Richard Ellis – Seeungeheuer. Mythen, Fabeln und Fakten

In den Tiefen der Meere existieren unglaubliche Kreaturen. Autor Ellis trennt Sagenhaftes und Reales, erzählt von einer Vergangenheit, die sich ihre Ungeheuer schuf, und stellt exemplarisch merkwürdige Wesen vor, die alles andere als ungeheuerlich sind. Ellis schreibt fabelhaft, man folgt ihm gebannt – und viele Bilder gibt es auch: ein Sachbuch der Sonderklasse!

Furcht und Faszination des Unbekannten

Die Erde ist ein Planet, den zu mehr als zwei Drittel Wasser bedeckt, während die (scheinbar) beherrschenden Spezies sich in Milliardenstärke auf dem verbleibenden Drittel Festland zusammendrängen. Würden wir unseren Globus in eine Bowlingkugel verwandeln, indem wir alle Gebirge und sonstigen Höhen einebneten und in die Schluchten und Klüfte unter dem Meerspiegel schütteten, stünde das Wasser an jeder Stelle etwa dreieinhalb Kilometer hoch.

Während Spionage-Satelliten die Erde umkreisen und es ermöglichen, aus dem All einen Personalausweis zu lesen, der einem Reisenden am Südpol aus dem Rucksack gefallen ist, kann das, was unter der Meeresoberfläche schwimmt, auch heute noch weitgehend unter sich bleiben.

Da der Mensch Ungewissheit hasst bzw. gern durch Spekulation ersetzt, was er nicht weiß, ist es nicht verwunderlich, dass im und unter dem Meer seit jeher allerlei fremdes Getier vermutet wird, das man vorsichtshalber (und um des dramatischen Effektes wegen) unter dem Begriff „Seeungeheuer“ zusammenfasst. Auf alten Seekarten kann man sie sogar sehen, wie sie panzerschuppig, stoßzahnbewehrt und wasserschnaubend die Wogen durchfurchten auf der Suche nach unglücklichen Schiffen, die sie mit Mann und Maus versenken konnten, weil diese sich vorwitzig in Regionen vorgewagt hatten, in denen GOTT der HERR (oder die seefahrende Konkurrenz) sie nicht sehen mochten; so hatten die Ungeheuer bis in die frühe Neuzeit einen sicheren Job und ihren Platz auf dieser Welt.

Wie Ungeheuer entstehen

Mit dieser ersten Phase der Begegnung zwischen Mensch und Monster beginnt Richard Ellis seinen Streifzug durch die wunderbare Welt der Seeungeheuer. Wir lernen, dass es zwischen realen und imaginären Ungetümen zu unterscheiden gilt. Die Monsterplage, die einst die Seefahrt zu einem gefährlichen Geschäft werden ließ, ging hauptsächlich auf das Unwissen derer zurück, die es betrieben. Von Forschern, die das feste Land nie verlassen hatten, bibelfesten Kirchenleuten und anderen selbsternannten Fachleuten ‚beraten‘ und im Glauben an eine Welt, in der das Übernatürliche und seine Schrecken gleich um die Ecke lauerten, ging es auf winzigen, lächerlich unzulänglichen Gefährten hinaus auf die See, doch nicht immer zurück.

Angesichts alltäglicher Schrecken wie Sturm, Klippen, Durst oder Hunger (dies ist nur eine kleine Auswahl) war es kein Wunder, dass die nervösen Seeleute jenseits der nur scheinbar schützenden Reling allerlei Ungeheuerliches zu sichten glaubten. Ansonsten wurde nach sicherer Rückkehr in der Hafenkneipe bei einem guten Glas gern das bekannte Seemannsgarn gesponnen und aus einer feisten Seekuh eine verführerische Nixe, was gar mancher Zuhörer für bare Münze nahm und in Wort und gezeichnetem Bild verewigte. Eine schöne Auswahl solcher Werke präsentiert Ellis in seinem auch sonst fabel-haft illustrierten Werk.

Aus Ungeheuern werden Lebewesen

Die Große Seeschlange ist das wohl berühmteste Ungeheuer, das auf diese Weise ins Leben gerufen wurde. Ellis zeichnet ihre reiche Geschichte nach, der auch die nüchterne Wissenschaft des 21. Jahrhunderts erfreulicherweise nicht den Garaus machen konnte. Er nutzt die Gelegenheit, dem faszinierenden Leser vor Augen zu führen, dass da draußen in der Tat erstaunliche Wesen leben.

Es beginnt ganz entspannt im Hier und Jetzt mit – scheinbar – bekannten Zeitgenossen. Gibt es noch Sensationelles über Wale und Haie zu berichten? Und ob – zumal es einige Vertreter beider Gattungen gibt, deren Existenz definitiv feststeht und die doch der Forscherzunft arges Kopfzerbrechen bereitet. Wie konnte beispielsweise „Megamouth“, ein grotesk großmäuliger, fünf Meter langer und tonnenschwerer Tiefsee-Hai, der Wissenschaft bis 1976 verborgen bleiben (S. 18ff.)?

Mythos und Realität des Seeungeheuers finden nirgendwo besser zusammen als im Kampf Pottwal gegen Riesenkrake. Die Vorstellung, es könnten in den düsteren Tiefen des Meeres frachtflugzeuggroße Raubsäuger mit zehnarmigen, leuchtenden, fußballfeldumspannenden Weichtiergiganten ringen, ist so absurd, dass es praktisch sofort einleuchtet, dass dies tatsächlich geschieht. Ausgerechnet das größte und furchterregendste Monster ist also echt – und Ellis beweist es mit vielen unglaublichen Fotos!

Nichts los am Loch Ness?

Dann geht es kurz ins Binnenland. Das ist verständlich, denn wie könnte in einem Kapitel über Seeschlangen das Ungeheuer von Loch Ness durch Abwesenheit glänzen? Ellis weiß auch hier eine faszinierende Geschichte über eine Schnapsidee zu erzählen, die einem verschlafenen Nest am Ende der Welt eine Quelle nie versiegender Einkünfte bescherte. „Nessie“ hat sich aus einer ganzen Reihe sehr guter Gründe Anfang der 1990er Jahre für Zeitgenossen mit gesundem Menschenverstand in Luft aufgelöst. Für den Fremdenverkehr wird der Mythos aber weiterhin kräftig von denen am Leben erhalten, die an ihm verdienen. Unterstützung erhalten sie zuverlässig durch weichhirnige Monster-Jünger, die mit Fernglas, Radarwerfer oder einfach nur übersteigerter Einbildungskraft wohl auf ewig die Ufer des Loch Ness bevölkern werden.

Wenn Zoologen kryptisch werden

Wenn es um Ungeheuer (oder UFOs oder den versunkenen Kontinent Atlantis) geht, betritt der nach Wissen Dürstende ein trockenes, heißes Land, in dem zahllose Fata Morganen ihn narren werden. Die Gruppe derer, die an Ungeheuer glauben möchten, ist nämlich weitaus größer als das Grüppchen jener, die sich des Themas sachlich und mit der gebotenen Skepsis annehmen. Beide Haltungen fließen zusammen in der sogenannten „Kryptozoologie“, deren Vertreter sich der Suche nach sagenhaften, ‚verschwundenen‘ oder einfach nur seltsamen Tieren verschworen haben. Einen Lehrstuhl dieses Namens wird man an den Universitäten dieser Welt nicht finden, und gesetzlich geschützt ist der Begriff auch nicht – jede/r kann sich also „Kryptozoologe” nennen. Unter denen, die dies tun, ist denn auch das gesamte Spektrum menschlicher Geisteskräfte zwischen „ernsthaft“ und „ernsthaft übergeschnappt“ vertreten, wobei die Mehrheit dem zweiten Lager zuzuordnen ist.

Es ist aber auch wie verhext: Seltsame Zufälle verhindern immer wieder den Triumph unserer Kryptos! Da findet die Besatzung eines japanischen Fischerbootes 1977 in seinem Netz einen toten Plesiosaurier – und wirft den Kadaver sogleich wieder über Bord, statt ihn (ungeachtet der Pestdämpfe fortgeschrittener Verwesung) zum Ruhme der Wissenschaft in den sicheren Hafen zu bringen. Aber ein Foto haben die Banausen immerhin geschossen, das tatsächlich etwas Seltsames zeigt (S. 72).

Freilich waren auch dieses Mal die Spielverderber nicht weit und degradierten den seltsamen Meeresbewohner zum fauligen Rest eines Riesenhais. Das hindert ihn allerdings nicht, in beinahe jedem kryptozoologischen Werk wieder aufzuerstehen. (Die Japaner selbst erfassten rasch den Marketingwert dieses Ereignisses und brachten eine Briefmarke mit der Abbildung eines Plesiosauriers heraus.)

Seltsamer geht immer

Kennen Sie „Blobs“ und „Globsters“? Erstere sollten zumindest dem Kenner des phantastischen Films bekannt sein, wurde ein prominentes Exemplar dieser Gattung doch Ende der 1950er Jahre von einem sehr jungen Steve McQueen in den Kinohimmel befördert. In der Realität stellen Blobs und Globsters das vielleicht größte Rätsel der tiefen See dar: waggongroße, bleischwere Fleischberge ohne erkennbare Formen, ohne Sinnes- oder sonstigen Organe, aber mit stahlharter Haut. Niemand hat jemals herausgefunden, um welche Kreaturen es sich hier wohl handeln könnte. Selbst Schwindel – spätestens seit Loch Ness auch weltweit verantwortlich für viele Monster – scheidet aus, denn welcher Betrüger würde die Welt mit solchen unästhetischen Gebilden gewinnen wollen?

„Seeungeheuer“ birst geradezu vor solchen Anekdoten. Ellis bietet behutsam meist sehr überzeugende Erklärungen an, ohne besserwisserisch zu wirken. Man folgt ihm ausgesprochen gern, weil er durch Wissen überzeugt, statt zu eifern oder zu predigen. Ellis stellt unaufdringlich unter Beweis, wie wichtig es ist, sich eine gesunde Skepsis zu bewahren, die einhergeht mit der Bereitschaft, auch das naturwissenschaftliche, historische und philosophische Wissen der Menschheit in sein Urteil einzubeziehen. „I want to believe!“ ist eben doch nicht immer die beste Antwort auf alle offenen Fragen.

Faktenfülle und Sachlichkeit machen „Seeungeheuer“ zu einem wunderbaren Buch, das sich uneingeschränkt empfehlen lässt – kundig und informativ, dazu hervorragend geschrieben (und adäquat übersetzt) und ebenso reich wie liebevoll bebildert. Dazu gibt’s hierzulande einen Bonus: Das Buch ist nur antiquarisch greifbar und das erfreulich kostengünstiger als das Neu-Exemplar. Da eine Taschenbuch-Ausgabe nie erschienen ist, sollte jeder Leser, der sich noch daran erinnern kann, wie er (oder sie) bei der Lektüre von „20.000 Meilen unter dem Meer“ oder „Moby Dick“ und dem Anblick der schönen (und schön gruseligen) zeitgenössischen Stiche ins Träumen geriet, sogleich zugreifen, wenn der hier enthusiastisch besprochene Band ins Auge sticht.

Gebunden: 388 Seiten
Originaltitel: Monsters of the Sea (New York : Albert A. Knopf 1994)
Übersetzung: Monika Niehaus-Osterloh
ISBN-13: 978-3-7643-5422-0
http://www.springer.com/birkhauser

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