Festa, Frank (Hg.) – Saat des Cthulhu, Die

Frank Festa: Vorwort, S. 7-10

Ramsey Campbell: „Schriftlich“ („Cold Print“, 1969), S. 11-30: Ein prügelfreudiger & pornografischer Lehrer findet in einem Hinterhof-Buchladen einen schmuddeligen Schatz – und den großen Cthulhu, der seinen neuen und unfreiwilligen Jünger freudig in die Tentakeln schließt …

Christian von Aster: „Yamasai“ (1999), S. 31-46: Auf Neuguinea hütet ein steinzeitlicher Stamm das düstere Geheimnis eines Urzeitwesens, das weitaus Schlimmeres treibt als Menschen umzubringen …

Kim Newman: „Der große Fisch“ („The Big Fish“, 1993), S. 47-86: Privatdetektiv Philip Marlow fahndet nach einem verschwundenen Vater und seinem Söhnchen, die er ausgerechnet im Kreise froschköpfiger Cthulhu-Anhänger findet …

Thomas Ligotti: „Harlekins letzte Feier“ („The Last Feast of Harlequin“, 1991), S. 87-134: In einem abgelegenen Ort haben die Bürger ihren eigenen Weg gefunden, die allzu nahe Nachbarschaft unliebsamer Mitbewohner zu verdrängen; ein neugieriger Forscher von „draußen“ schaut hinter die Tarnung und lernt mehr, als er verkraften kann …

Jens Schumacher: „Der Hügel von Vhth“ (1996/99), S. 135-178: In einer verfallenen Hafenstadt sucht der Historiker ein altes Zauberbuch. Er findet es – und im eisigen Meereswasser das unfreundliche Subjekt, über das da geschrieben wurde …

F. Paul Wilson: „Hinter dem Schleier“ („The Barrens“, 1990), S. 179-248: In einem abgelegenen Winkel des US-Staates New Jersey finden ein Privatforscher und seine allzu hilfsbereite Gefährtin einen „Nexus“, der diese Erde mit einer anderen, ebenso faszinierenden wie furchtbaren Welt verbindet, welche neugierige Besucher buchstäblich mit offenen Tentakelarmen empfängt …

Brian McNaughton: „Das Verderben, das über Innsmouth kam“ („The Doom That Came to Innsmouth“, 1999), S. 249-284: Vor sieben Jahrzehnten hat die US-Regierung versucht, die Cthulhu-Hochburg Innsmouth vom Erdboden zu tilgen. Es misslang, und nun sammeln sich die Nachfahren der damals vertriebenen Bürger mit dem typischen „Froschlook“, um uralte Traditionen aufleben zu lassen …

H. P. Lovecraft (1890-1937) gehört zu den wenigen Schriftstellern, denen die Erschaffung eines echten Kultes gelang. Die Cthulhu-Mär begann sich schon zu seinen Lebzeiten zu verselbstständigen. Ihren Schöpfer überlebte sie leicht, begann stattdessen zu wachsen, Seitentriebe auszubilden, sich zu verzweigen – oder anders ausgedrückt: Zahllose Lovecraft-Kollegen eiferten dem Meister nach und dachten sich neue Cthulhu-Untaten aus. Dabei half ihnen Lovecrafts ureigener, altertümlicher, von Fremdwörtern und Adjektiven überwucherter Schreibstil, der ihn gleichzeitig unverwechselbar und leicht imitierbar macht.

Wie Herausgeber Frank Festa in seinem knappen aber kundigen Vorwort erläutert, gliedern sich Lovecrafts Epigonen in drei Kategorien. Da ist der reine Kopist, der seinen Ehrgeiz daran setzt, das Vorbild in Handlung, Wortwahl und vor allem Stimmung zu „klonen“. Zur zweiten Gruppe zählen jene, die sich noch eng an Lovecraft halten, mit seinen Vorgaben jedoch zu „spielen“ beginnen. Noch einen Schritt weiter gehen die Angehörigen von Gruppe 3; sie lösen sich völlig vom Original, führen Cthulhu aus seiner urzeitlich-unterseeischen Abgeschiedenheit heraus und integrieren ihn in das reale Grausen der wirklichen, modernen Welt.

Herausgeber [Festa]http://www.festa-verlag.de/ nimmt für sich in Anspruch, nur Repräsentanten der Gruppen 2 und 3 in seine Sammlung aufgenommen zu haben. Die Übergänge sind indes fließend, das muss man ihm jedoch zugestehen. Tatsächlich sprechen die sieben hier vorgestellten Autoren mehr (Campbell, Ligotti, McNaughton) oder weniger (von Aster, Schumacher) mit eigenen Stimmen. (Newman und Wilson könnte man dagegen eher als „neutral“ bezeichnen.)

Ramsey Campbell (geb. 1946) legt eine der für ihn typischen Kurzgeschichten vor, in denen sich das Grauen fast unmerklich in den Alltag einschleicht. Da dieser meisterhaft so grau und öde dargestellt wird, wie dies kaum einem anderen Autoren gelingt, müsste der Tod im Grunde eine Erlösung für den Campbell-typisch seelisch verkümmerten und beschädigten „Helden“ bedeuten – dem ist ganz und gar nicht so, stattdessen ist sein Ende bitter und schmutzig; das Leben kennt halt keine Gewinner. Herausgeber Festa weist in seiner Einleitung zu dieser Story auf den sexuellen Aspekt des schleimig-fischigen Cthulhu-Monstrums mit den vielen bezahnten Körperöffnungen hin; der alte Lovecraft hatte offensichtlich einige Zwangsvorstellungen literarisch zu verarbeiten …

Kim Newman (geb. 1959), der Schöpfer der genialen [„Anno Dracula“-Parallelwelt, 1184 weiß dieses Mal kaum zu überzeugen. Während die Verknüpfung der Story mit dem Lovecraft-Werk akkurat gelungen ist, passen die typischen sarkastischen Schnüffler-Sprüche gar nicht ins eher gruselsteife Cthulhuversum. Übler ist dem Verfasser allerdings das abrupte Ende der Handlung anzukreiden, welches diese Story eher als Entwurf oder Kapitel eines größeren Werkes erscheinen lassen.

An einer modernisierten Wiederbelebung des alten Lovecraft-Szenarios vom allzu neugierigen Forscher, der in unheimlicher Umgebung mehr erfährt als er wissen wollte, versucht sich F. Paul Wilson (geb. 1946) mit „Hinter dem Schleier“. Der Verfasser ist durch seine Romane um den „Repairman Jack“ bekannt geworden, der sich ebenfalls in einer Welt sieht, die mit dem Übernatürlichen in Kontakt steht. Seine hier präsentierte Story fesselt nicht durch originelle Ideen, sondern durch die gelungene Umsetzung. Die Pine Barrens – eine Art weißer Fleck auf der Landkarte der USA – bilden eine eindrucksvolle, von Wilson behutsam und farbig in Szene gesetzte Kulisse mit kauzigen, aber nicht als tumbe Hinterwäldler bloßgestellten Bewohnern. Das Grauen entwickelt sich stimmungsvoll und endet in einem turbulenten Finale, dem sich ein lovecraftscher Schlussgag anschließt: Cthulhu lässt nicht mehr locker, hat er dich erst einmal am Schlafittchen.

Eine eigene Erwähnung verdienen die beiden deutschen Autoren, die in dieser Sammlung vertreten sind. Es ist dem regelmäßigen Lovecraft-Leser sicherlich, dem reinen Fan aber vielleicht weniger bekannt, dass der Meister und sein Geschöpf auch hierzulande manchen Autoren veranlasst, seinen Beitrag zum Cthulhu-Mythos zu leisten (oder es wenigstens zu versuchen). Christian von Aster (geb. 1973), der als Geheimtipp der hiesigen Phantastik-Szene gehandelt wird, legt mit „Yamasai“ eine handwerklich sehr schön geschriebene, aber letztlich auf den Schlusseffekt konstruierte Story vor, den man überzeugend finden kann, jedoch keineswegs muss, worauf die Geschichte förmlich versandet.

Auch Jens Schumacher (geb. 1974) nimmt sehr durch sein handwerkliches Geschick ein, das so viele Autoren, die sich in der (deutschen) Phantastik tummeln, schmerzlich vermissen lassen. Die ausgetüftelste Story muss verenden, wo blinder schriftstellerischer Eifer mit stilistischem Unvermögen und grammatikalischer Ignoranz zusammenfließen – eine Kombination, die längst nicht nur bei fannischen Feierabendproduktionen zu beobachten und dort entschuldbar ist, sondern vermehrt auch „richtige“ Buch- und Heftromane brandmarkt.

„Der Hügel von Vhth“ ist als Geschichte zwar hart an der Grenze zur Imitation – die Handlung folgt ausgesprochen eng dem Lovecraft-Novellenklassiker „The Shadow Over Innsmouth“ (1936; dt. [„Schatten über Innsmouth“) 506 -, kann aber durch die ebenso behutsam wie gelungen nachempfundene Atmosphäre einer klassischen Cthulhu-Story bis zum (typischen) Finale fesseln.

Gleich im Anschluss zeigt uns Brian McNaughton (1936-2004), wie man es wirklich gut macht. Auch er wählt sich „The Shadow Over Innsmouth“, doch er variiert nicht, sondern schreibt eine „Fortsetzung“. 1928 ließ Lovecraft die US-Regierung das Pestloch Innsmouth ausräuchern, die Bewohner austilgen, einsperren, vertreiben. Wie hätte es weitergehen können? Was geschah mit denen, die der großen Abrechnung entkamen? McNaughton beschreibt es ebenso spannend wie witzig aus der Sicht eines Betroffenen. Für Lovecraft waren Cthulhus Diener stets degenerierte, von Verdammnis gezeichnete Kreaturen. Hier lernen wir den Monsterjünger von nebenan kennen, in dessen Froschschädel recht profane Gedanken gewälzt werden. McNaughtons witzige Einfälle runden die Story perfekt ab. Wer hätte gedacht, dass US-Präsident John F. Kennedy sich für den „Innsmouth-Zwischenfall“ in einer (glänzend zitierten, natürlich fiktiven) Rede entschuldigt hat oder mit markanten Gesichtszügen ausgestattete historische Prominenz wie Gloria Swanson, die Geliebte des Kennedy-Vaters, der Schauspieler Edward G. Robinson („Der kleine Cäsar“) und FBI-Chef J. Edgar Hoover zu den Innsmouth-Leuten gehörten? „Das Verderben, das über Innsmouth kam“ ist in der Mischung aus Lovecraft & McNaughton die beste Geschichte dieser fabelhaften, endlich wieder aufgelegten Sammlung. (Nebenbei: Kommt denn das Verderben „nach“ oder „über“ Innsmouth? Inhaltsverzeichnis und Haupttext sind sich da uneinig …)