruppe der Erben ist identisch mit der Gruppe der Verdächtigen, denn Gier und Mord treten gern gemeinsam auf und lassen sich durch die Rache verstärken. Da in vielen Jahren lange Rechnungen geschrieben worden, die jetzt gewaltsam beglichen werden. Beleidigungen, Zurückweisungen, Neid – die Palette negativer Emotionen ist lang. Lange haben sie in einer Kammer der verwundeten Seele rumort und sind gereift. Sie warten auf Familienfeste oder Trauerfälle.

Sind dann alle zusammen, hält der Frieden meist nicht lang. Irgendwann ist es soweit – unterdrückte Gefühle explodieren wie ein Vulkan, und Zornesströme bahnen sich ihren Weg durch den Familienfrieden. Da ist der Weg bis zum Mord nicht sehr weit. Die Vansteads sind eine typische Sippe. Ihre Mitglieder decken das gesamte Spektrum möglicher Verärgerungen ab.

Da Lorac nicht unterschlägt, dass man sich trotz des altertümlichen Umfelds bereits hoch im 20. Jahrhundert befindet (mehr dazu s. u.), gehören auch die Bediensteten zu den Betroffenen. Statt sich im Hintergrund zu halten und zu dienen, nehmen sie sich menschliche Gefühle heraus, legen sich zumindest mit den jungen = schwachen Vansteads an und müssen deshalb fürchten, nach Sir Charles‘ Tod vor die Tür gesetzt zu werden.

Familie oder Mob?

Die nur scheinbar heile Welt schlägt Funken und gerät in Brand. Da wir einen klassischen britischen „Whodunit“ lesen, werden die ausgetauschten Bosheiten beinahe formvollendet präsentiert. Nicht emotionale Schärfen oder gar Ideen, sondern wiedererkennbare Formen sowie beruhigende Eintönigkeit sind unabdingbar für einen gelungenen „Cozy“, wie diese auf Lektüre-Gemütlichkeit getrimmten Krimis auch genannt werden

Dazu gehören verschrobene Charaktere. In dieser Hinsicht ist Lorac beinahe zu wagemutig: Die Bewohner von Templedean sind verblüffend bodenständig. Der Zweite Weltkrieg liegt zum Zeitpunkt der Handlung (1950) erst wenige Jahre zurück und hat deutliche Spuren hinterlassen. Die Welt der müßig-reichen Großgrundbesitzer, die das ländliche England lange prägte, wenn man dem Krimi Glauben schenken möchte, ist im Niedergang begriffen.

Lorac macht daraus keinen Hehl. Daher treten versponnene viktorianische Jungfern nur am Rande auf, während die weiblichen Figuren sich nach den Erfahrungen eines auch an der Heimatfront harten Krieges nicht mehr in die passive Weibchen-Rolle zurückdrängen lassen. Maßvoll zwar aber trotzdem deutlich bringt Lorac den Landhaus-Krimi der ihm eigentlich gefährlichen Realität näher. Siehe da: Es funktioniert! Zumindest der dem Pseudo-Skurrilen eher abholde Leser empfindet die Abwesenheit wirrköpfiger Pfarrer, bauernschlauer Landwirte oder knorriger Ex-Soldaten als Erleichterung. Sogar der todkranke Sir Charles, dem eigentlich die Rolle des gottgleichen (oder teuflisch bösen) Adeligen zugedacht ist, entpuppt sich als ganz im Hier und Jetzt ansässiger Zeitgenosse.

Routine und Ruhe

Das Gesetz bleibt etwas farblos. Hier gibt es zwar den gutmütigen aber etwas dämlichen Dorfpolizisten, doch der spielt nur eine Nebenrolle. Bis zur Hälfte unseres Romans führt die örtliche Dienststelle die Ermittlungen. Dann erscheint Inspektor Robert Macdonald auf der Bildfläche. Mit ihm hatte Lorac 1931 ihre Schriftsteller-Karriere begonnen. In den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten ließ sie „The Murder on the Burrows“ 48 (!) weitere Macdonald-Krimis folgen.

Zweifellos schlug sich dieses Arbeitstempo in der Qualität dieser Romane nieder. Interessanterweise leidet aber nicht die Geschichte, sondern die Figurenzeichnung. Man wird nicht warm mit diesem Inspektor Macdonald. Er bleibt – übrigens auch in den anderen Romanen der Serie – seltsam konturenschwach, besitzt keine Ecken, keine Kanten, während Lorac z. B. die Bauersfrau Elizabeth mit wenigen Zeilen lebendig werden lässt. Macdonald ist tüchtig aber farblos. Vielleicht ließ ihn gerade das zum idealen Helden für eine lang laufende, schnell produzierte Serie werden.

Der Plot an sich lässt aber wenig zu wünschen übrig. Zwar schleppt sich die Geschichte im Mittelteil manchmal ein wenig dahin, werden einige falsche Fährten gar zu offensichtlich gelegt, aber die Auflösung gelingt dennoch überzeugend. Sie ist sicherlich nicht genial, aber wir wollen nicht mehr verlangen, als das Genre hergeben kann. Gegen eine Wiederentdeckung von E. C. R. Lorac (oder Carol Carnac) ließen sich deshalb kaum Einwände erheben. Da damit bis auf weiteres bzw. nie zu rechnen ist, wird sich der neugierig gewordene Leser auf Flohmärkten oder in den Internet-Antiquariaten umtun müssen. Wenigstens geht mit dem Grad der Vergessenheit, der diese Autorin anheim gefallen ist, ein erfreulich niedriges Kaufpreis-Niveau einher.

Autorin

E. C. R. Lorac (1894-1958), geboren (bzw. verheiratet) als Edith Caroline Rivett-Carnac, muss man wohl zumindest hierzulande zu den vergessenen Autoren zählen. Dabei gehörte sie einst zwar nicht zu den immer wieder aufgelegten Königinnen (wie Agatha Christie oder Ngaio Marsh), aber doch zu den beliebten und gern gelesenen Prinzessinnen des Kriminalromans.

Spezialisiert hatte sich Lorac auf das damals wie heute beliebte Genre des (britischen) Landhaus-Thrillers, der Mord & Totschlag mit der traulichen Idylle einer versunkenen, scheinbar heilen Welt paart und daraus durchaus Funken schlägt, wenn Talent – nicht Ideen, denn beruhigende Eintönigkeit ist unabdingbar für einen gelungenen „Cozy“, wie diese Wattebausch-Krimis auch genannt werden – sich mit einem Sinn für verschrobene Charaktere paart.

Zwischen 1931 und 1958 veröffentlichte Rivet-Carnac unter ihrem Pseudonym „E. C. R. Lorac“ 49 Kriminalromane um Inspektor (später Chefinspektor) Robert Macdonald. Damit war ihr Schaffensdrang längst nicht erschöpft; um sich nicht selbst Konkurrenz zu machen, veröffentlichte Lorac unter einem zweiten Pseudonym – Carol Carnac – ähnlich fleißig weitere Krimis und als „Carol Rivett“ zwei ‚richtige‘ Romane.

Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: Accident by Design (London: Collins 1950)
Übersetzung: Ernst Müller

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