Eugenides, Jeffrey – Air Mail

Spätestens seit Jeffrey Eugenides 2003 für seinen erstklassigen Roman [„Middlesex“ 916 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, ist er einer der großen Stars der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Ein großartiges Erzähltalent, das fesselnd seine Geschichten spinnt und Figuren aus dem Hut zaubert, die erfrischend normal und alltäglich sind.

In Romanform hat Eugenides sein Können bereits zweimal eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zum einen mit seinem Romandebüt „Die Selbstmord-Schwestern“, der Geschichte des Selbstmords der fünf Schwestern der amerikanischen Vorstadtfamilie Lisbon, zum anderen durch die Familiengeschichte des Hermaphroditen Cal/Callie in „Middlesex“. Beide Romane drehen sich um ähnliche Dinge. Normalitäten und Absurditäten in den weißen Vorstädten der amerikanischen Mittelschicht und gleichzeitig um die Zeit des Erwachsenwerdens, die schwierige Phase der Pubertät, des Erwachens der Sexualität, mit all den Irritationen und Kuriositäten, die dazugehören. Beide Romane sind Familiengeschichten der etwas anderen Art.

„Air Mail“ ist nun ein Werk, das sich von den beiden bekannten Veröffentlichungen des Autor einerseits fundamental unterscheidet, andererseits aber durchaus das Bild vervollständigt. „Air Mail“ vereint drei Erzählungen, deren zeitlicher Ursprung genau zwischen den beiden genannten Romanen liegt, zwei stammen aus dem Jahr 1997, die dritte wurde 1999 verfasst.

Nun ist das immer so eine Sache, von einem überaus erfolgreichen und vielgelobten Autor zu einem späteren Zeitpunkt frühere Werk auszugraben und zu veröffentlichen. Im Fall von Jonathan Franzen fand ich mit [„Die 27ste Stadt“ 1207 das Ergebnis eher weniger befriedigend. Oft werden die frühen Werke der heute so großartigen Autoren den Erwartungen nicht ganz gerecht. Doch bei „Air Mail“ ist diese Gefahr schon aufgrund des gänzlich anderen Erzählformats geringer. Als „Kurzstrecken-Erzähler“ ist Eugenides schließlich dem deutschen Leser bislang noch weitestgehend unbekannt.

_Air Mail (1997)_

Die erste Erzählung dreht sich um Mitchell, der gerade auf einer kleinen Insel im Golf von Siam auf einer Strohmatte in einer kleinen Hütte gegen die Ruhr ankämpft. Inspiriert durch die fernöstliche Mentalität, durch den Glauben an die Kraft des Geistes, versucht Mitchell die Ruhr durch eisernes Fasten kleinzukriegen. Fernab von zu Hause, in der Abgeschiedenheit seiner Hütte, bringt Mitchell all seine Gedanken über sich und den Lauf der Welt zu Papier – auf Luftpostpapier, in Form von Briefen, die er seinen Eltern schicken will, in der Hoffnung, dass sie ihn besser verstehen. Während Mitchell seinen Durchfall „wegfastet“, stapeln sich Briefe, die Mitchell nie abschicken wird.

„Air Mail“ ist eine recht sonderbare, aber gleichsam faszinierende Erzählung. Ein exotischer Schauplatz, an dem der Protagonist Mitchell nach einem Inhalt für sein Leben sucht. Der Kontakt zu den Eltern beschränkt sich auf ein Minimum. Sie sind enttäuscht von ihm, dass er die eigentlich geplante Europareise zu einer ausgedehnten Asienreise erweitert hat, mittlerweile seit einem halben Jahr fort ist und ihnen keinerlei Hoffnung auf eine baldige Rückkehr macht. Karriere, Studium und Familie stehen hinten an, solange Mitchell ohnehin nicht weiß, was er einmal machen will.

Fernab der Zivilisation beginnt Mitchell sich selbst zu erforschen, nach einem Sinn zu suchen. Die Ruhr sieht er da fast als eine Art Weg zur Erkenntnis. Er beginnt, sich von der Welt abzukapseln, während er gleichzeitig in dem Glauben ist, er würde sich ihr öffnen, sie endlich verstehen. Innere Erkenntnis und äußere Kommunikation stellen dabei gegenläufige Entwicklungen dar. Verfasste Briefe werden nicht mehr abgeschickt, sein Kumpel Larry versteht nicht recht, warum Mitchell nicht endlich Medikamente nimmt, statt weiter zu fasten, und als Mitchell nach vielen Tagen der Abgeschiedenheit in die Gemeinschaft am Strand zurückkehrt, hat er sich längst meilenweit von ihr entfernt.

Besonders das Ende der Geschichte ist merkwürdig und man steht als Leser etwas ratlos da. Doch irgendwie bleibt auch der Eindruck zurück, dass das Ende gar nicht so sehr das Entscheidende ist. Kern der Erzählung ist vielmehr der Gegensatz zwischen Innen- und Außenleben des Protagonisten.

_Die Bratenspritze (1999)_

„Die Bratenspritze“ ist eine Erzählung, die eine gänzlich andere Richtung einschlägt. Weniger nachdenklich stimmend, weniger sonderbar und weniger verkopft als „Air Mail“. Tomasina ist vierzig, hat alles erreicht, was man sich wünschen kann und einen Job als Produzentin der CBS Evening News, auf den andere nur neidisch sein können. Tomasina ist Single, hatte viele Liebschaften mit nicht wenigen Pannen und daraus resultierend immerhin auch schon eine Handvoll Abtreibungen. Doch mit vierzig beginnt allmählich die biologische Uhr zu ticken, auch für Tomasina. Sie will ein Kind, aber möglichst ohne Mann. Samenspende heißt das Zauberwort, und so lädt sie zu einer Art Befruchtungsparty, inklusive Samenspende, am Tag ihres mittels Basalthermometer ermittelten Eisprungs.

Rein erzählerisch spielt „Die Bratenspritze“ schon in der Liga, in der etwas später auch „Middlesex“ spielt. Bildhafte Vergleiche, die den Leser schmunzeln lassen, und lebhaft gezeichnete Figuren. „Die Bratenspritze“ ist letztendlich eine satirische Momentaufnahme à la „Sex and the City“. Eine Party zwecks Befruchtung der Gastgeberin, das ist für sich schon schräg genug, aber Eugenides lässt diese Party durchaus ernsthaft organisiert erscheinen – so wie man sich eine Party in der feinen New Yorker Gesellschaft der Besserverdienenden halt vorstellt, mit passendem Nippes und feinstem Champagner.

Der eigentliche Protagonist stolpert erst im Verlauf der Erzählung in die Geschichte, ganz unvermittelt und unerwartet platzt er mit einem |“An diesem Punkt sollte ich mich vielleicht vorstellen. Ich heiße Wally Mars.“| in das Geschehen. Wally ist die heimliche Hauptfigur. Ein abgelegter Liebhaber von Tomasina, dem die Rolle des unauffälligen Beobachters zufällt. Mit einem feinen Blick für das Absurde der Situation erzählt Wally die Geschichte, in der er selbst später noch eine maßgebliche Rolle spielen wird.

Eugenides zeigt sich hier von seiner unterhaltsamsten und ironischsten Seite. Während die anderen beiden Erzählungen vielfältigere und weniger leicht zu entschlüsselnde Emotionen transportieren, ist „Die Bratenspritze“ recht einfach gestrickte Unterhaltung, mit einem Blick für die teilweise absurden Züge der modernen Gesellschaft.

_Timesharing (1997)_

In der dritten Erzählung geht es mitten hinein in den tristen amerikanischen Alltag. Eine Vater-Sohn-Geschichte, die in Florida angesiedelt ist. Der Ich-Erzähler besucht seine Eltern, die in Florida gerade ein heruntergekommenes Motel in eine Goldgrube umzuwandeln versuchen. Timesharing heißt das Zauberwort. Die Zimmer werden mit Kochnischen ausgestattet und sollen möglichst längerfristig an zahlungskräftige Gäste vermietet werden.

„Timesharing“ ist einfach eine Momentaufnahme. Anfang und Ende bleiben ein wenig diffus. Eine Pointe, auf die alles hinausläuft, oder einen Höhepunkt gibt es in dem Sinne nicht. Es ist lediglich eine Zustandsbeschreibung des Lebens der Protagonisten und ihres Verhältnisses zueinander. Der Zustand des alten Motels geht dabei mehr oder weniger konform mit dem Zustand des Vaters, der mit brüchiger Gesundheit und stetig schwindender Kraft versucht, sein Lebenswerk zu vollenden. Der Sohn wirkt dabei nicht weniger müde, als es die Eltern sind. Unmotiviert verbringt er seine Zeit als Beobachter auf der Baustelle der Eltern, zieht abends durch die Kneipen und sieht sich nicht einmal dazu in der Lage, ein neues Paar Schuhe zu kaufen.

„Timesharing“ lässt den Leser mit einem merkwürdigen Gefühl zurück. Die Geschichte wirkt irgendwie melancholisch und traurig und die Figuren in all ihrer Müdigkeit und Zerbrechlichkeit erschreckend menschlich. Dadurch, dass die Geschichte keinen klar definierten Handlungsrahmen aufweist, bleibt sie einerseits etwas distanziert und befremdlich, trifft einen andererseits aber auch ins Mark, weil sie authentisch und lebensecht wirkt.

Ergänzt werden die drei Erzählungen durch ein Nachwort des ARD-Literaturkritikers Dennis Scheck. Es wirkt teilweise etwas hochtrabend, wie Scheck sich von Fremdwort zu Fremdwort hangelt, unterstreicht inhaltlich aber die Bedeutung, die Eugenides in der modernen Literatur hat. Möglich auch, dass das Nachwort noch ein wenig als Füllwerk dienen soll, um das Büchlein auf immerhin knappe 120 Seiten zu bringen. In meinen Augen wäre es nicht unbedingt nötig gewesen.

Die drei Erzählungen in „Air Mail“ sind Lektüre für knapp etwas mehr als eine Stunde, dennoch fordern sie eine gewisse darüber hinausgehende Aufmerksamkeit. Ein wenig bedauerlich ist es schon, einen Eugenides so schnell aus der Hand legen zu müssen, und so bleibt ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit zurück. Aber die deutet weniger auf einen qualitativen Mangel hin, sondern mehr darauf, dass man als Leser einfach schon verwöhnt ist, wenn man vorher „Middlesex“ gelesen hat. Eugenides bleibt auch nach der Veröffentlichung von „Air Mail“ ein großartiges Erzähltalent, das man im Auge behalten sollte.