Ein Mann steht auf den Bahamas einige Meter vom Ufer entfernt im Wasser und schneidet sich mit einem Messer zwei Wunden in die Oberschenkel. Er lässt das Messer fallen, breitet die Arme aus und wartet. Er wartet auf die Haie, die in der Bucht zu der Zeit unterwegs sind. Er wartet darauf, dass sie die Witterung aufnehmen und zu ihm kommen. Er wartet auf den Tod.
Mit dieser düsteren Szene beginnt „Jäger“, nach „Eine Art Idol“ der zweite Roman des deutschen Autors Marc Fischer. Eine Szene, die ihre Schatten vorauswirft bzw. vielmehr zurück, denn auf den folgenden 249 Seiten erfährt der Leser weniger, wie es weitergeht, sondern eher, wie es dazu kommen konnte, dass der Protagonist mit dem Messer in der Hand und dem Tod vor Augen ins Meer steigt.
Und das ist eine lange Geschichte. Sie handelt von Gursky. Gursky ist der Mann mit dem Messer, aber bevor er auf den Bahamas seinem Leben ein Ende setzen wollte, war er Moderator bei einem Musiksender. Starmoderator zudem. Gursky war einer der Moderatoren, die umso erfolgreicher wurden, je mehr sie ihre prominenten und semiprominenten Gäste beschimpften. Polemik als Erfolgsrezept. Respektlosigkeit als Quotengarant. Gursky wurde dadurch zum Star.
Als er diesen Job kündigt, scheint sein Leben wieder in geordnetere Bahnen einzuschwenken. Gursky scheint ernsthafter zu werden, endlich bereit dazu, Verantwortung zu übernehmen und erwachsen zu werden. Er will seine Freundin Nathalie heiraten. Das erste Kind ist bereits unterwegs. Im Angesicht der zukünftigen Vaterrolle will Gursky seine wilden Jahre würdig beschließen und macht sich ganz allein nach Kuba auf. Seine Mission: Er will einen Hai fangen – aus ganz persönlichen Gründen.
Auf Kuba angekommen, trifft Gursky rein zufällig seinen alten Widersacher von Schweitzer. Was in der Heimat nie geklappt hat – trotz stetiger Bemühungen der Freunde – klappt nun in der Ferne. Der Schriftsteller und der Moderator kommen ins Gespräch und schließen sogar Freundschaft. Schon bald ist von Schweitzer fasziniert und mitgerissen von Gurskys Jagdziel.
Doch die Jagd, die als harmloses (obgleich illegales) Touristenabenteuer beginnt, droht schon bald zu eskalieren. Von Schweitzer und Gursky entwickeln eine Art Besessenheit und legen einen Schwur ab, dem zufolge sie erst dann die Heimreise antreten wollen, wenn sie „ihren“ Hai gefangen haben …
Im ersten Moment weckt Fischers Roman Erinnerungen an Alex Garlands „The Beach“. Auch „The Beach“ setzt eine zunehmend düstere, eskalierende Handlung in den harten Kontrast einer paradiesischen Umgebung. Der Himmel, der sich als Hölle entpuppt, weil Menschen eine Grenze überschreiten, die sie besser nicht überschritten hätten. Fernab der vertrauten Welt tun sich die Abgründe der menschlichen Seele auf, die Nebenwirkungen der modernen Gesellschaft, die im gleißenden Sonnenschein der paradiesischen Szenerie umso düsterer und beklemmender wirken.
Bei Alex Garland ist diese Mischung wunderbar aufgegangen und da „Jäger“, egal ob absichtlich oder nicht, gewisse Assoziationen hervorruft, kommt man nicht umhin, die Parallelen zu bemerken. Doch „Jäger“ ist kein zweites „The Beach“ und Marc Fischer nicht die deutsche Ausgabe von Alex Garland. Auch wenn gewisse Gemeinsamkeiten durchaus augenfällig sind, unterscheiden sich beide fundamental – weniger in der Qualität, denn auch Fischer hat seine Vorzüge, dafür mehr in Handlung und Intention.
Fischer schickt Gursky auf einen Selbstfindungstrip in Richtung Erwachsenwerden. Der Hai bzw. die Jagd nach selbigem soll Gurskys wilde Jahre zu einem würdigen Abschluss bringen, wobei es ihm weniger um sein zurückliegendes als um sein zukünftiges Leben geht. Gursky will seinem Kind später eine Geschichte erzählen können. Nicht irgendeine, sondern die Geschichte, wie er einen Hai fing. Darin mag man sehen was man will: Männlichkeitswahn, übersteigertes Geltungsbedürfnis oder Angst vor kleinbürgerlichem Spießertum, vielleicht will Gursky einfach nur einmal in seinem Leben wirklich etwas riskieren und Mut beweisen, um nicht als das gleiche Weichei zu enden, als das er seinen Vater früher gesehen hat.
Doch ebenso geht es ihm darum, seine von Kindesbeinen an gepflegte Haifaszination einmal auszuleben. Haie haben für Gursky eine besondere Bedeutung. Sie faszinieren und erschrecken ihn zugleich, durch ihre Schnelligkeit, ihre Eleganz und ihren Instinkt. Vielleicht ist es gar nicht so sehr der Hai, sondern mehr das Ideal, hinter dem Gursky her jagt. Besonders von Schweitzer, der erst nach dem ersten gemeinsamen, erfolglosen Jagdtag auf dem Meer so richtig von dieser Faszination gepackt wird, scheint es gerade auch darum zu gehen.
Von Schweitzer befindet sich quasi zu Therapiezwecken auf Kuba. Betrogen von der Freundin, hat er einfach das Weite gesucht, ist dabei auf Kuba gelandet und weiß dort nicht so recht etwas mit sich anzufangen, außer Drogen und Alkohol in den Bars von Havanna zu konsumieren. Nach den ersten gemeinsamen Tagen auf Kuba scheint zwischen beiden ein Austausch stattzufinden. Von Schweitzer übernimmt von Gursky den Jagdeifer, den er obendrein noch steigert, Gursky erkennt die „Vorzüge“ bestimmter bewusstseinserweiternder Substanzen. Achtet Gursky beim ersten Ausflug noch besorgt darauf, dass von Schweitzer nüchtern das Boot betritt, erkennt er nach einiger Zeit die scheinbaren Vorteile von durch Koks geschärften Sinnen bei der Jagd. Damit überschreiten beide in gewisser Weise eine Grenze, die sie durch ihren Schwur besiegeln.
Die Atmosphäre der ganzen Geschichte, die düstere Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren wird, macht letztendlich den besonderen Reiz und die Spannung des Buches aus. Zeigt „The Beach“ die Abgründe der menschlichen Seele, die sich in einer Kommune fernab der Zivilisation in einem scheinbaren Paradies offenbaren, so befasst sich auch Fischer letztendlich mit dem Thema Seele, wenngleich anders als Garland.
Dabei wirken die Figuren auf den ersten Blick gar nicht so, als ob sie auf tief greifendere Betrachtungen ausgelegt wären. Sowohl Gursky als auch von Schweitzer entstammen einer gewissen elitären, sozialen Oberschicht. Von Schweitzer wurde dort schon hineingeboren, während Gursky erst durch seine Karriere als respektloser Moderator in diesen Kreis vordringt. Menschen am Puls der Medienlandschaft, die in ihrer Art und ihrem Verhalten viele gängige Klischees zu bestätigen scheinen, die wir aus der Boulevardpresse zur Genüge kennen: Groupies, Drogen, Partys – im ersten Moment ist man versucht, Fischer vorzuwerfen, er würde seine Protagonisten mit allzu vielen breitgetretenen Klischees ausstaffieren.
Doch was bei anderen Romanen leicht zum Kritikpunkt werden kann, wird von Fischer überzeugend ausgearbeitet. Er beschränkt sich nicht auf die Klischees, er zeigt die Menschen, die dahinter stecken. Auch wenn seine Figuren zunächst etwas eindimensional wirken, wie Abziehbilder der modernen Gesellschaft, schafft er es im Laufe der Zeit, den Menschen dahinter zu entblättern. Klischees ja, aber bitte mit Tiefgang. So liefert Fischers Ausgestaltung der Figuren auch schon mal Gedanken, die die moderne Welt in Frage stellen.
Fischers Stil entpuppt sich als sehr locker und flüssig lesbar. Er schreibt sehr direkt und ohne Umschweife, beschreibt nicht lang und breit, sondern versteht es, mit wenigen Worten und trotz seines etwas kühlen, nüchternen Stils eine dichte Atmosphäre aufzubauen – genau passend für seine Protagonisten und ihr Hai-Abenteuer. Gurskys und von Schweitzers Jagd strebt unaufhaltsam ihrem unweigerlich unheilvollen Höhepunkt entgegen. Fischer gelingt ein dichter, stetig aufstrebender Spannungsbogen, der erst am Ende wieder gelockert wird.
Das ganze Bild seiner Figuren offenbart sich erst zum Ende hin und bleibt auch dann noch ansatzweise in der Schwebe. Letztlich lässt Fischer den Leser mit seinen Gedanken allein. So klingt der Roman zwar nach, lässt aber auch ein klein wenig das unbefriedigende Gefühl unbeantworteter Fragen zurück. Nichtsdestotrotz ein lesenswertes Buch, und Fischers zukünftige Publikationen im Auge zu behalten, könnte sich durchaus lohnen. „Jäger“ macht zumindest Hoffnung darauf, dass man von Marc Fischer noch einige interessante Werke erwarten darf.