Eudora Welty – Der Räuberbräutigam

Amouröse Räuber-Abenteuer im Delta

Drei Reisende steigen in einem Gasthaus am Mississippi ab und teilen sich ein Bett. Am nächsten Morgen hält einer von ihnen seine Schlafgenossen für Geister und springt mit einem großen Satz aus dem Fenster. „Den sehen wir nie wieder“, sagt der blonde Jamie Lockhart und überlegt, wie man die Goldstücke des verschwundenen Bettgenossen teilen könnte.

Der Tabakpflanzer Clement lädt Jamie daraufhin für den nächsten Sonntagabend in sein Haus ein. Just an diesem Tag wird Clements Tochter, die schöne Rosamond, von einem Räuber mit beerensaftverschmiertem Gesicht verführt. Ihr Vater beauftragt seinen neuen Freund Jamie damit, die Untat zu rächen… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Eudora Alice Welty (* 13. April 1909 in Jackson, Mississippi; † 23. Juli 2001 ebenda) war eine US-amerikanische Schriftstellerin und Fotografin. 1973 wurde sie für den Roman „The Optimist’s Daughter“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. (Wikipedia) Mehr Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Eudora_Welty. 1976 erfolgte durch von Alfred Uhry und Robert Waldman eine Dramatisierung als Musical, das am Broadway uraufgeführt wurde. ((https://en.wikipedia.org/wiki/The_Robber_Bridegroom_(musical))) 1916 entstand in Deutschland der Stummfilm „Der Räuberbräutigam“. Näheres dazu in der Wikipedia.

Werke

• A Curtain of Green. With an introduction by Katherine Anne Porter. Harcourt Brace, New York 1941
• Delta Wedding. Harcourt Brace, New York 1946
• The Golden Apples. Harcourt Brace, New York 1949
• The Optimist’s Daughter. Random House, New York 1972
• The Collected Stories of Eudora Welty. HBJ, New York 1977
• The Eye of the Story. Selected Essays and Reviews. Random House, New York 1978

In deutscher Übersetzung

• Mein Onkel Daniel. Ein Roman. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. Arche, Zürich 1958
• Die Hochzeit. Ein Roman aus dem Mississippi-Delta. Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schnack. Diogenes, Zürich 1962 DNB /455456984.
• Die Tochter des Optimisten. Roman. Deutsch von Kai Molvig. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1973, ISBN 3-498-07272-2.
• Eine Stimme finden. Übersetzt von Rüdiger Imhof. Klett-Cotta, Stuttgart 1990, ISBN 3-608-95550-X.
• Die goldenen Äpfel. Übersetzt von Tamara Willmann. Klett-Cotta, Stuttgart 1992, ISBN 3-608-95366-3.
• Ein Vorhang aus Grün. Erzählungen. Kein & Aber, Zürich 2009, ISBN 978-3-0369-5545-2.
• Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen. Drei Essays. Deutsch von Karen Nölle. edition fünf, Gräfelfing 2011, ISBN 978-3-942374-11-8.
• Der Räuberbräutigam. Aus dem Amerikanischen von Hans J. Schütz. Klett-Cotta Verlag, Hobbit Presse, Stuttgart 2015

Handlung

Der brave Tabakpflanzer Clement Musgrove kehrt im 18. Jahrhundert von einem guten Handel zurück ins heimatliche Rodney am Mississippi zurück. Erst im dritten Gasthaus kann er sich noch eine Bettstatt sichern, in der er gewiss sein kann, nicht um seinen Beutel Gold erleichtert zu werden. Aber auch dieses Bett muss er mit zwei anderen Gästen teilen.

Jamie

Der eine davon ist Jamie Lockhart, der blonde Räuber, der die Gegend unsicher macht. Er hütet sich, seine zweifelhafte Haupttätigkeit an die große Glocke zu hängen. Der andere ist ein abergläubischer Zeitgenosse von der Raufboldsorte, der die beiden anderen Bettgenossen um ihre Goldbeutel erleichtern will. Doch zusammen schlagen Clement und Jamie den Dritten in die Flucht, weil sie sich als Geister ausgeben. Zum Dank lädt Clement Jamie zu sich auf die Pflanzung sein.

Rosamond

Unter der Fuchtel ihrer hässlichen Stiefmutter Salome lebt auf der Pflanzung die wunderschöne Rosamond. Sie würde den lieben langen Tag am liebsten nur romantische Lieder der Sehnsucht singen, wenn ihre Stiefmutter sie nicht lieber heute als morgen tot sähe. Denn natürlich ist Rosamond der Liebling von Salomes Mann Clement. Das zeigt sich, als er seiner Tochter ein Seidenkleid überreicht, das er in New Orleans gekauft hat. Vor den vor Neid erblassenden Salome herzt die süße Rosamond ihren Daddy und will das Kleid gar nicht mehr ausziehen.

Die erste Begegnung

Als sie am nächsten Morgen von Salome zum Kräutersammeln in die Wildnis am Rande Louisianas geschickt, trägt daher Rosamond das Seidenkleid immer noch. Als sie sich am Rande einer Schlucht bewegt, erspäht ein Räuber sie, dessen Begehren sofort geweckt ist. Der Räuber spornt sein Pferd an, die Böschung zu erklimmen und nimmt Rosamond gefangen. Da er sein Gesicht mit Beerensaft beschmiert hat, verbirgt er seine Identität erfolgreich.

Er beraubt sie ihres Kleides, ihrer zwei Unterröcke, und was da zum Vorschein kommt, will er natürlich genauer betrachten. Umsonst fleht und jammert die Jungfer, doch alles hilft nichts: Auch die Unterwäsche muss dran glauben, bis schließlich nur noch langes blondes Haar die Reize ihre Astralkörpers verbirgt. Zufrieden zieht der Räuber von dannen. Es ist kein anderer als Jamie Lockhart. Die Begegnung hat einen heimlichen Zeugen: einen Handlanger Salomes mit dem seltsamen Namen Böckchen.

Die zweite Begegnung

Am Sonntagabend kommt Jamie Lockhart zu Besuch auf Clement Musgroves Pflanzung. Als alle zu Tisch sitzen, trägt ein zerlumptes und staubiges Mädchen die Speisen auf. Rosamond ist derartig verändert, dass Jamie sie nicht wiedererkennt. Salome betrachtet seine Reaktion mit Adleraugen. Clement, der Jamie Lockhart immer noch zu Dank verpflichtet ist, hat jedoch nur eines im Sinn: Jamie soll den Räuber finden, der seiner Tochter das Seidenkleid und alles andere und vermutlich auch die Unschuld geraubt hat. Jamie willigt ein, dies zu tun. Bald schon, irgendwann…

Danach macht Rosamond einen unerwarteten Schachzug. Um ihren Räuberbräutigam zu finden, begibt sie sich unter die Räuber. Die haben allerdings ihre ganz eigenen Absichten…

Mein Eindruck

Die Geschichte basiert lose auf dem Grimm’schen Märchen „Der Räuberbräutigam“ ((https://en.wikipedia.org/wiki/The_Robber_Bridegroom_(fairy_tale))), wurde aber von der Autorin eine Legende des Südens umgewandelt, die im Mississippi-Delta spielt. Am Anfang des Kurzromans tritt der ebenso legendäre Räuber Mike Fink ((https://en.wikipedia.org/wiki/Mike_Fink)) auf den Gentlemanräuber Jamie Lockhart, wobei der Wettstreit für Lockhart gut ausgeht, während Fink Reißaus nimmt.

Die Plantagen des Clement Musgrove liegen in der Nähe des alten Natchez-Pfades, und Natchez ist bekanntlich eine Stadt am unteren Mississippi – dort starteten später die berühmten Schaufelraddampfer. Die Autorin hatte fürs Radio über den alten Handelspfad durch das Delta zu recherchieren und stieß bei dieser Gelegenheit auf unzählige verrückte Geschichten. Hier trieb etwa der historische Räuber Little Harp, die eine Hälfte der berüchtigten Harpe-Brüder ((https://en.wikipedia.org/wiki/Harpe_brothers)) sein Unwesen. Und sogar ein Postreiter tritt im Roman auf, der Rosamond sein Leid klagt. Sogar die Indianer vom jenseitigen Ufer des Stromes mischen sich ein. Man kann festhalten, dass es sich um eine außergewöhnlich dicht bevölkerte Gegend handelt. Zumindest in literarischer Hinsicht.

Um all diese Begegnungen zu beschreiben und die entsprechenden Figuren zum Leben zu erwecken, bedient sich die Autorin einer recht sprunghaften Erzählweise, die aber mit ihren kurzen Szenen und ständig wechselnden Schauplätzen den Leser bestens unterhalten. Die Szenen und vor allem ihre Dialoge grenzen ans Absurde, aber das ist Methode: Die „tall story“ hat im eroberten Westen – also alles Land westlich der Appalachen – ihren Ursprung und eine lange, ehrenwerte Tradition, die jeder Amerikaner kennt bzw. kennen sollte, beispielsweise von Mark Twain. Übertreibungen, absurde Logik und haarsträubende Abenteuer sind kennzeichnend für dieses Genre. Selber schuld, wenn man auch nur ein Wort davon glaubt!

Das Märchen von Amor und Psyche

Davon ganz abgesehen, bildet die Grundlage für die Story nicht nur ein altes europäisches Märchen (das die Grimms ja nur SAMMELTEN), sondern vor allem der antike Mythos um Amor und Psyche, den Ovid und Apuleius formulierten. ((https://de.wikipedia.org/wiki/Amor_und_Psyche)) „Psyche“ ist das griechische Wort für Seele.

Psyche ist die jüngste und schönste der drei schönen Töchter eines Königs. Sie ist so schön, dass alle aufhören, Venus, die Göttin der Schönheit und der Liebe, zu verehren. Verärgert ruft Venus ihren treuen Sohn Amor und befiehlt ihm, Psyche dazu zu bringen, sich in einen schlechten Mann zu verlieben. Der Vater schickt seine Tochter – wie das Orakel des Gottes Apollon ihm befohlen hat – in einem Brautkleid an eine einsame Bergspitze, auf der sie einen furchtbaren Dämon heiraten soll. Doch anstatt des Dämons wird sie von Zephyr, dem Herrn der Winde, auf Anweisung Amors, der selbst der überirdischen Schönheit Psyches erliegt, in ein märchenhaftes Schloss gebracht.

In diesem Schloss sucht ihr Gatte sie Nacht für Nacht auf, doch tagsüber verschwindet er, ohne dass sie ihn je zu Gesicht bekommt. Da sich Psyche einsam fühlt, gewährt er ihr einen Besuch von ihren Schwestern. Amor warnt sie aber, sie dürfe sich nicht von ihnen verleiten lassen, herauszufinden, wer er sei. Die Schwestern, zuerst froh, Psyche wohlbehalten vorzufinden, sind schnell vom Neid verzehrt. Bei einem weiteren Besuch gelingt es ihnen, das naive Mädchen davon zu überzeugen, dass sie eine Schlange geheiratet habe, die ihr wegen ihrer furchtbaren Gestalt nie bei Tageslicht gegenübertrete und die Schwangere verschlingen werde. Aus Angst um ihr ungeborenes Kind und um sich selber befolgt sie den Rat ihrer Schwestern und wartet in dieser Nacht mit einer Öllampe und einem Messer auf ihren Mann.

Als sie ihren Geliebten beleuchtet, erblickt sie kein Ungeheuer, sondern den schönen Körper des geflügelten Amor. Psyche – von Liebe zu ihrem göttlichen Gatten überwältigt – merkt nicht, wie ein Tropfen des heißen Öls auf Amors Schultern fällt. Der Gott, der seiner Mutter ungehorsam gewesen ist, fühlt sich betrogen, fliegt davon und lässt Psyche untröstlich zurück.

Venus, voller Wut darüber, dass ihr Sohn ihre Befehle missachtet hat und stattdessen mit Psyche ein Kind gezeugt hat, macht sich auf die Suche nach dem Mädchen. Psyche muss verschiedene lebensgefährliche Aufgaben für die Göttin erledigen. Dank der Hilfe von Ameisen, sprechenden Schilfrohren oder Türmen gelingt es ihr, sie zu lösen. Bei der letzten Aufgabe lässt sie sich aber von dem Wunsch, ihren Geliebten zurückzuerobern, überwältigen. So öffnet sie das Kästchen, das eine Schönheitssalbe der Proserpina, der Gemahlin des Pluto, enthält. Sie trägt die Salbe auf, welche eigentlich für Venus bestimmt war, und fällt in einen todesähnlichen Schlaf.

Amor, der sich inzwischen von seiner Verbrennung erholt hat, eilt ihr zur Rettung. Da er Psyche immer noch liebt, scheucht er mit seinen Flügeln ihren Schlaf wieder in das Kästchen zurück. Während Psyche das Kästchen abliefert, fliegt Amor zu Jupiter und erlangt die Erlaubnis, Psyche zu heiraten. Der oberste Gott hat Nachsicht, reicht Psyche einen Becher mit Ambrosia und macht sie dadurch unsterblich, so dass einer Hochzeit unter den Göttern nichts mehr im Weg steht. Psyche gebiert Amor eine wunderschöne Tochter, welche den Namen Voluptas (Wollust) erhält. (Wikipdia.de)

Bei Welty hingegen bleibt die Leibesfrucht aus, doch wohl nicht lange, denn Rosamond verlobt sich mit Jamie, der ein ehrbarer (?) Kaufmann geworden ist. Die verschollen geglaubte Tochter verabschiedet sich von ihrem Vater, um sich auf eine Schiffsreise zu begeben. Zum Glück hat Salome, die fiese Stiefmutter, bereits das Zeitliche gesegnet.

Die Übersetzung

Die alte Übersetzung aus den achtziger Jahren setzt trotz der Einfachheit der Erzählung ein Mindestmaß an Vokabular voraus. Fehler fand ich keine.

Unterm Strich

Der Kurzroman, der den antiken Stoff um Amor und Psyche sowie ein europäisches Märchen verarbeitet, ist durchweg kurzweilig zu lesen. Die vielen Szenen sind mal sinnlich, mal boshaft, mal absurd, mal gruselig. So hat etwa der Räuber Little Harp immer den Schädel seines toten Bruders bei sich – und der Schädel spricht. Auch Rosamonds mütterliches Medaillon spricht zu ihr – was Beleg genug sein dürfte, dass es sich um ein Märchen handelt.

Spannend ist die Geschichte, die dem Genre der „tall story“ angehört, nur begrenzt. Dass Jamie Lockhart die wahre Braut, nämlich Rosamond, ebenso wenig erkennt, wie sie ihn, als er mit Beerensaft beschmiert vor ihr steht, sorgt für die Spannung der Verwechslungskomödie. Dieser Spannungsbogen lässt sich aber nur bis zu einem Punkt dehnen, bevor er zusammenbricht und die Handlung in ziellosen Episoden wie der mit dem Postreiter und den Indianern vor sich hinplätschert. Das mag zwar unterhalten, aber eben nur begrenzt. Das Ende ist obligatorisch „happy“.

Ich verstehe die Lektüre mal als wirkungsvollen Anreiz, entweder William Goldmans verfilmte Version „Die Brautprinzessin“ (1973) zu lesen oder Margaret Atwoods Variante „The Robber Bride“ (1993). Beide Romane werden in der Wikipedia vorgestellt, so dass sich eine Erläuterung erübrigt.

Hardcover: 156 Seiten
Originaltitel: The Robber Bridegroom, 1942;
Aus dem Englischen von Hans J. Schütz
ISBN-13: 9783608960280

www.klett-cotta.de

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