Heimkehr mit dunklen Überraschungen
Vor fünf Jahren verließ der Schriftsteller Johnny Maxen seine Frau Julia und seine Heimatstadt Glasgow. Jetzt kehrt er zurück, um sich von Julia scheiden zu lassen. Doch in ihrer Wohnung findet er eine unbekannte Tote. Julia dagegen ist spurlos verschwunden… (Verlagsinfo)
Die Autoren
Edward Boyd (1916-1989) schrieb Drehbücher und Hörspielskripte, aber keinen einzigen Roman. Deshalb ist „Der dunkle Engel“ so einzigartig. Er überließ es dem Autor Roger Parkes, aus einem Drehbuch für einen TV-Fünfteiler mit dem Titel „Keiner steigt zweimal in den gleichen Fluss“ (1966/67, O-Titel „The Dark Number“) einen zusammenhängenden Kriminalroman zu machen. Dies ist Martin Comparts Essay über British Noir in dem empfehlenswerten Reader „Noir 2000“ zu entnehmen, der bei Dumont erschienen ist (ISBN 9783770150182). Auf der Webseite der BBC findet der Krimi-Fan ein Foto der Titelfigur Johnny Maxen, in der Verfilmung dargestellt von Gordon Jackson.
Handlung
John Maxen ist auf Bitten seiner Schwiegermutter Helen Duncan nach Glasgow zurückgekehrt. Vor fünf Jahren hatte er seiner Heimatstadt als massiver Alkoholiker den Rücken gekehrt, um erstens wieder clean zu werden und zweitens in Paris eine neue Liebe zu finden. Beides ist ihm gelungen – vorerst. Als er die liebe Helen besucht, stellt sich heraus, dass die Bitte, die sie in ihrem letzten Brief geäußert hat, nicht das einzige ist, was sie von ihm erwartet. Er dachte, es würde um die Scheidung von Julia gehen, seiner Frau, doch nun erfährt er, dass Julia seit dem 23. Oktober, also vor drei Monaten, verschwunden ist. Er soll sie finden und zurückbringen. Er hat dafür eine Woche Zeit. Helen sagt ihm nicht, dass sie noch einen Hintergedanken hat….
Eine lästige Leiche
Als er seinen Schlüssel in die Haus- und dann in die Wohnungstür steckt, passen beide noch. Die Nachbarin hat Julia ebenfalls schon eine Weile nicht mehr gesehen, dafür aber eine Menge andere Leute, die die Wohnung benutzt hätten. Drinnen riecht die Luft nicht nur – wie zu erwarten – abgestanden, sondern richtig ungesund. Kein Wunder: In einem der Sessel liegt die Leiche einer jungen Frau. Eine Todesursache ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber die Dose Pillen neben dem Sessel könnte aufschlussreich sein. Alles deutet auf Selbstmord eines Hippiemädchens hin.
Ein Inspektor
John ruft die Polizei an und erreicht die Seeschutzpolizei. Nach dem CSI-Team taucht ein Inspektor Wardlaw auf. Er hat das täuschend leutselige Gesicht eines Viehauktionators. John hat frühzeitig gelernt, keinem Cop zu trauen und braucht lange, um diesem speziellen Cop irgendetwas anzuvertrauen. So verwundert es ihn nicht, bald in den engsten Kreis der Mordverdächtigen gezählt zu werden. Wenigstens informiert ihn Wardlaw, dass die Tite den Namen Sandra Bailey trug. Der Inspektor weiß ebenfalls nicht, wo Julia steckt.
Zwei Knochenbrecher
Als John wieder von einer seiner Erkundungsgänge zurückkehrt, findet er in seinem Schlafzimmer ein fremdes Pärchen beim Sex vor. Bevor er die Hippies hinauswirft, nimmt er den Burschen in die Mangel. Offenbar haben eine Menge junge Leute in der Stadt einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Und so dauert es nicht lange, bis der Besucher aufkreuzt, ein gewisser Alister Dodds, der sich Julias „Freund“ nennt. Er und seine beiden Schläger will wissen John vielleicht der verhasste Tom Armstrong sei. John verneint und kann es mithilfe seines Reisepasses beweisen. Nun weiß er, dass Tom Armstrong Julias Freund war. Aber war er der einzige und sogar der letzte? Julia war für alles offen…
Ein alter Freund
Tom Armstrong ist ein zwielichtiger Kaufmann, aber ein erfolgreicher. Er begrüßt seinen „alten Freund“ Johnny Maxen herzlich und offeriert sofort Whisky. Als John Tomatensaft wählt, ist er sofort unten durch, aber er warnt Tom trotzdem vor den beiden Schlägern, die Dodds auf ihn, Armstrong, angesetzt habe. Armstrong glaubt ihm nicht und erzählt, dass er Julia, der er wöchentlich stattliche hundert Pfund überwiesen habe, wie Johnny längst wegen Julias Kontoauszügen weiß, seit jenem 23. Oktober nicht mehr gesehen habe. Er will ebenfalls wissen, wo sie ist. Wer ahnt nicht, dass Julia ihn für einen anderen, der inzwischen in Kanada lebt, verlassen wollte. Oder doch?
Noch eine Leiche
Zu Johnnys altem Leben gehört ein Landhaus an einem einsamen schottischen See. Dieser See ist mit einem Trauma in Johnnys Seele verbunden. Hier, so versichert ihm der zunehmend misstrauischere Inspektor Wardlaw, sei Johnnys Tochter Wanda bei einem Bootsunglück ertrunken. Nach Wandas Tod war seine Ehe nicht mehr die gleiche, und er fing wieder an zu trinken. Das brachte ihn und Julia, die andere Männer aufsuchte, auseinander.
Als eine weitere Frauenleiche an diesem See auftaucht, kann John nicht sagen, ob es sich nicht um Julia handelt oder um deren Freundin Louise Blake, die wie Julia Perücken trug und sie in allem nachahmte. Wardlaw will ihn wegen Mordes anklagen. Doch die Leiche wurde nicht am Fundort in den See geworfen, sondern von der Strömung hierhergetrieben. Als John dieser Spur nachgeht, muss er zunehmend erkennen, dass auch der Tod seiner Tochter Wanda vor fünf Jahren alles andere als ein Zufall gewesen sein muss…
Mein Eindruck
Schnell merkt man den geschliffenen Dialogen an, dass die Sätze für ein Hörspiel geschrieben wurden. Jedes Wort trifft und entfaltet seine eiskalte oder wütend machende Wirkung. Denn es herrscht Endzeit in Glasgow und alle menschlichen Beziehungen droht der baldige Kältetod. Auf nicht mal 160 Seiten seziert der Autor Edward Boyd, assistiert von Roger Parkes, eine schottische Metropole, die in zwei Epochen gleichzeitig lebt und an diesem Zwiespalt zugrundegeht. Es könnte aber auch sein, wie Inspektor Wardlaw vermutet: Dass Maxen seine Frau getötet hat, nachdem er verschwand – warum sonst sollte er ZWEI Reisepässe besitzen?
Schichten und Klassen
Johnny Maxen entstammt zwar der alten Arbeiterschicht der umtriebigen Hafenstadt, doch die Gewerkschaften würgen den Unternehmergeist ab. Er selbst hat sich abgenabelt, indem er mit seiner Schriftstellerei reüssierte, doch mit der Experimentierfreudigkeit seiner Frau Julia konnte er nicht mithalten und ergab sich dem Suff. Und die Hippies der Jeunesse doree? Wie man an der Leiche der jungen Schönen unschwer ablesen kann, feiern sich die neuen reichen Hippies gerade zu Tode.
Sie haben jetzt durch die Pille zwar alle Freiheit zum unbeschwerten Vögeln erhalten, doch dabei auch die elementaren menschlichen Bindungen wie etwa zwischen Mutter und Tochter über Bord geworfen – und dieses Bild gewinnt eine fatale Bedeutung, wenn es um den Tod der jungen Wanda Maxen geht. Die Einsamkeit lässt sich auch durch die Flucht in Drogenträume nicht kompensieren – der Lohn ist ewiger Schlaf.
Gesetzeshüter
Die Gesetzeshüter sind ebenfalls kein Lichtblick. Inspektor Wardlaw von der „Seeschutzpolizei“ wäre eigentlich bein der Schiffahrt und ihren Matrosen besser aufgehoben. Leider muss er sich auch mit menschlichen Wesen herumschlagen, was ihm offensichtlich gar nicht behagt. Er hätte gerne alles „ordentlich“ anstelle dieses elenden Chaos der Moderne. Und dieser Johnny Maxen, der sich mit Anwälten unterhält, die gerade ihre Zulassung verloren haben, ist keineswegs ein Ausbund an Ordentlichkeit.
Tatsächlich fühlt sich Johnny am wohlsten in der Kampfzone, dort, wo einem das Gesetz piepegal sein kann und das Recht der Faust noch Wirkung zeigt. Ähnlich wie Michael in „Get Carter“ oder „Die schwarze Windmühle“: Selbst ist der Mann. Dieses Bild von Männlichkeit war zwischen 1970 und 1975 sehr in Mode. In den USA geriet es in engen Zusammenhang mit der – allzu berechtigten – Welle der politischen Paranoia, so etwa in „Der Marathon-Mann“ und „Die drei Tage des Condor“. In England verhalft dieses Image zumindest Michael Caine und der TV-Krimi-Truppe „The Sweeney“ („Die Füchse“) zu großem Erfolg. Der letzte Vertreter dieser Art war der ALTE Inspektor Morse, gespielt von John Thaw, einem Mitglied der Sweeney-Truppe.
Der unzuverlässige Erzähler
Am Anfang ist Johnny Maxen, Erzähler, noch der Sympathieträger. Hat er nicht gerade seine junge französische Liebe aufs Spiel gesetzt, um der Pflicht zu folgen, welche ihn da in Gestalt seiner netten Schwiegermutter ruft? Doch bald machen sich Anzeichen der „Unordentlichkeit“ bemerkbar wie Risse in einer Fassade. Er war ein Trinker, jetzt süffelt er nur noch Tomatensaft – und das in einer Alkoholikermetropole wie Glasgow, wo es an jeder Ecke einen Single Malt Whisky gibt. (Man kann die entsprechenden Einladungen nicht an den Fingern zweier Hände abzählen.)
Dass er in einer ungeordneten Ehe, sprich: ungeschiedenen Ehe lebt, ist ebenfalls bedenklich. Wie löblich also sein Unterfangen, diesen unhaltbaren Zustand zu bereinigen? Doch zum Scheiden gehören wie zum Heiraten zwei: Julia fehlt. Er erfährt nicht von einem Nachfolger, sondern von zweien. Nachfolger Nr. 1 ist Tom Armstrong, ein alter Bekannter, der jetzt in „novelties“ handelt. Dabei handelt es sich aber keineswegs, wie uns der Übersetzer weismachen will, um „Neuheiten“, sondern um Krimskrams und Scherzartikel. Wie in vielen anderen Noir-Krimis – etwa in „Gier“ von Garry Disher) ist dies eine Fassade für zwielichtige Geschäfte der Unterwelt aller Art. Ein Plastik-Bentley bildet das Dingsymbol für sowohl dieses Geschäft als auch für die billigen Träume Tom Armstrongs. Johnny ist es eine Herzensfreude, das Modell unter seinem Schuh zu zertreten.
Doch noch fehlen einige Drehungen der Schraube, um Maxen dem finsteren Ende seiner Vergangenheit zuzuführen. Nachfolger Nr. 2 war an jenem verhängnisvollen Bootsunfall beteiligt, und das war vielleicht der Grund, schleunigst nach Kanada zu entfleuchen. Ob Johnny so unschuldig an Julias Wandel nach dem Bootsunfall und dem Tod ihrer Tochter war, darf zunehmend bezweifelt werden…
Psychoanalyse
Die hammerharten, schneidend zugespitzten Dialogzeilen des ehemaligen Hörspiels sezieren seine Seele, und die einzige, der dies ungestraft gelingt, ist Johnnys Jugendliebe Dorothy „Dotty“ Havergale. Sie ist kein Hausmütterchen mit einer vielköpfigen Brut, auch kein Hippiemädel mit einem Mantelsaum voller LSD-Tabletten (wie Sandra Bailey), sondern eine Jugendsozialarbeiterin, die noch daheim bei den Eltern wohnen muss. Ihr Beruf rückt sie in eine für Johnny ungemütliche Nähe zur Polizei, aber sie zu erringen, ist Johnnys letzte Chance, sein Leben ins Gleichgewicht zu bringen – denn auch die Frau, die er in Paris zurückgelassen hat, ist ein Junkie aus der Hippie-Szene. Dotty ist eine Perspektive für eine lebenswerte Zukunft, doch ihre Bedingungen für eine Beziehung sind hart.
Doppelgängerin
Dieser Weg in die eigene Psychotherapie ist für einen harten Kerl wie Johnny schon steinig genug, doch für Julia, die nur vermeintlich tot ist, war er noch viel härter. Wir können nicht hundertprozentig sicher sein, wer die schizophrene Frau im Sanatorium in Wahrheit ist, und der Autor macht es uns extraschwer: Handelt es sich wirklich um Julia Maxen oder doch um Louise Blake, die sie imitierte? Aber wer ist dann die Tote aus dem See? Eine harte Nuss, nicht nur für Inspektor Wardlaw.
Die Übersetzung
Sehr dankenswert ist die Auflistung der Figuren, die dem Roman vorangestellt ist. Dort taucht auch ein gewisser „Bunty Nichol“ auf, den ich oben nicht erwähnt habe, weil seine Zeugenaussagen schnurstracks sämtliche Rätsel beantworten würden. Auf Maxen wirkt der Wilddieb alles andere als vertrauenerweckend und er nimmt ordentlich in die Mangel.
Die Übersetzung durch Tony Westermayr, der viele SF-Romane verhunzte, selbst versetzt den heutigen Leser in Entzücken, denn es ist kaum ein Druckfehler zu entdecken. Dafür gibt es veraltete Ausdrücke aus den siebziger Jahren, aber die sind eben der damaligen Zeit geschuldet. Wenigstens tauchen keine „Neger“ (Afroamerikaner), „Garagen“ (Autowerkstätten) und „Radios“ (Funkgeräte) auf. Es ist gerade so, als wäre das British Empire noch völlig in Ordnung.
Das Titelbild
…könnte dem Film „Der Mann den sie Pferd nannten“ entnommen sein, mit Hauptdarsteller Richard Harris im Hintergrund und vorne einer indianisch kostümierten Hippie-Lady. Die bibliografischen Belege für dieses Foto verweisen lediglich auf ein Bildarchiv.
Unterm Strich
Ein Krimi voller düsterer Wendungen und doppeltem Boden – das kann nur ein Noir-Krimi sein. Und in der Tat hat sich Martin Compart, die Koryphäe für alle Dinge, die noir sind oder es sein wollen, auf Amazon.de unter Pseudonym ausführlich dazu geäußert. Er weiß eben, dass die Musik nur noch online spielt.
Aber er hat in besagtem Reader mehr erläutert, wenn es um die düsteren Aspekte von „Der dunkle Engel“ geht. Der Erzähler ist unzuverlässig und rückt zunehmend ins Zwielicht, denn was er an Widerspiegelungen hervorruft, charakterisiert ihn zunehmend als den titelgebenden „dunklen Engel“. Was der O-Titel „The Dark Number“ (1966/67, siehe oben) bezeichnen soll, kann man nur vermuten, aber es könnte sich um den 23.10. handeln, den Tag, an dem Julia Maxen auf ungeklärte Weise verschwand.
Dass die Handlung aus den drei Teilen einer Hörspielserie von 1966 stammt, merkt man dem finalen Romantext nicht an. Dass lästige Leichen auftauchen und die Suche nach einer Verschwundenen beginnt, aber zurück zum Sucher führt, ist ja nichts Neues. Das hat man schon bei den Begründern des Noir, bei Hammett und Chandler, gelesen. „Die Tote im See“ war sogar ein Romantitel, und hier tauchen sogar zwei davon auf – im Abstand von fünf Jahren. Die doppelte Identität ist ebenfalls ein Standard-Topos im Noir, und Jack Nicholsons Krimi „The Two Jakes“ macht das Motiv sogar zur tragenden Pointe.
Johnny Maxen ist wahrscheinlich der titelgebende Engel. Seine Psychoanalyse samt Therapie ist zugleich Anlass zur Analyse der Glasgower Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet. Die Arbeiterklasse existiert kaum noch, die Bourgeoisie, in die sich Johnny Maxen emporgeschrieben hat, hat sich mit den drogenabhängigen Hippies verbündet und so dem Selbstmord preisgegeben. Julia und ihre mehr oder weniger halbseidenen Freunde haben sich vor lauter Feiern, Fixen und Vögeln selbst verloren. Der Beweis liegt tot in Maxens Lieblingssessel.
Der Autor verurteilt diesen Wandel der Gesellschaft nicht, aber er zeigt die Auswirkungen und Symptome der Krankheit. Das ist Warnung genug. Die schizophrene Frau im Sanatorium hat sich eindeutig selbst verloren, und letzten Endes ist es gleichgültig, wer sie einmal war. Was aus Maxen wird, ist jedoch nicht egal, denn er ist die Hauptfigur: Wir drücken ihm die Daumen, dass er seine Dotty kriegt.
Der Autor vergibt: