Francesco „Pipín“ Ferreras ist nach eigener Auskunft schon als Kind mehr Fisch als Mensch gewesen. Im bereits revolutionär angegammelten Kuba der 1960er Jahre bleibt ihm trotz castrogläubiger Eltern der Glanz des realen Sozialismus‘ verborgen. Pipín geht lieber tauchen und entwickelt dabei rasch bemerkenswerte Talente, die indes lange brachliegen müssen: Kuba ist kein Ort, an dem man wassertaugliche Bürger schätzt; Miami, die Höllenstadt des Erzteufels USA, liegt verführerisch nahe am Horizont.
Aber zum Ruhme Kubas lässt Fidel Castro den jungen Mann schließlich doch seine Tauchkunststücke auf der ganzen Welt vorführen. Pipín entwickelt sich rasch zu einem der besten Apnoetaucher der Welt: Mit nur einem Atemzug taucht er möglichst rasch und tief ins Meer, um erst Minuten später wieder aufzutauchen – „No Limits“ nennt sich dieses nutzlose, ja lebensgefährliche Gladiatorenspiel, das die Medien zunehmend fasziniert. Pipín will endlich an die Weltspitze, will viel Geld verdienen. 1993 flieht er aus Kuba und fängt ein neues Leben als professioneller Extremtaucher an.
Nach schwierigen Anfangsjahren kann er an seine früheren Erfolge anknüpfen. Er tritt im Fernsehen auf, wird interviewt, von Sponsoren umworben – und taucht tiefer und tiefer. Privat sieht es eher düster aus. Der junge Mann kann ist bereits zweimal geschieden und gilt als jähzorniger Kotzbrocken. 1996 lernt Pipín die deutlich jüngere Meeresbiologin Audrey Mestre kennen. Eine Liebe epischen Ausmaßes entspinnt sich, zwei Herzen schlagen fürderhin im Einklang & was der Hollywood-Klischees mehr sind. Vor allem aber findet Audrey Geschmack am Apnoetauchen. Sie übertrifft ihren Seelenverwandten, bald Ehemann und Lehrmeister bald deutlich.
Diese Gunst der Stunde will der in die Jahre kommende Pipín nutzen. Statt selbst zu tauchen, vermarktet er seine zunehmend erfolgreiche Frau. Audrey ist jung, hübsch und ertaucht zuverlässig Spitzentiefen. So kommt sie dem Weltrekord für Männer und Frauen immer näher. Eines Oktobertages im Jahre 2002 will sie ihn endgültig brechen und 170 Meter Wassertiefe erreichen. Sie schafft es, aber zurück an die Oberfläche findet sie nicht mehr …
Die Geschichte von Pipín & Audrey adelt ein Buch, für das sich ansonsten wohl nur die kleine Schar der Extremsportler interessieren würde. Aber „Tiefenrausch“ kann mit einer grandiosen Lovestory prunken – mit einer tragischen sogar, was ja den Kaufdrang der Tränendrüserdrücker-Fraktion seit jeher beflügelt. Gut, dieser Pipín Ferreras ist nicht gerade Brad Pitt – er bezeichnet sich selbst treffend als „glatzköpfigen, machohaften Kubaner“. Seine Ungeduld, seinen alle Grenzen der Vernunft sprengenden Ehrgeiz, seinen Neid auf – womöglich erfolgreiche – Konkurrenten spart er in der Aufzählung seiner Unarten lieber aus und lässt sie vorsichtig in seine biografische Rückschau einfließen.
Audrey dagegen muss wohl ein Engel auf Erden (bzw. unter Wasser) gewesen sein. Pipín sagt es uns in jedem Satz und wer’s immer noch nicht glauben mag, für den gibt es unzählige ganzseitige Fotos – farbig und schwarzweiß -, die immer wieder Audrey, Audrey, Audrey zeigen: beim Training, beim Gewinnen, bei Tanz mit einem erstaunten Rochen … Es will kein Ende nehmen, „Tiefenrausch“ ist ein gedruckter Audrey-Schrein.
Da gibt es freilich einige Schönheitsfehler. Vor allem müssen wir uns darauf verlassen, was Pipín Ferreras uns über seine Liebe und seine Tauch-Obsession erzählt. Audrey können wir ja leider nicht mehr fragen. Der Skeptiker weiß: Engel auf Erden gibt es eigentlich nicht. Kein Mensch ist ohne Fehler und Tadel, sonst wäre er ziemlich langweilig. Was Pipín selbst angeht, so spart er (s. o.) nicht mit Schlägen gegen die eigene Stirn. Er übernimmt sogar die Mitschuld für ihren Tod. Offensichtlich ist „Tiefenrausch“ einer von vielen Versuchen Ferreras, den tragischen Tod von Audrey zu verarbeiten.
Zumal dieser einerseits auf ein banales Versehen zurückzuführen ist: Der Luftsack, der Audrey an die Oberfläche tragen sollte, war nur teilweise gefüllt. Niemand hatte das nachgeprüft, stattdessen verließ sich ein Teammitglied auf das andere. Unter Wasser fehlte ein Begleittaucher; der Rekordversuch fand trotzdem statt – bisher war ja stets alles gut gegangen. So ging es weiter; eine Kette von minimalen Versäumnissen führte direkt in die Katastrophe. Man war eingelullt von der spielerischen Eleganz, mit der Audrey immer neue Rekordtiefen erreichte. Das machte leichtsinnig, was kein guter idealer Zustand ist, wenn einem 170 Meter unter Wasser die Luft wegbleibt.
Andererseits ist Pipín Ferreras die treibende Kraft hinter Audrey Mestre – und oft genug wohl ihr Dämon. Sie tauchte nach eigener Auskunft einfach gern, er machte daraus ein Rekordgeschäft. Wieso sie sich dagegen nicht wehrte, muss offen bleiben; Ferreras drückt sich in diesem Punkt recht vage aus und schwadroniert von der Macht der Liebe, die sich für ihn und Audrey vor allem unter Wasser entfaltete und das delfingleiche Paar als kosmische Einheit funktionieren ließ. (Allerdings merkt er sehr richtig an, dass er seiner lungenstarken Gattin keinen Sack mit Steinen um den Hals gebunden und sie dann ins Meer gestoßen hat; Audrey war erwachsen.) Außenstehende, d. h. Nicht-Apnoeisten, könnten das sowieso nicht verstehen. Damit liegt er zweifellos richtig; der boshafte Skeptiker mag zum Beispiel einwenden, man könne sich auch einen Backstein auf den Kopf schlagen, um Gott und viele Sterne zu sehen – und das ohne besondere Lebensgefahr. Genau die ist aber integraler Bestandteil des Extremsports, auch wenn das lieber nicht so deutlich formuliert wird.
Wie jeder Paulus blickt auch Pipín Ferreras mit wehmütigem Stolz auf seine Saulus-Jahre zurück. Natürlich findet er die weltweite Jagd nach immer neuen „No Limits“-Rekorden verwerflich, seit Audrey umkam und er nicht mehr mittun kann und mag. Bis er zu dieser Einsicht gelangte, war Ferreras jedoch die treibende Kraft unter den Apnoe-Extremtauchern dieses Planeten. Endgültig „geheilt“ von seinem Tauchwahn ist er wohl doch nicht; die Grenzen zwischen Sport und Spinnerei sind meist fließend.
Was man nicht Ferreras sondern eher seiner (nur auf dem inneren Titelblatt erwähnten) „Mitautorin“ Linda Robertson (Pipín hat übrigens schon mehrere Bücher „schreiben lassen“, da er sich eigentlich nicht zum Literaten berufen fühlt, aber kein Problem damit hat, seine erzählten Tauch- und Lebensgeschichten in gut honorierte Prosa verwandeln zu lassen) ankreiden muss, das ist sicherlich der schauerliche Auftritt Audreys als glücklicher Geist aus dem Jenseits, der dem gebrochenen Pipín bei dessen Gedächtnis- Rekordtauchgang von 2003 unter Wasser ein letztes Hallo zuwinkt. Solcher Schwachsinn wäre ansonsten nur verzeihlich, wenn der arme Pipín doch ein wenig zu lange die Luft angehalten hätte … Vielleicht ist diese Passage auch nur ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung von James Cameron. Der Regisseur von „Titanic“, der seit 1997 keinen Spielfilm mehr gedreht hat (bis auf zwei Dokumentationen), aber dem Meer treu geblieben ist, plant angeblich, Pipín und Audrey zu Helden eines neuen, nassen Blockbusters zu erheben (worauf man sich lieber nicht verlassen sollte).