Erik Larson – Tiergarten: In the Garden of Beasts. Ein amerikanischer Botschafter in Nazi-Deutschland

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Im Sommer des Jahres 1933 ist das Deutsche Reich aus US-amerikanischer Sicht ein Land, das nur aus einem Grund besonderer Aufmerksamkeit bedarf: Nachdem das Reich 1918 den I. Weltkrieg verloren hatte, wurden ihm im Versailler Vertrag hohe Reparationszahlungen auferlegt. In den Vereinigten Staaten hatten patriotische Bürger Kriegsanleihen gezeichnet, die sie jetzt mit Gewinn einlösen wollen.

Der ungestörte Geldfluss wird nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 umso wichtiger. Nichts darf ihn stören, was der neue US-Botschafter William E. Dodd vor allen anderen Dienstpflichten garantieren soll. Dass in Deutschland im März 1933 eine obskure Partei namens „NSDAP“ an die Macht gekommen ist, sorgt in den fernen USA nicht für Schlagzeilen. In der Weimarer Republik sind seit 1918 zahlreiche Regierungen gekommen und gegangen. Niemand rechnet damit, dass sich die „Nazis“ unter ihrem seltsamen „Führer“ Adolf Hitler halten werden.

Deshalb hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt Schwierigkeiten, den vakanten Botschafterposten in Berlin neu zu besetzen. Die Kandidaten zieht es in prestigestärkere Länder wie Großbritannien oder Frankreich. Deshalb greift Roosevelt in seiner Not schließlich auf einen eigentlich ungeeigneten Bewerber zurück. William E. Dodd ist ein schon älterer Historiker, der vor allem einen ruhigen, gut bezahlten Regierungsposten sucht, um an seiner Geschichte der amerikanischen Südstaaten arbeiten zu können.

Stattdessen gerät Dodd in ein Wespennest, als er im Juli 1933 in Begleitung seiner Gattin Mattie und der bereits erwachsenen Kinder Bill und Martha in Berlin eintrifft. Die Nazis haben bereits mit der „Gleichschaltung“ begonnen. Systematisch wird die jüdische Bevölkerung verfolgt und ausgegrenzt. Kritiker aus dem Ausland werden beschwichtigt, getäuscht und belogen. Die neuen Herren machen kaum einen Hehl aus ihrer Brutalität. Ihren Machenschaften ist der idealistische Dodd nicht gewachsen. Er pocht weiterhin auf die Neutralität der USA, obwohl er die grausame Realität nicht ewig ausblenden kann. Sie holt Dodd spätestens in der „Nacht der langen Messer“ vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 ein: Unter dem Vorwand, einen Putsch niederschlagen zu müssen, schaltet Hitler seinen Konkurrenten, den SA-Führer Ernst Röhm, aus und lässt bei dieser Gelegenheit zahlreiche weitere Kontrahenten und lästige Kritiker umbringen.

Dodd springt über seinen Schatten. Er glaubt den kriminellen Nazi-Größen kein Wort mehr, verleiht seiner Meinung auch in den USA Ausdruck – und wird kaltgestellt. Am 15. Dezember beruft Roosevelt Dodd von seinem Posten ab. Ein weniger empfindlicher Nachfolger versucht nunmehr die US-Interessen zu wahren. Als das Deutsche Reich den Vereinigten Staaten im Dezember 1941 den Krieg erklärt, ist der von seinen Erfahrungen zermürbte Dodd längst tot.

Ganz vorne dabei aber nicht betroffen

Die Geschichte des US-Botschafters William E. Dodd ist in der von Erik Larson gebotenen Breite noch nicht erzählt worden. Dennoch muss die Historie nicht neu geschrieben werden. Die Fakten standen fest, und in der Interpretierung folgt Larson der Forschermehrheit.

Nichtsdestotrotz ist „Tiergarten – In the Garden of Beasts“ ein interessantes und wichtiges Buch. Autor Larson geht über die reine Wiedergabe von Tatsache weit hinaus. Er wagt sich auf schwankenden, gefährlichen Boden, indem er die ‚emotionale Rekonstruktion‘ einer Ära versucht, die den Nachgeborenen heute mehr denn je vor ein Rätsel stellt: Wie konnten die Nazis, die so offensichtlich jedes Recht und jede Moral mit Füßen traten, an die Macht kommen und ihr Gewaltregime errichten? Warum hielt sie niemand auf, als es noch möglich war?

Larson hatte das Glück, sich auf reiches Quellenmaterial stützen zu können. Dodd war ein fleißiger Briefeschreiber, der zudem ausführlich in die Vereinigten Staaten meldete, was er in Deutschland erlebte. Tochter Martha sah sich als zukünftige Schriftstellerin, weshalb auch sie fleißig Eindrücke sammelte und festhielt. Die Dodds hatten zudem einen Platz in der ersten Reihe des absurden Theaters, das 1933 in Berlin seine Vorstellung begann. Sie lebten in unmittelbarer Nähe der Nazi-Prominenz, mit der sie außerdem Umgang pflegten. Dabei profitierten die Dodds von der diplomatischen Immunität, die sie vor dem Zorn und der Willkür der Nazis schützte, während weniger privilegierte US-Bürger vor allem jüdischen Glaubens immer wieder attackiert wurden.

Der Kampf gegen das böse Erwachen

Die Dodds sieht Larson als Verkörperung des ‚typischen‘ US-Bürgers von 1933: Selbstbewusst und naiv zugleich kamen sie in ein Land, das den Großen Krieg verloren hatte und jemanden wie William E. Dodd, einen Gelehrten, der den Deutschen wertvolle Lektionen über das Wesen der Demokratie geben konnte, sicherlich willkommen heißen würden. Gattin Mattie sowie Sohn und Tochter Dodd lockte das Abenteuer, das sie aus der US-Provinz in die europäische Metropole Berlin führte.

„Immunität“ war Dodds Credo. Die USA wollten nach dem verlustreichen I. Weltkrieg nicht wieder in Europa intervenieren. Was die Nationalsozialisten mit ihrer „Arisierung“ der deutschen Gesellschaften antaten, galt als deutsche Privatangelegenheit. Um jüdische Interessen sollte Dodd sich ausdrücklich nur kümmern, wenn US-Bürger vom Nazi-Terror betroffen waren. Im Vordergrund stand die Sicherung der wirtschaftlichen Beziehungen, denn die Amerikaner hatten in Deutschland viel Geld investiert.

Es dauerte einige Zeit, bis die hehren Vorstellungen zerstoben. Die Dodds waren zunächst angetan vom lebhaften, sauberen, selbstbewussten, ‚neuen‘ Deutschland mit seinen energischen Machthabern. Was sich unter der polierten Oberfläche tat, ignorierten und verdrängten sie, bis es nicht mehr ging – ein Vorgang, der sich quälend hinzog, was von Larson nachvollzogen und verständlich gemacht wird. Den Dodds ging es wie den meisten Zeitgenossen: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Dass Hitler und seine Schergen genau diese Haltung planvoll und skrupellos ausnutzten, war zu ungeheuerlich, um begriffen zu werden.

Die Zögerlichkeit, mit der Dodd den Nazis begegnete, versetzt den Leser in Zorn – eine Reaktion, die von Larson durchaus gewollt ist. Ihm geht es ausdrücklich auch darum, seinem Publikum zu verdeutlichen, dass selbst der zaghaft umdenkende Dodd eher die Ausnahme als die Regel war. Der Aufbruch der deutschen Nation ging einher mit ihrem moralischen Niedergang. Dieser Widerspruch musste erst einmal verinnerlicht werden, was sich über Jahre hinzog.

Zu spät, zu spät

Dafür zahlte die Welt bekanntlich ihren Preis. Die Dodds lernten ihre Lektion früher. Der Botschafter begriff schließlich, dass ihn die Nazi-Bonzen systematisch belogen. Tochter Martha, eine lebenslustige, junge Frau, die sich unbekümmert in zahlreiche Affären stürzte und u. a. eine Liebesbeziehung zu Rudolf Diels, dem ersten Chef der berüchtigten Gestapo, unterhielt, benötigte noch länger, um den schönen Schein von der hässlichen Realität zu trennen.

Larson lässt die heile, deutsche Welt der Dodds Stück für Stück zerbröckeln. Er hat ausgiebig in zeitgenössischen Dokumenten recherchiert und sich dabei nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen konzentriert, sondern auch den Berliner Alltag im Blick behalten. Larson macht deutlich, dass Terror und Unterdrückung von der Bevölkerung ignoriert und mitgetragen werden, wenn seine Verursacher die Peitsche zunächst sacht und später scheinbar legitim schwingen sowie gleichzeitig am Zuckerbrot nicht sparen.

Dennoch irritiert es, wenn zu lesen ist, dass nicht einmal die Mehrheit der Juden in den USA sich für die Juden in Deutschland einsetzte, obwohl durchaus bekannt war, dass deren Lage sich bedrohlich verschlechterte. Doch aus den Augen hieß aus dem Sinn: Deutschland war weit, und die deutschen Juden waren Fremde, mit denen man ungern teilen wollte. Noch war der Gedanke an einen systematischen Holocaust außerdem fremd. So konnte und wollte in den USA niemand Dodds zunehmend dringlicher und deutlicher werdende Warnungen Glauben schenken. Stattdessen galt der Botschafter als Querulant und geriet in die Mühlen einer Bürokratie, deren Mahlwerk von Kritik, Konkurrenzdenken und Neid angetrieben wurde. Dodd wurde mundtot gemacht, während die Nazis ihr böses Spiel ungehindert weitertreiben konnten. Erst 1939 ließen Hitler & Co. die Masken fallen. Dodd hatte vorausgesehen, was nun geschah, aber diese Erkenntnis kam nicht nur in den und für die USA zu spät.

Tanz auf dem Vulkan

Mit Mut zum Risiko widmet sich Larson seinem Thema. Mehr als einmal irritiert, wie nahe er den Dodds war, deren Gedanken er scheinbar liest und deren Worte er zitiert. Aber Larson ist auf der sicheren Seite. Wie er in einem ausführlichen Vorwort angibt, gehen die betreffenden Äußerungen keineswegs auf dichterische Freiheit zurück. Sie lassen sich in den Aufzeichnungen der Dodds finden, die Larson mit zeitgenössischen Tagebucheinträgen von Tätern (Joseph Goebbels) und Opfern (Victor Klemperer) unterfüttert. Der Skeptiker kann dies nachprüfen, da Larson seinem Text einen umfangreichen Anmerkungsapparat folgen lässt.

Die Unmittelbarkeit der zeitgenössischen Aufzeichnungen steigert den Eindruck, nicht nur ein Kapitel der Zeitgeschichte, sondern auch einen Kriminalroman zu lesen. Die entsprechende Elemente sind im Überfluss vorhanden, allein die Palette und das Ausmaß der beschriebenen Verbrechen übersteigen jedes Maß, das ein Krimi-Autor anlegen würde, um seiner Geschichte einen realistischen Rahmen zu geben: Nur die reale Historie kennt Kriminelle vom Kaliber der Nazis.

„Tiergarten“ ist notgedrungen eine Geschichte ohne Happy-End. Die spannende Lektüre erhält durch das Wissen um die Ereignisse einen bedrückenden Unterton. Diese Verbrecher wurden erst spät oder gar nicht aufgehalten, ihre Taten blieben viel zu oft ungesühnt. Hier bleibt nur die nachträgliche, nachvollziehbare Auflösung, die Erik Larson so gut gelingt, dass der Leser gleichermaßen beeindruckt wie informiert zurückbleibt.

Autor

Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die University of Pennsylvania, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der Columbia Graduate School of Journalism. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.

Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. „Isaacs Sturm“) ihm den Durchbruch und Bestseller-Ruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.

Gebunden: 512 Seiten
Originaltitel: In the Garden of Beasts. Love, Terror, and an American Family in Hitler’s Berlin (New York : Crown Publishers/Random House, Inc. 2011)
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
www.hoffmann-und-campe.de

eBook: 2025 KB
ISBN-13: 978-3-455-85107-6
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