Edmund Crispin – Der wandernde Spielzeugladen

Ein Schriftsteller will Urlaub machen. In der Universitätsstadt Oxford stolpert er in dunkler Nacht in einen einsamen Spielzeugladen und darin über eine Leiche. Beide lassen sich am nächsten Tag nicht mehr auffinden. Von der Polizei als Spinner verlacht, wendet sich der Unglückliche an Gervase Fen, Wissenschaftler und Amateurdetektiv … – „Whodunit“-Krimi der klassischen britischen Schule, dargeboten von einem der Könige des Genres; versponnen, witzig, stilsicher, spannend: ein Tritt in die Kniekehlen vieler, vieler Krimi-Schwafler.

Das geschieht:

Nicht in exotische Fernen, sondern in die friedliche englische Universitätsstadt Oxford, Ort jugendlich-akademischer Abenteuer, zieht es den Schriftsteller Richard Cardogan in diesem Herbst des Jahres 1938. Allerdings verschlägt es ihn schon bei der Ankunft in einsamer Nacht in einen scheinbar verlassenen Spielzeugladen. Dort bleibt ihm gerade die Zeit, die Leiche einer älteren Frau zu entdecken, dann trifft ihn der Hieb ihres offensichtlichen Mörders. Am Morgen erwacht und entweicht Cardogan dem gruseligen Ort und kehrt mit der Polizei zurück. Das Haus findet er, doch es ist kein Spielzeugladen, ist offenkundig nie einer gewesen, und eine Leiche gibt es selbstverständlich auch nicht.

Die Polizeibeamten tippen sich vielsagend an die Stirn und setzen den offensichtlichen Spinner an die frische Luft. Verzweifelt wendet sich Cardogan an einen alten Freund: Gervase Fen ist Professor für englische Literatur an einem der zahlreichen Colleges der Universitätsstadt sowie ein bekannter Amateur-Detektiv. Außerdem ist er ein großer Exzentriker mit einem übergroßen Selbstwertgefühl, der die Welt ungern über sein Genie im Ungewissen lässt und vertrackte Fälle liebt.

Gern nimmt sich Fen daher des Falls an. Die Identität der verschwundenen Toten ist bald geklärt. Emilia Tardy war als Erbin ihrer jüngst verstorbenen Tante, der Millionärin Elizabeth Snaith, aus dem Ausland nach England gerufen worden. Rechtsanwalt Rosseter wurde mit der Testamentsvollstreckung betraut. Fen und Cardogan finden deutliche Hinweise darauf, dass er sich stattdessen des Snaithschen Vermögens bemächtigen will und mit seinen Helfershelfern lästige Konkurrenten aus dem Weg räumt. Das beschauliche Oxford verwandelt sich in einen Hexenkessel, als Fen und Cardogan den Schurken das Handwerk legen wollen, während stets im Hintergrund das große Rätsel bleibt: Wie – und warum – wandert ein Spielzeugladen durch die Stadt …?

Stadt des Wissens, Stadt der Exzentriker

Mord in Oxford, der Stadt der Weisen & Wirrköpfe: Kann ein englischer Krimi noch klassischer sein? Eine nette alte Damen wird erdrosselt, ein schurkischer Rechtsverdreher im Augenblick des Geständnisses durch das Fenster erschossen, ein schockierter Zeugen stiehlt Lebensmittelkonserven und wird dafür hartnäckig von der Polizei verfolgt, die gleichzeitig ignoriert, dass man sich auf den Straßen der Stadt groteske Verfolgungsjagden liefert: Schon diese Schlaglichter machen deutlich, dass „Der wandernde Spielzeugladen“ nicht unbedingt ein lupenreiner Thriller ist.

Dabei stimmen die Zutaten perfekt. Sie werden von einem ambitionierten Meister seines Fachs spielerisch so gemischt, dass aus dem Krimi eine Komödie wird, ohne dadurch die Spannung zu verlieren. Zum dritten Mal macht sich Crispin geistvoll lustig über das Genre. Gervase Fen weiß ganz genau, dass er nur die Figur in einem Kriminalroman ist. Das erklärt auch seine absolute Gleichgültigkeit sämtlichen Konventionen gegenüber; er lebt mit den übrigen Darstellern in einer Traumwelt und hat es nicht nötig, sich mit realistischen Alltagsproblemen abzugeben.

So sehen wir Fen nur einmal und dann ansatzweise seinen angeblichen Job ausüben. Nie gibt es Schwierigkeiten, wenn er sich zu jeder Tages- und Nachtzeit auf Verbrecherjagd begibt. Dabei werfen er und seine Mitstreiter sich Zitate aus alten Romanen, Gedichten, Liedern zu, die heute in der Regel per Anhang erläutert werden müssen, vom zeitgenössischen Leser aber offensichtlich entschlüsselt werden konnten: Crispin schrieb ‚literaturfreundliche‘ Krimis, in denen der Stil über die Story triumphiert. Der Plot belegt dies eindrucksvoll, denn der Plan, einen Laden wandern zu lassen, ist so überkompliziert, dass er nur in Crispins Oxford (fast) aufgehen kann. Erbschleicherei als Motiv ist dem klassischen britischen „Whodunit“ eines der liebsten; für Crispin ein guter Grund, die damit einhergehenden Klischees aufzuweichen und auf seine spezielle Weise zu variieren.

Wissen ist Macht – Wissen macht seltsam

In seinem dritten Abenteuer treffen wir einen Gervase Fen auf der Höhe seiner Tatkraft: eine unwiderstehliche Mischung aus Genie, Chaot und purer Lebensfreude. Edmond Crispin hat sichtlich an schriftstellerischem Geschick gewonnen und krönt seine turbulente Geschichte mit liebenswerten, karikiert überzeichneten Figuren.

Der Schauplatz bietet sich natürlich geradezu an. Geflügelt ist das Wort vom zerstreuten Professor, und Oxford ist das Nest, in dem sie aus dem Ei schlüpfen. In fernab der schnöden Alltagswelt beheimateten Elfenbeintürmen gehen sie hoch geehrt und gut bezahlt ihren Forschungen nach und bilden die zukünftige Elite ihres Landes aus; wahrlich eine versunkene Welt, die in der kulturfeindlichen Gegenwart noch fremdartiger anmutet.

Käuze hocken hier in jedem Collegefenster. Crispin stellt uns eine repräsentative Auswahl vor, während er seine Hauptfiguren kreuz und quer durch Oxford hetzt. Unter diesen sticht der uralte, stocktaube, immer noch lebenslustige Ex-Professor Wilkes hervor. Aber auch die nichtakademischen Bürger treten gelinde gesagt exaltiert auf; die Umgebung färbt ab. Da gibt es beispielsweise wie selbstverständlich literaturbeflissene Lastwagenfahrer, die sich bereitwillig für eine Verfolgungsjagd zur Verfügung stellen. Die weibliche Hauptrolle ist keine College-Frau, sondern ein Mädchen aus dem Volke; frank und frei im Denken und Reden, mit beiden hübschen Beinen fest im Leben stehend.

Wie es sich für ein Krimi-Märchen gehört, sind die Schurken so demonstrativ böse, dass man sie keinen Augenblick ernst nehmen kann. „Rechtsanwalt“ Rosseter gibt sich zwar große Mühe, als skrupelloser Schuft und Mörder zu überzeugen, aber er vergisst dabei keine Sekunde seine Manieren. Seine Helfershelfer mimen ebenfalls gern den verkommenen Strolch, stellen sich aber bei jeglichem kriminellen Tun so ungeschickt an, dass man sie nicht gerade als Bedrohung betrachtet. So rundet sich das Bild eines ‚Kriminalromans‘, der britisch humorvoll selbst einen Mord in das Geschehen zu integrieren weiß.

Anmerkung

Anscheinend wusste Crispin auch die Größten zu beeindrucken: Das dramatische Finale, in dem sich Fen und der Mörder auf einem amoklaufenden Karussell einen Kampf auf Leben und Tod liefern, finden wir fünf Jahre später fast originalgetreu übernommen von Alfred Hitchcock in „Strangers on a Train“ (1951, dt. „Der Fremde im Zug“).

Autor

Edmond Crispin (1921-1978), der eigentlich Robert Bruce Montgomery hieß, gehört trotz seines schmalen Werkes zu den großen Autoren des klassischen englischen Kriminalromans. Eigentlich war er Musiker; zunächst Organist und Chorleiter am St. Johns College in Oxford, wo er auch moderne Sprachen studiert hatte, später Komponist, der neben Oratorien, Orchesterstücken und einer Kinderoper 38 Filmmusiken schuf.

Zwischen 1944 und 1951 verfasste Montgomery/Crispin in rascher Folge acht Romane um den detektivisch begabten Professor Gervase Fen. Nach 1951 widmete sich Montgomery zunächst seiner musikalischen Laufbahn und später zunehmend dem Alkohol, bevor er nach 26 Jahren Fen noch einmal zurückkehren ließ, womit er ihm und den Lesern nach Ansicht der Literaturkritik keinen Dienst erwies. Zu diesem Zeitpunkt war Montgomery längst ein ausgebrannter, von Krankheit gezeichneter Mann. Er starb 1978.

Über Leben und Werk informiert u. a. diese Website.

Taschenbuch: 270 Seiten
Originaltitel: The Moving Toyshop (London : Victor Gollancz 1946)
Übersetzung: Eva Sobottka
www.dumont-buchverlag.de

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