Åke Edwardson – Zimmer Nr. 10 (Lesung)

Ausgezeichnet gelesen: das Geheimnis der weißen Hände

In einem verrufenen Hotel mitten in Göteborg wird eine junge Frau tot aufgefunden. Sie wurde erhängt. Ihre mit weißer Farbe bemalte Hand gibt Erik Winter Rätsel auf. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem mysteriösen Zeichen? Weitere Morde geschehen, und plötzlich gerät Winter selbst in Gefahr.

Der Autor

Åke Edwardson, Jahrgang 1953, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Göteborg. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als erfolgreicher Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Uni Göteborg „Creative Writing“. Er schrieb bislang sechs Kriminalromane, zuletzt erschienen „Segel aus Stein“ und „Der Jukebox-Mann“.

Der Sprecher

Boris Aljinovic, geboren 1967 in Berlin, war nach dem Schauspielstudium an der Hochschule „Ernst Busch“ am Berliner Renaissance-Theater und am Staatstheater Schwerin engagiert. Es folgten zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen, so etwa 1999 in „Drei Chinesen mit dem Kontrabaß“ und 2004 in Otto Waalkes’ Filmerfolg „Sieben Zwerge – Männer allein im Wald“. Seit 2001 spielt er den Kommissar Felix Stark an der Seite von Dominic Raacke im Berliner „Tatort“. Der Schauspieler lebt in Berlin. Er liest eine gekürzte Fassung.

Regie führte Gabriele Kreis, der Tonmeister ist Ernst Bergner. Die Titelillustration entspricht der der Original-Buchausgabe und zeigt einen Ausschnitt aus Caravaggios Gemälde „Judith und Holofernes“ aus dem Jahr 1599.

Handlung

Im südschwedischen Göteborg herrscht Hochsommer, es ist Ende August, und der Herbst gelangt allmählich in Sichtweite. Kommissar Erik Winter, dessen Familie im warmen Südspanien weilt, wird es rasch ziemlich kühl, als er sich mit dem neuesten Mordopfer in der Stadt befassen muss. Einen so mysteriösen und verwickelten Fall hätte er sich nicht träumen lassen. Dabei will er schon Anfang Dezember nach Spanien, um eine Auszeit zu nehmen und mit Angela eine Existenz aufzubauen. Ob das hinhaut, Herr Kommissar?

Die weiße Hand

In der Nähe des Hauptbahnhofs liegt das abgetakelte Stundenhotel Rewi. In Zimmer Nr. 10, wo die Leiche von der Decke hängt, hat schon seit Wochen niemand mehr übernachtet. Die Leiche blinzelt ihn an: auf, zu, auf, zu – machen die Augenlider. Bis die Leichenbeschauerin Pia Fröberg ihr die Elektroden abnimmt. Dann endlich hat die Frau an der Decke Ruhe. Sie sei schon sechs bis acht Stunden tot, sagt Fröberg.

Die rechte Hand der Toten ist bis zum Ellenbogen schneeweiß angemalt. Gewöhnliche Malerfarbe. Der Strick ist aus stabilem Nylon, mit Blut dran. Hat Paula Nej, die 29-jährige Tote, die Schlinge selbst geknüpft? Winter hat seine Zweifel. Auch der Abschiedsbrief auf dem Brief kommt ihm sonderbar vor: Sie schrieb an ihre Eltern, entschuldigt sich für etwaige Unannehmlichkeiten – und hofft auf ein Wiedersehen. Klingt unheimlich. Der Portier Bergström hat die Tote gefunden. Aber niemand hat sie hereinkommen gesehen. Sie hatte nicht eingecheckt. Der Stuhl unter der Toten ist derart sauber, als habe sie nie darauf gestanden. Als sei sie eh nur ein Gespenst …

Im Jahr 1987

Nach dem Gespräch mit den relativ erschütterten Eltern Elisabet und Mario Nej erinnert sich Erik Winter, woher er das Hotelzimmer Nr. 10 kennt. Vor etwa achtzehn Jahren führte ihn schon einmal ein Fall mit einer Frau dorthin. Ellen Börje, verheiratet mit Krister Börje, wollte angeblich eine Frauenzeitschrift kaufen (die sie aber schon besaß), checkte in das Hotel Rewi ein, ließ sich Nr. 10 geben – und verschwand danach spurlos. Damals tauchte ebenfalls eine abgetrennte Hand auf, aber in einer ganz anderen Gegend, in einem Mietsblock auf einer Insel. Die Familie Martenson war verschwunden, nachdem ein Blutbad angerichtet worden war. Ein Junge namens Jonas Sandler behauptete, in einem kleinen Birkenwäldchen in der Wohnanlage eine Hand gesehen zu haben, und die dunklen Flecken, die Winter dort auf Steinen fand, konnten von Blut herrühren. Weder die Hand noch die Martensons tauchten je wieder auf.

Das Schließfach

Und jetzt das! Weil Paula Nejs neuer Samsonite-Koffer fehlt, lässt Winter sämtliche 397 Schließfächer im Hauptbahnhof öffnen und durchsuchen. Bingo! In Nr. 110 finden die Polizeibeamten eine Gipshand in einer Plastiktüte. Nach einem Schnelldurchlauf der Überwachungsvideos wissen sie: Eine große Blondine, die Sonnenbrille und Perücke trägt, hat den schwarzen Samsonite-Koffer dort hineingestellt, und ein Mann im Mantel hat sechs Stunden später den Koffer entnommen und durch die Gipshand ersetzt. Weder das Gesicht der Frau noch das des Mannes sind zu erkennen, ganz so, als wären sie sich der Überwachungskameras bewusst – obwohl die Kameras gut versteckt sind. Sie werden gefilmt und führen eine Art Bühnenstück auf, mit einem Schließfach als wichtigster Requisite. Kommissar Winter kommt sich allmählich wie ein Statist in einem Stück vor, das jemand anderes für ihn geschrieben hat. Winter ahnt, dass er etwas sieht, sich aber unterbewusst weigert, es wahrzunehmen und zu akzeptieren. Ein Gefühl, das ihn sehr frustriert.

Die Eltern

Warum ist Paula Nej, seit sie 19 war, nie wieder verreist? Zehn Jahre lang, eine junge Frau! Warum wussten ihre Eltern nichts von ihrem Freund – der sich als der bewusste Jonas Sandler herausstellt? Als Winter und sein Kollege Ringma Elisabet Nej in die Mangel nehmen, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Mario Nej ist schroff, wütend und will die beiden Beamten rauswerfen. Winter lässt die Frau ins Krankenhaus bringen. Doch am nächsten Tag erhält sie von einem Unbekannten einen Anruf, entlässt sich selbst und verlässt das Gebäude eine halbe Stunde später. Seitdem ist Elisabet Nej spurlos verschwunden.

Schwarzes Loch

Erik Winters Familie kommt aus Spanien zurück, und die Wiedersehensfreude bei Angela Hofmann, seiner Lebensgefährtin, und den Töchtern Elsa und Lilli ist groß. Aber der Fall Paula Nej ist immer noch nicht gelöst und nimmt immer seltsamere Aspekte an. Winter ahnt, dass etwas mit dieser Familie Nej nicht stimmt, so als verberge sich in ihrem Innern ein Schwarzes Loch. Was kann es nur sein, das so schrecklich ist, dass sich Paula Nej deswegen umbrachte – oder umgebracht wurde?

Mein Eindruck

Åke Edwardson ist ein Meister der Darstellung psychologischer Feinheiten. Und sein Kommissar Erik Winter ist dementsprechend ein einfühlsamer Bursche, ja, der sogar gequält ist von seinem Mangel an Einsicht: Wovor verschließt sich sein Verstand, was will er nicht sehen, weil es zu schlimm ist? Der Leser bzw. Hörer wird auf diese Tatsache mehrmals mit der Nase gestoßen, vermutlich um die Spannung zu erhören. Diese plumpen Hinweise sammeln bei mir aber nicht gerade viele Pluspunkte.

Die Vergangenheit, deren sich Erik Winter erinnert, liefert zunehmend die Schlüsselhinweise, die zur Lösung des Rätsels aus der Gegenwart führen. 18 Jahre, praktisch eine Generation, sind vergangen, und Winters Aufgabe liegt unter anderem darin, die Veränderungen, die sich daraus ergeben, zu verknüpfen. Fotos liefern wertvolle Hinweise, weitere Briefe finden sich, und Paulas Abschiedsbrief wird endlich verständlich – eine völlig andere Bedeutung.

Wer nun aber aufgrund der Andeutungen schrecklich-ergötzliche Perversionen erwartet hat, der wird enttäuscht sein. Der Täter, in dessen Händen sich der Kommissar unversehens wiederfindet, ist zwar ein ganz schlimmer Finger, aber keineswegs so durchgeknallt wie das Monster namens Hannibal Lecter. Auch Verstöße gegen Tabus wie etwa Inzest und dergleichen wird man hier vergeblich suchen. In dieser Hinsicht wird die Sensationsgier des heutigen Thrillerlesers nicht befriedigt – ich gebe zu, ich war ein wenig enttäuscht.

Aber Åke Edwardson ist ein viel zu ernsthafter und zivilisierter Autor, um sich solcher modischer Kniffe zu bedienen. Umso glaubwürdiger erscheint die Story, die schrittweise sichtbar wird. (Sie wiederzugeben, hieße, zu viel zu verraten, daher verzichte ich darauf.) Er zeigt, wie es vier Frauen in Göteborg teils ans Leben geht, teils die Nerven durchgehen. Das ist die eigentliche Aussage: Paula Nej wollte endlich wieder hoffen können und mit Hilfe jener mysteriösen Blondine im Hauptbahnhof einfach wegfahren. Doch dies ließ der Täter nicht zu. Dessen Gründe zu verstehen, ist ebenso wichtig wie den Tod von Paula und das Verschwinden Ellen Börjes nachzuvollziehen.

Natürlich fällt der Verdacht der Bullen zunächst auf Mario Nej, den Mann in nächster Nähe zu zwei Opfern: seiner Frau Elisabet und seiner Tochter Paula. Die Tatsache, dass er im Hotel Odin, wo man Elisabet auffindet, gearbeitet hat, trägt auch nicht gerade zu seiner Entlastung bei. Inspektor Haldersch würde ihn am liebsten sofort einbuchten, aber Winter wehrt ebenso ab wie der Staatsanwalt: Da steckt mehr dahinter, und die Beweislage ist zu dünn. Erst muss das dünne Gespinst der Hinweise zusammengesetzt werden. Ja, es stellt sich heraus, dass sich Haldersch selbst hat täuschen lassen, damals, vor 18 Jahren im Wohnblock. Nun werden mehr Leichen gefunden, und nicht nur dort. Alle Zeugen sollen verschwinden, meint der Täter, und Kommissar Winter gehört natürlich dazu …

Sehr schön ist der Zeitfaktor herausgearbeitet. Der erzählte Ermittlungszeitraum erstreckt sich von Ende August bis Mitte Dezember, und die Erscheinungsformen der Jahreszeiten werden sehr schön und unaufdringlich geschildert. Sturm, Schnee, Regen, Sonnenschein – das volle Programm kommt zum Einsatz. Das Vergehen der Zeit macht einerseits deutlich, wie schwer sich die Ermittlungskommission Winters mit dem Fall Nej tut. Es setzt aber auch den Kommissar zunehmend unter Druck, bis er sich zu einer Kurzschlussreaktion hinreißen lässt, die ihn fast das Leben kostet. Er will den Fall endlich lösen, denn schon übermorgen geht’s ab nach Malaga, und so ruft er keine Verstärkung zu Hilfe, als er die entscheidenden Hinweise in Paulas Wohnung findet. Aber man muss auch erwähnen, dass ihm die Technik einen Streich spielt: Handys sind im Sturm nur bedingt einsatzfähig.

Die Farbe Weiß spielt ein durchgehende Rolle, ebenso wie das Motiv der Hand. Der Täter lässt sich darüber aus, bevor er sich daran macht, Winter umzubringen. Doch ich fand seine Erklärungen unbefriedigend. Jedenfalls boten sie mir keine schlüssige Begründung. Natürlich spielt der Symbolismus der Farbe Weiß eine Rolle, aber für Opfer und Täter eine ganz unterschiedliche. Weiß symbolisiert sowohl Reinheit und Unschuld (= Hoffnung auf Neuanfang für Paula) als auch Knochen und den Tod (für den Täter). Warum also strich Paula Nej ihre Wohnung vor ihrem Verschwinden in dieser Farbe? Gute Frage, Herr Kommissar.

Der Sprecher

Dass Boris Aljinovic einen „Tatort“-Kommissar spielt, gereicht ihm in vielerlei Hinsicht zum Vorteil. Die Aufgabe, die verschiedenen Figuren stimmlich und sprachlich auf erkennbare Weise zu charakterisieren, bewältigt der Sprecher mit Bravour – ohne sich jedoch zu Karikaturen hinreißen zu lassen. Man merkt aber nach einer Weile, dass ihm die Einzelfiguren nicht so sehr liegen wie das Kollektiv des Ermittlungsteams.

Bei deren Dialogen fühlt er sich wie ein Fisch im Wasser und rasselt die witzigen und ironisch gemeinten Dialoge („Ich bin ein Sozi.“) lustvoll herunter, dass dem Hörer ganz anders wird – am besten gleich nochmal anhören! Insbesondere die kollegiale Kabbelei und Verarschung zwischen Winter und Haldersch kommt gut zur Geltung – sie charakterisiert das enge Verhältnis zwischen dem „Alten“ (er ist ca. 45) und seinem „Lehrling“, der sein Stellvertreter werden soll, sobald Winter die Fliege gemacht hat. Und so ist es nur recht und billig, dass es Haldersch ist, der Winter in der Stunde der Not zu Hilfe eilt. Ob er wohl rechtzeitig kommt?

Unterm Strich

„Zimmer Nr. 10“ zeigt den Autor Åke Edwardson auf der Höhe seiner Erzählkunst. Deutlich sind die Kreis- und Spiegelstrukturen in der Handlung und den Motiven zu erkennen, alle kunstvoll versteckt und zur Wirkung gebracht, wenn es an der Zeit ist. Diese Routiniertheit birgt aber auch die Gefahr, eine Formel für den Erfolg zu entwickeln und keine Experimente mehr einzugehen. Dieses Stadium hat Edwardson bereits erreicht.

Die Einbindung der Vergangenheit, die 18 Jahre zurückliegt, führt zur Erklärung der Rätsel der Gegenwart. Das ist schön und gut, aber ein Besuch auf dem Einwohnermeldeamt hätte vielleicht schnelle Ergebnisse geliefert. Ob die sowas überhaupt in Schweden haben? Dergleichen wird nie erwähnt. Auch eine Lokalisierung von Handys scheint keine Rolle zu spielen – alles wird noch wie zu Opas Zeiten quasi zu Fuß erledigt. Wenigstens klappt die Videoüberwachung einwandfrei.

Für Sensationslüsterne ist hier nichts zu holen – sie seien schon einmal vorgewarnt. Denn Åke Edwardson ist nicht Thomas Harris, eher schon ein Michael Connelly auf schwedisch. Allerdings mit dem Unterschied, dass Erik Winter eine Familie braucht, um aufzublühen, Connellys Detektiv Harry Bosch ist jedoch eine Art Steppenwolf, der mit dem Alleinleben besser klarkommt als mit einer Familie. Das macht aber keinen Unterschied, wenn es darum geht, eine spannende Handlung aufzubauen. Am Ende erweisen sich beide als gleichermaßen einfühlsam. Und nur das zählt, um den jeweiligen Fall zu lösen.

Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch
398 Minuten auf 5 CDs

http://www.hoerbuch-hamburg.de/

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