Martin Edwards – Tote schlafen nicht

In einem kleinen englischen Dorf zweifelt ein Historiker an der Schuld eines ortsansässigen Mörders. Er stellt Fragen und versucht sich ungeschickt als Detektiv, was den wahren Täter so nervös werden lässt, dass er den lästigen Schnüffler (mund-) tot machen möchte … – Sehr britischer Krimi, der hinter einer idyllischen Szenerie menschliche Abgründe offenlegt. Die Handlung bietet weder inhaltlich noch formal Neues, hebt sich aber wohltuend von den Seifenoper-Krimis ab, die andere Autoren bzw. Autorinnen in ähnlichen Kulissen verbrechen.

Das geschieht:

In Brackdale, einem Dorf im nordwestenglischen Lake District der Grafschaft Cumbria. Ist es vor allem im Sommer idyllisch und einladend. Die frustrierte und stadtmüde Journalistin Miranda verliebt sich in den Ort, als ihr Lebensgefährte, der Historiker Daniel Kind, hier mit ihr Urlaub macht. Er hat einst kurz in Brackdale gelebt und kennt auch die weniger erfreulichen Kapitel der Dorfgeschichte, zu denen der brutale Mord an der jungen Gabrielle Anders gehört. Sie wurde vor sieben Jahren mit durchschnittener Kehle auf dem „Opferstein“, dem ambossähnlichen Felsen, der Brackdales höchsten Hügel krönt, gefunden. Für den Täter hielt die Polizei den Sonderling Barrie Gilpin, dessen Leiche unweit des Felsen entdeckt wurde; offenbar war er nach dem Mord in eine Schlucht gestürzt. Die Akte wurde geschlossen.

Tarn Cottage, der Hof der Gilpins, steht leer. Daniel und Miranda kaufen ihn und beginnen ein neues Leben auf dem Land. Die Vorgeschichte des Hauses regt Daniels Erinnerung an. Er kannte Barrie als Freund ohne gewalttätige Züge, den er sich nicht als Mörder vorstellen kann. Außerdem plagt ihn, dass der Mordfall von seinem inzwischen verstorbenem Vater Ben, einem Polizisten, untersucht wurde, der sich nie sicher war, den eigentlichen Täter gefunden zu haben.

Daniel beginnt Fragen zu stellen und macht sich bei den Dörflern rasch unbeliebt, zumal Brackdale gerade erneut ins Visier der Polizei gerät: Hannah Scarlett leitet ein Team, das so genannte „Cold Cases“, d. h. ungelöst gebliebene Kriminalfälle, neu aufrollt. Sie war einst Ben Kinds Assistentin und teilte dessen Skepsis.

In Brackdale beginnt es zu rumoren. Ein anonymer Anruf bestätigt die Zweifel an Gilpins Schuld. Diverse gute Bürger werden unruhig und unangenehm. Wer wird reden? Oder: Wen wird der wahre Mörder verdächtigen zu reden und ihn oder sie deshalb zum Schweigen bringen …?

Hässliches Geschehen in schöner Umgebung

Man denke nicht, der klassische Landhaus-Krimi angelsächsischer Prägung sei ausgestorben! Dieses altehrwürdige Genre, das wir Leser gern mit der unsterblichen Agatha Christie in Verbindung bringen, hat mit gewissen, den gewandelten Zeitläufen geschuldeten Veränderungen durchaus überlebt. Brackdale ist natürlich kein Landhaus, doch seine Grenzen (und damit die des Geschehens) sind ähnlich scharf gezogen wie Mauern.

Die Beliebtheit dieser Krimi wundert nicht, liegt doch ein besonderer, auch heute wirksamer Reiz in der Kombination aus Idylle und Verbrechen. Brackdale ist nicht nur ein recht einsam gelegenes Dörflein aus einer Vergangenheit, die gern mit dem Sprichwort „Früher war alles einfacher (= besser)“ versehen wird, sondern liegt darüber hinaus in einem der schönsten Naturschutzgebiete der britischen Hauptinsel. Die Landschaft ist reizvoll, und sogar die Relikte einer vieltausendjährigen menschlichen Besiedlungsgeschichte passen sich harmonisch ein.

Für den Krimi ist die Abgeschiedenheit wichtig, denn sie suggeriert eine Kulisse, die für den Leser – zumal detailreich vorgestellt – überschaubar ist und von einer begrenzten Personenzahl – unsere späteren Verdächtigen – belebt wird. Die Fairness erfordert, dass der oder die Täter/in sich aus ihren Reihen rekrutiert. Autor Edwards hält sich an diese Vorgabe.

Verbrechen drängt zurück ans Licht

In Brackdale leben Menschen, die nur bedingt in dieses schöne Umfeld passen. Das Leben ist hier höchstens für Touristen noch in Ordnung. Tatsächlich gärt es unter der makellosen Oberfläche genauso wie überall, wo Menschen in Gemeinschaft leben. Selbst ohne den Mord an Gabrielle Anders weist die Historie des Ortes hässliche Flecken auf. Häusliche Gewalt, Ausgrenzung, geplatzte Lebensträume: In Brackdale ist die gesamte Palette unschöner aber üblicher Verhaltensweisen unserer Spezies vertreten.

Dennoch bilden die Dörfler nicht nur eine Gemeinschaft, sondern eine Front gegen den eigentlichen Feind, der stets von außen kommt. In diesem Fall gibt ihm Daniel Kind ein Gesicht, als er Vergangenes und Verdrängtes nicht ruhen lässt, sondern neu aufrührt. Was dabei an die Oberfläche kommt, setzt eine Kettenreaktion in Gang, die zwar das ursprüngliche Verbrechen klärt, dabei jedoch womöglich mehr Schaden anrichtet als der Sache dienlich ist.

Dieser Ablauf ist gut eingespielt, denn unzählige Krimis bedienen sich seiner seit Jahrzehnten. Martin Edwards hält sich streng an die Regeln; leider, denn so gute Arbeit er dabei auch leistet: „Tote schlafen nicht“ ist ein Werk bar jeder Originalität, die aus einem lesbaren einen erinnerungswürdigen Krimi macht. Der Plot ist simpel, was mit diversen recht durchsichtigen Tricks verschleiert werden soll. Schon wenn im Prolog die filmreif geschlachtete Gabrielle nackt auf einem heidnischen Opferstein ausgestellt wird, der sich hoch über dem Dorf erhebt, ist das ein billiger Gruseleffekt, der für die Handlung belanglos bleibt. Vor allem im Mittelteil stellen sich Längen ein, begibt sich der Autor auf Seitenwege, die wir Leser nicht mit ihm begehen möchten. Die Auflösung wird nicht nur aus einem ziemlich alten Hut gezogen, sondern will Überraschung geradezu erzwingen, was – wen wundert‘s – ziemlich daneben geht.

Mottenkugeln in der Figurenkiste

Punkten kann Edwards zunächst mit seinen Figuren. Sie unterscheiden sich in toto wohltuend von den Klischeegestalten, denen der Landhaus-Krimi seinen kuscheligen Charakter verdankt. Dorfidylle bedeutet für viele Autoren nach wie vor das geballte Auftreten skurriler Gestalten, die intellektuell und mental irgendwie in der Zeit vor 1939 steckengeblieben sind. Sie strahlen Gemütlichkeit aus wie ein defekter Atommeiler und wirken im 21. Jahrhundert nur mehr lächerlich, haben aber ihr Publikum, das sich in solcher zeitloser Plüschigkeit förmlich suhlt.

Von solcher Holzschnitthaftigkeit hält Edwards nichts. Eindimensional sind seine Figuren trotzdem. Brackdale ist die Heimat durchweg zwielichtiger oder wenigstens schwer einschätzbarer Gestalten, die ihre Ambivalenz wie eine Fackel vor sich hertragen. Subtilität ist für Edwards ein Fremdwort, der doch nur deutlich machen möchte, dass auch die Brigadoons (*) dieser Welt von der Gegenwart inzwischen erreicht wurden.

Stereotypen sind letztlich auch die Hauptfiguren. Daniel Kind ist ein ‚Held‘, der absolut kaltlässt. Seine zahlreichen Lebenskrisen interessieren nicht, die Hartnäckigkeit, mit der er in Sachen Barrie Gilpin den advocatus diaboli gibt, wirkt unmotiviert. Kinds ungelösten Probleme mit dem verstorbenen Vater scheinen nur deshalb Teil der Handlung zu sein, um eine Verbindung mit Hannah Scarlett herzustellen, in der wir schon die künftige Rivalin von Kinds Lebensgefährtin Miranda erkennen.

Love Story bzw. Soap Opera

Diese Miranda ist ein echtes Ärgernis. Ihre Stimmungsschwankungen versucht Edwards mit negativ prägenden Erfahrungen zu erklären. Das mindert nicht die Hoffnung, der Mörder von Gabrielle Anders werde auch sie erwischen. Miranda jammert und klammert, ohne dass dafür logisch in der Handlung verankerte Gründe vorliegen. Edwards meidet zwar das Vokabular der Seifenoper, das wie Säure viel zu tief ins moderne Krimi-Genre eingesickert ist, treibt es aber mit dem Gefühlsleben seiner Figuren dennoch zu weit bzw. lenkt von der ohnehin schlappen Krimihandlung ab.

Hannah Scarlett wird in den nächsten Folgen der „Lake District Mysteries“ sicherlich in amouröse Wirbelströme geraten, die sie in gefährliche Nähe zu Daniel Kind bringen; man freut sich als Leser nicht darauf, doch vielleicht denken Leserinnen da anders. Von einer überzeugenden Figurenzeichnung kann auch in ihrem Fall (noch) keine Rede sein. Viel zu oft zeigt Edwards Hannah im Clinch mit ihrem unreifen Lebensgefährten, was überaus langweilt. Gleichzeitig versucht der Verfasser das Bild einer modernen Polizistin zu zeichnen, die in ihrem Job mit diversen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Hier bedient sich Edwards jedoch der üblichen Klischees, die wir (nicht immer besser thematisiert) aus englischen TV-Krimis kennen. Die Szenen, die Hannah in der Arbeit mit ihren Kollegen zeigen, wirken wie Fremdkörper in diesem Roman – kein gutes Zeichen, sondern ein weiterer Beleg für einen Krimi, den man lesen kann aber nicht muss. Offensichtlich teilte zumindest das deutsche Publikum diese Ansicht, denn hierzulande wurde die Serie nach der Veröffentlichung des vierten Bandes eingestellt.

(*) Brigadoon ist ein verwunschenes Dorf in Schottland, das nur alle 100 Jahre in dieser Welt auftaucht und von Fremdlingen aufgesucht werden kann; zuletzt geschah dies 1954 durch Gene Kelly.

Autor

Martin Edwards wurde 1955 in Knutsford in der englischen Grafschaft Cheshire geboren. Er wuchs in Northwich auf und studierte Jura am Balliol College (Universität Oxford). In Leeds begann er eine Ausbildung zum Rechtsanwalt tätig, die er 1980 in Liverpool abschloss. In diesem Jahr begann er fachspezifische Artikel zu veröffentlichen. 1982 erschien ein erstes Buch: ein Ratgeber zum Erwerb eines Bürocomputers. Zwei Jahre später wurde Edwards Partner in einer Anwaltskanzlei.

Ein Rechtsanwalt (und Amateurdetektiv) aus Liverpool wurde zur Hauptfigur eines ersten Romans, der 1991 erschien. Edwards führte die Harry-Devlin-Reihe in den nächsten Jahren weiter und schloss sie 1999 mit einem siebten Band vorläufig ab, um sie erst 2008 fortzuführen. Nach einigen Einzelromanen begann er 2004 eine neue Serie um die Polizistin Hannah Scarlett und den Historiker Daniel Kind, die im Lake District, einem der Nationalparks der britischen Inseln, spielt.

Edwards ist ein eifriger Autor, der neben seinen Krimis Romane anderer Genres sowie Ratgeber und juristische Sachbücher verfasst. Beinahe noch aktiver ist Edwards als Herausgeber von Kriminalgeschichten. Mit seiner Ehefrau Helena und zwei Kindern lebt und arbeitet Martin Edwards in Lymm, einem Dorf in der Grafschaft Cheshire. Über seine Arbeit informiert er auf dieser Website.

Taschenbuch: 383 Seiten
Originaltitel: The Coffin Trail (London : Allison & Busby Limited 2004/Scottsdale, Arizona : Poisoned Pen Press 2005)
Übersetzung: Ulrike Werner
http://www.bastei-luebbe.de

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