Frances H. Burnett – Der geheime Garten

Eine heitere Sozialutopie für Kinder

Die zehnjährige Mary Lennox, Tochter eines in Indien stationierten englischen Kolonialbeamten, hat ihre Eltern während einer Cholera-Epidemie verloren. Sie soll daher zukünftig auf dem englischen Landsitz ihres Onkels leben. Das uralte Herrenhaus birgt für das eigensinnige Mädchen, das sich schwer tut, sich an das neue Leben und die ihr fremde Umgebung zu gewöhnen, so manche Überraschung… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Die Autorin Frances Hodgson Burnett (1849-1924) wurde in England geboren, lebte aber ab 1865 in den USA. Sie veröffentlichte zwischen 1868 und 1922, also 54 Jahre lang, über 70 Bücher. Ihre berühmtesten Werke sind „Little Lord Fountleroy“ aus dem Jahr 1886 und „The Secret Garden“ aus dem Jahr 1911. Der begriff „secret garden“ wurde zu einem Topos, der auch von anderen Autoren genutzt wurde. Burnett schrieb selten Fantasy, aber dafür über Geister, Geisterseher und natürlich über Reisen ins land der Kinderphantasien (Santa Claus usw.). „The Secret Garden“ wurde für die Autorin ein noch größerer Erfolg als „Der kleine Lord“ 1886 („Little Lord Fountleroy“).

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Bodo Primus: Erzähler
Uschi Hugo: Mary Lennox
Dagmar von Kurmin: Mrs. Medlock
Thomas Balou Martin: Mr. Pitcher
Matthias Lühn: Archibald Craven
Tom Raczko: Colin Craven
Marie Bierstedt: Lilian Craven
Reinhilt Schneider: Martha Sowerby
Jannik Endemann: Dickon Sowerby
Horst Naumann: Ben Weatherstaff

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio und Planet Earth Studios statt. Alle Illustrationen trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Nachdem sie ihre Eltern in Indien durch die Cholera verloren hat, soll die zehnjährige Mary anno 1899 bei ihrem Onkel Archibald Lennox leben. Dessen Haushälterin Mrs. Medlock holt sie in London ab und bringt sie hinaus aufs Land nach Yorkshire, wo sich das Herrenhaus des Onkels neben einem düsteren Moor erhebt. Der bucklige Onkel, der das 600 Jahre alte Anwesen kaum jemals bewohnt, weil Italien seiner Gesundheit viel zuträglicher ist, fährt gerade mit einem anderen Zug weg, als Mary eintrifft. Mary bekommt zwei Zimmer zugewiesen, soll sie aber nie ohne Erlaubnis verlassen. Was für ein Unsinn, denkt sie.

Neue Freunde

Das junge Zimmermädchen Martha Sowerby bringt sie auf andere Gedanken. Marthas Bruder Dickon, der schon zwölf ist, arbeitet im Garten und kennt zudem das Moor. Mary erkämpft sich diverse Freiheiten, so dass sie alleine mit Dickon das Moor, den Park und den Garten erkunden darf. Dabei erfährt sie von dem geheimen Garten, der niemandem zugänglich ist. Seit Onkel Archibalds Frau vor zehn Jahren starb, sei der Schlüssel begraben, heißt es. Mary ist entschlossen, den Schlüssel zu finden. Sie wittert ein aufregendes Geheimnis – und ein Refugium nur für sich selbst.

Wintergeschichten

Im Winter lernt Mary den alten Gärtner Mr. Weatherstaff kennen, der viele Geschichten über das Anwesen zu erzählen weiß und auch Dickon kennt. Ein zutrauliches Rotkehlchen freundet sich ebenfalls mit Mary an, die immer öfter die frische Luft in Park und Garten genießt. Das Vögelchen zeigt ihr das verschlossene Tor zum geheimen Garten. Hinter der hohen Mauer vermeint Mary jemanden weinen zu hören. Das rührt ihr Herz.

Frühlingsfunde

Indem sie im Frühling dem Vogel folgt, findet Mary den vergrabenen Schlüssel. Es kostet sie einige Mühe, das Schloss damit zu öffnen, aber dahinter findet sie das Refugium ihrer vor zehn Jahren verstorbenen Tante vor: Alle Pflanzen und Statuen (siehe Cover) sind von Unkraut zugewuchert. Weil es soviel Arbeit gibt, bittet sie Dickon um Hilfe und Geräte, die er gerne gewährt – und er will selbst mit anpacken. Höchste Zeit, diesen dunklen Fleck auf dem Anwesen zu entfernen! Als Mr. Craven Mary eine Audienz gewährt, bittet sie ihn nur um etwas Erde für den Garten, sagt ihm aber nicht wofür. Erstaunt gewährt er ihre Bitte. Großzügig verordnet er ihr, was sie schon längst hat: frische Luft, Bewegung und kräftigende Nahrung. Dieser Typ lebt wirklich nicht im Hier und jetzt.

Hypochonder

Mary sucht im ganzen weitläufigen Haus nach dem Ursprung jenes Weinens, das sie am Gartentor gehört hat, und stößt in einem entfernten Flügel ein Stockwerk höher auf Colin, Mr. Cravens Sohn, ihren Cousin. Er bezeichnet sich selbst als todkrank, und so blass, wie er aussieht, glaubt sie ihm das – fast. Seine Auskunft, dass seine Mutter bei seiner Geburt starb, steht offenkundig im Widerspruch zu der anderen Auskunft, dass Mrs. Craven an einem Sturz im Garten starb. Was stimmt denn nun?

Colin weiß vom geheimen Garten, den seine Mutter Lilian liebte, und als Mary ihm von ihrer Arbeit dort erzählt, will er ihn sofort sehen. Er führt sich sehr herrisch auf, aber Mary liest ihm die Leviten, und bald vertragen sie sich bestens. Aber Mrs. Medlock darf nichts davon erfahren, sonst darf Mary den Garten nie wieder sehen – Arbeit macht ja brave Mädchen so schmutzig. Also muss Colins Besuch in einer geheimen Staatsaktion gut vorbereitet werden…

Mein Eindruck

Dieser Roman gehört zu den bekanntesten Kinderbüchern des viktorianischen (eigentlich des edwardianischen, denn die Königin starb schon 1904) Englands. Alles ist sowohl todtraurig als auch furchtbar romantisch. Zwei Waisenkinder finden zueinander, indem sie sich zusammen für das Vermächtnis von Mrs. Craven einsetzen. Pflanzen beginnen wieder zu wachsen und zu blühen, und was im Garten in Ordnung gebracht worden ist, das soll auch als Nächstes im Herrenhaus und seinen Bewohnern wieder in Ordnung gebracht werden. Die Hoffnung stirbt hier nie.
Genesung und Heilung

Oftmals schimmert durch, dass der Wunsch der Vater des Gedankens war. Da ist ein Mädchen, das draußen in der freien Natur wieder gesundet – und sogleich eine Aufgabe findet. Mit gleichgesinnten Kindern aus den niederen Schichten – ein unerhörter Tabubruch – beginnt sie, das kränkelnde Anwesen wieder in Ordnung zu bringen, erst am Leib, dann auch in der Seele. Was beim jungen Colin geklappt hat, kann ja dann bei dessen Vater klappen, oder nicht?

Sozialutopie

Die Eroberung des geheimen Gartens entpuppt sich als Sozialutopie. Das Ideal weist jeder viktorianischen Frau ihren Platz zu: Leben spenden (Schöpfung bzw. Genesung), in Ordnung bringen (Regeneration), pflegen (Wacht) – und niemals aufgeben. Wehe der Frau, die es wagen sollte, zuerst an sich zu denken! Sie ist das Bindeglied zwischen den unbändigen, magischen Kräften der Natur, die im Rotkehlchen personifiziert sind (die sehr weltliche Version eines Engels), wird unterstützt vom Naturkenner / Naturgeist Dickon Sowerby und seiner Schwester, bis sie alle zusammen daran gehen, der KULTUR wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, indem sie den wilden geheimen Garten regenerieren.

Vermittlerin der Welten

Die gleiche Genesung und Regeneration, die Mary im Garten erlebte, soll im Haus stattfinden, das von einer ganz anderen Gesellschaftsklasse bewohnt wird: den Landbesitzern. Wieder fungiert Mary als Bindeglied, diesmal zu den Herrschern, die leider bzw. selbstverständlich alle männlich sind.

Während der Hausherr durch seinen Buckel als krank gekennzeichnet ist, hält sich Colin bereits für todkrank, obwohl er kerngesund ist. Diese Selbsttäuschung gilt es zu korrigieren, das ist die Aufgabe der viktorianischen Frau – der Mann wird es ihr schon irgendwie danken. Und wo frau schon mal dabei ist, könnte sie ja auch gleich das ganze Land gesunden lassen – beispielsweise durch das Frauenwahlrecht. Immerhin wurde dieses Buch 1911 in den USA veröffentlicht, nur sieben Jahre, bevor die neuseeländischen Frauen das Wahlrecht erhielten.

Vorbilder

Das Vorbild für diese Story lieferte natürlich der ultimative Klassiker für alle gruseligen Teenager-Romanzen: „Jane Eyre“ von Charlotte Bronte. Dort gibt es mit Rochester ebenfalls einen Irren im Dachboden – mit einem finsteren Geheimnis. Der romantische Held ist bei Burnett allerdings nicht Rochester, sondern Dickon, eine jüngere Version von Heathcliffe aus Emily Brontes „Sturmhöhe“ – der in dieser Hörspiel-Version für Kinder leider zu einer Art Laufbursche degradiert wird; von Naturgeist keine Spur.

Das Buch strotzt von Versatzstücken der schwarzen Romantik à la „Northanger Abbey“ (1798, VÖ 1817) von Jane Austen. Dazu gehören Motive wie das (lebens-) leere Herrenhaus, verborgene Winkel, ein dunkles Familiengeheimnis mit viel Tod und Leid – und schließlich eine hässliche Heldin, die wie Aschenputtel zu neuer Größe und Schönheit heranwächst. Cinderella lässt schön grüßen. In Kinderbüchern funktioniert die Macht des Geheimen Gartens ausgezeichnet, aber wehe dem Erwachsenen, der wieder zurückfinden will. H. G. Wells hat darüber seine Erzählung „The Door in the Wall“ geschrieben. Seinem Helden widerfährt Schreckliches. Denn für Erwachsene gibt es keinen Weg zurück.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Da Mary Lennox die Hauptfigur ist, deren Blickwinkel die Geschichte zusammenhält, ist ihre Sprecherin Uschi Hugo auch die wichtigste in der Sprecherriege. Hugo sprüht vor Energie und Zuversicht, und wo Strenge angebracht ist, blitzt auch mal Härte durch.

Reinhilt Schneider als Martha Sowerby, Jannik Endemann als Dickon Sowerby und Horst Naumann als Ben Weatherstaff stehen Uschi Hugo als hilfreiche Geister zur Seite, um ihrer Mary zum Erfolg zu verhelfen. Apropos „Geist“: Es kommt wirklich vor, nämlich Lilian Craven, die verstorbene Mutter von Colin. Sie wird von Marie Bierstedt dargestellt, die nicht viel zu tun hat.

Die Hörspielveteranin Dagmar von Kurmin spricht die alte Mrs. Medlock, die graue Eminenz des Herrenhauses, mit Grandezza, aber Mitgefühl. Mr. Pitcher, gesprochen von Thomas Balou Martin, ist quasi ihr Adlatus und Ansprechpartner, indem er ihre Anweisungen ausführt.

Archibald Craven, gesprochen von Matthias Lühn, ist der in jeder Hinsicht genesungsbedürftige Hausherr. Er ist sanft, aber kränklich, im Geiste unaufmerksam, weil rückwärtsgewandt. Colin Craven, Archibalds Sohn, wird zu Marys wichtigster Bezugsperson in der zweiten Hälfte des Hörspiels. Tom Raczko, sein akustischer Darsteller, muss dementsprechend eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen bzw. plausibel machen: vom todkranken Hypochonder zum lebensfrohen Springinsfeld.

Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Türquietschen, kleine Handklingeln, Papierrascheln, klappernde Teetassen, knisterndes Kaminfeuer – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen in einem Interieur zu vermitteln.

In diesem Hörspiel bleiben allerdings mehr die Außengeräusche in Erinnerung: Mit Zugbremsen und Kutschen-Rumpeln fängt es an, doch sobald der Frühling einzieht, hören wir Rotkehlchen zwitschern, Wind rauschen, Donner grollen, Regen plätschern, Laub rascheln – kurzum: eine ländliche Idylle wie im 18. Jahrhundert. Etwas verwirrt hat mich ein sehr helles Blöken. Es stammt von einem Lämmchen.

Deshalb stellen das Knirschen des Schlüssels im Schloss des Gartentors und das anschließende knarrende Öffnen des Tors Misstöne dar. Es bedarf keiner Worte, um zu erkennen, dass diese Misstöne schon bald der Vergangenheit angehören werden. Der Natur muss zu ihrem Recht verholfen werden.

Die Musik

Die Tonregie hätte zu Marys ländlicher Idylle auch einfach die verschiedenen Sätze von Beethovens sechster Symphonie, der „Pastorale“, unterlegen könne, hat es sich aber nicht so einfach gemacht. Hintergrundmusik ist zwar selten nötig, denn es gibt ja viel Dialog und eine Fülle von Geräuschen. Aber hin und wieder ist eine Pause angebracht, um anzuzeigen, dass eine neue Jahreszeit ins Land zieht.

Ein wehmütiges Piano signalisiert Colins Trauer um seine verstorbene Mutter. Am Schluss ist des Öfteren Film-Musik aus unbekannter Quelle zu vernehmen. Aber das gemeinsame lachen, mit dem die Dialoge ausklingen, wird von harmonischen Akkorden begleitet, die ebenfalls aus einer Film-Musik zu stammen scheinen. Immerhin ist das Buch schon zweimal verfilmt worden, zuletzt 1997.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der Colin Craven, der Hypochonder, von Mary und Dickon in den geheimen Garten gerollt wird. man beachte seine Vermummung mit Schal, Jacke und Mantel, obwohl ringsum bereits eitel Sonnenschein herrscht und seine Freunde luftig angezogen sind. Rechts unten sieht man das magische Rotkehlchen, das den Weg zum Garten gewiesen hat.

Im Booklet sind die Titel der Hörspielreine ANNE nach Lucy Montgomery verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Unterm Strich

Auch wenn am Schluss wieder Friede, Freude, Eierkuchen herrschen, so verrät doch schon der Titel, dass es um die Eroberung eines fremden Territoriums geht, eben den verschlossenen Garten. Ist also Marys Eroberung und Inbesitznahme des Gartens rechtens oder nicht? Diese nicht ganz unwichtige Frage wird wohlweislich an keiner Stelle erörtert. Mary hat die Lizenz zum Öffnen, keine Frage, denn sie ist offenbar die rechtmäßige Erbin des Gartens.

Mary ist ja nicht aus England, sondern aus Indien. Somit hat sie eine gute Entschuldigung. Aber sie könnte, wie die Autorin, eine Amerikanerin sein. Das gäbe ich das Recht, ja, den Anspruch, mal in diesem düsteren englischen Gemäuer aufzuräumen und die Kranken zu heilen. Regeneration lautet das Zauberwort, das über der Geschichte liegt. Sie beginnt in Marys Begegnung mit der Natur, dann mit verwilderter Kultur (Garten), schließlich mit der Verkörperung kranker Kultur schlechthin: dem Herrenhaus.

Erst transformiert Mary den Erben, dann den Hausherrn – der hoffentlich schon bald das Zeitliche segnet (gerufen von seiner toten Gattin), um sein Vermächtnis an Erben zu übergeben, die wissen, was man mit dem alten Kasten anfangen kann. Mrs. Medlock, die Haushälterin und Gouvernante, und Mr. Pitcher, der Butler, geben dazu den Griechischen Chor. Werden sie den Daumen über Mary senken? Wohl nicht, denn am Schluss lachen alle harmonisch miteinander.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Stimmen wie Tom Raczko, Marie Bierstedt und Uschi Hugo sind deutschen Filmfreunden von zahlreichen amerikanischen und britischen Darstellern bekannt.

Besonders sehr jungen Menschen, die sich einfach nur für amüsante Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Natürlich bietet sich die CD als Weihnachtsgeschenk an, denn so ein Titania Special erscheint regelmäßig nur im November eines Jahres…

Audio-CD mit über 75 Minuten Spieldauer
Info: The Secret Garden, 1911
www.titania-medien.de

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